Kritik einer bürgerlichen Wissenschaft
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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1. Auflage
© 2010 Franz Sauter, Hamburg
Internet: www.tonalemusik.de
Redaktionelle Mitarbeit: Richard Kleinmaier
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Alle Rechte liegen beim Autor.
ISBN 978-3-7322-2086-1
Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft hat sich die Musik von ihrer Einbindung in rituelle Zwecke gelöst und aufgrund des neu erwachten ästhetischen Interesses als tonale Musik etabliert. Dieser Übergang hat das Material geschaffen für die theoretischen Überlegungen, die den Ausgangspunkt der Musikwissenschaft bilden. Die Zuständigkeit dieser Wissenschaft für alles, was mit der Erklärung der Musik zu tun hat, ist in der bürgerlichen Gesellschaft unbestritten. Allerdings zerfällt die Musikwissenschaft in verschiedene Disziplinen, die diese Zuständigkeit jeweils für sich und konkurrierend gegen andere beanspruchen. Diese Entgegensetzung der theoretischen Positionen ist nicht nur objektiv vorhanden, sondern wird auch bewusst von den Wissenschaftlern gegeneinander geltend gemacht. Andererseits werden die Teilbereiche der Musikwissenschaft zugleich als friedlich miteinander koexistierende Beiträge zu einem gemeinsamen Anliegen aufgefasst, nämlich als verschiedene Betrachtungsweisen, die sich sinnvoll ergänzen. Es wird vielfach auch so getan, als ob Unterschiede an der Sache selbst für die Fachrichtungen der Musikwissenschaft verantwortlich seien. Dies ist jedoch nicht der Fall; denn dann wären zum Beispiel Bereiche wie Melodik, Rhythmik oder Harmonik jeweils gesondert zu thematisieren. Die Unterscheidung von theoretischen, ästhetischen, psychologischen, soziologischen oder ethnologischen Aspekten zielt jedoch auf unterschiedliche Auffassungen und Begründungen der Musik, die dann wohlmeinend so gedeutet werden, als ob man die Musik eben von verschiedenen Seiten her betrachten könne, ohne dass dies der sachlichen Erklärung einen Abbruch täte.
Was die Musikwissenschaft in ihren verschiedenen Abteilungen tatsächlich leistet, worin die wesentlichen Kernaussagen jeweils bestehen, das ist Thema dieses Buchs. Dessen Hauptteil besteht demgemäß in einem Durchgang durch die einschlägigen Spezialgebiete, deren spezielle Fragestellungen und Ergebnisse anhand von exemplarischen Schriften vorgestellt werden. Die meisten dieser Aufsätze sind Überarbeitungen von Rezensionen, die bereits in den Jahren 2005 bis 2008 im Internet veröffentlicht wurden (www.tonalemusik.de). Die Rezensionen entstanden etwa zur Hälfte vor dem Plan zum vorliegenden Buch; zur andern Hälfte wurden sie gezielt im Hinblick auf die Darstellung der musikwissenschaftlichen Denkschulen hin geschrieben, wobei die Internet-Veröffentlichungen zugunsten der Arbeiten am Buch schließlich eingestellt wurden. In jedem Kapitel wird eine musikwissenschaftliche Denkart abgehandelt, deren Eigentümlichkeiten zunächst in einer Einleitung dargelegt werden. Zusätzlich wird darin auch der wesentliche Inhalt der nachfolgenden Rezensionen zur schnelleren Übersicht in wenigen Sätzen zusammengefasst.
Aufgrund der Ausführungen des ersten Teils wird deutlich, dass die unterschiedlichen und gegensätzlichen Theorien sowohl innerhalb der jeweiligen Fachrichtung als auch in der Musikwissenschaft insgesamt eine merkwürdige Gemeinsamkeit haben: Den theoretischen Bemühungen um die Erklärung der Musik steht die moralische Verantwortung sowohl gegenüber der bürgerlichen Musikkultur als auch gegenüber den Belangen der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt entgegen. Die daraus resultierenden, in der Musikwissenschaft etablierten und beständig fortgesetzten theoretischen Fehler sind kennzeichnend für einen Bereich der Produktion von bürgerlichen Ideologien, die Anlass zum Untertitel dieses Buchs gegeben haben. Der zweite Teil des Buchs widmet sich deshalb der für die musikwissenschaftlichen Denkweisen maßgeblichen Parteilichkeit für das bürgerliche Musikleben. Jene wird zunächst in der drastischen Form vorgestellt, wie sie in populärwissenschaftlichen Traktaten in Erscheinung tritt. Die Grundlage und der spezielle Gegenstand dieser Parteilichkeit, das bürgerliche Musikleben, kommen zwar in den Rezensionen durchaus zur Sprache, werden aber zum besseren Verständnis in einem eigenen Kapitel zumindest in ihren Grundzügen einmal zusammenhängend dargestellt. Ein letztes Kapitel widmet sich den Prinzipien einer bürgerlichen Wissenschaft, wie sie sogar für eine Wissenschaft maßgeblich sind, von der man meinen könnte, dass sie nur mit den schönen Dingen des Lebens befasst sei.
Musikästhetik ernst genommen − als Ästhetik der Musik − ist eigentlich das Thema, um das es bei der Erklärung der Musik geht. Denn die Musik gehört zu den schönen Künsten, wird um ihrer Schönheit willen gemacht und genossen, und die harmonischen, rhythmischen und melodischen Formbestimmungen der Musik sind ihrem Wesen nach ästhetische Bestimmungen. Alles, was an der Musik erklärungsbedürftig und daher einer wissenschaftlichen Befassung wert ist, dreht sich um die Schönheit der Musik. Die rationelle Analyse der grundlegenden musikalischen Formen wie Konsonanz, Dissonanz, Tonalität, Takt, Motiv oder Kontrapunkt handelt von Formen des klanglichen Zusammenpassens. Musik zu erklären ist daher identisch mit der Entschlüsselung ihrer Ästhetik.
In den philosophischen Überlegungen, die der Entstehung der Musikwissenschaft vorausgegangen sind, erscheint Musik als Beispiel für ein ästhetisches Objekt, das im Rahmen allgemeiner Abhandlungen über die Ästhetik untersucht wird. Zwar deuten die Philosophen die Ästhetik als Beitrag zur Sinnstiftung, bauen sie in diesem Sinne in ihre moralisch inspirierten theoretischen Systeme ein und nehmen mit dieser Idealisierung der bürgerlichen Kunstsphäre schon einen wichtigen Gedanken der Musikwissenschaft vorweg; aber sie gehen noch davon aus, dass die wissenschaftliche Betrachtung der schönen Künste nichts anderes zu Tage zu fördern habe als Gesetze der Schönheit.1
Von dieser Betrachtungsweise hat sich die moderne Musikwissenschaft gründlich emanzipiert. Die theoretische Befassung mit Musik, die in der Philosophie ein Teilgebiet der Ästhetik war, erscheint bei ihr nicht nur als Angelegenheit einer eigenen Wissenschaft, sondern auch umgekehrt: Die Beschäftigung mit der musikalischen Ästhetik erscheint als bloßes Teilgebiet dieser Wissenschaft. Schon daraus ist zu ersehen, dass die Musikwissenschaft von der ästhetischen Identität ihres Gegenstandes nichts mehr wissen will. Sie geht ganz offensichtlich davon aus, dass sie eher andere Dinge zu untersuchen habe als ausgerechnet die musikalische Ästhetik.
Dass sich die Musikwissenschaft überhaupt – wenn auch in einer untergeordneten Disziplin − mit der musikalischen Ästhetik befasst, liegt nicht an ihrer Einsicht in die ästhetische Natur ihres Gegenstands, sondern daran, dass sie sich für alles zuständig fühlt, was jemals über Musik gedacht worden ist, sofern es ihrem Verantwortungsbewusstsein für die bürgerliche Kultur nicht offensichtlich widerspricht. Musikästhetik ist also erstens ein Titel, unter dem die altmodischen philosophischen Schriften zur Musik ad acta gelegt werden können. Insofern ist dieses Fach eine Reminiszenz an eine längst vergangene Zeit, weshalb Musikwissenschaftler im Zusammenhang mit dem Thema Ästhetik auch gerne von Musikphilosophie sprechen. Zweitens gehören in diesen Bereich Schriften, welche die Ideologien der entstehenden Musikwissenschaft mit dem Hinweis auf den ästhetischen Charakter der Musik kritisiert haben. Dazu gehört vor allem jene für die Musikwissenschaft etwas peinliche Schrift von Eduard Hanslick mit dem Titel 'Vom musikalisch Schönen', die im Folgenden analysiert wird. Schließlich gehören zur Musikästhetik auch all jene Schriften, in denen das hartnäckige Gerücht, in der Musik ginge es um klangliche Schönheit, dementiert wird.
Mit der Fachrichtung Musikästhetik betreibt die moderne Musikwissenschaft also die Marginalisierung der musikalischen Ästhetik. Sie tut dies durch die Bereitstellung einer Unterabteilung, in der erstens alte Schriften abgetan oder vereinnahmt werden können, vor allem dann, wenn sie noch zu sehr daran erinnern, dass Musik etwas mit Schönheit zu tun hat. Diese Abhandlungen werden als historisch bedingte Übertreibungen gewürdigt, die heutigen wissenschaftlichen Standards nicht mehr genügen. Auch diese historischen Interpretationen gehören in die Abteilung Musikästhetik, und ebenso die zuweilen unternommenen Anläufe, das immer wieder aufkommende Thema Ästhetik zu liquidieren. Die Musikwissenschaft nimmt sich so des Themas an, um es loszuwerden. Und dennoch wird sie nie fertig damit, immer wieder neue Beweise dafür zu finden, dass es eine musikalische Schönheit entweder gar nicht gebe, dass sie eine bloße Einbildung sei, die zudem von allen möglichen gesellschaftlichen Bedingungen abhänge, oder dass Schönheit letztendlich nichts anderes sei als ein anderes Wort für jenen tieferen Sinn, für dessen Existenz in der Musik sich die Musikwissenschaft verbürgt. Dabei wird der Begriff Ästhetik bis zur Unkenntlichkeit in sein Gegenteil verkehrt, indem entweder Definitionen angeboten werden, die explizit das Unschöne einschließen sollen, oder Kompositionen unter dem Gesichtspunkt ihrer Ästhetik besprochen werden, in denen es erklärtermaßen darum geht, den Musikgenuss zu unterbinden.
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Hanslicks Schrift 'Vom musikalisch Schönen' insistiert auf der Objektivität des Schönen und polemisiert gegen die moralische Vereinnahmung der Musik, die in der Phrase, Musik sei eine Sprache, zum Gemeinplatz der Musikwissenschaft geworden ist. Diesem Teil seiner Schrift ist ein eigener Aufsatz gewidmet, während seine Fehlschlüsse erst im Anschluss daran abgehandelt werden. Hanslicks Versuch, das Schöne zu erklären, besteht nämlich darin, die Tatsache, dass Musik etwas Ausgedachtes ist, als einen eigenen Inhalt anzusehen, welcher in der Musik ausgedrückt sei. Damit liefert er der Vorstellung vom Sprachcharakter der Musik weiteres Material und lässt sich in dieser Hinsicht wieder leicht in das Denken der modernen Musikwissenschaft integrieren. Hinzu kommt noch Hanslicks Fehler, das Ästhetische von den musikalischen Formen abzutrennen und zum Beispiel die Harmonie ausdrücklich als etwas der Ästhetik Äußerliches und Vorausgesetztes zu betrachten – ein Fehler, der für die heutige Musikwissenschaft geradezu programmatisch ist.
Eggebrecht erklärt in seinem Buch 'Die Musik und das Schöne' als Resümee seines musikwissenschaftlichen Forschens und Lehrens, dass die musikalische Schönheit etwas Unfassbares sei. Er bezweifelt ihre Existenz und hält sie für eine Einbildung. Für die Musik sei jedenfalls etwas anderes wesentlich als Schönheit: Sinnhaftigkeit. Allerdings − und ganz im Widerspruch zu seiner Gegenüberstellung von Schönheit und Sinn − kann er dem Begriff der musikalischen Schönheit dann etwas abgewinnen, wenn man unter ihm auch das Gegenteil verstehen kann, wenn er das Unschöne einschließt und wenn er überhaupt nur ein anderes Wort für Sinnhaftigkeit ist. Als Eselsbrücke für diese Übersetzungsleistung bietet er die Deutung der Ästhetik als abstraktes System von Elementen an, bei dem man sich das Schöne wegdenkt, es erst als Normensystem und dann als Mitteilungssystem deutet, bis man schließlich bei jenem Sinn gelandet ist, auf den es einem Musikwissenschaftler ankommt.
Sanio nimmt die Deutung der Ästhetik als Sinnhaftigkeit zum Ausgangspunkt einer entsprechenden Darstellung moderner Kunst: Wenn Schönheit nichts anderes ist als Sinn, dann ist perfekte Sinnstiftung umgekehrt eine neue Form von Schönheit. Am Beispiel des Komponisten John Cage würdigt Sanio eine moderne Form künstlerischer Selbstinszenierung, die ihr Publikum mit einer umständlich vorgeführten Verweigerung von Musikdarbietung zu beeindrucken sucht. Wie der Komponist, so versteht auch die Wissenschaftlerin ein Konzert als eine Kommunikation zwischen Künstler und Publikum, aus der im Namen einer direkten Verständigung die Musik als austauschbarer 'Zeichenträger' herausgehalten werden sollte. Mit Begriffen wie 'Rezeptionsästhetik' und 'Situationsästhetik' siedelt sie die verrückten Shows in der Welt des Schönen an, wobei sie sich auf Philosophen wie Kant und Hegel berufen zu können meint.
Musikästhetik ist also eine Fachrichtung, in der die musikalische Schönheit beiseite getan wird. Ob es sie überhaupt gibt, ob sie eine Berechtigung besitzt und etwas Objektives ist, wird fleißig bezweifelt. Die musikalische Schönheit wird als irrelevant abgetan im Verhältnis zur Deutung der Musik als Sinnangebot. Anerkennung findet die Ästhetik allenfalls durch ihre Umdeutung in eine Sphäre der Sinnstiftung. Das Thema Musikästhetik ist nur Anlass, um ein moralisches Weltbild auszubreiten, in dem die Musik untergebracht werden muss.
1 Vgl. dazu die Kritik der Hegelschen Vorlesungen über die Ästhetik in: Franz Sauter, Die tonale Musik – Anatomie der musikalischen Ästhetik, Hamburg 2003
Eduard Hanslick, Vom musikalisch Schönen
Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 1989
(Erstauflage 1854)
Eduard Hanslick veröffentlichte 1854 eine sehr grundsätzliche Kritik der auch heute noch gängigen Vorstellungen von der musikalischen Ästhetik. Seine Polemik trifft die Kernaussagen und Denkmuster einer ganzen wissenschaftlichen Disziplin und enthält bemerkenswerte Einsichten, die auch als Kritik der modernen Musikwissenschaft noch zutreffend sind. In einer Sammlung von Zitaten gibt Hanslick einen Eindruck davon, wie Abhandlungen über die musikalische Ästhetik meist schon in den ersten Sätzen ihren Gegenstand ganz allgemein einführen. Die zitierten Schriften gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass die Musik wesentlich durch einen Zweck bestimmt sei. Als Hauptzweck wird da genannt: "Affekte ... rege zu machen", "bestimmte Empfindungen ... auszudrücken", "Leidenschaften nach seinem (des Komponisten) Willen zu regen", "Gefühle und durch das Gefühl Vorstellungen in uns" zu erregen, "das Wesen der Dinge in seiner unmittelbarsten Kundgebung zu erfassen" (S. 16 f.) usw.
Gegen diese Manie, einen der Musik eigentümlichen Zweck zu unterstellen, legt Hanslick Einspruch ein: "Das Schöne hat überhaupt keinen Zweck." Er gibt zu bedenken, dass Musik zwar "zu den verschiedensten Zwecken verwandt werden kann, aber selbst keinen andern hat, als sich selbst." (S. 5) Der Gesichtspunkt, dass die Musik in der modernen Gesellschaft nützliche Dienste leisten soll, ist den Theoretikern offenbar so wichtig, dass sie die Musik zuallererst einmal als nützlich hinstellen wollen. Dabei entsteht vielfach der Eindruck, dass "bei dem wichtigen Nachdruck, welcher unermüdlich auf die durch die Musik zu erzielende Sänftigung der menschlichen Leidenschaften gelegt wird, man in der Tat oft nicht weiß, ob von der Tonkunst als von einer polizeilichen, einer pädagogischen oder medizinischen Maßregel die Rede ist." (S. 9)
Die an der Nützlichkeit der Musik interessierten Theoretiker reden über ihren Gegenstand immer so, dass nicht die Sache selbst – die Musik mit den ihr immanenten Klangbeziehungen – das Thema ist, sondern die Beziehung der Musik zu außermusikalischen Sachverhalten: ihre Wirkungen, Bedeutungen usw. Dagegen fordert Hanslick, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften "den Dingen selbst an den Leib zu rücken, und zu forschen, was in diesen, losgelöst von den tausendfältig wechselnden Eindrücken, das Bleibende, Objektive sei." (S. 2) Hanslick insistiert auf einer objektiven Betrachtung der musikalischen Ästhetik und hält fest, "daß man aus all den üblichen Appellationen an das Gefühl nicht ein einziges musikalisches Gesetz ableiten kann." (Vorwort) "Man sagt also gar nichts für das ästhetische Prinzip der Musik Entscheidendes, wenn man sie nur ganz allgemein durch ihre Wirkung auf das Gefühl charakterisiert." (S. 11) Die "Schönheit eines Tonstücks ist spezifisch musikalisch, d. h. den Tonverbindungen ohne Bezug auf einen fremden, außermusikalischen Gedankenkreis innewohnend." (Vorwort)
Hanslick geht nichtsdestotrotz den verschiedenen Vorstellungen nach, in denen der musikalischen Ästhetik außermusikalische Zwecke, Absichten, Inhalte, Wirkungen usw. zugeschrieben werden, und zeigt, dass diese Vorstellungen allesamt völlig haltlos sind.
Eine beliebte Theorie schreibt der Musik Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Publikum zu. "Die Macht und Tendenz, beliebige Affekte im Hörer zu erwecken, sei es eben, was die Musik vor den übrigen Künsten charakterisiere." (S. 9) Die zugehörige Vorstellung, die Musik beinhalte ganz bestimmte Gefühle wie Liebe, Eifersucht, Sehnsucht usw. bezieht ihre Plausibilität hauptsächlich aus der Art, wie Musik an Texte und dramatische Szenen angepasst wird. Grundlage dafür sind bestimmte Gemeinsamkeiten und Analogien von harmonischer, rhythmischer und melodischer Bewegung einerseits und emotionaler oder dramatischer Bewegung andererseits. Hanslick führt dies am Beispiel der Gefühle aus, die angeblich in der Musik dargestellt werden:
"Was kann also die Musik von den Gefühlen darstellen, wenn nicht deren Inhalt? Nur das Dynamische derselben. Sie vermag die Bewegung eines physischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigend, fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine Eigenschaft, ein Moment des Gefühls, nicht dieses selbst." (S. 26)
Da die angeblichen Belege für die musikalische Darstellung von Gefühlen allzu leicht als willkürliche Deutungen zu durchschauen sind, haben sich manche Theoretiker auf die Behauptung zurückgezogen, die Musik könne nur unbestimmte Gefühle darstellen. Ein Unsinn, wie Hanslick richtig bemerkt: "Denn »Unbestimmtes« »darstellen« ist ein Widerspruch." (S. 44) Man "soll glauben, daß die Musik etwas darstelle, und weiß doch niemals, was. Sehr einfach ist von hier der kleine Schritt zu der Erkenntnis, daß Musik gar keine, weder bestimmte noch unbestimmte, Gefühle schildert." (S. 45)
Hanslick geht noch einen Schritt weiter und stellt fest, dass Musik überhaupt nichts darstellt, weder Gefühle noch sonst etwas. Er bemerkt, dass schon in der Behauptung eines Darzustellenden ein von der Musik getrennter Inhalt unterstellt wird:
"Etwas »darstellen« involviert immer die Vorstellung von zwei getrennten, verschiedenen Dingen, deren eines erst ausdrücklich durch einen besonderen Akt auf das andere bezogen wird." (Vorwort)
Kritisiert ist damit erst recht die Behauptung einer unbestimmten Beziehung zwischen Musik und Gefühl:
"»Die Musik hat es mit den Gefühlen zu tun.« Dieses »zu tun haben« ist einer der charakteristischen Ausdrücke der bisherigen musikalischen Ästhetik. Worin der Zusammenhang der Musik mit den Gefühlen ... bestehe ..., darüber ließen uns diejenigen vollkommen im Dunkeln, die eben damit »zu tun« hatten." (S. 4)
Die Vorstellung, dass die Musik Gefühle darstelle oder anspreche, hat ihre Fortsetzung in der fixen Idee, dass die Musik insofern eine Art Sprache sei, die Inhalte und Botschaften transportiere, die also verstanden werden könne und die daher überhaupt an den Verstand appelliere. Hanslick argumentiert: "Das Schöne trifft zuerst unsere Sinne." (S. 6) Er schließt sich Grillparzer an, der sagt: "Der Eindruck der Musik aber wird unmittelbar vom Sinn empfangen und genossen, die Billigung des Verstandes kommt zu spät, um die Störungen des Mißfälligen wieder auszugleichen. Daher darf Shakespeare bis zum Gräßlichen gehen, Mozarts Grenze war das Schöne." (S. 64 f.)
Hanslick beharrt auf einem prinzipiellen Unterschied zwischen Musik und Sprache: "Der wesentliche Grundunterschied besteht aber darin, daß in der Sprache der Ton nur ein Zeichen, d. h. Mittel zum Zweck eines diesem Mittel ganz fremden Auszudrückenden ist, während in der Musik der Ton eine Sache ist, d. h. als Selbstzweck auftritt." (S. 88) Da Hanslick sich stellenweise nicht darüber im Klaren ist, dass die Verwechslung von Musik und Sprache eine Ideologie ist, die den von ihm benannten Unterschied gar nicht wissen will, kommt ihm eine etwas merkwürdige pädagogische Idee: "Eine Ästhetik der Tonkunst müßte es daher zu ihren wichtigsten Aufgaben zählen, die Grundverschiedenheit zwischen dem Wesen der Musik und dem der Sprache unerbittlich darzulegen ..." (S. 92)
Die Musikwissenschaftler irren sich nicht einfach nur, wenn sie "dem Phantom der »Bedeutung«" (S. 92) nachjagen. Sie zelebrieren vielmehr eine Phraseologie der Bedeutsamkeit. Was ein Musikstück genau bedeutet, steht da eher nicht zur Debatte. Es bedeutet einfach "etwas" oder "viel", oder die Bedeutung ist "tief" oder "groß". So gibt es "eine ganze Schule musikalischer Kritik, welche der Frage, ob eine Musik schön sei, mit der tiefsinnigen Erörterung auszuweichen liebt, was sie Großes bedeute." (S. 92) Die Vieldeutigkeit des Wörtchens 'Bedeutung' wird dabei eifrig genutzt, um von einer symbolischen Bedeutung über den angeblich in der Welt allgegenwärtigen 'Sinn' bis hin zur Nützlichkeit und Wichtigkeit einer Sache alles abzudecken.
Hanslick sieht sehr wohl, dass die mystischen Vorstellungen der Musikwissenschaftler mit einer musikalischen Entwicklung korrespondieren, die auf eine Destruktion des Ästhetischen hinauslaufen. Noch bevor diese Entwicklung bei der atonalen Musik und der Auflösung von Musik in Alltagsgeräusche angelangt ist, begreift er die zerstörerische Wirkung des Standpunkts, der nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zur Musik eingenommen wird. Noch ganz vorsichtig formuliert, spricht er von einer "Unterschätzung des Sinnlichen": "Wenn man die Fülle von Schönheit nicht zu erkennen verstand, die im rein Musikalischen lebt, so trägt die Unterschätzung des Sinnlichen viel Schuld, welcher wir in älteren Ästhetiken zugunsten der Moral und des Gemüts, in Hegel zugunsten der »Idee« begegnen." (S. 61) Entsprechend polemisiert Hanslick gegen die "sogenannten »moralischen Wirkungen« der Musik, die ... von älteren Autoren mit so viel Vorliebe herausgestrichen werden." (S. 125)
Die Tendenz zur Vernachlässigung der Ästhetik fängt schon da an, wo der moralische Zweck einer Vokalkomposition so wichtig genommen wird, dass die Musik zum bloßen Untermalen der Aussage verkommt. "Bei näherer Betrachtung gelangen wir zu dem Ergebnis, daß das rücksichtslose Anschmiegen solcher musikalischen Schilderung meist in umgekehrtem Verhältnis steht zu ihrer selbständigen Schönheit." (S. 48) Im Extremfall fällt die Musik, deren Ästhetik sich gerade von der mittelalterlichen Deklamation und Psalmodie befreit hat, wieder auf das Rezitativ zurück, beschränkt sich also darauf, die emotionale Dynamik der Artikulation nachzubilden und zu unterstreichen. Aus dem gleichen Grund wird auch in der Oper vielfach die musikalische Ästhetik dem Vorrang der "dramatischen Genauigkeit" geopfert. Sehr treffend ist auch Hanslicks Hinweis auf eine analoge Entwicklung beim Tanz:
"Ähnliches gilt vom Tanze, wie wir in jedem Ballett beobachten können. Je mehr er die schöne Rhythmik seiner Formen verläßt, um mit Gestikulation und Mimik sprechend zu werden, bestimmte Gedanken und Gefühle auszudrücken, desto mehr nähert er sich der formlosen Bedeutsamkeit der bloßen Pantomime. Die Steigerung des dramatischen Prinzips im Tanze wird im selben Maß eine Verletzung seiner plastisch-rhythmischen Schönheit." (S. 50)
Über die antiästhetische Konsequenz der ausdrucksbeflissenen Kompositionen ist sich Hanslick ebenfalls im Klaren:
"Die schädlichsten und verwirrendsten Anschauungen sind aus dem Bestreben hervorgegangen, die Musik als eine Art Sprache aufzufassen; sie weisen uns täglich praktische Folgen auf. So musste es hauptsächlich Komponisten von schwacher Schöpferkraft geeignet erscheinen, die ihnen unerreichbare selbständige musikalische Schönheit als ein falsches, sinnliches Prinzip anzusehen, und die charakteristische Bedeutsamkeit der Musik dafür auf den Schild zu heben. Ganz abgesehen von Richard Wagners Opern, findet man auch in den kleinsten Instrumentalsächelchen oft Unterbrechungen des melodischen Flusses durch abgerissene Kadenzen, rezitativische Sätze u. dgl., welche, den Hörer befremdend, sich anstellen, als bedeuteten sie etwas Besonderes, während sie in der Tat nichts bedeuten als Unschönheit." (S. 89)
Dass Komponisten im Bewusstsein ihrer mangelnden Fähigkeiten sich berechnend einer musikalischen Mode angeschlossen haben sollen, ist wohl eher unwahrscheinlich. Tatsache aber ist, dass mit dem Ehrgeiz, Bedeutsames komponieren zu wollen, so etwas wie Musikalität prinzipiell zur Disposition steht. In Anbetracht dieser musikalischen Entwicklung ist es kein Wunder, "daß in der älteren Musik der Selbstzweck noch unverkennbarer, die Deutbarkeit schwieriger und weniger verlockend erscheint." (S. 32)
Die fortlaufende Radikalisierung des künstlerischen Mystizismus in einer zunehmend prätentiösen Musik beflügelt dann die Musikwissenschaft wieder zu euphorischen Phrasen, in denen die praktische Bestätigung der eigenen Ideologien gefeiert wird. Hanslick erwähnt die "vielen großsprechenden Redensarten von der Tendenz der Musik, die Schranken ihrer Unbestimmtheit zu durchbrechen und konkrete Sprache zu werden, die beliebten Lobpreisungen solcher Kompositionen, an welchen man dies Bestreben wahrnimmt oder wahrzunehmen vermeint" (S. 46).
Die im 19. Jahrhundert erst im Entstehen begriffene Musikwissenschaft hat sich damals schon auf ein grundlegendes Dogma festgelegt, das sie auch heute noch unverändert pflegt: Die Musik habe einen ihren Klangverhältnissen äußerlichen Inhalt. Kritik an diesem Dogma war schon damals eine Sache, mit der man sich geoutet hat.
"Die ungleich zahlreicheren Kämpfer fechten für den Inhalt der Tonkunst! ... Das kommt daher, weil es vielen Musikschriftstellern in diesem Punkt mehr um die vermeintliche Ehre ihrer Kunst, als um die Wahrheit zu tun ist. Sie befehden die Lehre von der Inhaltlosigkeit der Musik nicht wie Meinung gegen Meinung, sondern wie Ketzerei gegen Dogma. Die gegnerische Meinung erscheint ihnen als unwürdiges Mißverstehen, als grober, frevelnder Materialismus." (S. 160 f.)
Mit dem Hinweis auf die "Ehre ihrer Kunst" trifft Hanslick ziemlich genau den Punkt, um den es denjenigen geht, "welche mit dem Eifer einer Partei für den »Inhalt« der Musik fechten." (S. 172): Sie unterwerfen sich den Maßstäben, unter denen dem Metier, in dem sie ihre Existenz bestreiten wollen, eine öffentliche Anerkennung gezollt wird. Sie nehmen die Tatsache, dass Musik – ob kommerziell oder gesponsert – in der bürgerlichen Gesellschaft hauptsächlich als Sinnangebot interessiert, als selbstverständlichen Ausgangspunkt ihres Denkens und betrachten ihren Gegenstand so, dass sie und andere ihn nützlich finden können. In dieser Beziehung pflegen sie eine Denkungsart, die überhaupt für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften charakteristisch ist:
"Dem Staatsauftrag, nützliches Wissen zu liefern, kommen die Wissenschaftler nicht dadurch nach, dass sie unvoreingenommen Wissen erarbeiten und sich darauf verlassen, dass, zu wissen, womit man es zu tun hat, sich noch allemal als nützlich erweist. Eine objektive Betrachtung würde schon herausfinden, wofür der freie Markt, die Schulnoten und das Inzestverbot gut sind - vielleicht auch für gar nichts oder für nicht vertretbare Anliegen! Auch das zu wissen, wäre nützlich - nicht freilich für diese Gesellschaft. Ihr schafft die universitäre Wissenschaft nützliches Wissen dadurch, dass sie die Objekte ihrer Forschung nützlich findet und in dieser Nützlichkeit deren guten Sinn und Existenzgrund ausmacht. Sie läßt als Erklärung nur gelten, was den Nutzen ihrer Gegenstände darlegt - verpflichtet sich also auf das Dogma der Nützlichkeit. Der praktische Standpunkt des Nutzens wird im Denken eingenommen und zu einer verkehrten theoretischen Kategorie gemacht: Nützlich ist eine Sache in Bezug auf anderes; statt die eigenen Bestimmungen des Erkenntnisobjekts und deren wesentlichen Zusammenhang zu suchen, rückt die Gesellschaftswissenschaft ihr Objekt in Relation zu anderem, für das es Wirkungen hat, Bedingung oder Hindernis ist. Im Lichte des äußerlichen Bezugspunkts, d.h. für ihn, erscheint das betrachtete Objekt dann als nützlich, ja unverzichtbar. So erkennt diese Wissenschaft die Gegenstände, die sie untersucht, als ebensoviele Instrumente für gute Dienste." 2
Die korrekten Einsichten über die Ideologien der Musikwissenschaft sind allerdings nur die eine Hälfte dessen, was an dem Buch 'Vom musikalisch Schönen' bemerkenswert ist. Die andere Hälfte steht im nachfolgenden Aufsatz.
2 Peter Decker, Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, www.gsp-hamburg.de
Eduard Hanslick, Vom musikalisch Schönen
Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 1989
(Erstauflage 1854)
Mit seinem Buch 'Vom musikalisch Schönen' liefert Hanslick nicht nur eine korrekte Polemik gegen die entstehende Musikwissenschaft und die auch heute noch maßgeblichen ideologischen Gassenhauer dieser Disziplin, sondern bemüht sich zusätzlich um eine positive Auskunft darüber, was es mit dem im Buchtitel benannten Gegenstand auf sich hat. Um die verkehrte Denkrichtung Hanslicks besser zu verdeutlichen, seien ein paar sachlich klärende Überlegungen zu der Frage vorausgeschickt, was Schönheit überhaupt und speziell bei der Musik ist:
Wenn der Mensch auf Schönes aus ist, gebraucht er seine Sinne in einer ganz eigentümlichen Weise: nicht, um sich zu orientieren und seine zweckmäßigen Handlungen zu kontrollieren; überhaupt nicht als Instrument für einen äußerlichen Zweck; er genießt vielmehr beim Wahrnehmen, gibt sich also den durch die Wahrnehmung verursachten Empfindungen hin. Auch die Stellung zur wahrnehmbaren Objektivität ist ganz eigentümlich: Die Wahrnehmung konzentriert sich auf ihr Objekt nur wegen der Eigenschaften, die es ihr darbietet.
Bei der Schönheit kommt es also auf das Wahrnehmbare als solches an; das Wahrnehmbare ist Selbstzweck. Die wahrnehmbaren Eigenschaften werden so zum Kriterium, unter dem die an der Sache feststellbaren Beziehungen von Interesse sind. Dinge aber, die nach Maßgabe ihrer wahrnehmbaren Eigenschaften aufeinander bezogen sind, passen zusammen. Schönheit ist also nichts anderes als die Charakteristik von Objekten, deren Momente zusammenpassen, und das möglichst in vielerlei Hinsicht. Bei der Untersuchung schöner Objekte stößt man daher immer auf Verhältnisse des Zusammenpassens wie Harmonie, Symmetrie, Reim usw. Oder umgekehrt: Wer unvoreingenommen der Frage nachgeht, was warum und inwiefern zusammenpasst, wird stets Gesetze der Schönheit entdecken.
Im Falle der Musik harmonieren Töne, beziehen sich also nach Maßgabe ihrer Klangeigenschaften aufeinander. Dieses Verhältnis heißt Konsonanz. Konsonanzen harmonieren als Tonika, Dominante und Subdominante ihrerseits in Kadenzen und Dissonanzen. Dieses Verhältnis konstituiert eine Tonart und heißt Tonalität. Tonarten harmonieren ihrerseits aufgrund der Übereinstimmung ihrer Töne. Dieses Verhältnis wird in der Modulation realisiert. Und so weiter. Schließlich passen auch Melodieteile zusammen und erscheinen dadurch als Motiv.
Die Eigentümlichkeiten der musikalischen Ästhetik erweisen sich somit allesamt als Verhältnisse des klanglichen Zusammenpassens. Auch die Besonderheiten stilistischer Gattungen wie Fuge, Sonate, Rock 'n' Roll usw., ja selbst die ästhetischen Finessen einzelner Kompositionen lassen sich in solche Beziehungen auflösen. Insofern trifft genau das zu, was Hanslick postuliert: Das musikalisch Schöne lässt sich von den Beziehungen der Töne und Klangfiguren nicht abtrennen. Eine Abhandlung über das musikalisch Schöne muss daher aber exakt die harmonischen, rhythmischen und melodischen Klangverhältnisse, Formbestimmungen und Gesetze zum Gegenstand haben. Diese Konsequenz hat Hanslick nicht gezogen.
Hanslick formuliert seine Einsicht, dass es in der Musik nur um Klanggestalten gehe, in einer Weise, in der er zurücknimmt, dass die Musik keinen Inhalt habe. Er korrigiert sich sozusagen, indem er jetzt sagt: Die Musik hat keinen außermusikalischen, wohl aber einen musikalischen Inhalt.
"Fragt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen. Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbständiges Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel oder Material der Darstellung von Gefühlen und Gedanken. Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen." (S. 59)
Hanslick unterscheidet zwischen den musikalischen Ideen und der real erklingenden Musik, und das kann man ja auch ruhig unterscheiden. Ja, ein Musikstück und alles, was darin vorkommt, ist immer etwas Ausgedachtes, egal ob es komponiert oder improvisiert ist. Zuerst hat es ideelle Form, existiert in der Vorstellung, dann womöglich auf dem Notenblatt, also symbolisch und daher immer noch ideell, und schließlich erklingt es auch ganz real. Aber mehr Unterschied ist da nicht. Sonst ist alles identisch. Eine Tonleiter bleibt eine Tonleiter, ob sie bloß vorgestellt oder real gesungen wird. An den jeweiligen "tönend bewegten Formen" ändert sich nichts, wenn sie aus der ideellen in die reelle Form übergehen. Auch die Schönheit kommt einer Melodie unabhängig davon zu, ob sie in der Phantasie, im Gedächtnis, auf dem Papier existiert, oder aber akustisch wahrgenommen wird.
Was soll aber dann 'ausgedrückt' werden? Während Hanslick an anderer Stelle festhält, dass 'Darstellen' immer eine Trennung von Darstellung und Dargestelltem beinhaltet, will er bei 'Ausdrücken' die Trennung von Ausdruck und Ausgedrücktem nicht gelten lassen. In einer Fußnote behauptet er, dass er "der Kürze und Bequemlichkeit halber häufig die Worte »Ausdrücken«, »Schildern«, »Darstellen« von Tönen u. dgl. arglos gebraucht" habe und dass man das auch dürfe, "wenn man sich ihrer Uneigentlichkeit streng bewußt" bleibe (S. 46 f.). Hanslick unterstellt allerdings sehr wohl eine Trennung zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem, nur dass er diese Trennung in der Musik selbst ansiedelt. Er verdoppelt die Musik in die Musik einerseits und die musikalischen Ideen andererseits. Die Idee soll das Ausgedrückte sein, die Musik der Ausdruck. Dabei geht Hanslick offensichtlich davon aus, dass die 'Idee' die Musik adelt. Jetzt muss man die 'Idee' schon in Anführungsstriche schreiben, so wie es Hanslick (zu Recht) bei Hegel tut (S. 61); denn man hat es mit einer bloßen Fiktion der Idee zu tun. Es macht dann keinen Sinn mehr, zwischen schönen und weniger schönen Ideen zu unterscheiden, sondern die 'Idee' ist das, was die Schönheit 'bedingt': "Denn wir anerkennen keine Schönheit ohne jeglichen Anteil von Geist ... Die Formen, welche sich aus den Tönen bilden, sind ... sich von innen heraus gestaltender Geist." (S. 63)
Wenn Hanslick aus der Verwirklichung musikalischer Ideen die "unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes" (S. 60) verfertigt, so mystifiziert er den Sachverhalt, dass die Musik ein Geistesprodukt ist, auf eine ganz sonderbare Weise. Er fingiert eine Bestimmung des Musikalischen, indem er so tut, als hätte er mit den musikalischen Ideen etwas anderes vor sich als deren Inhalt, eben die vorgestellte Musik. Der Geist wird so zu einem idealistischen Fabelwesen. Gleichzeitig hält Hanslick aber auch die andere Seite seiner Verdopplung der Musik aufrecht: dass die Differenz nicht existiere. Er verwandelt den 'Geist' also wieder zurück in die musikalische Idee und betont deren Identität mit der musikalischen Wirklichkeit: "Nichts irriger und häufiger, als die Anschauung, welche »schöne Musik« mit oder ohne geistigen Gehalt unterscheidet. Sie faßt den Begriff des Schönen viel zu eng und stellt sich die kunstreich zusammengefügte Form als etwas für sich selbst Bestehendes, die hineingegossene Seele gleichfalls als etwas Selbständiges vor ..." (S. 67)
Jetzt dementiert Hanslick also die unterstellte Trennung von Geist und Musik. "Die Ideen, welche der Komponist darstellt, sind vor allem und zuerst rein musikalische." (S. 25) "Das Ideelle in der Musik ist ein tonliches, nicht ein begriffliches, welches erst in Töne zu übersetzen wäre." (S. 66) Dann ist aber die Beziehung, welche die Schönheit stiften soll, eine reine Tautologie: Das spezifisch Musikalische beruht auf dem musikalischen Inhalt der Ideen. Musik stellt Musik dar. Auf dieser Basis meint Hanslick offenbar, alle die Behauptungen wieder aufstellen zu können, die er zuvor kritisiert hat; mit einem kleinen einschränkenden Zusatz werden sie angeblich zu Wahrheiten, und die Musik ist zum Beispiel doch wieder eine Sprache: "In der Musik ist Sinn und Folge, aber musikalische, sie ist Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht imstande sind." (S. 63)
Obgleich die Mystifizierung der Schönheit hiermit perfekt ist, schreibt Hanslick auch noch ausdrücklich auf, dass er die Schönheit für ein Mysterium hält: "Es ist von außerordentlicher Schwierigkeit, dies selbständige Schöne in der Tonkunst, dies spezifisch Musikalische zu schildern. Da die Musik kein Vorbild in der Natur besitzt und keinen begrifflichen Inhalt ausspricht, so läßt sich von ihr nur mit trocknen technischen Bestimmungen, oder mit poetischen Fiktionen erzählen. Ihr Reich ist in der Tat »nicht von dieser Welt«." (S. 62) Die Entgegensetzung von 'technischen Bestimmungen' und 'poetischen Fiktionen' ist allerdings ein selbstgeschaffenes Dilemma, das darauf beruht, dass Hanslick das Ästhetische nicht an den musikalischen Sachverhalten selbst entdecken will.
Wenn Hanslick das Ästhetische in den Geist verlegt, so trennt er es auf der anderen Seite von der wirklichen Musik ab. Die elementaren musikalischen Formen der Musik – die harmonischen, rhythmischen und melodischen Grundbestimmungen – macht er zu bloßen natürlichen Voraussetzungen des musikalisch Schönen:
"Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in geheimen, auf Naturgesetze gegründeten Verbindungen und Wahlverwandtschaften. Diese den Rhythmus, die Melodie und Harmonie unsichtbar beherrschenden Wahlverwandtschaften verlangen in der menschlichen Musik ihre Befolgung und stempeln jede ihnen widersprechende Verbindung zu Willkür und Häßlichkeit ... In dieser negativen, inneren Vernünftigkeit, welche dem Tonsystem durch Naturgesetze innewohnt, wurzelt dessen weitere Fähigkeit zur Aufnahme positiven Schönheitsgehalts. Das Komponieren ist ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material ... Geistigerer, feinerer Natur als jeder andere Kunststoff, nehmen die Töne willig jedwede Idee des Künstlers in sich auf. Da nun die Tonverbindungen, in deren Verhältnissen das musikalisch Schöne ruht, ... durch freies Schaffen der Phantasie gewonnen werden, so prägt sich die geistige Kraft und Eigentümlichkeit dieser bestimmten Phantasie dem Erzeugnis als Charakter auf." (S. 64 f.)
Wenn sich an der Befolgung der in den musikalischen Elementen herrschenden "Wahlverwandtschaften" die Frage von Schönheit oder Hässlichkeit entscheidet, dann sollte man meinen, dass es sich dabei um genau die musikalischen Gesetze handelt, die das musikalisch Schöne ausmachen. Hanslick sieht das anders: "Das Elementarische der Musik wird unendlich oft mit der künstlerischen Schönheit derselben verwechselt ..." (S. 137) Hanslicks 'Elemente' sind gar nicht Elemente im logischen Sinne: das Grundlegende, Bleibende, Allgemeine der musikalischen Ästhetik, sondern geheimnisvolle Naturgewalten, denen nur das Kompliment gemacht wird, dass sie hervorragend geeignet sind für ihre Verarbeitung zum Schönen. Sie sind 'geistfähiges Material', können also den 'Geist' in sich aufnehmen, der ihnen angeblich die Schönheit einhaucht.
Hanslick betrachtet die ästhetischen Grundbestimmungen also als natürliche Voraussetzungen der Musik. Derartige Voraussetzungen sind aber nur die Gesetze der Akustik, wie sie von der Physik untersucht werden. Solche Sachen wie Dur und Moll, Konsonanz und Dissonanz, Tonart und Tonleiter usw. gehen die Physik nichts an, denn es handelt sich dabei um neuzeitliche Geistesprodukte. Hanslick gibt an anderer Stelle sogar einmal zu, "daß Melodie und Harmonie, dass unsere Intervallenverhältnisse und Tonleiter, die Teilung von Dur und Moll nach der verschiedenen Stellung des Halbtons, endlich die schwebende Temperatur, ohne welche unsere (europäisch-abendländische) Musik unmöglich wäre, langsam und allmählich entstandene Schöpfungen des menschlichen Geistes sind." (S. 145) Und er weiß auch, "daß darum auch unsere Kinder in der Wiege schon besser singen als erwachsene Wilde." (S. 146)
Nichtsdestotrotz hat es sich Hanslick in den Kopf gesetzt, die tatsächlichen Grundformen der musikalischen Ästhetik als bloß geeignete Voraussetzung für den Geist anzusehen, der angeblich erst die Schönheit bewirkt. Darüber, dass Geistesprodukte nicht notwendig schön sein müssen, spricht er nicht; man weiß also nicht, ob die Dampfmaschine auch eine "zur Erscheinung gebrachte Idee" ist und darob in Schönheit erstrahlt. Dagegen spricht er über Schönheit, die auch ohne geistige Schöpferkraft zustande kommen kann: Die Naturschönheit einer Landschaft zum Beispiel bezeichnet er als "primitive Schönheit" (S. 61). Wie dem auch sei: Die allgemeinen musikalischen Gesetze klammert Hanslick unter dem Titel "geistfähiges Material" aus der Betrachtung des musikalisch Schönen aus, und zwar selbst dann, wenn er auf Argumente stößt, die noch abstrakte Momente des Ästhetischen benennen:
"Viele Ästhetiker halten den musikalischen Genuß durch das Wohlgefallen am Regelmäßigen und Symmetrischen für ausreichend erklärt, worin doch niemals ein Schönes, vollends ein Musikalisch-Schönes bestand ... Symmetrie ist ja nur ein Verhältnisbegriff ... " (S. 83 f.)
Und was wäre, wenn Schönheit überhaupt nichts anderes zur Grundlage hätte als eben Verhältnisse (des Zusammenpassens)? Konsonanz, Dissonanz, Tonika, Tonart, Takt, Tonstufe, Intervall, Kontrapunkt und Motiv, das sind bei näherem Hinsehen alles Verhältnisbegriffe. Und in der Tat gehört auch die Symmetrie dazu. Bei diesen Verhältnissen handelt es sich wirklich um objektive, an der Sache feststellbare Beziehungen, und nicht um Tautologien und Fiktionen.
Übrigens verkennen auch die anderen Theoretiker das Ästhetische an den musikalischen Grundbestimmungen, die sie nämlich im Wesentlichen für mathematische Verhältnisse halten. Hanslicks Kommentar dazu ist aber ebenfalls verkehrt: "Nicht zufrieden, daß die Schwingungen der Töne, der Abstand der Intervalle, das Konsonieren und Dissonieren sich auf mathematische Verhältnisse zurückführen lassen, sind sie überzeugt, auch das Schöne einer Tondichtung gründe sich auf Zahlen." (S. 85) Hanslick teilt mit den Zahlenmystikern die Auffassung, Harmonie sei auf Zahlenverhältnisse gegründet, und will nur den Schluss daraus, dass dann das Ästhetische überhaupt eine Frage der Mathematik sei, nicht mitmachen. In den mathematischen Verhältnissen erkennt er nicht die äußerliche Erscheinung des klanglichen Zusammenpassens, sondern setzt jene dem Schönen entgegen, das für ihn gedankliche Qualität hat: "Die Mathematik regelt bloß den elementaren Stoff zu geistfähiger Behandlung und spielt verborgen in den einfachsten Verhältnissen, aber der musikalische Gedanke kommt ohne sie ans Licht." (S. 86) Hanslick glaubt also allen Ernstes, man könne sich eine schöne Melodie ausdenken, deren Tonverhältnisse nicht den harmonischen Gesetzen entsprechen, die in den mathematischen Schwingungsverhältnissen zwischen harmonierenden Tönen in Erscheinung treten.
Eine Tonfolge, die im Fortgang der Stimmbewegungen in gleicher oder ähnlicher Form wiederholt wird, nennt man Motiv. Motiv zu sein ist also der einer Tonfolge anhaftende Reflex einer melodischen Übereinstimmung. Es handelt sich dabei um eine jener Verhältnisbestimmungen, in denen Hanslick nichts Ästhetisches entdecken kann und von denen er keine gute Meinung hat. Wie fast alle Musikwissenschaftler damals und heute bemerkt Hanslick nicht, dass eine Tonfolge nur rückbezüglich aufgrund eines melodischen Vergleichs zum Motiv wird. Wie die andern Theoretiker mystifiziert er stattdessen das Motiv als eine Tonfolge, die angeblich einen irgendwie in sich abgeschlossenen 'Gedanken' darstellt und nur deswegen in einem Musikstück an verschiedenen Stellen auftaucht. Das solchermaßen verdreht aufgefasste Motiv ist daher wie geschaffen, um die Vorstellung vom geistigen Gehalt der musikalischen Ästhetik auszubreiten:
"Durch jene primitive, geheimnisvolle Macht, in deren Werkstätte das Menschenauge nun und nimmermehr dringen wird, erklingt in dem Geist des Komponisten ein Thema, ein Motiv. Hinter die Entstehung dieses ersten Samenkorns können wir nicht zurückgehen, wir müssen es als einfache Tatsache hinnehmen. Ist es erst einmal in die Phantasie des Künstlers gefallen, so beginnt sein Schaffen, welches, von diesem Hauptthema ausgehend und sich stets darauf beziehend, das Ziel verfolgt, es in allen seinen Beziehungen darzustellen. Das Schöne eines selbständigen einfachen Themas kündigt sich in dem ästhetischen Gefühl mit jener Unmittelbarkeit an, welche keine andere Erklärung duldet, als höchstens die innere Zweckmäßigkeit der Erscheinung ..." (S. 66)
Darin, dass sich die Komposition an allen möglichen Passagen imitierend auf eine bestimmte Tonfolge bezieht, kann Hanslick nicht den Existenzgrund des Motivs erkennen. Er bemerkt nicht, dass es sich bei dem Begriff Motiv um eine Formbestimmung handelt, dass also verschiedene Tonfolgen die Form des Motivs annehmen können. Er bringt den motivischen Inhalt – die Besonderheit einer Tonfolge – so sehr mit dessen Existenzweise in Form eines Motivs durcheinander, dass er sogar die Differenz von Form und Inhalt bestreitet: Bei einem Thema lässt sich angeblich "in gar keinem Sinne Form und Inhalt trennen. Will man jemand den »Inhalt« eines Motivs namhaft machen, so muß man ihm das Motiv selbst vorspielen."