Impressum

Renate Krüger

Doberaner Maßwerk - Einsichten und Sehweise

Literarische Reportage

 

ISBN 978-3-96521-220-6 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien erstmals 1989 im Union Verlag Berlin.

 

2020 EDITION digital

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Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

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Das Doberaner Münster war mir immer ein Ziel,

zu dem ich aufbrechen musste, kein Gegenüber, mit dem ich zusammen leben konnte und dessen Vertrauen sich mit großer Selbstverständlichkeit gewinnen ließ.

Der Aufbruch erfolgte meist mühsam und aus der Distanz. Sie trug verschiedene Namen. Eine kunsthistorische Aufgabenstellung. Eine Besichtigungsfahrt mit Gästen. Investitionen an Zeit und Anstrengung.

Seit einem Menschenalter übe ich mich nun auf dieses Ziel ein, versuche immer neuen Aufbruch. Die Distanz wurde um neue Namen bereichert. Erinnerung. Rückschau. Lebensgeschichte.

Das Münster hat zu seinen bisherigen mindestens fünfundzwanzig Lebensaltern ein weiteres dazugewonnen.

 

Am Anfang gab es endlos scheinende Eisenbahnfahrten entlang der Küste, eine Notenlinie mit Tönen, deren Klang, Inbegriff von Zeithaben und Weite, bis heute nicht verhallt ist. Groß Schwaß, Parkentin und Althof von der einen, Hagebök, Teschow, Kröpelin und Sandhagen nach der anderen Seite.

Am Anfang waren diese Namen noch eingebettet in kleine einzelbäuerliche Rechtecke, die dem Auge Ziel und Abwechslung boten. Die Abendfahrten führten über vergoldete Teppichböden. Wir alle waren damit ausgelastet, nach dem anstrengenden Überleben der Stunde Null einen ersten bescheidenen Wohlstand zu schaffen. Der Abschied von den Lebensmittelkarten bahnte sich an. Das Wort Konsum wurde noch auf der ersten Silbe betont und war auf bestimmte Organisationsformen des Handels beschränkt.

Einige wenige Urlauber gab es schon, Touristen noch nicht. Fußgänger und Radfahrer beherrschten die Szene. Parkplätze waren noch kein Kampfobjekt. Wenn der Molly über seine Schmalspurschienen bimmelte und schnaufte, rief er noch keine Oldtimer-Nostalgie hervor. Überhaupt – wer englische Begriffe oder andere Fremdworte benutzte, hatte sie meist in der Schule gelernt.

Und wer Einlass ins Münster begehrte, hatte etwas mit Religion oder Kunstgeschichte zu tun.

 

Vor einem Menschenalter gelang mir der Schritt über die Schwelle leicht. Zehn Jahre zuvor waren wir gerade noch einmal davongekommen. Auch das Münster hatte sich hinübergerettet. Unbelastet von Traditionen und Auflagen, machten wir uns an die Eroberung unserer Umgebung.

Neugierig betrachteten wir erst einmal die Kunstwerke vor unserer Haustür. Unbekümmert nahmen wir sie in Besitz, als seien sie herrenloses Gut. Mit einer Mischung aus Arroganz und Naivität klebten wir unsere frisch gelernten Etiketten darauf, die gewissermaßen noch nach Druckerschwärze rochen, Vokabeln, durch die wir uns von den Hinz-und-Kunz-Betrachtern zu unterscheiden glaubten. Leicht und gefällig kamen sie uns über die Lippen: Kathedralschema, Übergangsstil, Baunähte, Schöne Madonna, Versatzstücke, Klosterformat.

Wie sehr aber wunderten wir uns, als diese Worte allmählich zu eigenem Leben erwachten und Forderungen stellten. Als es für uns ernst wurde. Als Umrisse einer Welt auftauchten, von der wir bisher keine Ahnung hatten, obwohl wir doch ihre Sprache zu sprechen glaubten.

Jeder von uns näherte sich dieser Welt auf seine Weise, niemand ohne Mühe und Arbeit und Enttäuschungen. Wir nahmen eine Schwelle wahr. Es blieb nicht beim freundlich-unverbindlichen Schlendern um das Bauwerk, nicht bei der kurz greifenden Frage: Wie kommen wir am besten herum? Oder wenig später: Wie gehen wir damit um?

 

Im vergangenen Menschenalter meiner Münsterbegegnungen ist die Schwelle immer höher geworden. Manchmal brachten mich die Tiefen und Perspektiven, auf die ich mich da eingelassen hatte, in Angst. Manchmal war mir zumute, als würde ich mit ungeheuren Kräften hineingesogen.

 

Am Anfang hielt ich mich nicht mit der Schwelle auf. Ich hatte gerade einen sehr viel höheren Berg bezwungen, nämlich den Bücherstapel auf meinem Studentenschreibtisch, Materialsammlung zu einem Referat über die Tafelmalerei des Doberaner Münsters.

Ich hatte mir ziemlich schnell ein System zurechtgezimmert, einem Museum gleich. Dort konnte ich nun herumspazieren, die Bilder aufhängen und alles hineinpacken, was ich mir darüber angelesen hatte. Nie wieder habe ich mich so angstlos in die tiefen Fluten gestürzt. Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich auch nach einem ganzen Menschenalter noch immer nicht den Grund erreicht haben würde.

Nachdem ich mir alles schriftlich zurechtgelegt hatte, hüpfte ich über die Münsterschwelle und verglich die originalen Malereien mit den Abbildungen in meinen Büchern. Die gemalten Tafeln erschienen mir unzulänglich, verstaubt und unbequem. Sie ließen sich nicht auf den Schreibtisch packen und zu einem Referat verarbeiten. Ich konnte nicht den Schein meiner Schreibtischlampe darauf fallen lassen. Das strahlende wärmende Mittagslicht im Münster ging schnell in eine rötlich-graue Dämmerung über. Der beklagenswerte Zustand der halb zerstörten Malereien störte meinen Ordnungssinn. Mit Dias und Leinwand konnte ich besser umgehen.

Damals bastelte ich aus Literaturzitaten und vielen Schwarz-Weiß-Abbildungen ein Referat zusammen, eine leblose Faktensammlung. Aber ich verflocht mich dabei dennoch in ein vielfädiges Gewebe. Um meine Blicke zu entwirren, brauchte ich Distanz. Nun schicke ich mich an, das Münster erneut zu umkreisen.

 

Das Umkreisen ist zur Notwendigkeit geworden. Ich habe eine Aufgabe im ästhetischen Wirkungsbereich des Münsters übernommen; ich begleite die Arbeit des Fotografen, der neue Aufnahmen zu einem neuen Bildband machen soll.

Uns stehen drei Wochen zur Verfügung, eine lange Zeit. Wir haben den Herbst gewählt, der Fotograf will das Streiflicht nutzen, den Sonnenabschied. Und ich hoffe auf einen neuen Anfang.

 

Die offizielle Lesart heißt jetzt Klosterkirche. Ich möchte jedoch ungeachtet aller neuen Sprachregelung bei der Bezeichnung Münster bleiben. Sie ist mir ein vertrautes Gehäuse. Der Begriff Klosterkirche ist mir zu richtig.

 

Die Herbsttage formen sich zu goldenen Gefäßen. Wir können lange draußen sein und nutzen diese Möglichkeit bis zur letzten Minute. Gemeinsam suchen wir den besten Standpunkt für die angegebenen Motive. Der Fotograf lässt sich Zeit und ist erleichtert, dass ich ihn in Ruhe lasse, eigenen Gedanken und Blicken nachhänge.

Gemächlich spaziere ich immer wieder durch den als englischen Garten angelegten Park rund um das Münster. Man brauchte dieses Bauwerk als empfindsame Kulisse für gedankenschwere Spaziergänge, damals, als das Romantische und das Gotische noch identisch waren. Und gerade hier an der Küste, unter den vielfältig gefärbten Dunstschleiern zwischen Land und Meer, kam die Empfindsamkeit zu einer besonderen blasslila Blüte. Nur wenig weiter nach Osten richtete der Pastor und Dichter Kosegarten seine gefühlvollen Uferpredigten an Land und Meer und handfeste Fischerfamilien. Der Blick für das historisch Gewachsene und seine Eigengesetzlichkeit aber drang noch nicht durch seine feine verschleierte Farbenwelt. Aber der mecklenburgische Prediger und Landeskenner Wundemann denunzierte noch um 1800 die alten Eichenholzplastiken des Münsters als typische Verirrungen des Mönchsgeschmacks. Das klassizistische Doberan, die weiße, griechenkundige Baukunst des Architekten Severin lagen ihm näher.

Ein Münster ist immer in der Gefahr, zur Kulisse werden zu müssen. Hoffen wir dennoch auf Eigenständigkeit, die sich ständig erneuert.

Auch andere gehen durch den englischen Garten, Touristen, Gäste, Kurgäste vor allem, allein, eng umschlungen oder im nachsinnenden Nebeneinander. Das nahe Heiligendamm ist ein viel genutzter Kurort, Doberan ist mit seinem Prädikat Bad gewissermaßen sein Aushängeschild. Die Besonderheit, das älteste deutsche Seebad zu sein, trägt es stolz als historische Auszeichnung.

 

Ein Reisebus rollt heran, chromblitzend, Lack spiegelnd. Er gleitet auf den Parkplatz, unhörbar, aber es hält ihn nicht dort, es drängt ihn nach mehr Nähe zum Münster, und so schiebt er sich wieder zurück. Er balanciert seine Fahrgäste in unmittelbare Nähe des Münstereingangs, so dicht, wie es gerade noch möglich ist. Und dann schieben sie sich ins Münster hinein, ohne die Schwelle wahrgenommen zu haben.

Diese unsensible Art des Eintretens kann man nicht allein den Touristen anlasten. Sie ist ein notwendig gewordener Tribut an die gewachsene Freizeit. Jeder möchte sehen, genießen, erleben. Erobern, was bislang nicht zugänglich war. Der Sommer an der Küste ist kurz und intensiv. Das Interesse führt auch zu Staubildungen. Die Luftfeuchtigkeit im ständig menschengefüllten Münster steigt in den Bereich des Zerstörerischen. Erfordernisse der Sicherheit setzen neue Schranken. Man kann nicht ohne Weiteres allein herumlaufen.

Wie werden wir das Problem der kulturellen Intensivvermittlung lösen? Die Anforderungen denkmalpflegerischer Ökonomie?

Wie viele neue Sensibilitäten gilt es aufzubauen!

 

Immer wieder bleiben Spaziergänger beim Fotografen stehen und beobachten seine Arbeit, neugierig, mit überzeugender Kennerschaft, auch besserwisserisch. Jemand lässt seine Blicke unwillig die Münsterfassade hochklettern, als fürchte er, sie könne dem Fotografen im Wege stehen. Fast alle, die das Münster umkreisen, haben einen Fotoapparat bei sich, manche im Anschlag, die meisten auf der Suche nach dem Punkt, von dem aus man das Ganze erfassen könnte, die Gesamtaufnahme. Sie ist schwierig genug, nicht nur technisch.

Es erscheint immer wieder erstrebenswert: das ganze Münster zum Mitnehmen!

Aber - ist es nicht vielleicht doch möglich?

Umschreiten.

Es gibt nur wenige Kirchen, die sich so ungehindert umkreisen lassen, da sie aller ihrer Schutzhüllen, der Nebengebäude, beraubt worden sind. Umschreiten ist Fortschreiten, vielleicht sogar in des Wortes ureigenster Bedeutung.

Fortschreiten – Prozedere – dieses Wort verzweigte sich zu Prozess und Prozession. Ist meine Prozession um das Münster nur eine ästhetische Kulthandlung? Oder ein Prozess, der mich dem Wesen näherbringt? Dem Menschen?

So nahm man in den alten Mythen und Kulten etwas in Besitz: Man ging mehrere Male herum. Aber nicht, um es zu vereinnahmen, in die Tasche zu stecken und sich letzten Endes damit zu belasten, sondern um etwas zu finden, vor allem sich selbst.

Das Umschreiten des Münsters, so wie es heute möglich ist, lag nicht in der Absicht der Erbauer. Der frühere Weg um das Münster war ja sehr viel länger. Man umrundete die Klostergebäude mit dem weiträumigen Wirtschaftskomplex, von dem die Kirche wie von einem Wall umgeben war. Heute ist das alles verschwunden.

Das heute höchst ökonomische Recycling hatte einen zerstörerischen Vorgängerprozess. Die mecklenburgischen Herzoge nämlich, in deren Besitz das Münster nach der Reformation gefallen war, betrachteten die Gebäude als fast unerschöpfliche Rohstoffquelle. Der Abbruch der großformatigen Ziegel kam billiger als der aufwendige Betrieb einer Ziegelei. So ließ sich leicht bauen. Auch im Güstrower Schloss stecken Ziegel aus dem Doberaner Kloster.

 

Das Doberaner Münster ist kein weithin sichtbarer Zielpunkt, keine Land- oder Seemarkierung. Es reiht sich nicht ein in die Kette der Türme an Horizont der Ostseeküste, denn es besitzt keinen hochaufragenden Turm wie die übrigen Küstenkirchen in Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, sondern gemäß den Bauvorschriften des Zisterzienserordens nur einen kleinen Turm auf dem Schnittpunkt von Lang- und Querhaus, einen Dachreiter. Er zeigt nicht mehr seine ursprüngliche Gestalt. So ist man fast überrascht, dass sich hinter hohen Bäumen in einer Senke ein so ansehnliches Bauwerk verbirgt.

Vom Buchenberg aus sieht man über die stattliche Klostermauer und den englischen Garten hinweg die Stadt wie in einem Kessel liegen, von niedrigen, amphitheatralisch ansteigenden Hügeln umgeben. Am Fuße des Berges das Münster, blockhaft körperlich aufgebaut, zum Berühren, zum Ergreifen fast, bis ins letzte kleinste Detail durchgestaltet. Im Osten der Kapellenkranz, der den hoch aufragenden Chor stützt und trägt. Schon von hier aus ist die Kreuzesform deutlich sichtbar. Die Wertung, die Bedeutung setzen das Maß des Ordnens, des Abstufens, der Betonung.

Fast burgturmähnlich steil das Nordquerschiff mit den beiden stabartigen Treppentürmen und den schmalen zugespitzten Mauerdurchbrüchen, für die man die Bezeichnung Fenster eigentlich gar nicht gebrauchen möchte. Der Norden gilt in der alten Symbolik als der Ort des Dunklen, aus dem auch das Böse kommt, gegen das man sich wappnen muss. Der Zisterzienserorden entstand in der Blütezeit der Ritterkultur.

Heiter wirkt die Westfassade mit ihrem lebhaft ornamentierten Ziergiebel, hinter dem der Dachreiter sichtbar wird. Beim Näherkommen gleitet das Auge verwundert, ja verwirrt über die Baunähte des allein erhaltenen romanischen Altbauteils mit dem unbefangen durchtrennten Treppengiebel und Rundbogenfries.

Prächtig heiter in der warmen Südbeleuchtung ist auch die Eingangsseite, mit unzähligen Variationen aufgegliedert durch Fenster, Gesimse, Streben, Dachabschnitte, Abstufungen.

Welcher Blick, welches Bild aber erfasst das Ganze? Die Körperhaftigkeit dieser Kirche, die doch nicht anthropomorph, nicht menschengestaltig ist?

Denn wie ein Körper ist dieser Bau hingelagert und gegliedert. Da wir zu diesem anderen Körperhaften in Beziehung treten können, entsteht so etwas wie ein Vertrauensverhältnis. Es erfüllt uns mit Freude am Lebendigen, Organischen, dass es kaum rechte Winkel gibt. Doch diese Erfahrung ist auch wieder nur Detail, nicht das Ganze.

 

Am nächsten Tag halte ich die ersten Probeabzüge in Händen. Mich faszinieren die vielfältigen Lichtwirkungen. Die feinen Unterschiede in der Beleuchtung.

Am schönsten ist die Südfassade im Streiflicht des Nachmittags. Freundlich und deutlich treten die Details hervor, die Blenden, die Blendfriese. Diese Reihung von Ornamenten vermittelt das Bewusstsein von Festigkeit, ja von Sicherheit. Der spröde Backstein erlaubt nur wenige Verzierungen. Im Menschen aber lebt ein so starkes Schmuckbedürfnis, dass Erfindungsgabe und Fantasie auch an diesem rechtwinklig harten Material nicht scheiterten.