© Isabelle Grubert
Die Autorin
Monika Feth wurde 1951 in Hagen geboren, arbeitete nach ihrem literaturwissenschaftlichen Studium zunächst als Journalistin und begann dann, Bücher zu verfassen. Heute lebt sie in der Nähe von Köln, wo sie vielfach ausgezeichnete Bücher für Leser aller Altersgruppen schreibt.
Der sensationelle Erfolg der »Erdbeerpflücker«-Thriller machte sie weit über die Grenzen des Jugendbuchs hinaus bekannt. Ihre Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Mehr über die Autorin unter:
www.monikafeth-thriller.de
www.monika-feth.de
www.facebook.com/Monika.Feth.Schriftstellerin
Weitere lieferbare Bücher bei cbt:
Die »Erdbeerpflücker«-Thriller:
Der Erdbeerpflücker (Band 1)
Der Mädchenmaler (Band 2)
Der Scherbensammler (Band 3)
Der Schattengänger (Band 4)
Der Sommerfänger (Band 5)
Der Bilderwächter (Band 6)
Die »Romy«-Thriller:
Teufelsengel (Band 1)
Spiegelschatten (Band 2)
Du auf der anderen Seite
Fee – Schwestern bleiben wir immer
Nele oder Das zweite Gesicht
Die blauen und die grauen Tage
Monika Feth
Der
Libellenflüsterer
»Kann man jemanden lieben,
vor dem man Angst hat?«, fragte ich.
»Du kannst Angst vor jemandem haben,
den du liebst«, antwortete Merle.
Der Erdbeerpflücker
Beim Laufen stelle ich mir immer vor, hinter den Feldern sei das Meer. Weite bis zum Horizont, hier und da eine Scheune aufs Grün getupft, knorrige Obstbäume entlang der Wege, vom ständigen Wind gegen den Strich gebürstet.
Im Sommer und im Herbst kommen die Leute aus der Stadt hierher und ernten die Äpfel, Birnen und Pflaumen, die niemandem gehören und allen. Viele schlagen die Früchte brutal mit Stöcken von den Zweigen, während auf der Erde das Fallobst vergammelt, umsurrt von betrunkenen Wespen.
Doch noch war April, und das Wetter wechselte von einem Moment auf den andern, so, wie es sein muss.
Heute brauchte ich mir das Meer nicht vorzustellen, denn es umgab mich von allen Seiten. Die Felder waren kilometerweit mit durchsichtiger Folie abgedeckt, um das Reifen der Erdbeerpflanzen voranzutreiben. In regelmäßigen Abständen war sie mit Sandsäcken beschwert, um zu verhindern, dass sie davonflatterte.
Der Wind trieb Wellen in das künstliche Meer, das so intensiv im Sonnenlicht glitzerte, dass ich fast meinte, Salz auf den Lippen zu schmecken und die Schreie der Möwen hoch oben in der Luft zu hören. Er blies mir das Haar aus dem Gesicht, kühlte den Schweiß auf meiner Haut und erzeugte dieses Glücksgefühl in mir, nach dem ich süchtig geworden war. Es ließ mich so beschwingt laufen, dass meine Füße den Boden kaum zu berühren schienen.
Nach dem langen Winter freute ich mich über jeden Sonnenstrahl. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke auf und schlug den Weg zu dem kleinen Wäldchen ein, das ich jedes Mal umrundete, ohne es je zu betreten.
Etwas daran war mir unheimlich. Es war, als würden sämtliche Geräusche in seiner Nähe verstummen. Es gab nur noch die Bäume und Sträucher, seltsam unberührt von dem Wind, der über die Felder fegte, das Geräusch meiner Schritte und mein Keuchen, das ich vergeblich zu unterdrücken versuchte.
Wie war dieser Flecken inmitten der Felder entstanden? Hatte ihn jemand angelegt? Gab es darin verborgen ein Gebäude, das man von außen nicht sehen konnte? War es ehemaliges militärisches Gebiet? Hatte man hier einen Bunker gebaut?
Aber warum gab es dann keinen Zaun? Keine Mauer? Und wieso wirkte es trotzdem so abgeschottet?
Es verschluckte den Tag und das Licht.
Sogar den Gesang der Vögel.
Schaudernd beschleunigte ich das Tempo und machte mich auf den Heimweg.
Unser Bauernhof war das schönste Haus in Birkenweiler. Ich dachte es jedes Mal, wenn ich es von Weitem erblickte. Seit wir in diesen Stadtteil Bröhls gezogen waren, hatte ich den Schritt noch keinen Tag bereut. Im Gegenteil. Hier befand sich alles, was mir wichtig war.
Ich streifte die durchgeschwitzten Sachen ab und stellte mich unter die Dusche. Während mir das Wasser auf den Kopf prasselte und über den Körper rann, spürte ich, wie sich die Nervosität, die ich beim Laufen komplett verloren hatte, leise wieder meldete.
Zehn Minuten später war ich angezogen und betrat mit feuchten Haaren Lukes Zimmer, das noch vor Kurzem Teil des Stalls gewesen war.
»Möchtest du, dass ich dich begleite?«, fragte Luke und hielt mitten in der Bewegung inne, einen schweren Umzugskarton mit Büchern vor dem Bauch. Die Sehnen an seinen Unterarmen traten von der Anstrengung hervor, und ich merkte wieder, wie sehr ich alles an ihm liebte, selbst den Schweiß auf seiner Stirn.
»Besser nicht.« Ich ließ den Blick über das Chaos wandern. »Mach lieber hier weiter.«
»Die Arbeit läuft mir nicht weg«, widersprach er. »Ich hab noch den ganzen Tag vor mir.«
Und morgen, dachte ich glücklich.
Und übermorgen.
Und überübermorgen.
Ab jetzt haben wir alle Zeit der Welt.
Ich setzte mich auf eine der an der Wand entlang gestapelten Kisten und beobachtete, wie er den Bücherkarton auf einen der übrigen wuchtete. Er richtete sich auf und rieb sich mit dem Handrücken über die Schläfe. Ein Schmutzstreifen blieb zurück.
»Das muss ich ohne dich hinkriegen.« Ich widerstand der Versuchung, zu ihm zu laufen und ihn zu küssen, ihm den hinreißenden Schmutzstreifen abzuwischen und ihn noch einmal zu küssen. »Es gibt Dinge, da muss man alleine durch.«
»Ich will ja nicht mit rein.« Luke stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand und als Ablagefläche für alles Mögliche diente, hauptsächlich für das Werkzeug, das er benötigte, um seine Möbel aufzubauen. Er sah mich auf diese Weise an, die meine Knie weich werden ließ. »Ich will dich nur hinfahren und auf dich warten, bis du fertig bist. Und dich dann zu einem Eis einladen.«
»Wünsch mir einfach Glück«, bat ich ihn, fest entschlossen, mich nicht umstimmen zu lassen. Das hatten Merle und Mike bereits versucht. Anscheinend waren sie alle versessen darauf, den Chauffeur für mich zu spielen. Ich glitt von der Kiste und trat auf Luke zu. »Spuckst du mir mal über die Schulter?«
Er zog mich an sich und küsste mich, bevor er neben meinem Ohr dreimal leise »toitoitoi!« rief.
An der Tür drehte ich mich noch einmal um. Er stand ein wenig unschlüssig zwischen seinen Sachen, als hätte er vergessen, was er als Nächstes tun wollte.
»Du schaffst das.« Er reckte den Daumen in die Luft. »Wenn nicht du – wer dann?«
Da war ich mir gar nicht so sicher. Ich hatte Isa den Grund für meinen Besuch nicht verraten, hatte sie nur gebeten, vorbeikommen zu dürfen, um etwas mit ihr zu besprechen. Falls sie verwundert gewesen war, so hatte sie mich das nicht spüren lassen. Möglicherweise, dachte ich jetzt wieder, lacht sie sich gleich über meine Bitte tot oder wirft mich nach dem ersten Satz raus.
In der Küche saß Mike bei einem späten Frühstück. Er hatte die ganze Nacht in seiner Werkstatt gesägt und geschraubt. Mittlerweile hatte sich herumgesprochen, wie gut er arbeitete. Er hatte ein paar schöne alte Möbelstücke für einen stinkreichen Typen in Bad Godesberg restauriert. Seitdem konnte er sich über mangelnde Aufträge nicht beklagen.
»Lässt du die Uni heute dann sausen?«, fragte er.
Ich holte den Orangensaft aus dem Kühlschrank und füllte ein Glas bis zum Rand. Nachdem ich die Hälfte getrunken hatte, setzte ich mich zu Mike an den Tisch. Schwitzwasser bildete sich am Glas. Ich nahm noch einen Schluck.
»Hallo?« Mike beugte sich zu mir vor. »Jemand zu Hause?«
»Entschuldige. Was hast du gefragt?«
»Ob du heute blaumachst.«
»Nein. Nach dem Gespräch mit Isa fahr ich direkt nach Köln.«
»Nervös?«
»Tierisch.«
»Kann ich mir vorstellen.« Mike betrachtete das Brötchen in seiner großen Hand, als überlegte er, ob und wie er hineinbeißen sollte. Schließlich legte er es unverrichteter Dinge auf den Teller zurück. »Und du willst wirklich nicht …«
»Wirklich nicht.« Ich strich ihm über die Schulter, trank den Saft aus und ging in mein Zimmer, um meine Tasche zu holen.
Ich hätte jetzt gern ein paar Worte mit Merle gewechselt, aber die war längst im Tierheim. Für heute standen Impfungen an, zu denen die Tierärztin ins Heim kam, weil der Transport mehrerer Tiere einfach zu schwierig war und der einzelner Tiere zu kostspielig. Den Gedanken, sie kurz anzurufen, verwarf ich, weil ich wusste, wie sehr die Mitarbeiter an den Arzttagen rotierten.
Die Sonne verausgabte sich, und der Himmel war zum ersten Mal so blau, dass man fast schon den Frühling riechen konnte. Erwartungsvoll stieg ich in meinen Peugeot. Ich hatte große Lust, mit offenem Verdeck zu fahren, doch dazu war es noch zu kalt. Stattdessen machte ich das Fenster auf und drehte das Radio so laut, dass ich die Vibration der Bässe bis in die Fingerspitzen spüren konnte.
An einer Ampel versuchte ein Typ in einem Land Rover, mit mir zu flirten. Er schob sich die bombastischste Sonnenbrille ins Haar, die ich je gesehen hatte, kniff die Augen zusammen und schickte mir ein Lächeln rüber, das womöglich auf Frauen wirkte, die auf fette Autos standen. Mich ließ es kalt, und als die Ampel auf Grün sprang, schoss sein Wagen beleidigt davon.
Mein Handy klingelte. Ein Blick auf das Display zeigte mir, dass meine Mutter versuchte, mich zu erreichen. Sie rief fast jeden Morgen an, um mir einen schönen Tag zu wünschen. Ich hatte beschlossen, diese Angewohnheit nicht als Einmischung in mein Leben zu betrachten, sondern einfach als freundliche Geste.
Doch jetzt konnte ich das Gespräch unmöglich annehmen. Ich würde mich verplappern und sie würde mich von meinem Vorhaben abbringen wollen. Es war besser, das Treffen mit Isa abzuwarten, bevor ich mich unter die Argusaugen meiner Mutter traute, die offenbar die Fähigkeit besaß, mich selbst durchs Telefon zu beobachten.
Ich fand eine Lücke auf dem Parkstreifen vor dem Polizeigebäude, atmete tief durch und stieg aus. Isa wartete vor der Tür auf mich, wie sie es versprochen hatte. Sie lotste mich an dem telefonierenden Beamten in der Halle vorbei und führte mich über einen schwarzen Fliesenboden, der glänzte wie ein unbewegter See in der Unterwelt.
»Fahrstuhl oder Treppe?«, fragte sie. »Mein Büro ist ganz oben.«
Das waren sechs oder sieben Stockwerke, wenn ich draußen richtig hingeguckt hatte.
»Treppe.«
»Prima.« Sie wirkte erleichtert. »Dieses ewige Sitzen ist die Hölle.«
Sie nahm die Stufen locker. Erst in der dritten Etage beschleunigte sich ihr Atem ein wenig, aber sie konnte sich immer noch mit mir unterhalten, ohne nach Luft zu schnappen.
»Sie machen Sport, stimmt’s?« Prüfend musterte sie mich.
»Ja. Ich laufe.«
»Ich auch.« Sie nickte mir anerkennend zu. »Schon immer?«
»Absolut nicht. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich damit angefangen habe. Irgendwann hab ich es ausprobiert und jetzt bin ich davon abhängig.«
»Kenn ich. Wenn ich nicht zum Laufen komme, bin ich ungenießbar. Dann hält es keiner mit mir aus.«
Wir hatten den obersten Treppenabsatz erreicht und gingen einen Flur entlang, hinter dessen Türen man Stimmen hörte und das Klingeln von Telefonen. Niemand begegnete uns. An einem Kaffeeautomaten blieb Isa stehen.
»Kaffee, Cappuccino oder Kakao?« Sie zog zwei Münzen aus ihrer Hosentasche. »Sie haben die Wahl. Aber irgendwie schmeckt sowieso alles gleich.«
»Cappuccino, bitte.«
Isa schob zwei dunkelbraune Plastikbecher ineinander, bevor sie sie unter die Düsen stellte. »Sie sind sonst so heiß, dass man sie kaum anfassen kann«, erklärte sie. Vorsichtig balancierte sie einen Cappuccino und einen Kaffee zu der hintersten Tür und drückte mit dem Ellbogen die Klinke runter.
In ihrem Büro stellte sie die Becher auf einem weißen Schreibtisch ab. Durch das Fenster sah man auf die Straße, auf der es von Menschen wimmelte. Rechts blickte man auf ein Bürogebäude. Ein Flugzeug brummte hoch oben in der Luft und hinterließ einen weißen Streifen auf dem Stück Blau, das sich trotzig gegen schnell heranziehende Wolken behauptete.
Volle, aber aufgeräumte Regale, die vom Boden bis zur Decke reichten. Fachliteratur, wie ich sie von Tilo kannte. Zeitschriften, die auch in seinen Regalen lagen. Weiße, halbhohe Aktenschränke an der Fensterwand.
Kein Foto auf dem Schreibtisch, dafür jede Menge Unterlagen, Stifte, aufgeklappte Bücher. In einer Ecke ein runder weißer Tisch mit vier weißen Stühlen. In der Mitte des Tischs eine Vase mit einem Strauß kurzstieliger gelber Rosen.
Isa deutete auf einen der Stühle. Ich entschied mich für den Platz, von dem aus ich das Zimmer im Blick hatte. Isa holte die Kaffeebecher und zog eine Packung Kekse aus der Schreibtischschublade.
»Schokotaler aus dem Weltladen«, sagte sie. »Da könnte ich mich glatt reinlegen.«
Ein Spruch, den man im Rheinland häufig hört. Auch Merle verwendete ihn oft. Ich musste mir immer das Lachen verkneifen.
»Was kann ich für Sie tun?« Isa hob den Kaffee an die Lippen und sah mich durch den aufsteigenden Dampf hindurch aufmerksam an.
Der kümmerliche Schaum auf meinem Cappuccino sackte bereits in sich zusammen, doch als ich trank, merkte ich, dass es mir schmeckte.
Obwohl ich mir hundert Mal überlegt hatte, wie ich meine Bitte möglichst geschickt vortragen sollte, tat ich jetzt das genaue Gegenteil: Ich fiel plump mit der Tür ins Haus.
»Ich will Polizeipsychologin werden«, sagte ich ohne Vorwarnung. »Genau wie Sie. Ich studiere Psychologie, aber das reicht mir nicht. Ich möchte die Praxis kennenlernen. So schnell wie möglich.«
»Welches Semester?«
Isa wirkte nicht im Mindesten überrascht.
»Zweites.«
Ich hörte selbst, wie blöd das klingen musste. So als ob sich ein Grundschüler nach dem Abi erkundigt.
Aber Isa schien sich auch darüber nicht zu wundern. Sie musterte mich nachdenklich und nahm einen Schluck Kaffee.
Es war noch kein Jahr her, dass sie mir und Luke das Leben gerettet hatte. Sie selbst hatte sich dabei eine Kugel eingefangen und wäre beinah gestorben.
Ihr Gesicht war schmaler geworden, und ich meinte, ihm noch Spuren der Strapazen anzusehen, die sie im Krankenhaus und in der Reha hatte durchmachen müssen. Und plötzlich fand ich es unverzeihlich, dass ich ausgerechnet sie mit meiner Bitte behelligte. Ich hatte nur noch das Bedürfnis, aufzustehen und so rasch wie möglich ihr Büro zu verlassen.
»Entschuldigung. Ich hätte nicht herkommen sollen.«
Ich stellte den Cappuccino ab.
Sie betrachtete ihre Hände, die sich um den Kaffeebecher gelegt hatten, als wollten sie sich daran wärmen. Als sie wieder aufschaute, war ein Lächeln in ihren Augen und so etwas wie … Respekt.
»Für ein Praktikum ist es zu früh«, sagte sie. »Das geht ja nur in den Semesterferien. Ihr Stundenplan sieht, wie Sie wissen, so etwas auch noch gar nicht vor. Allerdings …« Ihr Zögern ließ mein Herz schneller schlagen. Meine Hände wurden feucht. »… bin ich tatsächlich gerade auf der Suche nach ein bisschen Hilfe, weil die Studentin, die bisher ab und zu für mich gearbeitet hat, an eine andere Uni gewechselt ist. Ich muss das natürlich noch mit meinem Chef abklären. Aber wären Sie an einem kleinen Job interessiert?«
Wieder hatte ich das dringende Bedürfnis, aus dem Zimmer zu stürzen.
Diesmal vor Glück.
Ich musste Merle anrufen. Luke und Mike. Und Ilka und Mina.
Mein Puls brauchte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte, dann war ich endlich in der Lage, mit Isa über meinen neuen Job zu sprechen.
*
Merle liebte ihre Arbeit. Leidenschaftlich.
Sie hatte nie etwas anderes tun wollen, als sich um Tiere zu kümmern, die auf der Schattenseite des Lebens geboren waren. Obwohl sie das Abi wider Erwarten locker geschafft hatte, war ihr nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, ein Studium anzufangen. Sie plante nicht gern in die Zukunft, lebte lieber im Hier und Jetzt und das mit allen Konsequenzen.
Doch so wohl sie sich bei der Arbeit im Tierheim auch fühlte – eines machte sie fertig: mit anzusehen, wenn den Tieren Schmerzen zugefügt wurden, was sich mitunter nicht vermeiden ließ.
Natürlich wusste sie, dass Impfungen notwendig waren, denn es gab Krankheiten, die Hunde und Katzen innerhalb weniger Tage dahinraffen konnten. Katzenseuche. Staupe. Oder Tollwut, die von vielen Tierhaltern noch immer unterschätzt wurde.
Die Tiere verstanden jedoch nicht, was mit ihnen passierte. Sie gerieten in Panik, versuchten verzweifelt, sich aus dem Griff der Hände zu befreien, die sie festhielten. Ihre Herzen pochten, als wollten sie zerspringen.
Merle hasste es, diejenige zu sein, die sie dieser Tortur auslieferte. Es schnürte ihr jedes Mal die Kehle zu.
Mit den Hunden waren sie rasch durch. Nun kamen die Katzen an die Reihe. Sie wehrten sich heftiger, deshalb floss bei ihrer Behandlung häufig Blut.
Diesmal erwischte es Merle. Sie fing sich einen Kratzer ein, der quer über ihren linken Handrücken lief und höllisch brannte.
Es war ausgerechnet Karlchen gewesen, der sie gekratzt hatte. Karlchen, der keiner Fliege etwas zuleide tat, der nicht mal wusste, dass es sich bei einer Maus um einen Leckerbissen handelte oder dass man Vögel auch jagen konnte, statt ihnen nur sehnsüchtig nachzuschauen.
Merle nahm es ihm nicht übel. Karlchen hatte sich längst in ihr Herz geschlichen und sogar in das der Heimleiterin.
Frau Donkas, die bei den Tieren stets eisern Distanz wahrte, hatte bei Karlchens Anblick die Segel gestrichen. Immer häufiger tauchte sie unter fadenscheinigen Gründen im Katzenhaus auf, um Sekunden später mit seligem Blick Karlchen umherzutragen.
Er war ein zierlicher roter Kater im besten Alter, der sein bisheriges Leben bei einem Schauspieler verbracht hatte, der plötzlich und unerwartet verstorben war. Merle hatte den Mann einmal im Theater am Dom auf der Bühne gesehen. Seine Stimme war ihr durch Mark und Bein gegangen. Ob er laut oder leise gesprochen, geschrien oder geflüstert hatte – sie war in jede Zelle ihres Körpers gekrochen.
Vielleicht hatte Karlchen von ihm gelernt. Selten war Merle einer Katze begegnet, die auf so vielerlei Arten sprechen konnte und die Menschen so mühelos für sich einnahm.
Die Tierärztin desinfizierte Merles Wunde und klebte ein Pflaster darauf, bevor sie weitermachten. Man durfte mit solchen Verletzungen nicht spaßen. Sie konnten sich böse entzünden.
Nach seinem Ausbruch hatte Karlchen sich beruhigt, und er sah Merle mit einem Ausdruck an, als wollte er sich für seine Grobheit entschuldigen.
»Schon gut«, murmelte sie, als sie ihn wieder in den Katzenkorb setzte. »Alles okay, mein Kleiner.«
Sie sehnte sich nach frischer Luft. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln und dem Angstschweiß der Tiere war ihr so tief in die Nase gedrungen, dass sie befürchtete, für den Rest des Tages nichts anderes mehr wahrnehmen zu können.
Die Tür wurde aufgestoßen und mit den für sie typischen energischen Schritten betrat Frau Donkas den Behandlungsraum. Sie hatte ein Gespür dafür, Augenblicke zu erwischen, in denen sie störte.
»Merle?«
Merle. Und ein langes, deutlich hörbares Fragezeichen. Nicht: Merle, hätten Sie wohl einen Moment Zeit für mich? Oder: Komme ich ungelegen, Merle? Nein. Mit Höflichkeit hielt sie sich nicht auf.
Aber sie hatte ein unerschöpfliches Herz für Tiere. Ständig war sie unterwegs, um Geld für das Heim aufzutreiben, auch wenn ihr Privatleben dabei auf der Strecke blieb.
»Ich bin gleich weg. Kommen Sie hier klar?«
Das fragst du doch sonst auch nicht, dachte Merle, während sie behutsam Marylin auf dem Behandlungstisch absetzte, eine wilde Katzenschönheit, die erst vor wenigen Wochen im Keller einer Berufsschule eingefangen worden war.
Marylin fauchte und spuckte. Um ein Haar hätte Merle sie losgelassen.
»Klar komm ich klar«, sagte sie.
Ihr Blick begegnete dem belustigten Blick der Tierärztin.
»Klar«, wiederholte die Ärztin schmunzelnd.
Merle lachte leise. Marylin unter ihren Händen entspannte sich ein wenig.
»Ich bin über Handy erreichbar«, verkündete Frau Donkas, als wäre das eine unerhörte Neuigkeit, riss die Tür auf und verschwand.
»Und nun schmeißen Sie den Laden hier ganz allein?«, fragte die Tierärztin. »Alle Achtung.«
Wie anstrengend der Tag werden würde, hing davon ab, wie lange die Impfungen noch dauern, wie viele Besucher am Nachmittag erscheinen und ob es einen Notfall geben würde oder nicht. Ann hatte sich krankgemeldet. Robbie kämpfte gegen eine Erkältung an. Kein Wunder, denn die beiden waren mittlerweile ein Paar geworden und lebten zusammen. Wenn der eine von einem Virus heimgesucht wurde, gab er es sofort an den andern weiter.
»Siehst du, Marylin.« Merle verschloss behutsam das Törchen des Katzenkorbs. »Schon passiert. War doch gar nicht so schlimm, oder?«
Die Katze, die nicht daran gewöhnt war, von Menschen berührt zu werden, starrte sie aus weiten Augen an. Merle seufzte. Das Erlebnis bedeutete einen Rückschlag. Sie würden sich Marylins Vertrauen mühsam wieder erarbeiten müssen.
Sie schaute auf die Uhr. Kurz nach zehn. Die Zeit kroch nur so dahin. Noch eine halbe Stunde, bevor sie das hier hinter sich hatte und sich anderen Arbeiten widmen konnte.
Das Diensttelefon vibrierte in ihrer Hosentasche. Sie ignorierte es, weil sie gerade den lautstark protestierenden, sich mit allen vieren sträubenden Jumper aus seinem Korb zu heben versuchte. Danach würde sie telefonieren müssen. Sie hoffte inständig, dass keine der hinterlassenen Nachrichten sie zu einem Notfall rief.
Nur das nicht, dachte sie. Nicht heute, nach diesem fürchterlichen Morgen.
Ihre Hand, die immer noch brannte, begann jetzt zu schmerzen. Ihr Magen knurrte. Der Kopf tat ihr weh. Sie lechzte nach einem Kaffee und hätte gern für ein paar Minuten Ruhe gehabt. Doch die würde sie nicht finden. Irgendwas sagte ihr, dass es nur noch schlimmer werden würde.
Sie vertrieb den Gedanken und sprach besänftigend auf den vor Angst hechelnden Jumper ein. Augenblicklich beruhigte er sich, schmiegte sich an sie und ließ die Untersuchung in ihren Armen über sich ergehen, ohne aufzumucken.
»Sie machen das fantastisch«, lobte die Tierärztin, aber Merle hörte ihre Worte nur noch von Weitem. Der Vormittag war ins Wanken geraten, ohne dass sie hätte sagen können, warum.
*
Mama hat geweint. Lo erkennt es an ihren Augen.
»Kakao?«, fragt Mama.
Lo nickt und steckt den Daumen in den Mund.
Mama gießt Milch in den kleinen Topf auf dem Herd. Sie tut das jeden Morgen. Es macht Lo ein warmes, kuschliges Gefühl, wenn sie Mama dabei zusieht.
Sogar heute.
Gerade heute.
Mama räumt Papas Teller und seine Tasse in die Spülmaschine. Die aus dem letzten Loch pfeift. Das hat Mama gestern Abend gesagt. Und dann hat sie Papa vorsichtig gefragt, ob sie nicht eine neue kaufen können.
»Hast du sie noch alle?«, hat Papa sie angeschrien. »Glaubst du, ich drucke das Geld im Keller?«
Mama hat ihm ein zweites Stück Fleisch auf den Teller gelegt und sich über ihren eigenen Teller geduckt.
»Ob du das glaubst?«, hat Papa gebrüllt.
»Nein«, hat Mama gesagt. »Entschuldige. Das war dumm von mir.«
Papa hat seinen Teller leer gegessen und mit Brot die Soße aufgetunkt. Dann hat er Mama lange angeguckt.
Lo hat sich nicht getraut, den Daumen in den Mund zu schieben. Sie hat Angst gehabt, Papa würde ihn wieder mit Senf bestreichen.
»Wozu hast du einen Kopf auf dem Hals, wenn du ihn nicht zum Denken benutzt?«
»Es tut mir leid …«
»So«, hat Papa mit gefährlich leiser Stimme gesagt. »Es tut dir leid, ja?«
Er hat sein Glas leer getrunken und sich neuen Wein eingeschüttet. Sein Arm hat Teller und Schüsseln vom Tisch gewischt. Mit einem lauten Knall ist alles in Scherben gegangen und durch die Küche gespritzt.
Papa hat auf die Scherben, Fleischstücke, Kartoffeln und Blumenkohlröschen gezeigt.
»Mach das weg!«
Da ist Lo längst schon unsichtbar gewesen.
Keiner konnte sie finden.
Keiner berühren.
Keiner ihr wehtun …
Sie hat sich auf ihr Bett verkrochen und von unten die Fernsehgeräusche aus dem Wohnzimmer gehört. Hat Amanda ganz fest an sich gedrückt.
Irgendwann in der Nacht ist sie wach geworden.
Von Papas Schreien.
Mamas Weinen.
Den Geräuschen …
»Hier. Dein Kakao.«
Mama streicht ihr übers Haar. Sie setzt sich zu ihr an den Tisch. Trinkt von ihrem Kaffee. Lächelt.
Lo hält Amanda auf dem Schoß. Früher konnte Amanda Mama sagen. Aber ihre Puppenstimme ist kaputtgegangen.
Genau wie Los Stimme.
Weg. Einfach weg.
Nur die Wörter sind noch da. Fest verschlossen in ihrem Kopf.