Martin Hocke
Roman
Aus dem Englischen
von Irene Bonhorst
Für Pauline
und mit großem Dank
an Jenny Picton,
ohne deren Hilfe usw.
Nur dort tönt's noch durch alte Rudera,
Wo es der Eule Murrinn Lunen klagt,
Dass noch ein Wandrer, ihrer Grotte nah,
Ihr ödes Heiligtum zu stören wagt.
THOMAS GRAY
Elegie, geschrieben auf
einem Dorfkirchenhof
(Ü.: Gottfried Seume)
… Im Reich
der Hühner kommt Eule
einem Gott gleich.
Verflogener Wind auf der Haut. Feiner
Regen in den Knochen. Eule dämmert
Wie der Tag. Bin eine Eule, bin eine Eule.
GEORGE MACBETH
Eule
Am Anfang war ein Sonnenstrahl, in dem winzige Teilchen von Staub und Heu tanzten, während der Strahl gefiltert durch die Dachsparren des Schuppens einfiel, wo Hunter das erste Tageslicht erblickte. Schläfrig und im Gefühl der Geborgenheit ließ er die Stunden des späten Tageslichts im Schlummer verstreichen, gewärmt durch die Anwesenheit seiner Mutter und der beiden Kleinen, die bald neben ihm im Nest erschienen.
Wenn die Tage verblassten und sich die Abenddämmerung zur Nacht verdichtete, löste ein Strahl von Mondlicht den Sonnenstrahl ab, weckte die drei Grünschnäbel und ließ sie nach Futter schreien. In den folgenden Nächten wurde der Mondstrahl von der Morgendämmerung dreimal oder öfter von dem großen Schatten seines Vaters verdeckt, wenn dieser von der Jagd heimkehrte.
Da er der Erstgeborene war, wurde Hunter bei den Mahlzeiten als Erster bedacht, und nach seinen Eltern bekam er den Löwenanteil. Das erschien ihm ganz natürlich, obwohl ihm sein kleiner Bruder Quaver manchmal leid tat, dieser brauchte sehr lange, um richtig essen zu lernen, und musste immer noch alles vorgekaut in den Schnabel gesteckt bekommen, als Hunter und seine Schwester längst gelernt hatten, ganze Stücke zu schlucken. Hunter war auch der Erste, der das Laufen lernte, und der Erste von den Dreien, dem gestattet wurde, das Nest zu verlassen, und den man zu einem tollpatschigen, stümperhaften Flugversuch um den sicheren Schuppen herum ermutigte. Er nahm all das wie selbstverständlich hin und war glücklich, denn er hatte das Gefühl, dass der Verlauf seiner frühen Tage und seine Geschicke gut und wohlmeinend vorherbestimmt waren.
Die Worte bereiteten ihm natürlich Schwierigkeiten, aber für ihn waren sie immer noch weniger schwierig als für Dawn Raptor oder seinen kleinen Bruder. Hunter lauschte aufmerksam, wenn seine Mutter sie jeden Tag im Morgengrauen und in der Abenddämmerung vorsprach, und bald konnte er das Credo wiederholen, ohne nachzudenken und ohne einen Fehler zu machen. Er verstand die Worte nicht, doch anfangs war das offenbar gleichgültig. Sie waren Teil seines Lebens, wie die Wärme seiner Mutter, das regelmäßige Auftauchen seines Vaters, der ihm Nahrung brachte, und der erste Sonnenstrahl, der gefiltert durch die Balken hereinfiel, bevor er schlafen ging. Erst an dem Tag, als es dem kleinen Quaver endlich gelang, die Worte ohne Stottern und ohne Fehler herauszupiepsen, erkannte Hunter zum ersten Mal, dass das Leben vielleicht nicht immer so einfach und geradlinig sein könnte, wie es den Anschein hatte.
»Gratulation, Quaver«, sagte seine Mutter, als er seinen Vortrag beendet hatte. »Das war wirklich ganz ausgezeichnet. Nun möchte ich euch allen eine Frage stellen, bevor ihr schlafen geht. Aber bevor ich die Frage stelle, hört euch die Worte noch einmal aufmerksam an. Dawn Raptor wird sie diesmal sprechen, und ich möchte, dass ihr sehr gut aufpasst und euch nicht nur auf deren Klang konzentriert, sondern auf die genaue Bedeutung.«
Verwirrt verlagerte Hunter sein Gewicht auf seinem Sitzbalken und lauschte, während seine Schwester die Worte noch einmal in jenem abgehobenen und ziemlich hochnäsigen Tonfall aufsagte, dessen sie sich beinahe seit dem ersten Tag, an dem sie sprechen gelernt hatte, befleißigte.
»Horte und begehre nichts,
Sei vielmehr tapfer und frei.
Trachte stets nach Wissen,
Und lerne zu begreifen,
Was Wissenschaft nicht sieht.
Strebe danach zu lernen,
Sei maßvoll und weise,
Denn nur Können und Weisheit,
Helfen uns zu überleben.«
»Danke, Dawn Raptor«, sagte Dapple, als sie geendet hatte. »Nun, Hunter, was bedeutet deiner Meinung nach ›Wissen‹?«
Im Licht der frühen Morgendämmerung kam diese Frage wie ein Blitz aus heiterem Himmel und überrumpelte Hunter. Er richtete sich auf seinem Sitzbalken ein, dachte ein paar Augenblicke lang nach, sah dann seine Mutter mit weit geöffneten Augen an und antwortete: »Es bedeutet, Dinge zu wissen«, sagte er und achtete darauf, langsam und deutlich zu sprechen, ohne zu piepsen wie der kleine Quaver oder sich flach und hochnäsig anzuhören wie seine Schwester Dawn Raptor.
»Welche Dinge?«, fragte Dapple geduldig.
»Alle möglichen Dinge«, antwortete Hunter unbestimmt und blickte dabei zu dem ersten Strahl der blassen Morgendämmerung, als ob die Antwort zwischen den tanzenden Teilchen aus Heu und Staub läge.
»Nenne mir ein Beispiel«, sagte Dapple, und obwohl ihr Ton sanft war, war er auch sehr bestimmt, und Hunter wusste, dass er noch einmal nachdenken musste.
»Ach, weißt du«, sagte er betont lässig, um seine Unwissenheit zu überspielen, »es bedeutet, alles übers Jagen zu wissen und darüber, was man essen darf und was nicht. Das ist das wichtigste Wissen. Und wo man wohnt und wo man schläft und wie man sich um kleine Eulen kümmert und all solche Sachen.«
»Was noch?«, fragte seine Mutter. »Was bedeutet Wissen sonst noch?«
Verdutzt sah Hunter sie an und strengte sein junges und noch ungeübtes Gehirn an. Diese plötzliche Veränderung bei Dapple kam ihm außerordentlich beunruhigend vor. Vor seinen Augen schien sich sein warme und liebevolle Mutter in einen strengen und unnachsichtigen Inquisitor zu verwandeln. Dann hatte er einen Geistesblitz und platzte mit seiner Antwort sehr schnell heraus, bevor seine plötzliche flüchtige Eingebung in der aufsteigenden Sonne verblasste. »Es bedeutet, alles über Füchse, Wiesel, Menschen mit Feuerstöcken und hauptsächlich alles über die Monstereule zu wissen. Es bedeutet, alles über die Geschöpfe zu wissen, die uns Schaden zufügen können.«
»Gut«, sagte Dapple und lächelte ihn freundlich an. »Das ist nicht schlecht, Hunter. Für den Anfang nicht schlecht. Aber Wissen bedeutet noch viel mehr als das. Wissen bedeutet zu verstehen, warum wir Schleiereulen uns anders verhalten als unsere Nachbarn, die Waldkäuze und die Steinkäuze, und warum Eulen im Allgemeinen allen anderen Raubvögeln überlegen sind. Es bedeutet, die Ökologie zu begreifen und über die Menschen und die Umwelt Bescheid zu wissen. Es bedeutet, sich mit der Geschichte aller Eulenarten vertraut zu machen und zu verstehen, warum sie die älteste und höchste Lebensform auf Erden sind. Und dann ist da natürlich noch die Religion, aber darauf wird euer Vater eingehen.«
Hunter hörte sich all das gebannt und mit weit aufgerissenen Augen an. Einerseits war die Aussicht, all dieses Wissen zu erwerben, eine anregende Herausforderung, aber andererseits, wie sollte er all diese tausend verschiedenen Dinge jemals lernen und erst recht, sich ins Gedächtnis einprägen? Er fragte dies seine Mutter, und sie lächelte ihn an, während draußen die Sonne am Himmel höher stieg und einen zweiten Lichtstrahl schräg hereinschickte, der tanzte und sich mit dem ersten vermischte und ihre Nachtaugen blendete.
»Du wirst all diese Dinge im Laufe dessen lernen, was wir Erziehung nennen«, antwortete seine Mutter und blinzelte während des Sprechens ein wenig im Licht der Sonne.
»Und was ist Erziehung?«, piepte der kleine Quaver dazwischen. »Tut es sehr weh? Wo findet es statt, und wie lange dauert es?«
»Nein, es tut nicht sehr weh«, sagte seine Mutter lachend. »Genau gesagt, wenn du begeistert dabei bist und fleißig arbeitest, tut es überhaupt nicht weh. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Quaver. Du brauchst noch lange nicht von hier wegzugehen, denn der erste Teil deiner Erziehung findet hier statt.«
»Wer unterrichtet uns? Und wie läuft das ab?«, fragte Hunter.
»Ich werde euch unterrichten«, sagte Dapple. »Ich werde euch die grundlegende Theorie von all diesen Dingen beibringen, mit Ausnahme der Religion. Da euer Vater Religionseule im Schleiereulenrat ist, ist er für diese Aufgabe viel besser geeignet.«
»Wie viele Fächer gibt es?«, wollte Quaver wissen.
»Ach, alles in allem«, sagte Dapple. »Geschichte, Erdkunde, Ökologie, Religion, Menschenforschung und Eulenkunde. Ich habe euch ja schon gesagt …«
»Was ist Eulenkunde?«, unterbrach Hunter sie, der sich wünschte, Quaver und seine Mutter würden nicht mit einer so verblüffenden Geschwindigkeit über die Dinge hinweggehen.
»Eulenkunde ist das Studium eulischer Verhaltensmuster und Philosophien«, erklärte Dapple. »Nicht nur der Schleiereulen, sondern auch aller anderen Sorten, besonders die unserer Nachbarn, der Waldkäuze und der kleinen Einwanderer, da wir mit beiden zusammenleben müssen.«
»Und Menschenforschung?«, fragte Dawn Raptor, der es gelang, sich selbst in ihrem zarten Alter kühl und distanziert anzuhören.
»Das habe ich euch vorhin schon angedeutet«, sagte Dapple. »Die Menschenforschung befasst sich mit den Gewohnheiten der Menschen. Vergesst nicht, dass wir auch mit ihnen zusammenleben müssen.«
»Das sind bis jetzt erst sechs«, sagte Quaver, der langsam an seinen kleinen Krallen abgezählt hatte. »Welches sind die anderen beiden?«
»Das erzähle ich euch in der Abenddämmerung«, sagte Dapple. »Die Sonne da draußen steht schon hoch, und das grelle Licht wird euch Kopfweh bereiten. Schlaft jetzt, und heute Abend, nach Einbruch der Dämmerung, werden wir anfangen.«
»Nur noch eins«, bat der kleine Quaver, der vor Aufregung auf seinem Sitzbalken auf und ab hüpfte. »Du hast meine erste Frage noch nicht ganz beantwortet. Du hast uns noch nicht gesagt, wie lange das dauern wird.«
»Es gibt drei Phasen«, sagte Dapple. »Die Grundausbildung dauert so lange, bis ihr erwachsen und alt genug seid, um von zu Hause wegzufliegen. Die zweite Phase wird mindestens vier Jahreszeiten dauern, sie umfasst das Studium bei einem Fachdozenten in dessen Lehrstätte.«
»Was sollen wir dort studieren?«, fragte Hunter und blinzelte, da der doppelte Sonnenstrahl sich verschoben hatte und genau auf seinen Sitzbalken schien.
»Das Fach, das euch am liebsten ist«, sagte Dapple. »Immer vorausgesetzt, ihr habt genügend Glück, um einen Platz zu finden.«
»Und die dritte Phase?«, erkundigte sich Quaver, der immer noch auf und ab hüpfte, als ob er einen Floh hätte. »Wie lange wird die dritte Phase dauern?«
Seine Mutter sah ihn an und lächelte, trotz des Sonnenlichts, das ihr in die Augen fiel. »Die dritte Phase wird viel länger dauern«, sagte sie. »Wenn ihr weiterhin überleben wollt, dann wird die dritte Phase euer ganzes Leben lang dauern.«
»Aber wofür soll Erziehung gut sein?«, fragte Dawn Raptor, die sich skeptisch und unbeeindruckt anhörte. »In den Worten, die du uns beigebracht hast, heißt es, dass nur Wissen uns helfen wird zu überleben. Und bis jetzt hast du nur von der Theorie gesprochen. Von Geschichte, Eulenkunde, Religion und so was. Wie lernt man das Jagen, wie bekommt man Eulenkinder und wie findet man einen Platz für sie zum Leben? Das sind doch sicher die wichtigsten Dinge.«
»Ihr habt bereits angefangen, das zu lernen«, sagte Dapple, die angesichts Dawn Raptors Provokation kühl und ruhig blieb. »Das nennen wir die Praxis, im Gegensatz zur Theorie, und ihr werdet sie von eurem Vater erlernen. Er wird durch Feldstudien das untermauern, was ich euch im Unterricht beibringe. Du hast recht, Dawn Raptor. Die Worte fassen unsere Religion zusammen und bedeuten genau das, was sie ausdrücken. Bei der Erziehung geht es ums Überleben. Alles, was ihr tut, und alles, was ihr lernt, ist auf dieses Ziel gerichtet. Andere Geschöpfe kommen und gehen, doch Eulen bewohnen diese Erde seit mehr als sechzig Millionen Lenzen. Was mich zum schwersten Fach führt. Die meisten Eltern und Lehrer verschieben es bis ganz an den Schluss, aber da du nun mal so ein kleiner Ikonoklast bist, werde ich es euch jetzt beibringen.«
»Was ist ein Ikonoklast?«, piepste Quaver und kam mit dieser Frage Hunter zuvor.
»Wörtlich ein Bilderstürmer, also ein Abweichler, Sonderling, nennt es, wie ihr wollt«, sagte Dapple, die offensichtlich verärgert war, trotz ihrer nach außen hin gezeigten Ruhe. »Das bedeutet, dass eure Schwester die Neigung hat, Bilder zu stürmen, der Weisheit zu widersprechen und auf die Träume großer Eulen, die seit Jahrhunderten tot sind, zu treten, noch bevor sie Gelegenheit hatte, eine einzige Lektion zu lernen.«
»Dann bringe uns doch etwas bei«, sagte Dawn Raptor, indem sie Dapple mit ihrer Ungerührtheit und kühlen Gelassenheit reizte. »Lehre uns jetzt gleich die schwerste Lektion. Jage uns Angst ein und mache uns unglücklich, bevor wir überhaupt angefangen haben. Erschrecke uns. Vielleicht lassen wir uns dann leichter belehren.«
»Dein Vater wird davon hören«, zischte Dapple, die plötzlich viel älter aussah, nachdem die Freundlichkeit aus ihren Augen gewichen war. »Dein Vater wird davon hören, aber in der Zwischenzeit werde ich deinem Wunsch nachkommen. Die schwerste Lektion bedeutet, dass ihr nie wieder nach Hause zurückkehren könnt.« Dapple hielt inne und sah einen nach dem anderen ihrer flügge gewordenen Eulenkinder an, wobei der Zorn langsam aus ihren Augen wich und durch sanfte Traurigkeit ersetzt wurde.
»Was, nie mehr?«, fragte Quaver, während Hunter schweigend auf seinem Balken saß und versuchte, den schlimmen Schreck abzufangen.
»Nicht, um hier zu leben«, sagte seine Mutter. »Ihr könnt zu Besuch kommen und eine kurze Zeit bleiben, aber wenn ihr einmal erwachsen seid und von zu Hause weggeflogen seid, dann könnt ihr niemals wieder hierher zurückkehren, um hier zu leben.«
»Was ist, wenn wir kein eigenes Territorium für uns finden?«, fragte Quaver. »Oder schon vorher, was ist, wenn wir keinen Platz für unsere weitere Ausbildung finden?«
»Das wird für euch erledigt werden«, sagte Dapple. »Oder jedenfalls wird euch geholfen werden. Schließlich ist euer Vater Ratsmitglied.«
»Warum können wir nicht bleiben?«, fragte Dawn Raptor. »Ich möchte es nicht, aber nur mal angenommen, ich würde es wollen?«
»Es widerspricht der Philosophie und den Regeln der Schleiereulen«, antwortete ihre Mutter. »Im Interesse des Überlebens müsst ihr so früh wie ihr könnt vollkommen unabhängig werden.«
»Im Interesse wessen Überlebens?«, fragte Dawn Raptor. »Meines oder des der gesamten Gattung?«
»Der gesamten Gattung«, sagte Dapple, »und auch deines eigenen. Selbst in Zeiten des Wohlergehens kann dieses Territorium hier nicht fünf Erwachsene ernähren, und wenn es zu einem Engpass bei der Nahrungsversorgung oder zu einer starken Konkurrenz durch die Tagesraubvögel kommen sollte, dann bietet es kaum noch ausreichend Nahrung für zwei Erwachsene und drei Küken.«
»Und wenn wir versprechen, uns nicht zu paaren und keine eigene Familie zu haben?«, fragte der kleine Quaver. »Könnten wir dann hier wohnen bleiben?«
»Nein, Quaver«, sagte seine Mutter lächelnd und blinzelte wieder in die Sonne. »Eines Tages wirst du den Wunsch verspüren, dich zu paaren. Das ist nur natürlich. Und wenn diese Zeit kommt, dann wirst du der Erste sein, der einen eigenen Lebensbereich haben möchte. Ich weiß, dass es schwer ist. Es ist die schwierigste Lektion, die eine Mutter ihre Kinder lehren muss, doch ich lehre sie euch im Interesse des Überlebens. Und aus demselben Grund müsst ihr sehr fleißig lernen. Denn wie die Worte sagen, ohne Wissen, Können und Weisheit werdet ihr es schwierig finden, am Leben zu bleiben. Schlaft jetzt, und heute Abend, nach Einbruch der Dämmerung, wird euer neues Abenteuer beginnen.«
Die frischen Frühlingstage von Hunters früher Jugend wurden abgelöst von einem langen, heißen Sommer. Nach der Abenddämmerung, wenn die Dunkelheit durch das Wimmeln und Pochen Tausender nächtlicher Geschöpfe zum Leben erwachte, flogen die drei flügge gewordenen Eulenkinder mit ihrem Vater Stepple in immer weiteren Kreisen um den Schuppen herum und entwickelten allmählich die geheimen Eulenkünste des Identifizierens, der Navigation und vor allem der Jagd. In jenem langen, idyllischen Sommer lernten sie die Namen vieler Tiere und Bäume, und mit ihren geschärften Sinnen rochen sie die Linde, an der sich Bienen gütlich taten, die wilde Rose und das Geißblatt, auch wenn die Blüten schliefen.
Im Morgengrauen wurden sie von Dapple im Schuppen unterrichtet, während draußen die Sonne aufging und das goldene Getreide zu leuchtendem Kupfer reifen ließ, fertig für die Ernte. Als Ältester und Kräftigster war Hunter der Beste der Drei, was die praktische Arbeit anging, und meistens war er den anderen auch in den akademischen Fächern, die seine Mutter unterrichtete, um einiges voraus. Die Ausnahmen waren Ökologie, worin Dawn Raptor etwas bessere Fortschritte machte, und Dichtkunst und Gesang, wofür der kleine Quaver eine ganz besondere Begabung zeigte.
Hunters Lieblingsfach war Eulenkunde. Fasziniert lauschte er den Geschichten von den uralten Waldkäuzen, die ganz in der Nähe über ihre Waldreiche herrschten, und von den wilden, kleinen Einwanderereulen, die dazu verurteilt waren, im Niemandsland zu leben oder irgendein unbewohntes Stück Land zu besetzen, das sie gerade fanden. Er sehnte sich danach, einen dieser Herren der geheimen Dunkelheit, wie sie selbst es waren, kennen zu lernen, doch obwohl er ihre Schreie in Sommernächten weit über die Getreidefelder herüberhallen hörte, kamen sie nie nahe genug, dass es zu einem Augenkontakt hätte kommen können. Tatsächlich brachte kein einziger Glücksritter und keine Bedrohung durch das Unbekannte die drei Eulenkinder in Gefahr, während sich der Sommer dem Ende zuneigte und sie groß und kräftig wurden, sowohl körperlich als auch geistig.
Dann, eines späten Abends, kurz nachdem sie ihr Frühstück eingenommen hatten, räusperte sich Steeple, bat um Aufmerksamkeit und verkündete etwas, das sie völlig überraschend traf. »Ihr alle drei habt ein sehr behütetes Leben geführt«, sagte er ganz unerwartet. »Nicht nur du, Dawn Raptor, sondern auch deine beiden Brüder. Ihr kommt aus einem guten Haus, wo ihr alle lebenswichtigen Voraussetzungen genossen habt – Nahrung, Liebe, Schutz und eine überdurchschnittlich gute Allgemeinbildung. Doch bevor ihr in die letzte Phase eurer Ausbildung hier eintretet, müsst ihr eine grundsätzliche Lektion lernen.«
»Sag es uns jetzt gleich«, forderte der kleine Quaver mit eifriger und ungeduldiger Stimme. Obwohl er der Jüngste von den Dreien war, schien er es noch weniger als Dawn Raptor erwarten zu können, die Familienbande hinter sich zu lassen und in seine neue Freiheit und zur Weiterbildung hinauszufliegen.
Steeple sah die drei jungen Eulen nacheinander an. Sein Gesichtsausdruck war ernster denn je, und er wartete, bis die Aufmerksamkeit seiner Sprösslinge voll auf seine Worte konzentriert war. »Ihr müsst die Gefahr kennenlernen«, sagte Steeple. »Und, was noch wichtiger ist, ihr müsst lernen, mit der Angst umzugehen.«
»Aber wir wissen alles über die Gefahr«, protestierte Quaver und strengte sich dabei an, seinen Ton einigermaßen unterwürfig und respektvoll zu halten. »Dapple hat uns alles über die verschiedenen Gefahren beigebracht, die uns drohen könnten, sei es von einem Habicht oder einem Falken in der Morgendämmerung oder am frühen Abend, von den atavistischen Waldkäuzen, die uns vielleicht angreifen, wenn wir uns zu weit in ihre wertvollen Wälder vorwagen, vom Menschen und seinem Feuerstock, von vierbeinigen Mördern, wie dem Wiesel, dem Hermelin und dem Fuchs …
»Schluss jetzt!«, sagte Steeple in seinem strengsten Ton. »Du hast meinen Standpunkt nur bestätigt. Du sagst lediglich Tatsachen auf, die ihr routinemäßig gelernt habt. Keiner von euch hat eine unmittelbare Erfahrung mit der Gefahr gemacht, ebenso wenig wie mit dem Kitzel der Gefahr.«
»Aber Dapple hat uns außerordentlich gründlich in der Theorie unterwiesen«, sagte Hunter. »Sie brachte sie uns sehr wirklichkeitsgetreu nahe. Und bei unseren Aufklärungsflügen mit dir haben wir bereits gelernt, viele der Gefahren zu erkennen, die Quaver soeben erwähnt hat.«
»Das stimmt«, piepste Quaver dazwischen. »Ich habe einen Hermelin und einen Fuchs bei Nacht gesehen, und zweimal habe ich in der Abenddämmerung einen Menschen gesehen. Ich war weit weg, aber ich habe ihn trotzdem gesehen.«
»Hermeline und Füchse können nicht fliegen«, sagte Steeple geduldig. »Sie können euch nichts antun, wenn ihr hoch oben in der Luft seid. Und der Mensch, den du gesehen hast, ist einer von denen, mit denen wir hier friedlich zusammenleben.
Sie dulden uns, weil wir Mäuse, Spatzen, Maulwürfe und andere Geschöpfe töten, die sie selbst nicht essen – Nahrung, die sie für ihre eigenen Zwecke nicht verwenden.«
»Dawn Raptor ist einem Turmfalken von Angesicht zu Angesicht begegnet«, sagte Quaver, und seine Stimme wurde vor Aufregung noch piepsiger. »Man kann nicht behaupten, das sei nicht gefährlich gewesen.«
»Also gut, dann wollen wir deine Schwester fragen, was sie dabei empfunden hat«, sagte Steeple, lehnte sich auf seinem Sitzbalken zurück und hob eine Augenbraue in Richtung seiner Tochter, um ihr anzudeuten, dass sie das Wort hatte.
Dawns Augen huschten von Steeple zu ihren beiden Brüdern und dann wieder zurück, als ob sie beabsichtige, sich ein Bild von ihrem Publikum zu machen, bevor sie antwortete. Dann zuckte sie mit den Schultern, wandte den Blick seitlich durch einen Spalt in den Balken und sah hinaus in die aufsteigende Morgendämmerung. »Dapple war dabei«, sagte sie mit einer Stimme, die überheblich und beinahe gelangweilt klang. »Ich empfand so etwas wie einen Kitzel – eine gewisse Erregung, ja –, aber wir waren ja zu zweit, und ich wusste, dass meine Mutter den Turmfalken in die Flucht schlagen würde, wenn er uns angegriffen hätte.«
»Genau!«, sage Steeple und beugte sich auf seinem Balken wieder nach vorn. »Dann hattest du also keine Angst?«
»Nein«, sagte Dawn Raptor und schüttelte zweimal den Kopf, während sie ihren Vater ansah. »Im Augenblick ist Angst für mich nur ein Wort.«
»Was ist mit Hunter?«, fragte Quaver, während sich seine Schwester in ihre ziemlich hochnäsige Zuhörerstellung zurücksetzte. »Hunter war ganz allein, als ihn zwei Krähen angriffen, weil er zu nahe an ihr Nest herangeflogen war. Er war in Gefahr. Er hat bestimmt Angst gehabt.«
Steeple wandte sich dem ältesten seiner Sprösslinge zu und hob wieder eine Augenbraue. »Also, Hunter«, sagte er in einem ernsten, gleichmäßigen Ton, »erzähle deinem Bruder, was du empfunden hast.«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Hunter, »aber ich glaube nicht, dass es wirklich Angst war. Vielleicht fühlte ich anfangs einen Stich, als sie mit ihrem blödsinnigen Gekrähe auf mich zuflogen. Sicher hätte ich Angst gehabt, wenn ich sie nicht als Krähen erkannt und daher gewusst hätte, dass sie einer niederen Form des Vogellebens angehörten, ohne nennenswertes Gehirn und mit Waffen ausgestattet, die den unseren weitaus unterlegen sind.«
»Und nach diesem ersten Schreck?«, fragte Steeple, der anscheinend mit dem zufrieden war, was Hunter bis jetzt gesagt hatte.
»Ich war empört«, sagte Hunter. »Vielleicht sogar wütend. Meine erste Eingebung war umzudrehen und sie mit den Klauen aufzuschlitzen, aber dann zischte ich sie nur an und flog weiter.«
»Es war Angst, was du anfangs empfunden hast«, sagte Steeple und nickte weise. »Es war nur ein Hauch davon, zugegeben, aber einen Augenblick lang war es für dich unangenehm genug, dass dir klar wurde, wie echte Angst einem zusetzen kann.«
»Du meinst, sie kann einen versteinern, wie ein Kaninchen und ein Hermelin?«, fragte Hunter, der sich an eine Lektion erinnerte, die ihre Mutter sie zu diesem Thema gelehrt hatte.
»Genau«, antwortete Steeple. »Angst kann die Körperfunktionen lähmen. Sie kann deine Flügel und Klauen erstarren lassen. Sie kann dich veranlassen, ungewollte Kügelchen fallen zu lassen, und bei einer sehr alten oder sehr schwachen Eule kann sie zum Herzstillstand führen und sie sogar umbringen.«
»Wie schrecklich«, sagte Hunter, der nun beinahe die Angst an sich fürchtete. »Gibt es keine Möglichkeit, sie zu vermeiden?«
Steeple sah Hunter an und schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte er. »Angst kann man nicht vermeiden. Und da sie sich nicht vermeiden lässt, müsst ihr lernen, damit zu leben und sie als wesentliche Voraussetzung fürs Überleben hinzunehmen. Denn die Angst ist genau wie der Schmerz ein Bestandteil des Lebens, ebenso wie Behaglichkeit, Wärme oder Liebe. Versucht nicht, sie zu missachten, denn genau wie der Schmerz ist sie eine Warnung. Nur die ganz Dummen haben niemals Angst, und die ganz Dummen überleben nicht.«
»Wie willst du uns beibringen, mit der Angst zurechtzukommen?«, fragte Dawn Raptor, die zum ersten Mal aus eigenem Antrieb sprach. »Das ist doch sicher etwas, das wir selbst empfinden müssen, oder glaubst du wieder mal, dass mehr Anweisungen, Unterricht und Theorie das Problem verschwinden lassen werden?«
»Wir können euch darauf vorbereiten«, antwortete Steeple, ohne auf den Sarkasmus in Dawn Raptors Worten einzugehen. »Aber diesmal hast du recht. Die wahre Wucht der Angst trifft einen immer unerwartet, und die schlimmste Angst aller Ängste ist die vor dem Unbekannten.«
»Das Einzige, wovor ich Angst habe, ist die Monstereule«, warf Quaver zwitschernd ein. »Manchmal erscheint sie mir in Alpträumen. Plötzlich ist sie über mir und verdeckt den Himmel.«
»Das beweist, dass es stimmt, was ich sage«, erwiderte Steeple. »Du fürchtest dich vor der Monstereule, weil du noch nie eine gesehen hast. Zumindest in dieser Gegend ist sie ausgestorben und deshalb unbekannt, und weil sie unbekannt ist, lässt deine Fantasie sie noch schrecklicher erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist.«
»Hast du schon mal eine gesehen?«, fragte Quaver, der schon durchs Hörensagen etwas Angst vor dem Ungeheuer hatte, selbst wenn er wach war.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Steeple. »Aber einmal habe ich eine Kurzohr-Nomadeneule getroffen, die sehr weit herumgekommen war, und sie hatte eine gesehen. Sie hat mir erzählt, dass unsere Vettern jenseits des salzigen Wassers auch Rieseneulen gesehen haben und sogar gegen sie gekämpft haben, aber das ist lange her.«
»Glaubst du, sie könnten eines Tages zurückkommen?«, fragte Hunter, der beinahe ebenso gebannt wie sein jüngerer Bruder lauschte, wenn von der Monstereule die Rede war.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Steeple, der sein übliches, ernstes und feierliches Lächeln zeigte. »Seit vielen Hundert Lenzen hat keine Rieseneule diese Gegend hier heimgesucht. Ihr alle habt das Glück, in einer Zeit des Friedens und des Wohlstandes aufzuwachsen. Natürlich sind wir immer von Gefahr umgeben, doch zur Zeit liegen unsere einzigen echten Probleme im Inneren, entweder bei der Gemeinschaft der Schleiereulen selbst oder in Verbindung mit unseren Nachbarn, den Waldkäuzen und den kleinen Einwanderern, die im Niemandsland leben. Zurzeit droht uns keine Gefahr von außen.«
»Was schlägst du also vor, wie du uns etwas über die Angst beibringen willst?«, fragte Dawn Raptor und kehrte damit wieder zum Ausgangspunkt zurück.
Ihr Vater sah sie eine Weile lang an, bevor er antwortete. »Bevor ihr von zu Hause weggeht«, sagte er schließlich, »werde ich euch einen nach dem anderen in Gefahr bringen, und inmitten der Gefahr werdet ihr zum ersten Mal begreifen, was Angst ist.«
»Aber es wird doch nur eine Übung sein, nicht wahr?«, fragte Quaver und hörte sich dabei ziemlich besorgt an. »Du wirst uns beschützen, wenn wir von etwas angegriffen werden, mit dem wir es nicht aufnehmen können?«
»Natürlich«, sagte Steeple. »Aber um erfolgreich zu sein, muss die Übung auch das Element des Risikos enthalten. Sonst wäre es, wie Dawn Raptor vermutete, lediglich Theorie und würde sich als recht müßig erweisen.«
»Bereitet dir das keine Sorgen?«, fragte Dawn Raptor. »Ein Vater, der seine Sprösslinge bewusst der Gefahr aussetzt?«
»Natürlich bereitet es mir Sorgen«, sagte Steeple ziemlich schroff. »Es ist die schwierigste Lektion, die ein Vater zu lehren hat.«
»Wie Dapple, als sie uns erklärte, dass wir von zu Hause weggehen müssen, wenn wir erwachsen sind, und uns selbst versorgen müssen«, sagte Quaver. »Als sie uns sagte, dass wir niemals, niemals mehr nach Hause zurückkommen können.«
»Das ist sogar noch schlimmer«, sagte Steeple. »Der Gefahr ins Auge zu blicken ist immer noch besser, als diejenigen zu verlieren, die man liebt. Sowohl für eine Mutter als auch für ihre Kinder ist das die schwierigste Lektion von allen.«
»Warum wird sie dann gelehrt?«, fragte Dawn Raptor. »Warum müssen wir uns alle diesen Bedingungen anpassen – diesem ewigen Schleiereulen-Dogma? Soll es uns niemals gestattet sein, eigenständig zu denken und Entscheidungen zu treffen?«
»Die Natur gibt die Bedingungen vor, kein Dogma«, entgegnete Steeple, der die Herausforderung seiner Tochter ziemlich gelassen wegzustecken schien. »Wir lehren sie entgegen unserem persönlichen Willen, im Interesse des Überlebens. Und aus demselben Grund muss ich euch beibringen, wie man sich mit der Angst auseinandersetzt.«
»Wann?«, fragte Hunter und überlegte dabei, wie er sich vor der Mutprobe drücken könnte, die ihnen bevorstand.
»Du bist der Erste, Hunter«, sagte sein Vater sehr bestimmt. »Du fliegst heute Nacht mit mir. Wir werden von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen unterwegs sein, oder solange, bis die Gefahr uns gefunden hat. Und wenn die Gefahr uns findet, werden wir innehalten, und du wirst dich mit der Angst auseinandersetzen.«
Hoch über dem Territorium, das er so gut kannte, und so sehr liebte, begleitet von den gleichmäßigen Flügelschlägen seines Vaters, empfand Hunter tiefe Traurigkeit bei dem Gedanken, dass er bald diese friedliche Heimat mit ihren Wäldern, Feldern und Wiesen verlassen und ins große Unbekannte ziehen musste – im Interesse des Überlebens musste er riesige Landstriche erkunden und dabei selbstständig zu navigieren lernen.
Der flammende Herbstmond leuchtete hell, während sie dahinflogen, und warf ein gespenstisches Licht auf die Felder, von denen einige bereits abgeerntet waren und andere noch mit dichtem, goldenem Getreide prangten, und auf die dunklen Bäume, die sich schläfrig unter dem Gewicht der Blätter, Früchte und Blüten beugten, die bald herabfallen sollten. Selbst in dieser Zeit der Reife spürte Hunter, dass der Herbst irgendwo hinter dem flammenden Mond lauerte und darauf wartete, dass er die Veränderung bringen und die Üppigkeit des Sommers wieder für die beißende, ätzende Erde beanspruchen konnte, der sie entsprossen war.
Mitternacht kam und ging, während sie in immer weiteren Kreisen dahinflogen, bis sie zu jener Kirchenruine kamen, von der Steeple ihm erzählte, dass sich ihre Vorfahren einst dort niedergelassen, sich fortgepflanzt und viele Generationen lang ihr Dasein gefristet hatten. Während sie hoch über dem zerbrochenen Kirchturm dahinglitten, spürte Hunter plötzlich eine Veränderung in der Flugbahn seines Vaters. Er hatte dort unten in der tieferen Welt etwas entdeckt. Obwohl Hunter bis jetzt noch nichts wahrnahm, schwenkte er an der Seite seines Vaters ab, als sich ihre Flugbahn änderte und sie ostwärts abdrehten, bevor sie sich lautlos auf den langgestreckten, dunklen Wald absinken ließen, der sich entlang der Grenze ihres Territoriums ausbreitete. Dann entdeckte auch Hunter die Gefahr.
Irgendwo am Rand des Waldes streifte ein großes, räuberisches Säugetier herum, in der fernen Dunkelheit noch nicht zu sehen, doch mit der ausgezeichneten sensorischen Begabung der Eulen auszumachen.
»Hast du es schon bemerkt?«, fragte Steeple flüsternd, während sie weiter abwärts in Richtung des nicht zu sehenden Mörders glitten.
»Ja, ich habe es bemerkt«, antwortete Hunter leise. »Es ist ein Fuchs oder ein wilder Hund.«
»Ein Fuchs«, sagte sein Vater, »oder vielmehr eine große Füchsin, um genau zu sein. Gleich wirst du in ihrer Reichweite sein und ihren ekelhaften Gestank riechen.« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da stieg der üble Geruch auf und drohte Hunter zu überwältigen, während die beiden Eulen näher an ihre Beute heranschwebten. »Leise jetzt«, flüsterte Steeple. »Wenn wir nahe genug dran sind, um sie zu sehen, umkreise sie gemeinsam mit mir und pass gut auf. Sie hat etwas gefunden, das sie zu töten beabsichtigt.« Sie ließen sich noch tiefer zum Boden hinabsinken, bis die Füchsin in Sicht kam, die sich mit angespannten Hinterbacken langsam und mit Bedacht am Rand des Waldes entlang bewegte, die gelben Augen starr auf einen Punkt in dem freien Feld jenseits davon gerichtet. Hunter kam zu dem Schluss, dass ihn am meisten ihre fremdartige, urtümliche Schönheit und der üble Gestank, der von ihr aufstieg, ängstigten und in ihm das ungezähmte und wollüstige Verlangen zu töten erweckten.
Plötzlich vollführte Steeple eine kraftvolle Drehung und schoss beinahe senkrecht hinauf in den nächtlichen Himmel, weit weg von dem geschmeidig schleichenden Raubtier dort unten. Schwebend wartete er dort, bis Hunter bei ihm war, dann nahm er das Umkreisen wieder auf. »Ich habe beschlossen«, sagte er, »dass wir heute Nacht auf der Suche nach Gefahr nicht weiterzufliegen brauchen. Wir haben sie hier gefunden. Präge dir meine Anweisungen genau ein«, fuhr er fort, »und unterbrich mich nicht, bevor ich zum Ende gekommen bin. Dann kannst du mir Fragen stellen, um zu klären, was du nicht verstanden hast.« Hunter nickte, während sie hoch oben am Himmel ihre Runden drehten und dabei die verstohlenen Bewegungen der Füchsin mit ihrer Innensicht überwachten.
»Du weißt bereits«, sagte Steeple, »dass es bestimmte Sorten von Eulen gibt, die nicht an festen Orten leben, wie wir und die Waldkäuze es tun, sondern sich irgendwo am Boden eine Bleibe suchen, wo sie etwas zum Leben finden. Um gegen die ständige Gefahr von vierbeinigen Raubtieren anzukämpfen, haben sie Techniken zur Bodenverteidigung entwickelt, die mitunter sogar für uns nützlich sind, die wir in gut geschützten Behausungen wie Kirchen, Hütten oder hohlen Bäumen wohnen. Jetzt werden wir so tun, als wären wir zwei Kurzohr-Nomadeneulen, die am Boden genistet haben. Ich werde die Rolle der Mutter spielen, und du wirst das kleine Eulenkind mimen, das noch nicht fliegen gelernt hat. Wir werden jetzt auf das Stoppelfeld hinabstürzen, in der Mitte zwischen dem Wald und der Kaninchenfamilie, die die Füchsin zu zerstören im Begriff ist. Sie wird sich uns nähern, wenn sie sich von ihrer windabgekehrten Stelle im Wald an die Kaninchen heranpirscht. Wenn sie sieht, dass du dich nicht bewegen kannst, wird sie angreifen. Ich werde die Bodenverteidigungs-Ködertechnik einsetzen, um sie genau in dem Augenblick abzulenken, wenn sie den kritischen Abstand erreicht hat, bereit zum Sprung; für dich ist es bereits zu spät, um davonzufliegen. Vergiss nicht, dass du dich nicht bewegen darfst, wie nah sie dir auch kommen mag. Wende die statische Abwehrmasche an, aber hebe nicht ab, bevor ich es dir sage. Noch irgendwelche Fragen?«
»Ja«, sagte Hunter, während sie weiterhin hoch am spätsommerlichen Himmel ihre Kreise drehten. »Ich habe die statische Abwehrmasche noch nie angewandt. Was ist, wenn sie nicht funktioniert?«
»Sie wird funktionieren«, sagte Steeple. »Kurz bevor die Füchsin den kritischen Abstand erreicht hat, den Punkt ohne Umkehr, wenn sie dir so nahe ist, dass du keinen Raum und keine Zeit mehr hast, um zu fliehen –, wird die plötzliche zunehmende Angst eine Botschaft an dein Gehirn schicken, und der Rest ergibt sich von selbst.«
»Angenommen, es läuft nicht so ab?«, sagte Hunter, der sich allmählich wünschte, sein Vater wäre eine gewöhnlichere Eule, die weniger Interesse an seiner Erziehung gehabt und es ihm selbst überlassen hätte, die Angst kennen zu lernen.
»Wenn es nicht so läuft, dann werde ich die Füchsin von hinten angreifen«, sagte Steeple, der sich ganz ruhig und zuversichtlich anhörte, als ob er die Aussicht auf einen Kampf mit einem bösartigen Tier genösse, trotz seiner Religion und seiner Stellung im Rat der Schleiereulen.
»Na gut«, sagte Hunter, schloss die Augen und holte tief Luft. »Ich bin bereit zum Einsatz, wenn du soweit bist.«
»Los!«, sagte Steeple. »Einsatz beginnt.«
Es war keine Zeit mehr zum Nachdenken, denn Steeple schwenkte westwärts ab und tauchte hinunter zu dem Feld, wo sie der Füchsin von Angesicht zu Angesicht begegnen würden. Hunter folgte ihm dicht auf, und während sie zur Erde hinuntersausten, begriff er nach und nach, was sein Vater zuvor mit dem Kitzel der Angst gemeint hatte, denn während die Gefahr aus der Dunkelheit dort unten heraufzuschnellen schien, wusste er in diesen wenigen Augenblicken, dass er noch nie zuvor so klar gesehen oder sich so ungeheuer lebendig gefühlt hatte.
Steeple und Hunter fielen so schnell vom Himmel herab, dass die Füchsin nicht sah, wie sie am Boden aufkamen, obwohl sie bereits die verdeckte, geschmeidige Pirsch über das Feld begonnen hatte. Doch gleich darauf nahm sie sie wahr, beinahe bevor sie ihre jeweilige Stellung eingenommen hatten, wobei Hunter groß und menschenähnlich direkt auf ihrem Weg saß und sein Vater sich außerhalb der Sichtlinie der Füchsin hinter einem Erdhügel hinlegte, einen Flügel halb über den Boden schleifend, als ob er gebrochen wäre.
Das Fuchsweibchen hielt in seinem langsamen Näherkommen inne, hob eine Vorderpfote vom Boden und neigte den grausamen Kopf leicht zur Seite. Als es Hunter direkt vor sich erblickte, senkte sich sein Fuß wieder, sein Körper versteifte sich, es schnaube leise, und seine gelben Augen loderten vor Lust auf Blut hell auf.
Im festen Glauben an die Anweisungen seines Vaters saß Hunter ganz aufrecht und reglos da, während die Füchsin immer näher an ihn heranschlich, bis ihr Gestank beinahe überwältigend war. Bald war sie nur noch zehn Längen entfernt, mit gesenktem Kopf, gefletschten Zähnen und einer nur wenige Zoll über dem Boden baumelnden Zunge. Die zehn Längen verringerten sich auf acht, sieben, sechs, und noch immer unternahm Hunter keinen Versuch abzuheben und wegzufliegen. In einer Entfernung von fünf Längen hielt die Füchsin inne, knurrte und betrachtete Hunter mit Augen, die vor Lust auf Blut feucht schimmerten. Obwohl er beinahe wie versteinert war, befolgte Hunter seine Befehle und erwiderte weiterhin den Blick dieser schrecklichen Augen.
»Sie ist beinahe da«, dachte er. »Sie hat beinahe den Punkt ohne Umkehr erreicht. Es fehlt nur noch ein Schritt, dann kann sie springen. O bitte, bitte, lass meinen Instinkt jetzt einsetzen!«
Während die Füchsin langsam die Hinterbacken bewegte und bereits die Muskeln zum tödlichen Sprung spielen ließ, stellte sich Hunters Gefieder plötzlich auf und plusterte sich so schnell auf, dass er im Bruchteil einer Sekunde beinahe das Doppelte seiner Größe angenommen zu haben schien. Im selben Augenblick breiteten sich seine Flügel aus und rotierten nach vorn wie ein riesiger Ventilator.
Die Füchsin schlaffte beim Anblick dieser Erscheinung ab und sprang einen halben Schritt zurück, während Hunter mit dem Schnabel klapperte, zischte, schrie und einen Furcht erregenden Schlachtruf gegen sie ausstieß. Es funktioniert, dachte er voller Entzücken über sich selbst. Ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft! Und er spürte, wie das Leben wieder in seinen Körper zurückfloss und jene Teile wieder Festigkeit annahmen, die sich vor Angst verflüssigt hatten.
Wütend und enttäuscht fletschte die Füchsin die Zähne, senkte den Kopf und schlich wieder näher. Sie war nicht mehr ganz jung, erfahren und außerordentlich bösartig, doch jetzt erkannte sie, dass der Umgang mit dieser Erscheinung etwas ganz Anderes als das Töten eines gewöhnlichen Gockels in einem Hühnerhof sein würde. Mit glühenden gelben Augen und einem Raubtierherz, das jetzt von Furcht ergriffen war, pirschte sie sich dennoch näher heran, entschlossen, Hunter Glied um Glied zu zerfleischen.
Hunter plusterte sich noch mehr auf und schnaubte wild, als sie wieder die kritische Stelle erreicht hatte; er hielt die Krallen zum Kampf bereit, während sie die sich langsam bewegenden Hinterkeulen zum Sprung spannte. Dann zerriss ein lauteres und noch Furcht erregenderes Kreischen als Hunters die Luft, als ob es bis zu allen Eulen dieser Schöpfung tragen sollte und noch weiter bis zu dem blassen Mond, der die nächtlichen Kämpfer mit seinem Licht umspülte. Aus dem Augenwinkel sah Hunter, wie Steeple aus seiner Deckung hervorkam, sich auf dem Bauch voranschleppte und die beiden Flügel schlaff hinter sich herzog, als ob sie gebrochen wären.
Die Füchsin machte einen Sprung auf allen Vieren, wie ein Hase, und drehte sich blitzschnell um, um dem neuen Eindringling ins Gesicht zu sehen. Dann wandte sie den Kopf wieder, und ihre Augen funkelten zurück zu Hunter, der schließlich diesen grausamen und geübten Kiefern so viel näher war. In diesem Moment wurde sie erneut abgelenkt, dies Mal durch ein jämmerliches Wimmern hinter ihr. Sie drehte sich wieder um und sah Steeple an, der seinen unbeholfenen, anscheinend gebrochenen Körper über die Stoppeln des Getreidefeldes schleppte. Selbst in seiner Angst, obwohl immer noch auf Kampf eingestellt, war Hunter von der Schauspielkunst seines Vaters fasziniert.
Was für eine Darbietung, dachte er stolz, als der zerknitterte Körper zusammensackte und sich über den Boden schleppte, begleitet von einem herzzerreißenden Wimmern voller Schmerz und Angst.
Die Füchsin warf einen flüchtigen Blick zurück auf Hunter, der immer noch mit kampfbereit aufgeplustertem Gefieder hoch aufgerichtet dastand, während das andere Geschöpf eindeutig verstümmelt und schon halb tot war. Gelockt von der Aussicht auf eine leichte Beute, machte das Fuchsweibchen einen Satz in Steeples Richtung und setzte zu einem weiteren an, um die letzte kleine Entfernung zu überwinden, die sie noch von ihrer Beute trennte. Hunter hielt den Atem an. Würde sein Vater in die Luft aufsteigen, bevor die Füchsin ihn erreichte, oder würde er kämpfen?
Im Bruchteil einer Sekunde, der ihm wie eine Ewigkeit erschien, sah Hunter, wie die Füchsin den entscheidenden Zwischenraum überwand und lossprang, während im selben Augenblick Steeple alle Kraft und Energie in sich bündelte und sich in die Luft schwang. Für einen kurzen Augenblick hatten weder die Füchsin noch Eule Bodenberührung. Dann knallte die Füchsin mit der Nase zuerst ins Feld, während sich Steeple anmutig in die Luft erhob, einen Kreis beschrieb und dann Hunter aufforderte, ihm zu folgen.
Die Füchsin knirschte mit den Zähnen und heulte vor Zorn, wodurch jede mögliche Beute in einem weiten Umkreis gewarnt wurde. Sie sah einen großen weißen Schatten, als Hunter über ihr schwebte und sich im Steigflug zu seinem Vater hinaufbegab, und sie stieß noch mal ein Heulen zum Himmel aus, teils aus Wut und teils aus dieser seltsamen Angst vor dem Unbekannten, die Steeple am Abend beschrieben hatte. Dann beendete sie ihr fruchtloses Anbellen des Mondes und schnappte wütend und enttäuscht nach den Stoppeln, über die sich ihre scheinbar verstümmelte und leichte Beute geschleppt hatte, bevor irgendein Zauber sie wie von Geisterhand in die Luft gehoben und in ein Reich gebracht hatte, das weit außerhalb des Horizonts der Füchsin lag.
Während sie in die Stoppeln biss, bemerkte die Füchsin etwas Langes und Grau-Weißes, das ihr über die Nase strich und sie kitzelte, da es aus dem Boden herausragte. Zunächst zog sie überrascht den Kopf zurück und dann neigte sie sich tiefer herab, um diese eigenartige Feder zu untersuchen, die das einzig Übriggebliebene war, um den Abgang dieser geheimnisvollen Geschöpfe aus einer anderen Welt zu bezeugen; Geschöpfe die irgendwo zwischen Himmel und Erde schwebten, in einer Welt, von der Menschen und Füchse so wenig wussten.
Nicht lange danach, als die ersten Blätter fielen, saß Hunter mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester im Schuppen, in der eifrigen Erwartung Steeples, der irgendwann vor dem Morgengrauen von der alle zwei Jahre stattfindenden Sitzung des Rates der Schleiereulen zurückkehren und Neuigkeiten über die weiteren Maßnahmen, die für ihre weitere Erziehung getroffen worden waren, mitbringen sollte.
Der Tag hatte gerade angefangen, die Dunkelheit mit schwachen rosafarbenen Streifen zu durchziehen, als ihr Vater von seiner langen Reise aus dem Westen hereingeflogen kam, sich auf seinem Lieblingsbalken niederließ und sie alle nacheinander begrüßte. Quaver hüpfte auf seinem Platz auf und ab, unfähig, seine Aufregung zu verbergen. Hunter rutschte unruhig vor lauter Neugier hin und her, und nur Dawn Raptor saß still und ungerührt da, als ob die Heimkehr ihres Vaters mit Neuigkeiten, die ihrer aller Zukunft bestimmen würde, sie nicht das Geringste anginge, sondern lediglich irgendein neues Ritual oder Protokoll wäre, das man wie alle anderen nun mal über sich ergehen lassen musste.
»Nun, Vater?«, fragte Quaver, der seine Spannung keine Sekunde länger bezähmen konnte. »Werde ich Dichtkunst und Gesang studieren? Wurde Hunter zur Eulenkunde zugelassen? Wohin geht Dawn Raptor? Um des Großen Gottesvogels willen, erzähle es uns schnell, sonst werden wir verrückt. Wir haben während der ganzen Nacht kaum etwas gegessen. Wir sind andauernd wieder hierher zurückgeflogen um nachzusehen, ob du schon eingetroffen bist. Ich weiß, dass du müde sein musst, aber bitte, bitte spann uns nicht länger auf die Folter!«
»Eins nach dem Anderen«, sagte Steeple und wandte sein ernstes Lächeln von Dapple ab und seinem jüngsten Sprössling zu. »Fangen wir mit Quaver an, da er wie üblich der Ungeduldigste zu sein scheint. Du, Quaver, wirst in der Tat Dichtkunst und Gesang studieren, und Bardic wird dich unterrichten, unser gegenwärtiger diesbezüglicher Fachmann im Rat der Schleiereulen.«
»Doch nicht etwa der Eulenbarde persönlich?«, fragte Quaver, die Augen beinahe kreisrund aufgerissen, so groß waren seine Überraschung und seine Freude.
»Doch, eben jener«, sagte Steeple und lächelte wieder. »Du hast großes Glück gehabt, obwohl ich dich warnen muss, dass du Bardic möglicherweise nicht so nachsichtig und umgänglich finden wirst, wie du vielleicht erwartest. Wie so viele Poeten und Komponisten hat er seine speziellen kleinen Angewohnheiten und exzentrischen Macken, an die du dich mit ziemlicher Sicherheit nur schwer wirst anpassen können, vor allem nach der eher konventionellen Umgebung, an die du hier gewöhnt warst.«
»Das wird mir gar nichts ausmachen«, zwitscherte Quaver fröhlich. »Das wird eine Abwechslung sein, und du hast uns immer gesagt, Vater, dass Abwechslung ein entscheidender Bestandteil jeder Form der höheren Bildung ist.«
»Das ist wohl wahr«, sagte Steeple, dessen Gesichtsausdruck ein klein wenig ernster geworden war. »Aber es gibt solche und solche Abwechslungen, und nicht jede Veränderung wendet die Dinge zum Besseren. Ich werde dich jedoch so gut ich es vermag vorbereiten, bevor du aufbrichst, und ich bin sicher, du wirst dich vernünftig benehmen und das Beste aus dieser großartigen Gelegenheit machen. Was Hunter angeht, auch er hat viel Glück gehabt. Er wird von Beak Poke unterrichtet, der das älteste dienende Mitglied unseres Rates ist und nunmehr seit mehr als zwanzig Lenzen das Amt als Euleneule innehat.«
»Was für eine Art von Vogel ist Beak Poke?«, fragte Hunter, der gleichzeitig begeistert und besorgt war.
»Natürlich ist er sehr alt«, sagte sein Vater, »aber er ist zweifellos einer der größten lebenden Experten auf seinem Gebiet. Er ist ein Pragmatiker, und als er jünger war, waren nicht alle ganz mit seinen Methoden einverstanden. Man sagt, er habe für eine Weile in einer Kolonie von Einwanderern gelebt und überdies eine so lange Zeit in einem Waldreich bei den Waldkäuzen verbracht, dass er beinahe einer der Ihren geworden wäre. Doch sein gespeichertes Wissen ist ungeheuer, nicht nur in seinem eigenen Fach, sondern auch auf anderen Gebieten.«
»Was ist mit Dawn Raptor?«, fragte Hunter und warf einen Blick auf seine Schwester, die schweigend dasaß und nur die Augen verhalten zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder hin und her schweifen ließ. Sowohl ihre Körperhaltung als auch der Ausdruck in ihren Augen ließen erkennen, dass sie eine Enttäuschung erwartete, jedoch entschlossen war, sich keinerlei Reaktion anmerken zu lassen, wenn es soweit wäre.
»Für deine Schwester sieht es etwas anders aus«, sagte Steeple mit einem ernsten Stirnrunzeln in Richtung seiner Tochter. »Sie hat bis jetzt noch keine besondere Neigung oder irgendwelchen Ehrgeiz an den Tag gelegt, um sich auf einem bestimmten Gebiet hervorzutun. Sie ist eher ein Allround-Talent, dem vielleicht eine eher praktisch ausgerichtete Ausbildung mehr bringt. Fürs Erste wird sie weiterhin bei uns bleiben, zu Hause, bis sie irgendwelche neuen Interessen entwickelt oder bis sich etwas Passendes ergibt.«