Biljana Fenzl

Abrechnung am Meer

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

1. Kapitel

Nika rannte. Die Kondenswölkchen ihres Atems streiften ihre Wangen. Eisige Luft kroch ihren Hals hinunter. Sie hustete. Ihr linker Arm ruderte vorwärts. Die rechte Hand umklammerte krampfhaft den Riemen ihrer Tasche. Sie lief davon. Vor ihrer Arbeit, vor ihrem Leben. Vor sich selbst. Und endlich auf etwas Neues zu.

Den ganzen Weg zur S-Bahn rannte sie. Sie erwischte sie gerade noch rechtzeitig. Kaum war sie drin, glitten die Türen hinter ihr zu. Die Bahn fuhr an. Nika ließ sich auf den Sitz am Fenster plumpsen und warf ihren Rucksack auf den freien Platz neben sich. Sie begann zu frösteln. Ihre Arme umschlangen den dünnen Körper. Sie mochte den Winter nicht und war froh, dass er nun ausklang und die Temperaturen langsam stiegen. Kälte und Dunkelheit setzten ihr zu, machten sie schwermütig.

Der Zug beschleunigte. Häuser und Landschaften zogen an ihr vorbei. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie dachte an ihre Eltern.

Sie würden von ihrem Entschluss nichts erfahren. Wie sie schon seit langer Zeit nichts mehr von ihr erfuhren.

Endlich besann sie sich auf ihren Lebenstraum. Sie nahm sich fest vor, es diesmal durchzuziehen. Das Auswandererkind würde es schaffen. Sie war stark, auch wenn ihre zierliche Gestalt das Gegenteil vermuten ließ. Sie hatte in ihrer Kindheit gelernt, für sich einzustehen.


Die S-Bahn hielt. Nika löste sich vom Sitz, schnappte ihren Rucksack und verließ den Zug. Sie rannte nach Hause. Ihre gefütterten, schwarzen Chucks berührten kaum den Boden. Sie riss die Haustür auf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hüpfte sie in den zweiten Stock. Den Schlüssel hatte sie irgendwo zwischen zwei Etagen bereits herausgekramt. Flink schloss sie ihre Wohnungstür auf und schmiss sie hinter sich zu. Die Tasche flog in eine Ecke, die Jacke an die Garderobe, wo sie mit der Kapuze an einem Haken hängen blieb.


Sie musste Großmutter anrufen. Ihre Oma war der einzige Mensch, dem Nika vertraute. Sie würde sich für ihre Enkelin freuen. Endlich war Nika auf einem guten Weg. Als sie die Telefonnummer in die Tastatur tippte, wippte Nikas linkes Bein aufgeregt auf und ab. Sie horchte auf das Tuten in der Leitung.

„Ja?“

„Omaichbin’sNika. IchhabtolleNeuigkeiten.“

„Nika? Nicht so schnell. Ich verstehe ja kein Wort.“

„Oma, hör mal, ich gehe weg vom Fernsehen.“

„Du hast gekündigt?“

„Nein.“ Sie druckste herum. „Aber ich werde noch.“

„Ach, Kind. Was ist das jetzt wieder?“

„Was meinst du?“

„Nika, wann kommst du endlich zur Ruhe?“

Nika schwieg. Jetzt wippten beide Beine synchron. Sie umklammerte den Hörer fester und presste die Kiefer aufeinander. Dann sog sie scharf Luft durch die Nase, bevor sie antwortete.

„Ich bin die Ruhe selbst, Oma.“

„Wie du meinst.“

„Ich verstehe das nicht, Oma. Du hast doch immer gesagt, ich soll meinen Weg gehen“, platzte es aus ihr heraus.

„Aber du tust es nicht.“

Nika war genervt. Schlug Oma jetzt in die gleiche Kerbe wie ihre Eltern?

„Das wollte ich dir doch gerade erzählen. Ich kündige beim Fernsehen und suche mir einen guten Job bei einer großen Tageszeitung.“

„Aber du hast noch keinen?“

Ihre Kiefer schmerzten bereits und ihre Zähne gaben knirschende Geräusche von sich.

„Nein. Es wird sich schon irgendetwas finden.“

„Ach Kind, warum gibst du dich immer nur mit irgendetwas zufrieden? Nimm dein Leben endlich in die Hand.“

„Ich habe mein Leben völlig unter Kontrolle.“

Es trat eine unangenehme Stille ein. Nika schluckte Wut und Tränen herunter. Sie hoffte, ihre Großmutter würde einlenken. Vergeblich.

„Nika, du bist jetzt dreißig. Du hast lange genug deinen Welpenschutz genossen. Möchtest du nicht mit deinen Eltern reden, ob …“

„Oma!“, schrie sie auf. Ihr Herz hämmerte hart gegen die Brust. Sie zitterte, lief im Zimmer herum, setzte sich und sprang gleich wieder auf.

„Schon gut“, beschwichtigte Oma sie. „Das war wohl keine gute Idee. Aber es gibt da noch eine andere Möglichkeit. Eine alte Freundin von mir hat auf einer kleinen kroatischen Insel ein Apartmenthaus. Sie könnte deine Hilfe gut gebrauchen. Und du könntest dort in Ruhe überlegen, wie es für dich weitergehen soll. Was hältst du davon?“

„Ich wollte nie den Traum meiner Eltern leben. Ich will auch nicht in die Tourismusbranche. Ich brauche auch keine Pause. Damit vertrödele ich nur Zeit. Ich weiß doch, was ich will. Ich will investigativen Journalismus machen!“

„Aber du bewegst dich seit Jahren nicht von der Stelle. Nika, bitte, geh nach Kroatien. Ich will dir doch nur helfen. Ich mache mir Sorgen um dich. Ich bin zweiundachtzig Jahre alt. Ich werde nicht mehr lange leben. Und dann bist du allein. Bitte bring dein Leben in Ordnung.“

„Ich denke darüber nach“, presste sie mit einem Kloß im Hals noch heraus und legte auf. Stille Tränen rannen ihr übers Gesicht. Ihr Magen krampfte sich zusammen. So konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Sie begann, Sachen in ihrer Wohnung aufzuräumen, umzuräumen und wegzuräumen. Sie schnappte sich den Staubsauger. Aggressiv schrubbte sie damit über den Boden. Seine Lautstärke betäubte jede Geistestätigkeit. Nach einer Weile schaltete sie das Gerät aus. Ihr rechtes Ohrläppchen schmerzte. Sie hatte zu heftig daran gerieben, ohne es zu merken. Hätte sie eine gute Stelle bei der Zeitung, wäre Oma beruhigt. Würde ein Chefredakteur sie gleich einen Leitartikel schreiben lassen? Eher nicht. Sie arbeitete zu lange beim Fernsehen. Bei den Printmedien startete sie wieder ganz unten. Würde Oma ihren glorreichen Aufstieg noch erleben? Sie wollte nur sicher sein, dass Nika auf dem richtigen Weg war. Was, wenn es nicht nach Plan lief? Dann wäre sie nicht einmal Großmutters Wunsch nachgekommen. Oma hatte für ihre Bedürfnisse stets ein offenes Ohr. Was konnte sie ihr vorwerfen? Sie wollte Nika helfen. Bis jetzt habe ich es ohne Hilfe geschafft, dachte Nika. Oma sorgte sich. Sie liebte Nika. Und Nika liebte sie. Was, wenn Omas Befürchtungen berechtigt waren und sie plötzlich allein wäre. Ihr Leben fühlte sich nicht wie ihres an. Woran es lag, wusste sie nicht. Vielleicht hatte Oma recht und Nika musste das erst herausfinden, bevor sie etwas Neues begann. Schadete es, ein paar Monate auf einer Insel zu verbringen und dort vorübergehend ihr Geld zu verdienen? Viel unbefriedigender als die Arbeit, die sie jetzt ausübte, konnte es auch nicht sein.

2. Kapitel

Drei Monate später saß Nika auf einer Bank an Bord einer weißen Fähre. Neben sich einen Rollkoffer und einen großen Wanderrucksack. Unter Deck war die Luft so stickig, dass sie nach draußen geflohen war. Nun ließ sie den Fahrtwind an ihren zusammengebundenen Haaren zerren. Die Sonne stand hoch. Ohne den Wind wäre es schon angenehm warm. Hier oben fröstelte Nika. Sie zog ihre mit rosa Blümchen verzierte Strickjacke vor der Brust zusammen. Das tiefe, dunkle Blau des Meeres breitete sich vor ihr aus. Auf der Oberfläche tanzten funkelnde Sterne über die Wellen. Nika blinzelte und sah auf ihre Schuhe. Es war zu grell, um den Blick lange auf das Glitzern zu richten. Sie hatte ihre Sonnenbrille unter der Kleidung im Koffer verstaut. Hätte sie sie bloß aufgesetzt. Dann hätte sie in Ruhe auf die See starren können. So musste sie sich von Touristen anstarren lassen, die sich an ihr vorbeidrückten, um das Schiff zu erkunden. Nikas pinke Augenbrauen erregten Aufmerksamkeit. Kleine Kinder zeigten mit Fingern auf sie und äußerten Vermutungen über eine schlimme Krankheit. Nika grinste. Als ihr Magen zu knurren begann, stand sie auf und griff nach ihrem Gepäck. Es war sowieso nicht ihr Ding, lange ruhig herumzusitzen. Sie hatte nicht zu Mittag gegessen und beschloss, sich einen Kaffee und ein Croissant an der winzigen Bar im Innenraum zu holen. Auf dem Weg dorthin hörte man lediglich die Rollen ihres Trolleys auf dem Metallboden, die mit dem Motorengeräusch der Fähre wetteiferten. Drinnen roch es muffig. Nika verging der Appetit. Der Hunger blieb. Sie sprach schnell und wiederholte ihre Bestellung noch zweimal. Dann hielt sie endlich das Gewünschte in der Hand. Sie balancierte Gepäck, Kaffee und Hörnchen zügig nach draußen. In einer Nische stellte sie ihren Koffer ab und setzte sich darauf. Gierig schlang sie das Croissant herunter. Für den flüssigen Wachmacher ließ sie sich mehr Zeit. Notgedrungen. Beim ersten Schluck verbrannte sie sich Zunge und Gaumen. Sie fluchte leise vor sich hin. Der Beginn ihres neuen Lebens lief nicht gerade perfekt. Aber sie bereute es nicht, gekündigt zu haben. Es war, als löste sich ein festsitzender Knoten in ihrem Inneren. Ihr letzter Tag in der Redaktion war eine Erleichterung. Endlich atmete sie wieder durch. Nicht einer ihrer Kollegen verstand ihren Entschluss. Gekannt hatte sie keiner richtig. Es war nicht deren Schuld. Nika baute einen Schutzwall um sich auf. Umgekehrt hatte sie auch nicht großes Interesse an den Arbeitskollegen gezeigt. Der Abschied von ihnen und von Deutschland fiel ihr nicht schwer. Es war in Ordnung, auf der Fähre zu sein. Sie ließ die Dinge auf sich zukommen.


Kaum hatte Nika diesen Gedanken zu Ende gedacht, sah sie einen Schatten näher rücken. Es mutete wie die Insel an, die für die nächsten Monate ihr Zuhause sein würde. Neugierig sah sie es sich genauer an. Nika schoss so schnell von ihrem Koffer hoch, dass der heiße Kaffee ihr über die Finger schwappte. Sie presste die Kiefer aufeinander. Ein Fluch zischte zwischen ihren Zähnen hervor. Sie musste sich angewöhnen, ruhiger zu werden. Mit ihren Schnellschussaktionen verletzte sie sich nur selbst. Sie schüttelte die nasse Hand aus und stellte den Pappbecher auf den Boden. Mit der anderen Hand wischte sie noch einige Male über die feuchte, brennende Stelle und beließ es dabei. Sie blickte in Fahrtrichtung. Vor ihr türmte sich Karstgestein auf. Der grau-weiße Berg wurde immer größer, je näher sie kamen. Er strahlte in der Sonne. Die Insel sah kahl und verlassen aus. Nika fröstelte.


Um sie herum begann ein geschäftiges Treiben. Touristen begaben sich zurück zu ihren Autos und Bussen. Nika würde zu Fuß von Bord gehen. Sie hievte ihren Rucksack auf den Rücken und nahm den Griff des Rollkoffers in die Hand. Die Knöchel ihrer Finger traten weiß hervor. Ihre Zähne knirschten aufeinander. Sie wuchtete ihr Gepäck die Metalltreppe hinunter zum Autodeck. Unten presste sie ihren dünnen Körper dicht an die Wand. Die Fahrzeuge standen so nah beieinander, dass die Menschen beim Besteigen gezwungen waren, eine artistische Schlangennummer zu vollführen. Wenn die Blechlawine losrollte, wollte Nika nicht mitgerissen werden. Mit Blicken suchte sie nach einem sicheren Weg aus dem Schiffsbauch. Sie sah wie die Landungsklappe sich langsam senkte und dahinter der Fährhafen zum Vorschein kam. Es hatte zum Übersetzen keine andere Möglichkeit gegeben, sie hatte die Autofähre nehmen müssen. Ein leichter Ruck durchzuckte das Schiff, als es an der Landungsstelle andockte. Nika wartete, bis alle Fahrzeuge das Deck verlassen hatten. Dann ging sie sicher von Bord. Die Rollen ihres Trolleys kratzen über den Asphalt. Das Geräusch war so laut, dass sie die Schritte hinter sich nicht hörte. Erst als ein Pulk Touristen Nika überholte, wurde ihr klar, dass es sich um Tagesausflügler handelte. Keiner hatte Gepäck dabei, viele trugen Kameras um den Hals. Sie waren ihr auf der Fähre nicht aufgefallen. Vermutlich hatten sie es sich im Gastraum gemütlich gemacht. Bei dem Gestank? Na, vielleicht waren ihre Nasen nicht so empfindlich wie Nikas. Sie folgte der kleinen Gruppe zum Tickethäuschen des Fährhafens. Dort parkte ein Insel-Bus. Nika lockerte ihren Griff und entspannte die Kiefermuskulatur. Der Bus würde sie und die Touristen über das Land verteilen. Das Transportproblem löste sich somit von selbst. Nika hob ihren Koffer in den Bus und stieg ein. Sie suchte sich einen Platz, legte den Trolley unter den Sitz und stopfte den Rucksack zwischen ihre Beine und die Lehne des Vordersitzes. Der Fahrer lief durch den Bus, verteilte und kassierte die Fahrscheine. Nika zog ihren Brustbeutel heraus. Das war zwar nicht die modernste, aber immer noch die sicherste Methode Ausweis und Geld sicher zu verwahren. Der Busfahrer erkundigte sich nach Nikas Ziel. Sie nannte den Ort und bezahlte in Kuna, der Landeswährung. Der Chauffeur nahm hinter dem Lenkrad Platz und der Bus fuhr an.



Die ersten Kilometer sah man nichts, außer karstigem Gestein links und rechts. Kaum Vegetation. Dazwischen schlängelte sich die Straße. Es sah bizarr aus. Nika hatte vergessen, wie karg die kroatischen Inseln wirkten. Nun staunte sie über die Landschaft, als wäre sie noch nie hier gewesen.

In ihrer Kindheit war Nika oft mit ihrer Familie auf die großen kroatischen Inseln gefahren. Sie hatten wunderschöne Urlaube dort verlebt. Nun war sie auf der Insel Maun angekommen, die sie bisher nicht kannte und die ihr trotzdem vertraut vorkam. Geologisch bauten die Inseln sich alle ähnlich auf. In Nika glomm Vorfreude auf. Sie wollte das Gefühl abschütteln. Was sollte das? Sie war nicht ganz freiwillig nach Maun gereist. Dieses kindliche Glücksgefühl war lästig und unpassend. Zwischen ihre pinken Brauen grub sich eine Falte. Die dunklen Augen richtete sie starr aus dem Fenster. Sie sah nicht, wohin sie fuhren und sie freute sich auf nichts. Sie tat es für ihre Großmutter, sie tat deren Freundin einen Gefallen. Hier ging es nicht um ihr eigenes Leben. Noch nicht. Noch ließ sie keinen Gedanken über sich selbst zu.


Der Bus hielt im Hafen von Maun-Stadt. Nika zerrte ihr Gepäck hinaus. Ihr Blick flitzte durch die Luft. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hin musste. Da fiel ihr der zusammengeknüllte Zettel in ihre Hosentasche ein. Sie fischte ihn heraus und glättete ihn mit dem rechten Daumen. Wieder sah sie hilflos um sich. Der Busfahrer beobachtete sie eine Weile. Dann kam er auf sie zu.

„Wo wollen Sie hin?“

Nika zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht.“

Der Busfahrer deutete auf den Zettel und Nika zeigte ihm das zerknitterte Stück Papier.

„Ah, das ist gar nicht weit weg von hier. Sie müssen nur durch den Park. Sehen Sie? Hinter Ihnen. Dort können Sie dann weiterfragen.“

„Hvala. Danke.“ Nika ärgerte sich über sich. Wie konnte sie so kopflos sein. Das hätte sie auch alleine hinbekommen. Die Röte stieg ihr in die Wangen. Sie verbarg Wut und Scham, indem sie das Gummiband löste und ihre dunklen Haare ins Gesicht fallen ließ. Mit gesenktem Kopf trabte sie davon.

Sie überquerte die Fahrbahn und stand in einem Wäldchen. Erst jetzt hob sie den Kopf und blickte sich um. Links von ihr befand sich ein Kinderspielplatz, rechts grenzte der Park an eine andere Straße. Nika beschloss auf dem Weg zu bleiben, der geradeaus führte. Sie lief in den kleinen Wald hinein. Die hohen Kiefernbäume spendeten Schatten und dämpften alle Geräusche der Stadt. Parkbänke säumten den Kiesweg. Der Duft von Piniennadeln stieg ihr in die Nase. Mit jedem Schritt wurde Nika ruhiger. Plötzlich klatschte Nika mit der flachen Hand auf ihren Hals. Ein Reflex. Wild fuchtelte sie mit beiden Armen um sich. Was war das? Sie besah sich die roten Punkte auf ihrer Haut und begann unwillkürlich zu kratzen. Mücken. Sie war in einen ganzen Schwarm geraten. Mistviecher, dachte sie. Eine herzliche Begrüßung sah anders aus. Sie rannte los. Sie floh aus diesem Wald, bevor sie aussah wie ein Opfer der Beulenpest.


Als sie in die Sonne trat, atmete sie tief durch. Der Adrenalinstoß, den ihr die Mückenattacke bescherte, hatte sie aufgerüttelt. Sie nahm den Zettel mit der Adresse in die Hand und marschierte los. Sie brauchte keine Hilfe. Sie würde das Apartmenthaus alleine finden. Nach zehn Minuten Fußmarsch sah sie das gelbe Gebäude mit den blauen Markisen vor sich, das ihre Großmutter ihr beschrieben hatte. Sie ging die Anhöhe hinauf. Die Straße war schmal. Sie erlaubte nur einem Auto die Durchfahrt. Nika entdeckte Balkone, die Haustür befand sich auf der anderen Seite, vermutete Nika. Sie passierte das Haus und bog links in die Einfahrt. Im rechten Bereich erschloss sich ein kleiner Garten. Mittendrin stand eine Dusche, die aus dem Boden zu wachsen schien. Der schwarze Kasten neben dem Duschkopf sollte vermutlich das Wasser warmhalten. Nika schmunzelte über den vorsintflutlichen Boiler. Linker Hand erblickte sie die blaue Haustür. Sie straffte die Schultern, atmete tief durch und marschierte zum Eingang. Darüber prangte in blauer Schrift „Haus Ana“. Eine Klingel fand sie nicht. Nika klopfte. Und wartete. Erneut schlug sie ihre Knöchel gegen das Holz. Hinter der Tür vernahm sie schlurfende Geräusche. Jemand schien sich im Schneckentempo zu nähren. Die Tür ging knarzend auf. Das Scharnier vertrug ein wenig Öl, dachte Nika. Eine Frau, kaum größer als Nika, lugte heraus. Nika schätzte sie um die achtzig Jahre. Ein Netz feiner Fältchen umspannte das Gesicht. Von der Nase führten zwei tiefe Krater links und rechts zum Kinn. Die Haut an den Wangen hing schlaff nach unten. Auch am Hals hatte sie ihre Spannung vor langer Zeit verloren. Die lichten Haare standen in grauen und hellbraunen Löckchen vom Kopf. Das Blau der Augen war so blass, als ob es sich gleich auflösen wollte. Müde Blicke trafen Nika durch das altmodische Metallgestell. Doch dann hoben sich die schmalen Lippen zu einem Lächeln des Erkennens. Das trübe Blau richtete sich auf das Pink ihres Gegenübers.

„Ti si Nika.“

„Jesam. Ja, ich bin Nika.“ Sie musste sich erst daran gewöhnen, nach vielen Jahren wieder in ihrer Muttersprache zu reden.

„Na komm rein, Kindchen. So eine Freude, dass du da bist. Ich bin Ana, die Freundin deiner Oma.“

Die alte Frau hakte sich bei Nika unter. Halb zog sie Nika hinein, halb stützte sie sich auf Nika. So gelangten sie ins Wohnzimmer. Dunkelheit und eine angenehme Kühle empfingen sie. Nika merkte erst jetzt, dass sie auf dem Weg ins Schwitzen gekommen war. Sie stellte ihren Koffer ab und wuchtete den Rucksack herunter. Die Schultern schmerzten nun merklich. Sie ließ sie ein wenig kreisen und beobachtete Ana in ihrem Revier. Die schwang gerade die Fensterläden zur Seite und Sonnenlicht flutete das Zimmer. Nika scannte ihre Umgebung. Alte, dunkelbraune Möbelstücke dominierten den Raum. Alles sah ordentlich und sauber aus. Über dem Sofa lag eine dunkelrote Häkeldecke ausgebreitet. An einer Wand stand ein Schrank mit mehreren Vitrinen. Porzellangeschirr stapelte sich darin und etwas Glänzendes. Ana folgte Nikas Blick.

„Willst du einen Kaffee?“ Sie holte das schillernde Gebilde heraus. Es handelte sich um eine Dzezva, eine aus Kupfer gefertigte und auf der Innenseite legierte Mokkakanne. Ana kochte das Getränk auf traditionelle Art. Ein warmes, angenehmes Gefühl breitete sich in Nikas Bauch aus. Ihre Oma bereitete ihren Kaffee genauso zu. Ja, sie wollte unbedingt einen. Nicht weil, sie Bedarf an Koffein hatte. Zumal sie sich erst auf der Fähre, damit die Zunge verbrannt hatte. Aber die Sehnsucht nach ihrer Großmutter und dem Heimatgefühl drohte sie plötzlich zu überrollen. Wenn sie jetzt den Duft von Kaffeepulver riechen und den Geschmack, des in Zucker ertränkten Mokkas erspüren durfte, dann fühlte sie sich wie bei Oma. Dann wäre es wie ein Zuhause.

Ana sah Nika immer noch an. Sie nickte Ana zu und schluckte heiße Tränen hinunter. Ana verschwand in der kleinen Küche nebenan, goss Wasser in die Kanne, gab reichlich Zucker und zwei Löffel Kaffee dazu. Gedankenversunken blieb sie vor dem Herd stehen und wartete darauf, dass der Mokka zum ersten Mal aufkochte. Als er sich hob, nahm sie das Gefäß von der glühenden Platte, rührte mit einem kleinen Löffel um und setzte die Kanne zurück auf die Kochplatte. Nach dem zweiten Aufkochen schaltete Ana den Ofen aus. Sie griff mit dem Löffelchen den Schaum ab und verteilte ihn auf zwei Tassen, bevor sie den Kaffee eingoss. Als sie damit ins Wohnzimmer kam, hatte Nika sich wieder gefangen.

Ana stellte den Kaffee auf das winzige Tischchen vor dem Sofa und setzte sich in den Sessel gegenüber von Nika. Eine Weile beobachteten sich beide gegenseitig, während sie ihren heißen Mokka schlürften. Ana kannte den wahren Grund für Nikas Aufenthalt auf Maun. Und Nika sah Ana an, dass sie es wusste. Ana verlor darüber nicht ein Wort und Nika war ihr dankbar dafür. Sie wusste selbst, dass sie erneut in ihrem Leben versagt hatte. Bevor das Schweigen unangenehm wurde, begann Ana Nika ihre Aufgaben zu erklären.

„Bei uns gibt es keine festen Arbeitszeiten, weißt du. Die Ferienwohnungen betreten wir bei Belegung nur einmal in der Woche. Dann wechseln wir die Bettwäsche, tauschen die Handtücher aus und füllen auf, was fehlt, wie zum Beispiel Toilettenpapier. Der Großputz folgt erst, nach Abreise der Gäste. Ich bin körperlich nicht mehr so fit und bitte dich, mir den Großteil dieser Aufgaben abzunehmen. Ebenso die Besorgungen. Es fällt mir schwer, die Sachen nach Hause zu tragen. Die Wäsche übernehme ich. Bei den Einkäufen wird dir mein Mann helfen. Ivan ist derzeit mit seinem Boot unterwegs, aber du wirst ihn bald kennenlernen.“

„Wann mache ich denn die Betten? Ich meine, ich möchte ja nicht hereinplatzen, wenn die Leute gerade aus der Dusche kommen, oder so.“

„Das wird sich schon einspielen. In der ersten Zeit sage, ich dir noch, wann die Zimmer frei sind. Später wirst du den Rhythmus der Gäste selbst herausfinden. Aber das zeige ich dir alles morgen. Jetzt solltest du dein Zimmer beziehen und dich ein bisschen hier eingewöhnen. Komm, ich bringe dich in dein neues Zuhause.“

Ana erhob sich bedächtig und schlurfte nach draußen. Nika schoss vom Sofa und griff nach ihrem Gepäck. Sie tänzelte wie ein nervöses Pferd hinter Ana her. Es bereitete ihr Schwierigkeiten, sich behäbig zu bewegen. Über eine Außentreppe gelangten sie in den ersten Stock. Dort stießen sie auf eine Tür, die das Treppenhaus zu den Ferienwohnungen verbarg. Sie traten ein und bogen links ab. Zwei Schritte und sie befanden sich vor Nikas Apartment. Ana sperrte auf und ließ Nika den Vortritt. Nika fand sich in einer winzigen Küche wieder. Auf der linken Seite hinter der Küchennische entdeckte Nika eine schmale Tür. Dahinter kam das Bad zum Vorschein. Es war gerade mal so groß, dass Nika sich zwischen Waschbecken, Toilette und Dusche umdrehen konnte. Schlängelte man sich von der Zimmertür durch die Küchenzeile, an dem runden Esstisch mit den beiden Stühlen vorbei, stand man vor zwei nebeneinanderliegenden Türen. Die eine bestand aus dunklem Pressspan und führte ins Schlafzimmer. Es war karg, aber funktional eingerichtet. Ein Schrank an der rechten Wand, ein Doppelbett unter dem Fenster und eine kleine Kommode an der anderen fensterlosen Wand als Ersatz für die fehlenden Nachtkästchen. Links neben der Schlafzimmertür befand sich eine Glastür. Sie gab den Blick auf den Balkon frei. Nika trat hinaus. Sie erkannte den Garten mit der Dusche. Der Meerblick war für die Gäste reserviert. Trotzdem huschte ein Lächeln über Nikas Gesicht. Die leichte Brise vom Meer trug salzige, mit Pinienduft erfüllte Luft zu ihr herüber. Sie schloss die Lider und stellte sich den Ozean vor. Als sie sich zu Ana umdrehte, hatte sie ein Strahlen in den Augen. Ana freute sich, dass es Nika gefiel.

„Kind, wenn du irgendetwas brauchst. Ivan und ich sind immer für dich da. Und heute Abend kommst du um acht zu uns herunter. Du bist zum Essen eingeladen.“

Ana zog sich zurück und ließ Nika allein.



Nachdem sie notdürftig ausgepackt hatte, schlüpfte Nika in hellblaue Shorts und zog ein rosa-gelb gestreiftes T-Shirt über. Auf der Fähre im offenen Meer hatte sie gefroren, doch auf der Insel war es angenehm warm. Sie schaute unter ihr Bett, wo sie alle Schuhe hingeschoben hatte. Die weißen Flip Flops mit den rosafarbenen Blüten zwischen den Zehen passten perfekt zu ihrem Outfit, beschloss sie. Schnell noch eine bunte Stofftasche mit den nötigsten Utensilien um die Schulter gehängt und schon startete Nikas erster Rundgang.

Ihr Weg führte sie zum Strand. Das enge abschüssige Sträßchen trieb sie hinunter zur Strandpromenade, die im 90°-Winkel auf die Gasse traf. Selbst Nika schaffte es nicht, sich in Flip Flops geräuschlos fortzubewegen. Bei jedem Schritt platschte es. Die Arme ruderten raumgreifend durch die Luft. Aus der Ferne sah Nika aus, wie eine flügelschlagende Ente, was sie nicht im Geringsten störte. Die Promenade glitzerte. Die Steine glänzten, von den Sandalen der Touristenmassen blankpoliert. Unterhalb des Weges wuchs ein lichtes Pinienwäldchen. Dahinter erspähte Nika den Strand. Im Wäldchen stand auf Holzplanken eine Strandbar. Rechts davon grenzte ein cremefarbenes Zelt. Nika beschloss, in den nächsten Tagen dort auf einen Kaffee vorbeizuschauen. Heute wollte sie sich einen Überblick verschaffen. An der Strandpromenade gab es noch einiges zu entdecken. Fressbuden reihten sich an Souvenirshops und Zeitungskioske. Sie schlenderte an ihnen vorbei und nach etwa zwanzig Minuten erreichte sie den Abschluss des steingefliesten Weges. Ab hier ging ein schmaler Trampelpfad zur Felsenküste. Sie kraxelte über das scharfkantige Gestein und suchte sich einen glatten Untergrund zum Hinsetzen. Ein kleiner Felsvorsprung bot den perfekten Aussichtspunkt. Dort ließ Nika sich nieder. Sie überblickte den gesamten Strand und erahnte am Ende das Strandcafé im Pinienwäldchen. Der feine Kies, aus dem das Ufer bestand, rollte mit den Wellen hin und her. Das Knirschen der Kiesel, die gegeneinander rieben, erzeugte ein beruhigendes Geräusch. Hörte man länger zu, schlief man unwillkürlich ein oder verfiel in Trance. Bei Nika setzte das Rauschen Gedanken in Gang, die sie im Moment vermeiden wollte. Was sollte sie hier? Sie fühlte sich wie im Urlaub. Das war schön, klar. Aber was sollte danach geschehen? Würde irgendetwas anders werden? Würde sie nach dieser Zeit etwas über sich selbst erfahren, was sie bisher noch nicht wusste? Oder was sie verdrängt hatte? Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie Geheimnisse über sich aufdecken würde. Sie kannte sich selbst bis ins letzte Atom. Aber warum war ihr Leben dann so verkorkst? Sie hatte es doch durchgeplant. Nichts davon hatte funktioniert. Was blockierte sie? Nichts, beschloss sie trotzig und wühlte in ihrer Stofftasche nach der Sonnenbrille, die sie aussehen ließ, wie Puck, die Stubenfliege. Die Brille landete mit Schwung auf ihrer Nase. Sie schob ihr Kinn der Sonne entgegen. Sie wollte es sich gutgehen lassen, ein bisschen braun und vielleicht ruhiger werden. War das ihr Problem? Handelte sie zu hektisch? So ein Quatsch. Nicht alle gelassenen Leute waren erfolgreich. Die, die es zu etwas gebracht hatte, standen eher unter Strom - wie sie selbst. Entspannte Menschen sahen anders aus. Warum also hatte es mit ihrer Karriere so gar nicht geklappt?

„Aaaahh!“ Sie schrie los, stampfte wütend mit den Flip Flops auf den felsigen Untergrund, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und schüttelte ihren Kopf, bis ihr schwindlig wurde. Als der Ausbruch vorbei war, kreisten ihre Augen noch weiter. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder fokussieren konnte. Das Ganze war nötig, um dem unwillkommenen Gedankenfluss ein Ende zu setzen. Konnte sie nicht einfach nur genießen? Schon nach ein paar Stunden auf der Insel merkte sie, dass ihr zu viel Ruhe nicht bekommen würde. Was wollte ihre Großmutter damit erreichen? Dieses Entspannungsding trieb sie in den Wahnsinn. Sie sollte Oma anrufen und fragen, was sie sich dabei gedacht hatte. Okay, sie sollte sie sowieso anrufen und ihr mitteilen, dass sie gut angekommen war. Resigniert packte Nika ihre Tasche, hängte sie diesmal über die andere Schulter und machte sich auf den Rückweg.



Zurück in ihrem Zimmer suchte sie nach dem Mobiltelefon. Sie fand es in einem ihrer Schuhe. Wie war es nur dahin gekommen? Nika schüttelte den Kopf. Sie war auch noch schusselig. Kein Wunder, dass sie nichts auf die Reihe brachte. Mit dem Handy in der Hand legte sie sich quer über das Doppelbett und wählte die Nummer ihrer Großmutter. Nach dem vierten Klingeln wurde abgenommen.

„Hey, Oma, ich bin`s, Nika.“

„Oh Schätzchen, schön. Bist du gut angekommen?“

„Ja, Oma. Aber ich weiß nicht, was ich hier soll. Diese Ruhe macht mich nervös. Ich drehe total durch, Oma.“

„Jetzt warte es doch ab. Du musst dich erst einleben, dann kommt alles von alleine.“

„Deinen Optimismus möchte ich haben. Wenn ich schon nach drei Stunden einen Wutausbruch am Strand bekomme, was wird dann nach drei Monaten sein? Ich werde ein nervliches Wrack sein, Oma. Willst du das?“

„Nika, niemand bekommt von zu viel Ruhe einen Nervenzusammenbruch.“

„Doch, ich schon.“

„Nika, du hast es mir versprochen. Diese paar Wochen hältst du jetzt durch!“

„Es sind Monate, mindestens. Nicht Wochen. Und sie kosten mich Jahre meines Lebens.“

„Es wird alles gut, Kind.“

Was für ein Spruch. Nika zog eine Grimasse.

„Jaja, Oma. Ich melde mich wieder.“

Sie legte auf, ließ das Handy auf das Bett gleiten und trommelte mit den Fäusten auf eines der Kissen ein. Dann sah sie erneut auf das Display und stellte fest, dass sie noch drei Stunden Zeit hatte bis zu dem Abendessen bei Ana und Ivan. Sie überlegte, sich zum zweiten Mal auf den Weg zu machen. Irgendwo in dieser Gegend musste es etwas geben, was ihr ein wenig Ablenkung bescherte. Viele junge Touristen kamen hierher. Die Umgebung bot offensichtlich Attraktionen, die all die Menschen anzogen. Wo verschaffte man sich am besten einen Überblick? Nika sprang vom Bett auf, strich ihre Kleidung glatt und griff nach ihrer Strickjacke, falls es abends abkühlte. So machte sie sich auf, um nach einer Touristeninformation Ausschau zu halten.


Nach zwei Stunden kam Nika, bepackt mit bunten Flyern, Informationszetteln über Ausflugsmöglichkeiten und einem Buch über die Insel Maun, zurück. Das Material zu sichten würde sie Stunden kosten. Nika war zufrieden. Sie würde ihre Zeit nicht mit Grübeln verschwenden.

Sie sah auf die Uhr im Display ihres Handys. Eine halbe Stunde blieb ihr noch. Schnell sprang sie unter die Dusche, um den Staub und die Anstrengung eines langen Anreisetages herunter zu spülen. In Unterwäsche kam sie aus dem Bad und suchte im Schrank nach passenden Klamotten. Sie fand eine gelbe, lange Sommerhose und eine Bluse mit kurzen Rüschenärmeln. Darüber zog sie ihre geliebte Strickjacke. Sie drehte sich vor dem Spiegel, der zwischen Bad und Balkontür hing. Etwas fehlte. Sie schlüpfte zurück ins Bad. Dort bürstete sie die noch feuchten Haare zusammen und band sie zu einem Zopf. Fertig. Sie streifte ein Paar gelbe Ballerinas über, schnappte sich ihren Zimmerschlüssel und lief die Treppe hinunter zu der blaugestrichenen Haustür. Als sie diesmal klopfte, dauerte es nicht lange bis sie schwere Schritte hinter der Tür hörte. Immer noch hatte niemand die Scharniere geölt. Ein gebeugter Herr, Mitte achzig, sah Nika an. Er hatte schütteres Haar, das ihm wirr vom Kopf stand.

„Ah, hallo, Mädchen. Komm doch rein.“ Der Mann, der sich nicht vorstellte, musste Ivan, Anas Ehemann sein. Er hatte einige Zahnlücken und nuschelte ein wenig. Seine Hände zeugten von viel Arbeit. Breit, vom Alter gekrümmt, aber immer noch zupackend und stark. Ivan griff nach Nikas Oberarm und führte sie in ein Zimmer, das Nika am Nachmittag nicht gesehen hatte. Es war klein, grenzte an das Wohnzimmer und diente als Esszimmer. Ana hatte dort bereits den Tisch eingedeckt. Aus der Küche duftete es verführerisch. Nika schnüffelte in der Luft herum.

„Mmh. Was gibt es denn?“

„Frischen Fisch. Hab ich selbst gefangen.“ Ivan war sichtlich stolz auf sich.

„Und Salzkartoffeln und Mangold dazu“, kam es aus der Küche.

Erst jetzt merkte Nika, dass ihr Magen laut knurrte. Sie hatte an dem Tag nicht viel gegessen, sich fast nur von Kaffee ernährt. Nun freute sie sich auf eine anständige Mahlzeit. Ivan klopfte ihr auf die Schulter und wies ihr einen Platz zu. In dem Moment kam Ana mit zwei dampfenden Schüsseln aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. Sie setzte sich zu ihnen. Ivan goss allen ein Glas Wein an. Ana nahm ihres in die Hand und prostete Nika zu.

„Herzlich willkommen bei uns, Liebes. Wir freuen uns so, dass du da bist.“

„Weißt du, wir haben keine Enkel und finden es schön, dass du ein bisschen Leben ins Haus bringst“, brummte Ivan in seinen Weinkelch. Nika war starr vor Rührung und kämpfte zum zweiten Mal an diesem Tag mit den Tränen. Sollte sie hier gefunden haben, was sie schon so lange vermisste? Waren diese beiden Alten nun ihre Familie?


3. Kapitel

Als Nika am nächsten Morgen wach wurde, schien die Sonne hell in ihr Zimmer. Zehn Uhr. Ruckartig richtete sie sich im Bett auf. Hatte sie verschlafen? Sie wusste nicht, wann ihr Arbeitstag begann. Am Abend zuvor war es sehr gemütlich bei Ana und Ivan. Sie hatten Nika wie ein eigenes Enkelkind aufgenommen. Nika war deswegen aufgewühlt gewesen und konnte lange nicht einschlafen. Sie wälzte sich im Bett herum. Gegen drei Uhr in der Nacht fand sie endlich in den Schlaf. Nun sprang sie aus dem Bett, eilte ins Bad und unterzog sich einer Katzenwäsche. Flink streifte sie T-Shirt und kurze Hose über. Es war so eine herzliche Begrüßung und Nika vermasselte den ersten Arbeitstag. Was würden Ana und Ivan Kovac von ihr denken? Sie schlüpfte in ihre rosa Chucks. Mit ihnen lief sie sicherer als in Flip Flops. Sie riss ihre Zimmertür auf. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Nika rannte los. Sie sah nichts, sie hörte nichts, sie spürte nur Schmerzen. Ein Zusammenstoß. Die Wucht des Aufpralls hatte sie zwei Schritte zurückgeworfen. Ihr Blick klärte sich allmählich und sie sah meerblaue Augen, volle Lippen, zwischen denen strahlend weiße Zähne hervor blitzten, eine große Nase mit einem Höcker und dunkelblondes, lockiges Haar. Ihr Gegenüber sah besorgt aus.

„Entschuldige. Hast du dich verletzt? Sprichst du deutsch? I’m so sorry.“

Nika wankte benommen, fing sich jedoch schnell.

„Schon okay. Das war ganz schön hart. Himmel, bist du so durchtrainiert?“

„Das waren nicht meine Muskeln“, grinste er. „Du bist gegen meinen Laptop gerannt.“ Er hatte den tragbaren Computer vor dem Bauch gehalten. Nun hob er ihn als Beweis hoch. Wie peinlich. Nika stieg die Röte ins Gesicht. Er lächelte noch breiter.

„Ich bin David Bruch. Und Gast hier, wie du.“

„Ich bin kein Gast. Schönen Aufenthalt noch.“ Damit ließ sie ihn stehen und floh zu Ana nach unten.



David schüttelte den Kopf über diese seltsame junge Frau. Pinke Augenbrauen hatte er noch nie gesehen. Nervös und bunt wie ein kleiner Papagei flatterte sie durchs Treppenhaus. Er hatte sie bisher hier nicht gesehen. Und er wohnte schon seit einer Woche in einem von Anas Apartments. Irgendetwas gefiel ihm an ihr. Doch er hatte keine Zeit herauszufinden was es war. Er musste die Fotos sichten, die er in den letzten Tagen geschossen hatte. Er war gerade auf dem Weg in ein Café, wo er bei einem guten Frühstück, die Bilder sortieren wollte, als der Zusammenstoß passierte. Nun setzte er seinen Weg fort.



Nika kam außer Atem bei den Kovacs an. Sie entschuldigte sich für ihr spätes Erscheinen und wurde von Ana sofort beruhigt. Heute stand nur ein Zimmer im zweiten Stock auf dem Plan. Das wurde von einer Familie mit zwei kleinen Kindern bewohnt. Die Jungs hörte man noch auf dem Balkon krakeelen. Es war also noch Zeit genug, um in Ruhe zu frühstücken.

„Du bist so dünn, Liebes. Komm setz dich. Ich mache dir schnell etwas zu essen“, bot Ana sich an. Nika nahm dankend an und war froh, dass Ana ihr nicht böse war. Als Ana mit Brot, Butter, Honig, Marmelade und frisch aufgebrühtem Mokka ins Esszimmer kam, entspannte Nika sich langsam. Sie fragte Ana nach den Gästen im Haus. Die begann über die Familie aus Italien zu erzählen.

„Sie kommen jedes Jahr hierher. Sehr nette Leute.“

„Warum fahren die nach Kroatien. Sie haben doch selbst das Meer vor der Tür“, wollte Nika wissen.

„Es ist günstiger für sie bei uns den Urlaub zu verbringen, als in ihrer Heimat. Italien ist teuer“, erklärte Ana.

Nika rieb ihr rechtes Ohrläppchen. Dann faste sie sich ein Herz und fragte nach dem jungen Mann, namens David.

„David Bruch? Ja, sehr sympathisch. Er ist Fotograf und kommt aus München. Ein guter Fang für uns.“ Ana gluckste und zwinkerte Nika zu.

„Er macht Fotos für einen Bildband und hat das Apartment gleich für mehrere Wochen gemietet. Das ist lukrativ für uns.“

„Und wie sind so seine Gewohnheiten? Muss ich auf etwas achten?“, fragte Nika beiläufig.

„Manchmal ist er ganz früh weg. Das Licht wäre dann gut, sagt er. Abends ist er nie besonders spät zurück, es sei denn, er schießt Nachtaufnahmen. Er arbeitet viel. Ist diszipliniert, höflich, ein netter Junge.“

Ein Spießer also, dachte Nika ein wenig enttäuscht. Eine Spaßbremse war nicht das, was sie sich als Ablenkung gewünscht hatte. Schade, denn er sah sehr gut aus.

In dem Moment hörte man die Italiener die Treppe herunterpoltern. Ana warf einen Blick aus dem Fenster. Sie sagte, sie würden noch ein paar Minuten warten, falls die Familie etwas vergessen hätte, und würden dann nach oben gehen, um die Wäsche auszutauschen.



In dem Familienapartment im obersten Stock herrschte Chaos. Spielsachen warteten überall verteilt auf die Rückkehr ihrer kleinen Besitzer. Die Zudecken der Kinder waren zerwühlt. Ein paar Handtücher lagen am Boden zum Austausch. Ana gab Nika Anweisungen. Die Betten waren schnell bezogen. Es gab große Laken, keine Spannbetttücher, die sich gegen das Aufziehen wehrten. Ana zählte Frotteetücher ab und erklärte Nika wo sie sie hinzulegen hatte. Die gebrauchten stopften sie in den Korb, in dem sie die frischen Sachen transportiert hatten. Das Toilettenpapier wurde aufgefüllt. Nika nahm den Besen aus der Ecke des Zimmers und kehrte Krümel zusammen. Ana nickte zufrieden. Sie sammelten noch Geschirrtücher ein und dann war die Arbeit in diesem Apartment abgeschlossen. Viel war es nicht und Nika dachte, sie könnte eine entspannte Zeit auf der Insel verleben. Doch Ana klärte sie schnell auf. Nicht alle Besucher reisten am gleichen Tag an. Die meisten fuhren an einem Samstag an. Dann gab es viel zu tun. Einige kamen unter der Woche. Und wenn es an einem Tag keine Zimmer zu richten gab, dann mussten Einkäufe erledigt werden, die Wäsche zum Mangeln gebracht oder abgeholt oder Sonderwünsche erfüllt werden. Manchmal veranstalteten Ana und Ivan Grillabende für die Gäste im Garten. Auch die erforderten Planung und Vorbereitung.

„Aber du wirst genug Zeit haben, an den Strand zu gehen und dich zu amüsieren“, versprach Ana. Nika hatte da ihre Zweifel. Und prompt kündigte Ana ihr an, dass sie gleich losziehen würden, um Besorgungen zu machen. Heute würde sie Nika noch begleiten und ihr alles zeigen. Beim nächsten Mal müsste sie Nika alleine losschicken. Nika war wenig begeistert. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie zum Arbeiten hier war und nicht im Urlaub. Es viel ihr schwer, wenn die Sonne einen an den Strand lockte. Bepackt mit dem Wäschekorb stiegen sie die Stufen zu Anas Wohnung hinunter. Nika stellte ihre Last in der Diele ab und folgte Ana in die Küche. Dort bekam sie zwei überdimensionale Plastiktaschen in die Hand gedrückt.