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Gedächtnislos
				Der Samurai wartete nicht auf Jack, auch nicht als der Regen zu einem Wolkenbruch anschwoll und er von der Hauptstraße in einen Wald abbog. Dort führte der Weg steil bergauf und Jack, der noch geschwächt war, hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten. 
				An einem abgeschiedenen Shinto-Schrein inmitten einer kleinen, auf einer Anhöhe gelegenen Lichtung holte er ihn endlich ein. Der Schrein bestand aus einer einfachen Holzhütte, zwei mit Flechten bedeckten großen Steinen und einem hölzernen Tor, das den Eingang bezeichnete. Der Samurai hatte sich bereits zum Ausruhen in den Schrein gesetzt und hielt eine Sakeflasche in der Hand.
				Jack rief sich in Erinnerung, wie man eine solche Kultstätte zu betreten hatte, und ging durch das Eingangstor. An einer steinernen, mit Wasser gefüllten Schale blieb er stehen, schöpfte mit dem daneben liegenden Holzlöffel Wasser, wusch sich zuerst die linke und dann die rechte Hand, spülte den Mund aus und legte den Löffel wieder ordentlich zurück. 
				Zwar wusste er nicht, ob die Reinigung notwendig war, da er sowieso bis auf die Haut durchnässt war, aber er wollte kein Risiko eingehen.
				Im Herzen war er zwar ein protestantischer Christ, doch sein Zen-Meister Sensei Yamada hatte ihm geraten, die Rituale des Shintoismus und Buddhismus zu befolgen, um so wenig wie möglich aufzufallen. Da der Shogun – und inzwischen auch ganz Japan – die Christen bekämpfte, durfte Jack niemanden vor den Kopf stoßen. Wenn er zudem einzelne Menschen wie diesen Samurai davon überzeugen konnte, dass er ihrer Religion angehörte, waren sie vielleicht eher bereit, ihm auf seiner Reise zu helfen.
				Er verbeugte sich zweimal, klatschte zweimal in die Hände, um die kami-Geister zu wecken, und verbeugte sich anschließend noch einmal. Dann faltete er die Hände zu einem stummen Gebet.
				»Du verschwendest deine Zeit«, brummte der Samurai. »Ein solcher Schrein ist ein guter Unterschlupf, mehr nicht.«
				Jack hob überrascht den Kopf. Die Japaner waren ein frommes Volk und er hatte von einem Samurai keine so geringschätzige Bemerkung erwartet. Er betrat den Schrein und setzte sich, froh, dem strömenden Regen entronnen zu sein und die schmerzenden Glieder ausruhen zu können.
				»Wer bist du?«, fragte der Samurai. »Du siehst nicht aus, als seist du von hier.«
				»Ich heiße Jack Fletcher«, antwortete Jack mit einer ehrerbietigen Verbeugung. »Ich komme aus England, einer Insel wie Japan, aber auf der anderen Seite der Erde. Und wer seid Ihr?«
				»Ronin.«
				»Ich dachte, das hieße ›herrenloser Samurai‹?«
				»Nenn mich einfach so«, wiederholte der Samurai schroff. Er nahm einen großen Schluck Sake und hielt Jack dann die Flasche hin.
				»Nein danke«, erwiderte Jack, der schon einmal Reiswein gekostet und davon einen Hustenanfall bekommen hatte. Im Augenblick war sein Magen dem kaum gewachsen. »Aber ich muss mich bei Euch bedanken, Ronin. Ihr habt mich gerettet.«
				Der Samurai brummte. »Die Polizisten standen mir im Weg.«
				»Aber werden sie Euch jetzt nicht verfolgen?«
				Ronin lachte prustend. »Erbärmliche Samurai sind das! Von wegen neue Polizisten im neuen Japan des Shoguns. Ganz gewöhnliche Soldaten sind sie, die sich wichtigtun. Sie werden sich viel zu sehr schämen. Außerdem hast du selbst gesehen, dass sie sich gegenseitig angegriffen haben.«
				Jack dachte an den Kampf zurück und musste ihm im Grunde Recht geben. Die einzige wirkliche Verletzung hatte der Stellvertreter des Anführers dem Anführer zugefügt. Die von Ronin ausgeteilten Schläge hatten dagegen wie Versehen gewirkt.
				»Aber dir werden sie nachstellen.« Ronin zeigte auf Jack. »Was macht dich zu einem so gesuchten jungen Mann?«
				»Ich habe im Krieg gegen den Shogun gekämpft«, antwortete Jack. Soweit er sich erinnerte, hatte Ronin bei der Ankunft der Polizisten geschlafen. Dann hatte er hoffentlich nicht gehört, dass auf Jacks Kopf eine Belohnung ausgesetzt war. Seine Chancen standen schlecht, wenn Ronin plötzlich beschloss, ihn auszuliefern und die Belohnung zu kassieren.
				»Auch viele Samurai haben gegen den Shogun gekämpft, aber er lässt sie deswegen nicht suchen. Warum bist du etwas Besonderes?«
				Jack überlegte kurz, auf welcher Seite Ronin wohl gestanden hatte, traute sich aber nicht, zu fragen. »Weil ich Ausländer bin …«
				»Das sehe ich.« Ronin bedachte Jack mit einem prüfenden Blick, der allerdings nicht abwertend war. »Aber auch das erklärt nicht, warum der Shogun ausgerechnet dich sucht.«
				Dafür konnte es viele Gründe geben. Jack vermutete, dass es letztlich mit dem Portolan zu tun hatte. Shogun Kamakura gehörte zu den wenigen Menschen in Japan, die von der Existenz und Bedeutung des Logbuchs wussten. Drachenauge, der den Portolan im Auftrag des portugiesischen Priesters Pater Bobadillo gestohlen hatte, hatte vor seinem Tod noch versucht, ihn für Kamakura zurückzuholen, allerdings ohne Erfolg. Offenbar hatte der Shogun, der inzwischen an die Macht gelangt war, den Portolan nicht vergessen. Doch Jack wusste, dass es leichtsinnig gewesen wäre, Ronin zu vertrauen, auch wenn er ihm das Leben gerettet hatte. Er beschloss deshalb, den Portolan nicht zu erwähnen.
				»Ich bin auch ein Samurai«, erklärte er stattdessen.
				»Ein Gaijin, der Samurai ist?« Ronin lachte ungläubig. »Wer um alles in der Welt hat dich zum Samurai ausgebildet?«
				»Mein Vormund Masamoto Takeshi.«
				Ronin hörte auf zu lachen.
				»Er ist der Leiter der Niten Ichi Ryu …«
				»Ich weiß, wer er ist«, fiel Ronin Jack ins Wort und legte die linke Hand an den Griff seines Langschwerts. Jack erstarrte. Was hatte Ronin vor? »Masamoto-samas Ruf eilt ihm voraus. Jetzt überrascht mich nicht mehr, dass der Shogun hinter dir her ist. Du bist nicht nur der Ziehsohn seines Feindes, sondern verkörperst gleichzeitig alles, was er an den ausländischen Eindringlingen hasst. Hat Masamoto-sama dir etwa auch die Technik der beiden Himmel beigebracht?«
				Jack nickte argwöhnisch.
				Ronin begann breit zu grinsen. »Dann beneide ich dich.« Er ließ sein Schwert los und prostete Jack mit der Sakeflasche zu. »Ich wollte Masamoto-sama immer zu einem Freundschaftsduell herausfordern. Es heißt, er sei mit seiner geheimen Technik unbesiegbar.«
				»Er ist ein ehrenhafter und mutiger Samurai«, bestätigte Jack, erleichtert, dass Ronin seinen Vormund bewunderte. »Aber der Shogun hat ihn in ein abgelegenes Kloster auf dem Iawo verbannt, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
				Ronin ließ die Sakeflasche sinken und schüttelte empört den Kopf. »Ein Jammer!«
				Schweigend saßen sie eine Weile da und lauschten dem Trommeln des Regens auf dem Holzdach. Ronins Kopf sank nach vorn und er schien in einen sakeseeligen Schlummer zu fallen. Jack dachte unterdessen wehmütig an Masamotos Unterricht und seine Versuche, die Technik der beiden Himmel zu erlernen. Die Ausbildung zum Samurai an der Niten Ichi Ryu war mörderisch anstrengend gewesen, aber der Sinn, den sie seinem Leben gegeben hatte, und die tiefen Freundschaften, die dabei entstanden waren, hatten die Strapazen gelohnt. Zu gern wäre Jack an die Schule zurückgekehrt, doch war sie wegen Masamotos Verbannung und infolge des verheerenden Krieges, in dem viele Sensei gefallen waren, bestimmt längst geschlossen.
				Ronin fuhr aus seinem Schlummer hoch. »Du hast also an der Niten Ichi Ryu gelernt, unter Satoshis Fahne gegen Kamakura gekämpft und die Schlacht um die Burg von Osaka irgendwie überlebt. Und dann?«
				»Ich konnte mit Akiko in die Hafenstadt Toba fliehen. Wir haben bei ihrer Mutter gewohnt …«
				»Wer ist Akiko?«
				»Masamotos Nichte – und meine beste Freundin.« Jack musste bei der Erinnerung an Akiko unwillkürlich lächeln. Wie sehr er sie vermisste! Wenn sie an seiner Seite gewesen wäre, befände er sich jetzt nicht in dieser misslichen Lage und käme sich weniger einsam und verletzlich vor. Sein Lächeln wich der Reue darüber, sie verlassen zu haben.
				Ronin sah Jacks unglückliches Gesicht und hob wissend die Augenbrauen. »Warum bist du dann nicht bei ihr geblieben?«
				»Es ging nicht. Als der Shogun alle Ausländer und Christen per Gesetz aus dem Land verbannte, war ihre Familie in großer Gefahr. Also habe ich mich auf den Weg nach Nagasaki gemacht. Dort hoffe ich ein Schiff zu finden, das nach England fährt.«
				»Wann bist du in Toba aufgebrochen?«
				»Es muss im Frühjahr gewesen sein«, sagte Jack. Und jetzt ist es Herbst, dachte er.
				»Und du bist nur bis Kamo gekommen?!« Ronin schnaubte ungläubig.
				Jack hatte selbst nicht damit gerechnet, dass er so langsam vorankommen würde. Daran waren widrige Umstände schuld. Die Häscher des Shoguns hätten ihn fast auf dem Tokaido geschnappt und er hatte ins Iga-Gebirge fliehen müssen, das Reich der Ninja. Zuletzt hatte er in einem verborgen gelegenen Dorf bei seinen Erzfeinden gelebt. In dieser Zeit hatte er begriffen, wer die Ninja in Wirklichkeit waren. Sie hatten ihn in der Kunst des Ninjutsu, den Werten des ninniku und der Lehre von den fünf Ringen unterwiesen und damit all seine Vorurteile ins Wanken gebracht. Er hatte viele überlebensnotwendige Fertigkeiten von ihnen gelernt und seine alten Feinde waren zu Freunden geworden. Trotz einiger letzter Vorbehalte betrachtete er sich inzwischen sowohl als Samurai wie auch als Ninja. Doch brauchte Ronin das nicht zu wissen.
				»Ich habe mich im Gebirge verirrt«, sagte er deshalb, was auch teilweise stimmte. 
				Ronin nickte langsam, schien von der Antwort allerdings nicht vollständig überzeugt. »Das geht schnell. Bist du deshalb so übel zugerichtet? Deine Verletzungen stammen nicht nur von heute.«
				Jack sah an sich hinunter. Die roten Schwielen der Eisenknüppel überlagerten nur die vielen dunkelblauen Flecken, die seinen ganzen Körper bedeckten. Dumpfe Schmerzen pochten in seiner gesprungenen Lippe, dem geschwollenen Auge und auch in seinen Rippen. Er war mit Wunden übersät, ohne zu wissen, wie er dazu gekommen war. Am schlimmsten war jedoch sein Magen, der immer noch vom Angriff des Polizisten-Anführers schmerzte.
				»Keine Ahnung«, antwortete er und zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich an die letzten Tage nicht erinnern.«
				»Keine Sorge, das passiert mir auch oft«, brummte Ronin und hob die Flasche an die Lippen.
				»Aber ich trinke keinen Sake!«, erwiderte Jack und musste unwillkürlich lachen, verstummte aber sofort wieder, weil seine Bauchmuskeln höllisch wehtaten.
				»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Ronin und lehnte sich an die Wand des Schreins.
				»Zunächst einmal werde ich die Sachen suchen, die ich verloren habe …«, begann Jack. Das omamori in seiner Hand fiel ihm wieder ein und er fügte hinzu: »Oder besser gesagt, die mir gestohlen wurden.«
				»Man hat dir nicht nur die Erinnerung geraubt, sondern auch dein Gepäck?!«, rief Ronin und hob voller Mitgefühl die Augenbrauen. »Du hast aber auch ein Pech! Was wurde denn gestohlen?«
				»Alles. Meine Kleider, mein Geld, mein Proviant, ein Inro, den mir Daimyo Takatomi geschenkt hat und in dem ich ein Kranich-Amulett meines Freundes Yori aufbewahrte, eine kostbare Perle, die mir Akiko geschenkt hat …«
				»Noch etwas Wertvolles?« In Ronins blutunterlaufene Augen war ein Funkeln getreten.
				Jack nickte. »Das … Tagebuch meines Vaters«, sagte er, das Wort Portolan sorgfältig vermeidend. »Und einige Wurfsterne, an die ich durch Zufall gekommen bin. Und natürlich meine Schwerter.«
				»Deine Schwerter?!«, rief Ronin bedauernd.
				»Ja.« Jack nickte beschämt. Schwerter waren die Seele eines Samurai. Sie zu verlieren, galt als unverzeihliche Schande. »Sie gehörten Akikos Vater und wurden von Shizu angefertigt. Sie haben dunkelrot umwickelte Griffe und die Scheiden sind mit Perlmutt eingelegt. Ich würde sie überall wiedererkennen.«
				»Shizu«, flüsterte Ronin andächtig. Der Ruf des Schwertschmieds war legendär. »Dieses Mädchen muss sehr viel von dir halten, wenn sie dir solche Schwerter schenkt. Und sie zu verlieren, muss unerträglich schmerzen!«
				Nachdenklich strich er sich über den Bart. Dann setzte er mit einer entschlossenen Geste die Sakeflasche ab. »Ich werde dir helfen«, erklärte er. »Vermutlich bist du Banditen in die Hände gefallen.«
				»Vielen Dank, Ronin«, sagte Jack, von dem großzügigen Angebot überrascht. »Aber ich kann Euch nicht bezahlen.«
				»Ich tue so etwas doch nicht für Geld!« Ronin schnaubte beleidigt. »Das tun Krämer, nicht Samurai. Allerdings …« Er schüttelte die fast leere Flache. »Der Mensch lebt nicht von Luft allein. Als Gegenleistung für meine Dienste erbitte ich lediglich, dass ich eins von den Dingen, die wir wiederfinden, behalten darf.«
				Jack zögerte. Wenn Ronin sich nun den Portolan aussuchte? Aber das war höchst unwahrscheinlich. Ronin interessierte sich nämlich nur für eins – wie er sich den nächsten Rausch antrinken konnte. Jack betrachtete den zerzausten und betrunkenen Samurai für einen Moment und überlegte, ob er ihm wirklich helfen konnte oder ihn eher behinderte. Doch er brauchte im Moment jede Hilfe, die er bekommen konnte, also nickte er zustimmend.
				»Gut, das wäre dann abgemacht«, sagte Ronin. Er trank einen Schluck, um den Handel zu besiegeln, ließ sich gegen die Wand zurücksinken und schloss die Augen. Kurz darauf war er eingeschlafen und schnarchte er laut.
				Eine schöne Hilfe wird er mir sein!, dachte Jack.