Pädagogische Forschungsstelle
waldorfbuch
Im Gedenken an Eugen Kolisko (1893 bis 1939)
Pionier der Schularzttätigkeit an der Waldorfschule
und an Karl Schubert (1889 bis 1949)
Pionier der anthroposophischen Heilpädagogik
Pädagogische Forschungsstelle
beim Bund der Freien Waldorfschulen
Wagenburgstraße 6 · 70184 Stuttgart
© edition waldorf
Stuttgart, 2. Überarbeitete Auflage 2020
Sie finden uns im Internet unter
www.forschung-waldorf.de • www.waldorfbuch.de
Print: ISBN 978-3-939374-86-2
ePub: ISBN 978-3-939374-87-9
ePDF: 978-3-939374-88-6
Satz und Gestaltung:
Lorenzo Ravagli, anthroweb.info
Druck und Bindung: lokay e.k.
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen
bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung
der Pädagogischen Forschungsstelle Stuttgart.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.
Die Corona-Pandemie hat uns alle betroffen gemacht und viele Fragen aufgeworfen. Diese kreisen nicht nur um die persönliche Angst wegen der eigenen Gesundheit und der sozialen Gemeinschaft. Sie umfassen auch die globalen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Folgeerscheinungen. Noch nie hat eine Pandemie oder sonst ein global diskutiertes Ereignis so viele, ja nahezu alle Menschen existenziell herausgefordert. Auch Kinder – bis zu den kleinsten wurden aus wichtigen sozialen Bindungen herausgerissen wie zum Beispiel dem Kontakt zu den Großeltern, zu Freunden in der Nachbarschaft, aber auch aus den gewachsenen Beziehungen in Kita, Kindergarten und Schule, die mit einem Mal nicht mehr Teil des gewohnten Lebens waren. Dafür konnte auch der virtuelle Kontakt keinen zureichenden Ausgleich schaffen. Denn so nützlich vielerorts im Arbeitsleben oder auch bei älteren Schüler*innen die Möglichkeiten der Digitalisierung für Kommunikation und Wissensvermittlung sind, so wurde doch auch hier deutlich, dass Präsenzunterricht nur bedingt durch digitales Lernen ersetzbar ist.
Die Corona-Pandemie hat aber auch das Thema Sicherheit und die Angst vor Gefährdungen noch einmal mehr verstärkt. Angst, Warnungen, Verbote sind aber keine guten Begleiter einer Erziehung, deren Ziel es ist, mündige, selbstbewusste, kreative und mutige Menschen in das Leben zu entlassen. Was sind die Bedingungen für die Entwicklung solcher Charaktereigenschaften? Ja mehr noch: Was sind die Bedingungen für eine gesunde körperliche, seelische und geistige Entwicklung in Kindheit und Jugend? Gibt es eine Erziehung, die Resilienz und Widerstandskraft, die sogenannten salutogenen Ressourcen, d.h. die Gesundheit fördernden Möglichkeiten des Organismus und seiner Selbstheilungskräfte stärken kann? Mit der Corona-Pandemie bekommt diese Frage neues Gewicht: Welche Macht besitzt das Virus, den Menschen zu infizieren, und welche Widerstadsressourcen (Immunkompetenz) hat der Organismus, um sich nicht anstecken zu lassen1?
Gesundheit ist ein komplexes Geschehen, an dem auch Erziehung und Selbsterziehung Anteil haben. Daher liegt die Frage eigentlich nahe: wie können Kita, Kindergarten und Schule Orte gesunder Entwicklung werden? Diese Fragen haben mich durch mein über 40-jähriges professionelles Leben als Kinder- und Jugendärztin und in beratender Funktion an Waldorfschulen, begleitet. Sie haben mich immer wieder motiviert dazu zu lernen, gut zu beobachten und aus den gemachten Erfahrungen zu lernen.
So werden in diesem Buch einerseits praktisch umsetzbare Hinweise und Gesichtspunkte zu den hier angesprochenen Fragen aufgezeigt. Andererseits ist es mein Anliegen, die seit hundert Jahren inzwischen weltweit praktizierten entwicklungspsychologischen und physiologischen Einsichten und Erfahrungen der Waldorfpädagogik darzustellen, die meine Beratungstätigkeit und meine therapeutischen Interventionen inspiriert haben. Es scheint mir dies gegenwärtig gerade besonders essenziell, weil Kinderärzte*ärztinnen und Schulpsycholog*innen schon seit Jahren darauf hinweisen, dass eine zunehmende Anzahl von Kindern und Jugendlichen dem Leistungsdruck an öffentlichen Schulen immer weniger gewachsen ist, Burnout-Symptome nicht nur unter Pädagog*innen und Erzieher*innen zunehmen, sondern auch immer mehr Schüler*innen davon betroffen sind. Hinzu kommt die hinlänglich bekannte kontinuierliche Zunahme körperlicher Haltungsschäden sowie seelischer Anpassungs- und Entwicklungsstörungen. Auch wächst die Literatur zum Thema, dass Schule krank macht. Daher ist die Frage zentral: Wie können Bildungseinrichtungen von der Kinderkrippe an bis zum Ende der Schulzeit Orte gesunder Entwicklung werden?
Rudolf Steiner (1861-1925), der Begründer der Waldorfpädagogik, vertrat die Auffassung, dass jede*r Heranwachsende ein Recht auf Bildung in den ersten 18 Lebensjahren hat. Warum diese Entwicklungszeit möglichst ungestört durchlaufen werden sollte, wird im zentralen Kapitel dieses Buches, die Jahresmeilensteine der Entwicklung und ihre Resonanz im Waldorf Lehrplan dargestellt.
Ich schreibe dieses Buch aber auch aus einer großen Betroffenheit heraus. Denn ich habe in meinem beruflichen Alltag täglich erlebt, welch großen Einfluss die Vorgaben der Leistungs- und Bildungsziele in den Schulen auf die Heranwachsenden haben – ebenso wie der Erziehungsstil zu Hause. Dabei wurde mir zunehmend bewusst, wie privilegiert ich als ehemalige Waldorf Schülerin gewesen bin, dass ich eine Entwicklung durchlaufen durfte, die weder vom Elternhaus her noch seitens der Schule je unter Leistungsdruck stand. Selbstverständlich habe auch ich mehr oder weniger kompetente Lehrer*innenpersönlichkeiten erlebt. Ich hatte aber stets den Eindruck, dass ich in meiner spontanen Leistungsbereitschaft unterstützt wurde, nicht aber das ich Anforderungen genügen musste. Ich fühlte mich – auch als Kind – stets ernst genommen. Später habe ich dann bemerkt, dass es ein Alleinstellungsmerkmal der Waldorf- und Rudolf Steiner Schulen ist, dass dieses Schulsystem als solches konsequent an den Belangen der gesunden Entwicklung der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet ist – von der Architektur und Umgebungsgestaltung angefangen über die Lehrplaninhalte, die Methodik und Didaktik des Unterrichtes, bis hin zu den Verwaltungsstrukturen. Die Anpassung an die Leistungsanforderungen aus Wirtschaft und Bildungspolitik greifen erst am Ende der Schulzeit und haben – wenn es gut geht und dieses Vorgehen auch von der Elternschaft unterstützt wird – vorher kaum Einfluss auf das Unterrichtsgeschehen. In Dänemark ist es sogar nach eingehenden Verhandlungen gelungen, 2016 ein Gesetz zu verabschieden, dass es Waldorf Schüler*innen ermöglicht, die Studienzulassung für dänische Hochschulen aufgrund des Abschlusszeugnisses der zwölften Klasse zu bekommen. Nur wer im Ausland studieren will muss ein Abiturjahr anhängen.
Es sei diesem Buch der Wunsch mitgegeben, dass es beitragen kann, Erziehung in Kinderkrippe, Kindergarten und Schule neu zu denken: Entwicklung fördern, statt Leistung fordern; ein Umfeld schaffen, dass Eigentätigkeit und Selbstwirksamkeit anregt, statt Vorgaben zu machen; realweltlichen Erfahrungen in den Mittelpunkt stellen, um die möglichen Schäden durch die die digitalen Miterzieher zu kompensieren; den wissenschaftlichen, künstlerischen und spirituellen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gerecht werden, damit Menschlichkeit wachsen kann.
Dornach, 28. August 2020
Michaela Glöckler
1. M. Gloeckler, A. Neider, H. Rang: Corona - eine Krise und ihre Bewältigung. Stuttgart 2020
Die entwicklungsorientierten Fachpublikationen seit dem Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piaget (1896–1980) bis in die Gegenwart haben längst die wesentlichen Grundlagen und Voraussetzungen aufgezeigt, die es für eine gesundheitsfördernde Bildungspraxis braucht. Drei Beispiele seien genannt:
Der Schweizer Entwicklungsforscher und Kinderarzt Remo Largo hat im Kinderspital Zürich die Möglichkeit gehabt, ein 1954 von Andrea Prader und Guido Fanconi begonnenes Forschungsprojekt – eine Longitudinalstudie zur Erforschung der gesunden Entwicklung – in den Jahren 1974–2005 fortzuführen. Dadurch bot sich ihm die Chance, mehr als 700 gesunde Kinder von ihrer Geburt bis ins Erwachsenenalter in zwei aufeinanderfolgenden Generationen zu überschauen. Der Entwicklungsverlauf jedes einzelnen Kindes wurde dokumentiert mit dem Ziel, Aufschlüsse über die Vielfalt und die Gesetzmäßigkeiten »normaler Entwicklung« zu gewinnen. Denn nur wenn wir diese gut kennen – so Remo Largo –, »können wir den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder gerecht werden und sie in ihrer Entwicklung als Eltern, Therapeut*innen und Lehrkräfte wirksam unterstützen«.2 In der Folge entstanden dann die äußerst hilfreichen Praxisbücher: Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren; Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung; Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken; Wer bestimmt den Schulerfolg: Kind, Schule, Gesellschaft? und – gemeinsam mit M. Beglinger – Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen sowie mit M. Czernin die Publikationen Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten und Glückliche Scheidungskinder. Was Kinder nach der Trennung brauchen.3 Diese Bücher enthalten so gut wie alles, was aus kinderärztlicher Sicht zu dem notwendigen Wandel im Bildungswesen beigetragen werden kann. Sie gehören aus meiner Sicht in jede Schulbibliothek und sollten Pflichtlektüre in jeder Ausbildung zum Erzieher*innenberuf sein.
Der 2019 verstorbene dänische Familientherapeut Jesper Juul hat in seinen weltweit gelesenen Publikationen und seinem Bemühen, Beratungsstrukturen zu schaffen, die für Eltern und Fachleute leicht zugänglich sind, den Schwerpunkt auf das Einüben einer neuen erzieherischen Haltung gelegt. Die wenigen hier ausgewählten Titel seiner Bücher zeigen eine pädagogische Orientierung an, die sich klar zwischen der traditionell-autoritären und der experimentell-antiautoritären Richtung als dialogisch und entwicklungsorientiert etablieren kann: Aus Erziehung wird Beziehung. Authentische Eltern – kompetente Kinder; Was Familien trägt. Werte in Erziehung und Partnerschaft; Nein aus Liebe. Klare Eltern – starke Kinder; Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie; Grenzen, Nähe, Respekt. Auf dem Weg zur kompetenten Eltern-Kind-Beziehung; Schulinfarkt. Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrern besser geht?4 Was Juul mit Largo verbindet, ist der Blick auf das individuelle Kind und seine spezifischen Bedürfnisse und wie Erwachsene lernen können, diese zu sehen und sie altersgerecht zu berücksichtigen.
Als drittes Beispiel möchte ich den Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer nennen, der in seinen Publikationen insbesondere die Gefahren der digitalen Medien für eine gesunde Gehirnentwicklung auf der Grundlage bereits vorhandener Forschungsergebnisse dargestellt hat. Auch Spitzer ist es ein großes Anliegen, sein Fachwissen in allgemein verständlicher Form, in einer Fülle von Hörbüchern, Publikationen und Youtube-Vortragsvideos jedem Interessierten zugänglich zu machen. Zum Glück ist auch er schon lange kein einsamer Rufer in der Wüste mehr – die Stimmen besorgter Kinderärzte und Psychologen mehren sich, die sich für eine altersentsprechende Medienerziehung einsetzen im Sinne von »Entwicklung first – Digitalisierung second«. Seine Bücher Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens; Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft; Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen und Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft5 machen deutlich, dass der notwendige Wandel im Bildungswesen auch eine klare Position angesichts der von Wirtschaft und Politik mit großem Engagement vorangetriebenen digitalen Bildungsoffensive braucht. Und diese Position heißt: altersgerechter Umgang mit den digitalen Endgeräten, wie es der Medienratgeber Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt6 mit vielen Tipps für alle Altersstufen empfiehlt, der ge
genwärtig in über 25 Sprachen übersetzt wird. Auch die EU-Direktive enthält dank der Mitarbeit des European Council for Steiner Waldorf Education (ECSWE) in den Beratungsgremien erfreuliche Hinweise auf die Notwendigkeit der altersgerechten Medienpädagogik. All dies sind gute Perspektiven. Weniger erfreulich ist jedoch, dass die konkrete Umsetzung vor Ort schwierig ist, weil die Ansichten, was unter altersgerecht zu verstehen ist, weit auseinandergehen. Da die Waldorfpädagogik gerade in dieser Hinsicht nicht nur über viel Erfahrung, sondern auch über ein Entwicklungskonzept verfügt, das hier Orientierung bieten kann, ist es mir ein Anliegen, dieses bekannter zu machen und in die aktuelle Bildungsdebatte einzubringen.
In der Stadtausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 2. Januar 2020 war zu lesen, in wie hohem Maß Schulen an Überforderung leiden. Die Journalistin Anna Günther zog Bilanz: »Werte, Alltagskompetenz, Glück, Benehmen – jede gesellschaftliche Gruppe formuliert inzwischen ihre Erwartungen an den Unterricht.« Bildungsforscher wiederum fordern eine Reform der Lehrer*innenausbildung, um den Herausforderungen gerecht zu werden. Doch damit nicht genug: »Lesen, Schreiben und Rechnen sollen Kinder in der Schule lernen, dazu eine ordentliche Allgemeinbildung. Auf dass Mädchen und Buben zu mündigen, demokratischen Bürgern werden. Dazu kommt die im bayerischen Schulgesetz verankerte Bildung von ›Herz und Charakter‹. Klingt vernünftig? So einfach ist es längst nicht mehr. Schule soll heute vieles übernehmen, was früher in den meisten Familien vermittelt wurde. Und diese Erwartungshaltung ist ein Problem.«
Die Liste wird fortgesetzt: Von politischer Seite werden ökologische Kompetenz gefordert, Toleranzentwicklung, Alltagskompetenz, Medienkompetenz, Konfliktlösungskompetenz gegenüber Mobbing und Gewalt und selbstverständlich auch Gesundheitskompetenz. Und die Lehrer*innen? Dazu wird gesagt: »Lehrerverbände beklagen seit Jahren Erwartungsdruck, Stress und Zusatzaufgaben, warnen vor Burn-out und anderen Krankheiten. Der Freistaat reagierte mit dem ›Institut für Lehrergesundheit‹.« Von Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Chef des Deggendorfer Robert-Koch-Gymnasiums, ist zu lesen: »Die Politik hat die Angewohnheit, alles den Schulen zu delegieren, woran sie selbst scheitert.« Die Schule sei heute die letzte gesellschaftliche Instanz, die alle Schichten erreiche, die letzte Chance, um Werte und Grundlagen des Zusammenlebens ›in Köpfen und Herzen zu verankern‹. Die Konsequenz daraus zieht Simone Fleischmann, Präsidentin des bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV): »Das Fundament, auf dem wir stehen, wackelt ...« Die Lehrer*innen würden sich fragen, wie sie den Kindern und der Welt gerecht werden können – insbesondere angesichts der wachsenden Anzahl von Kindern aus sozial schwachen Familien, in denen immer weniger Erziehung stattfinde. Denn man will sich ja als Lehrer*in all diesen Herausforderungen stellen – so wie das gegenwärtige Schulsystem aber veranlagt sei, und insbesondere die Lehrer*innenbildung, sei es nicht leistbar. Im Verlauf dieses sehr lesenswerten Artikels wird auch Angelika Wildgans-Lang zitiert, die im Philologenverband bis vor Kurzem Referendar*innen und junge Lehrer*innen vertreten hat. Sie hat ihre ersten Monate am Gymnasium als ›Kulturschock‹ bezeichnet. Dass so ein Schock in Zukunft den Kolleg*innen erspart bleibt, mache ein Umdenken, insbesondere in der Lehrer*innenbildung, nötig. Sie fragt: Wie bringt man egozentrischen Kindern Rücksicht bei? Was tun, wenn die Kinder Influencern mehr glauben als Lehrer*innen und Eltern? Wenn sie auch nach Unterrichtsschluss ihren Lehrer*innen noch E-Mails schicken wollen? Als weitere Probleme werden die Spiel- und Social-Media-süchtigen Kinder, die von zu Hause keine Unterstützung erfahren, die Inklusionsproblematik u. a. genannt. Der Artikel mündet in eine Reihe von Forderungen. An erster Stelle steht: Mehr Freiraum für Fortbildungen, Testen neuer Methoden, grundlegende Reform des Studiums. Es wird der Schulpädagogik-Professor der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Thomas Eberle zitiert, der fordert, dass die Lehramtsstudent*innen mehr Pädagogik und Psychologie lernen – dafür sei aber bisher keine Zeit und die Frage sei, ob man das Studium verlängern müsse. Der Augsburger Professor Klaus Zierer fordert: »Wir brauchen einen Neustart des Systems hin zur stärkeren Werteorientierung, zur Vermenschlichung von Schule.« So fordert auch BLLV-Chefin Fleischmann grundsätzlich einen Systemwandel hin zu längerem, gemeinsamem Lernen aller Kinder. Interessant ist, dass auch Geschäftsführer*innen von Berufsschulen in die Betrachtung mit einbezogen werden, die gute Erfahrungen machen mit quer einsteigenden Lehrer*innen aus der Industrie, die sozusagen voll im Leben stehen und bedeutend entspannter mit den Schüler*innen umgehen können, obgleich diese auch aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen. Auch seien es die Berufsschulen »gewohnt, ständig auf Änderungen zu reagieren«.7
Einerseits liest man, wie dort in Kalasatama, einem früheren Industriebezirk am alten Fischereihafen von Helsinki, die Smart City erprobt wird, und dass auch ein starker Akzent im Schulunterricht auf digitale Lernmittel gelegt werde. Meine persönlichen Nachfragen ergaben, dass diese Lernmittel keinesfalls früh und von Pädagog*innen sehr bewusst und altersgerecht eingesetzt werden. Tatsächlich scheint hinter dem Wunder des finnischen Schulsystems und seinen PISA-Erfolgen etwas anderes zu stecken. In der NZZ vom 6. Januar 2020 werden die »wahren Gründe« von den finnischen Verantwortungsträgern in einer Weise formuliert, die für jeden Wegweiser sein könnte, der Schule zu einem Ort gesunder Entwicklung machen möchte. Ich möchte den Text wortwörtlich wiedergeben, wobei die Hervorhebungen von mir sind:
»Nach dem unerwarteten Erfolg des Landes in der PISA-Vergleichsstudie der OECD im Jahr 2000 versuchten Fachleute und Beobachter zu ergründen, was dieses nordische Land besser macht als andere. Als Schlüssel zum finnischen Bildungsgeheimnis wurden etwa die folgenden Aspekte genannt: Lernen durch Spielen, statt Prüfungen schreiben, keine Hausaufgaben, soziale Kompetenz und die Fähigkeit zur Problemlösung, statt eingetrichtertes Wissen. Inzwischen hat Finnland in den PISA-Resultaten zwar leicht nachgelassen. Doch es nimmt weiterhin einen Platz in der erweiterten Weltspitze ein.
Auf der anderen Seite des Hafenbeckens von Kalasatama, in einem modernen Bürohaus im Stadtteil Hakaniemi, winkt Petra Packalen mit einem Lächeln ab, wenn sie die Berichte kommentieren soll, die im Ausland über das finnische ›Erziehungsmirakel‹ kursieren. Das sei alles ein bisschen überhöht, sagt sie. Die erwähnten Elemente seien zwar durchaus vorhanden, aber man dürfe sie nicht überbewerten. ›Spielend lernen‹ sei ein hübsches Bild, das allerdings nur einen Teil des Schulalltags abbilde. Der sei auch in Finnland bisweilen prosaisch.
Packalen ist Spezialistin für Bildungspolitik in der finnischen Erziehungsbehörde OPH, einer staatlichen Agentur, der die Entwicklung des Schulsystems und der Berufs- und Erwachsenenbildung obliegt. Im Gespräch hält sie zuerst einmal fest, dass sich vor ›PISA‹ und dem finnischen Spitzenresultat in der ersten Messung im Ausland niemand für das finnische Bildungssystem interessiert habe. Vielmehr sei es Finnland gewesen, das versucht habe, über seine Landesgrenzen zu blicken. Das finnische System, sagt Packalen, stehe auf drei Grundprinzipien.
Es müsse erstens in der Lage sein, Schüler unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund aufzunehmen. Jedes Kind bringe Stärken und Schwächen mit, die vom Lehrpersonal erkannt und berücksichtigt werden müssten. Inklusion als Leitgedanke bedeute, dass jedem Schüler die Unterstützung gegeben werde, die er brauche.
Das wiederum bedinge, dass dem Schulwesen auch die dazu nötigen Ressourcen zugeleitet würden. Der zweite Baustein sind das Profil und das Sozialprestige des Lehrerberufs. Man stelle hohe Anforderungen an die Erzieher, sagt Packalen, und sei in der glücklichen Lage, mehr Bewerber als Ausbildungsplätze in der Lehrerbildung zu haben und deshalb unter den Besten auswählen zu können. Seien die Lehrer dann im Beruf, gewähre man ihnen Entscheidungsspielraum und habe großes Vertrauen in ihre Arbeit. Das sei ein entscheidender Aspekt, denn generell funktioniere Qualitätssicherung im Bildungswesen entweder über eine Aufsichtsbehörde oder über normierte landesweite Tests – oder über eine Kombination von beidem. Finnland habe aber weder das eine noch das andere. Am Ende der neunjährigen Grundschule finde eine Einschätzung mit Blick auf den Oberstufenübertritt statt und nur am Ende der Oberstufe ein nationaler Test. Das bedeute natürlich keineswegs, dass inzwischen nicht geprüft werde. Doch dies liege in der Kompetenz der einzelnen Schulen und Lehrer.
Denn das Schulwesen sei, drittens, dezentral organisiert mit großen Entscheidungskompetenzen auf Gemeindeebene. Die Gemeinden wüssten am besten, welches ihre Bedürfnisse seien. Sie müssten aber auch in der Lage sein, ihre Schulen selbstkritisch zu betrachten. Ein gewisses Gegengewicht zur Dezentralisierung bildeten der nationale Lehrplan und der regulatorische Rahmen. Ein dezentralisiertes Erziehungsmodell erfordert von der Bildungspolitik den Mut, auf die Forderung nach landesweiter Ergebnisgleichheit zu verzichten. Ohnehin sei ein solches Ziel kaum zu erreichen, sagt Packalen, wenn man wisse, dass auch das gesellschaftliche Umfeld bedeutenden Einfluss auf den Bildungserfolg eines Kindes habe. Aus Studien gehe etwa hervor, dass die Bildung der Mutter stark mit den Lernerfolgen des Kindes zusammenhänge. Das bedeute natürlich aber nicht, dass das Schulsystem nicht versuchen müsse, externe Faktoren zu minimieren. Auch kann das System als Ganzes nur funktionieren, wenn bei den Eltern und der weiteren Bevölkerung ein grundsätzliches Vertrauen in die Qualität der lokalen Schule besteht. Laut Petra Packalen ist das zurzeit so. Es gebe somit keinen Anlass, mit dem Prinzip zu brechen, dass auf Grundschulstufe im Normalfall die nächstgelegene Schule besucht wird. Mehr Wahlfreiheit und Möglichkeiten zur Spezialisierung gebe es erst auf der Oberstufe. Aber auch dort bestehe nur ein sehr beschränkter Markt, und das vor allem in den großen Städten.
Vertrauen in die öffentliche Schule, Inklusion, Dezentralisierung und ein hohes gesellschaftliches Ansehen des Lehrerberufs, das sind auch für Anders Rusk die herausragenden Merkmale des finnischen Schulsystems. Rusk ist internationaler Koordinator der finnischen Lehrergewerkschaft, der rund 90 Prozent aller Lehrkräfte angehören und die in der Bildungspolitik ein gewichtiges Wort mitredet. ›Finnland war nach dem Zweiten Weltkrieg ein armes Land‹, sagt Rusk. ›Doch zum Glück hatten wir damals weitsichtige Politiker. Sie erkannten, dass wir uns Wohlstand über eine gute Volksbildung erarbeiten müssen.‹ Finnland, sagt Rusk, sei zudem ein Land mit einer bloß kleinen Bevölkerung. Da könne man es sich kaum leisten, auf dem Bildungsweg nicht alle mitzunehmen. Zumal es angesichts der demokratischen Herausforderungen um jede ausgebildete künftige Arbeitskraft zu kämpfen gelte. Das System mit nur einer landesweiten Vergleichsprüfung am Schluss der Oberstufe verhindere, dass jemand früh in eine Sackgasse gerate. Und ein sehr durchlässiges System von Berufs- und Gymnasialbildung stelle sicher, dass auch dort so wenige wie möglich zurückblieben.
Allerdings sieht Rusk das System in Gefahr. In den vergangenen Jahren seien Mittel in Milliardenhöhe gekürzt worden. Dieses Geld müsse in die Bildung zurückkommen. Finnland habe bisher keine Probleme mit einem öffentlichen Schulsystem gehabt, das alle einschließe. Doch man stelle fest, dass sich in der Gesellschaft die Ungleichheit vergrößere, und dies schlage in einer Art auf das Schulsystem durch, die man bisher nicht gekannt habe. Rusks Bedenken kommen nicht von ungefähr. Wenn er nach Schweden blickt, was er in seiner zweiten Funktion als Generalsekretär des Nordischen Lehrerverbandes von Berufs wegen tut, sieht er ein Land, das derzeit mit wachsender sozialer Segregation kämpft. ›Schweden hatte eine deutlich größere, stark auf gewisse Orte konzentrierte Immigration‹, sagt Rusk. Aber auch in Finnland begännen sich diesbezüglich gewisse Probleme zu zeigen. Das lässt sich auch aus den PISA-Resultaten ablesen. Beim Leseverständnis der 15-Jährigen blieb der Prozentsatz der Besten stabil, doch die Gruppe der Schwächsten vergrößerte sich. Zudem ist ein zunehmender Abstand von Schülern aus starkem und schwachem sozioökonomischem Umfeld zu beobachten. Auch Petra Packalen sagt, dass es die Frage der Ungleichheit im Auge zu behalten gelte. In punkto PISA-Studie weist sie darauf hin, dass diese Leistungstabellen seien, deren Bedeutung nicht so sehr in den ermittelten Werten an sich als in den aufgezeigten Trends liege. In die Evaluation flössen nur gewisse Fertigkeiten ein; Bildung in ihrer Gesamtheit sei aber wesentlich mehr als nur akademische Entwicklung. Entsprechend könne auch die Pisa-Studie nur ein Instrument unter mehreren für die Weichenstellungen im Bildungssystem sein.«8
Viele der Ursachen, die beispielsweise in Deutschland überforderte Schulsysteme hervorbringen, gibt es in Finnland nicht. Im Hinblick auf die nähere Zukunft bestehen jedoch auch dort Sorgen: Die Migration erfordert eigentlich noch ein gesteigertes Engagement, um das bisherige Niveau halten zu können – doch eben jetzt, wo vermehrte Mittel bereitgestellt werden müssten, wurden bereits eingreifende Kürzungen am Bildungsetat vorgenommen. Da kann man nur hoffen, dass die Verantwortlichen bald umdenken. Wer an der Bildung spart, verbaut sich eine gedeihliche Zukunft – nicht nur in Finnland, sondern in jedem Land der Erde.
In den Waldorfschulen sind die Rahmenbedingungen anders, weil das ganze Schulsystem ein anderes ist. Aber auch hier steigen die Erwartungen an die Lehrer*innenausbildung, damit man dem, was im Schulalltag erwartet wird, entsprechen kann. Denn es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen den Kindern, die auf öffentliche Schulen gehen, und denen, die die Waldorfschule besuchen. Auch dort kommen die Kinder aus allen gesellschaftlichen Schichten, bis hin zu Projektschulen mit speziellem Blick auf Kinder mit Migrationshintergrund.9 Auch das soziale Gefälle ist erheblich. So hatten wir beispielsweise an der Rudolf Steiner Schule in Witten in den achtziger und neunziger Jahren, als ich dort schulärztlich tätig war, viele Schüler*innen, deren Eltern nur einen symbolischen oder keinen Schulgeldbeitrag leisten konnten, weil sie arbeitslos waren oder nur über ein geringes Einkommen verfügten. Unsere Ethik bei den Aufnahmen war jedoch, jedem Kind, das angemeldet wird, die Chance zu geben und für sozialen Ausgleich innerhalb der Elternschaft der Schule zu sorgen. Das war nicht immer leicht – zumal dazu auch gehörte, dass wir eine sogenannte Balkonklasse eröffneten, wenn mehr Kinder angemeldet wurden, als wir regulär aufnehmen konnten. Das bedeutet eine zusätzliche Klasse, für die dann auch ein*e neue*r Lehrer*in gefunden werden muss, aber auch eine klare Perspektive, wie man den betreffenden Eltern zum Beispiel über einen Zeitraum von drei Jahren helfen kann, eine neue Waldorfschule zu gründen. Natürlich gibt es einen derartigen Idealismus nicht überall – es hängt immer von den Möglichkeiten ab, die vor Ort gegeben sind.
Eine Reihe von Herausforderungen, die sich zu Überforderungen auswachsen können, sind dem Waldorf-Schulsystem immanent. Es bietet große Freiheiten. Die Lehrer*innen können ihre Schule in Selbstverwaltung so gestalten, wie sie wollen. Damit das Freude macht, braucht es jedoch ein gutes Klima im Kollegium und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Gelingt es nicht, diese Voraussetzungen zu erfüllen, entsteht psychosozialer Stress statt guter Stimmung. So ist es verständlich, dass es im Grunde genommen viel braucht, um sich zum*zur Waldorflehrer*in zu qualifizieren. Fachkompetenz ist das eine, doch bei Weitem nicht alles. Entscheidend ist, wie man sich als Mensch verhält, entwickelt und in der Hand hat, und wie groß die Bereitschaft zur Selbstschulung ist, damit man auch in dieser Hinsicht für die Schüler*innen Vorbildcharakter haben kann. Hinzu kommt ein erhöhter Erwartungsdruck seitens der Elternschaft. Diese bringt mitunter erhebliche finanzielle Opfer, um ihre Kinder auf die Waldorfschule schicken zu können. Da bleibt es nicht aus, dass das »ideale Konzept« der Waldorfschule mit der nicht immer idealen Wirklichkeit verglichen wird. Dennoch: Ohne dieses Ideal fehlt die Inspiration, in der aktuellen Wirklichkeit das Bestmögliche zu tun. Deswegen sind Beispiele wie das von den finnischen Schulen so ermutigend für Waldorfpädagog*innen, weil sie sehen, dass die von ihnen gehandhabten Grundprinzipien im Einklang sind mit den fortschrittlichsten Schulsystemen der Gegenwart. Und so sehe auch ich in der Tat Sinn darin, einmal das ideale Konzept der Waldorfschule als Ort gesunder Entwicklung zu beschreiben – nicht um zu entmutigen, weil dieses Ideal ja doch nicht erreichbar ist, sondern um zu ermutigen, ihm so nahe wie möglich zu kommen. Ich hoffe aber auch sehr, dass dieses Buch dazu beitragen kann, dass das Verständnis in der Gesellschaft wächst, wie fundamental wichtig der Lehrer*innen- und Erzieher*innenberuf ist. Dass gerade dieser Beruf durch alle Altersstufen hindurch eine gute Honorierung und Wertschätzung braucht. Dass es zum Lehrer*innenberuf primär humane Kompetenz braucht und erst in zweiter Hinsicht Fachkompetenz – und nicht umgekehrt, so wie dies immer noch weithin gesehen wird.
Es reicht nicht, den Erwerb humaner Kompetenz der mehr oder weniger vorhandenen Eigeninitiative der Lehramtsanwärter*innen zu überlassen. Wer hat schon Lust, Selbsterziehung zu betreiben und sich mit seinen Schwächen und Stärken bewusst auseinanderzusetzen? Ist das nicht wirklich reine Privatsache? Im Prinzip ja, im Lehrer*innenberuf jedoch nicht. Wer sich als Pädagog*in nicht selber ständig auch erzieht, verliert bei den Schüler*innen Autorität und wird so mancher sozialen Herausforderung nicht gewachsen sein. Es braucht ein neues Bewusstsein dafür, was Humanisierung bedeutet, warum der Mensch im Gegensatz zu den Tieren Erziehung nötig hat und zur lebenslangen Selbstentwicklung veranlagt ist. Und was zu erwarten ist, wenn diese Veranlagung verkümmert und die Dehumanisierungserscheinungen immer krasser hervortreten und den gesellschaftlichen Alltag bestimmen. Es ist tatsächlich die Schule, die die Voraussetzungen schafft für die Gesellschaft von morgen. Dieser Verantwortungsschock bleibt niemandem erspart, der sich heute ernsthaft über Pädagogik und ihren Einfluss auf Gesundheit und Entwicklung Gedanken macht. Daher ist es entscheidend, dass einen dieser Verantwortungsschock nicht erdrückt, sondern motiviert. Als ich über diese größte aller Herausforderungen einmal mit dem großen norwegischen Waldorfpädagogen Jörgen Smit (1916–1991) sprach, sagte er in seiner knappen Art: »Es ist so. Wir sind unseren Aufgaben nicht gewachsen. Aber wir wachsen mit unseren Aufgaben …« Rudolf Steiner bemerkte zu diesem Dilemma: »Derjenige, der wirklich etwas im Leben erreichen will, der stellt nicht abstrakte ferne Ideale auf, an denen er entweder das Genick bricht oder sich die Stirne zerstößt, sondern der versucht immer im Einklang mit dem Leben zu sein. Dann kann man auch zur Illustration desjenigen, was in der Gegenwart möglich ist, das benützen, was in der Zukunft kommen soll.«10 Eine weitere Herausforderung ist der schon genannte allgegenwärtige Lehrer*innenmangel. Und nicht zuletzt die zentrale Herausforderung: Waldorfqualifikation bei allgegenwärtigem Lehrer*innenmangel. Ohne Quereinsteiger aus dem öffentlichen Schulwesen ist der Betrieb nicht aufrechtzuerhalten. Dies erfordert aber aufseiten der Schule und des Quereinsteigers Fairness gegenüber der Qualität Waldorf. »Wo Waldorf draufsteht, sollte auch Waldorf drin sein« – das ist leicht gesagt, markiert aber einen hohen Anspruch, der zu gediegener Aus- und Weiterbildung verpflichtet.
2. Remo Largo: Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können. S. Fischer, Frankfurt am Main 2017: 13.
3. Vgl. Remo H. Largo: Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Piper, München 1995; Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. Piper, München 1999; Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken. edition Körber-Stiftung. Hamburg 2010; Wer bestimmt den Schulerfolg: Kind, Schule, Gesellschaft? Beltz, Weinheim 2013; mit Martin Beglinger: Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen. Piper, München 2009; mit Monika Czernin: Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten. Piper, München 2013; Glückliche Scheidungskinder. Was Kinder nach der Trennung brauchen. Piper, München 2015.
4. Vgl. Jesper Juul: Aus Erziehung wird Beziehung. Authentische Eltern – kompetente Kinder. Herder spektrum, Freiburg i. Br. 2005; Was Familien trägt. Werte in Erziehung und Partnerschaft. Ein Orientierungsbuch. Kösel, München 2006, Beltz, Weinheim 2008; Nein aus Liebe. Klare Eltern – starke Kinder. Kösel, München 2008; Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie. Neuübersetzung. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2009; Grenzen, Nähe, Respekt. Auf dem Weg zur kompetenten Eltern-Kind-Beziehung, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2009; Schulinfarkt. Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrern besser geht? Kösel, München 2013.
5. Vgl. Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Springer Spektrum, Wiesbaden 2002; Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Klett, Stuttgart 2005; Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Droemer, München 2012; Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft. Klett, Stuttgart 2018.
6. Vgl. Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt: Eine Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten. diagnose:media (Hg), Stuttgart 2018.
7. Vgl. Anna Günther: Die überforderte Schule. In: Süddeutsche Zeitung, 2. Januar 2020.
8. Neue Zürcher Zeitung, 6. Januar 2020.
9. z. B. Freie Interkulturelle Waldorfschule Mannheim. fiw-mannheim.de
10. Rudolf Steiner: Sechster Vortrag. Dornach, 20. April 1923. In: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. GA 306. Dornach 1991, S. 125.
Schule ist ein Ort, an dem täglich und stündlich Entwicklung stattfindet. Während Kinder und Jugendliche »lernen«, ist eben dies zugleich auch das, was die körperliche, seelische und geistige Entwicklung stimuliert. Alles, was wir mit Kindern und Jugendlichen im Wachstumsalter tun, beeinflusst die Art und Weise, wie sich ihre Konstitution formt. Schon lange ist bekannt: Vererbung ist das eine – Milieu und Umwelteinflüsse sind das andere, was zählt. Hinzu kommt aber noch ein dritter Faktor, den z. B. Robert Plomin und Judy Dunn in ihrem Buch Warum Geschwister so verschieden sind beschreiben.11 Denn nachweislich sind gerade Geschwister charakterlich meist sehr verschieden, auch wenn sie aus demselben Genpool und Milieu stammen. Dieser dritte Faktor ist die einmalige Individualität des Kindes. Und letztlich hängt es von diesem »Faktor Persönlichkeit« ab, wie sich der Charakter formt und wie man mit dem zurechtkommt, was der Körper leistet, was uns sozialisiert hat – und was uns fehlt. Um dieses sensible Dritte wird es in diesem Buch besonders gehen, um das, was Friedrich Hölderlin (1770–1843) so formuliert hat: »Dass ein Eignes wir suchen, wie weit es auch ist …«12
Dieses »Eigne«, das in jedem Kind und Jugendlichen veranlagt ist – dies gilt es zu ahnen, ihm zuzuarbeiten, es zur Grundorientierung von Bildung und Erziehung zu machen. Dies war und ist auch das Kernanliegen der von Rudolf Steiner 1919 in Stuttgart gegründeten Waldorfschule. Nicht Staat und Wirtschaft sollten die Bildungs- und Leistungsziele vorgeben, sondern der Entwicklungsbedarf der Kinder und Jugendlichen auf den jeweiligen Altersstufen.
Wie kam es zur Konzeption dieses neuen Schultyps? Die Namensgebung geschah zu Ehren des Chefs der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, Emil Molt (1876–1936). Denn er hatte bei Rudolf Steiner angefragt, ob dieser bereit sei, für die Kinder seiner Mitarbeiter eine Schule zu konzipieren und dafür die Führungsverantwortung zu übernehmen. Molt wollte dann zusammen mit seiner Ehefrau Berta (1876–1939) die Schulgründung finanziell sicherstellen. Es ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, dass ab dieser Anfrage im April 1919 bis zur feierlichen Eröffnung im Stuttgarter Stadtgartensaal am 7. September 1919 alle nötigen Vorbereitungen abgeschlossen werden konnten, einschließlich der behördlichen Erlaubnis. Die potenziellen Lehrer*innen hatten einen Intensivkurs und Unterrichtsdemonstrationen vor den Kursteilnehmer*innen absolviert, zu dem Steiner einen Kreis von Fachleuten eingeladen hatte. Nach Kursende wurden dann aus diesem Kreis die ersten Waldorflehrer*innen zur Mitarbeit in den frisch zusammengestellten Klassen 1 bis 5 angefragt.13 Im ersten Vortrag dieses aus 49 Vortrags- und Übungseinheiten bestehenden Intensivkurses fokussierte Steiner sein konzeptionelles Anliegen für diese Schule so: Es gehe um eine Erziehung, die nicht auf den Egoismus baut.14
Natürlich kann man hier einhaken und fragen: Ist eine solche Grundorientierung nicht lebensfremd? Widerspricht sie nicht geradezu dem heutigen Zeitgeist mit seiner exzessiven Leistungs-, Ego- und PISA-Orientierung? Und: Was hat Altruismus mit Gesundheit zu tun? Die Antwort ist schlicht. Altruismus in der Pädagogik besagt eben dies: Ich richte mich nach dem Entwicklungsbedarf des Kindes und nicht nach meinen eigenen Vorstellungen und Erwartungen – ich stelle sozusagen meine Kompetenzen in den Dienst der Kinder und Jugendlichen. Warum ist das eine gesunde pädagogische Grundhaltung? Weil Gesundheit dann stabil ist, wenn jedes Organ vom Organismus das bekommt, was es braucht, und auch sein Beitrag zum Ganzen willkommen ist. Nur wenn ein Lebewesen nicht bloß nimmt, was es selber benötigt, sondern auch für andere gibt, was diese brauchen, kann die Lebenswelt gedeihen. Die Organe haben gerade deshalb ihre starke Eigenheit und Spezifität, weil der Organismus sie für sein Wohlergehen so benötigt. Krankheitsprozesse hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sich Funktionen oder Organsysteme aus dem Gesamtzusammenhang isolieren oder nicht mehr in guter Resonanz miteinander sind. Das deutsche Wort »Selbstlosigkeit« verdeutlicht das Wesen des für die Welt des Lebendigen typischen Altruismus eindrücklich: Es braucht ein so starkes Selbst, dass dieses sogar in der Lage ist, von sich loszukommen, von sich absehen zu können, ohne sich dabei zu verlieren oder sich etwas »zu vergeben«, wenn es anderen gibt, was diese brauchen. Im Gegenteil: Wer in sich selbst ruht und keiner äußeren Anerkennung bedarf, um sich stark zu fühlen, der kann all seine Kräfte dort einsetzen, wo sie gebraucht werden, und ist gerade dadurch gleichermaßen stark bei sich und der Sache, um die es geht. In der positiven Psychotherapie nennt man eine solche Haltung »Problemorientierung« im Gegensatz zur »Ich-Orientierung«, die besagt, dass man noch viel Kraft dafür braucht, sich selbst zu finden oder sich zu behaupten. Was mich an diesem Tatbestand besonders fasziniert, ist, dass die nationalsozialistische Devise: »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« hier ebenso wenig zutrifft wie der liberalistische Grundsatz, dass man dem Wohl des Ganzen am besten dient, wenn jeder seinen Eigennutz verfolgt.
Vielmehr gilt das Motto der Sozialethik Rudolf Steiners: »Heilsam ist nur, wenn / Im Spiegel der Menschenseele / Sich bildet die ganze Gemeinschaft / Und in der Gemeinschaft / lebet der Einzelseele Kraft.«15 D. h., wenn aus dem Umkreis – Familie, Arbeitsplatz, Land, globale Mitwelt – der*die Einzelne bekommt, was er*sie für seine Entwicklung braucht, und der*die Einzelne wiederum sich für das einsetzt, was in seinem Umfeld benötigt wird, so kann im bedürfnisorientierten Geben und Nehmen ein gesundes Gemeinwesen zustande kommen. Anthroposophische Einrichtungen versuchen dies so weit wie möglich zu realisieren – ob in der Landwirtschaft, der Medizin, im Schulwesen oder in Wirtschaftsbetrieben. Und sie sind umso »anthroposophischer«, je mehr dies in der Praxis sichtbar und erlebbar wird.