Für Jürgen
Impressum
Anschrift der Autorin
Dipl.-Psych. Sabine Ecker
Psychologische Psychotherapeutin
Im Zinken 2
79 224 Umkirch
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1. Auflage 2015
Copyright der deutschen Ausgabe:
© Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2015
Programm PVU Psychologie Verlags Union
http://www.beltz.de
Lektorat: Claudia Silbereisen
Herstellung: Sonja Frank
Illustrationen: Claudia Styrsky
Reihengestaltung: Federico Luci, Odenthal
Umschlagbild: © mma23/fotolia.com
Satz: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Printed in Germany
ISBN 978-3-621-28237-6
Inhalt
Vorwort
1»Wahrnehmung« – was ist das überhaupt?
2Der Blick nach innen: die Körperwahrnehmung
3Wenn Menschen ihren Körper nicht spüren
4Umgang mit unangenehmen Gefühlen
5Systematische Schulung der Körperwahrnehmung – welche Methode passt zu mir?
6Körperwahrnehmung – Gewahrsein im Alltag
7Atmung
8Ein Wohlgefühl im eigenen Körper finden: Anspannung und Entspannung
9Körperhaltung
10Liebevolle Zuwendung zum eigenen Körper entwickeln
11Umgang mit chronischen Schmerzen
12Sexualität
13Leben mit Traumata
Anhang
Übungsübersicht
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Hinweise zum Online-Material
Literaturverzeichnis
Sachwortverzeichnis
Vorwort
Vor einigen Jahren ging ich an Silvester nachmittags durch den Park zum Bahnhof. Ich kam von der Arbeit in einer Klinik, wo ich den ganzen Tag über ziemlich viel Zeit mit unerfreulichem Kleinkram verbracht hatte. Ich hatte mich über Anweisungen der Verwaltung geärgert, über einen meckernden Patienten, über organisatorische Pannen und über mich selbst. Ich spürte die Anspannung im Nacken und im Gesicht, und im Magen hatte ich so ein unzufriedenes Gefühl sitzen wie einen dicken Kloß. In diesem Moment wurde mir klar: So möchte ich nicht ins neue Jahr gehen. Ich fasste daher den Vorsatz: »Ab sofort mehr freuen und weniger ärgern!« Um diesem Vorsatz Nachdruck zu verleihen, setzte ich mich in den folgenden Wochen jeden Abend hin und schrieb in ein kleines Notizbuch, über was ich mich an diesem Tag gefreut hatte.
Der Effekt war erstaunlich. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie viele kleine Momente der Freude ich den ganzen Tag über erlebe. Abends schrieb ich in mein Buch solche Dinge wie: »Auf dem Heimweg Igel gesehen«. Oder: »Als ich beim Aussteigen aus dem Zug meine Handschuhe liegen ließ, brachte ein netter Mensch sie mir an die Tür, bevor der Zug weiterfuhr.« Ich klebte auch witzige Postkarten hinein, die ich zugeschickt bekam, oder Cartoons aus der Zeitung, über die ich schallend gelacht hatte.
Am eindrücklichsten blieb mir aber aus dieser Zeit die Erkenntnis, dass die allermeisten Glücksmomente, die ich erlebte, gar keinen bestimmten Grund oder Anlass hatten, sondern einfach nur Momente waren, in denen ich mich bewegte (z. B. mit dem Fahrrad durch die Abenddämmerung nach Hause fuhr) und mich eins mit meinem Körper fühlte.
Als der Beltz Verlag mit der Anfrage an mich herantrat, ob ich dieses Buch schreiben möchte, nahm ich dies zum Anlass, einmal darüber nachzudenken, seit wann ich mich eigentlich mit Körperwahrnehmung und Körperarbeit beschäftige. Mir wurde klar, dass schon meine Kindheitserinnerungen von Körpererfahrung geprägt sind. Möglicherweise ist das auch bei Ihnen so, wenn Sie einmal darüber nachdenken und sich erinnern. Wenn ich mir schöne Momente aus meiner Kindheit vergegenwärtige, denke ich an das lebendige Gefühl im ganzen Körper beim Bodenturnen auf der Wiese hinter dem Haus, an die konzentrierte Aufmerksamkeit angesichts der Herausforderung, auf einen Baum zu klettern, an die Empfindung von kaltem Wasser auf meiner Haut im Schwimmbad, wenn wir stundenlang immer wieder ins Wasser hüpften, bis die Haut ganz runzelig wurde, an das Rollschuhfahren mit den Nachbarskindern oder auch an halsbrecherische Experimente (»Kunstradfahren«) auf einem dafür nicht unbedingt geeigneten alten Damenrad.
Vor etwa 30 Jahren, als Teenager, begann ich, mich bewusst mit Körperarbeit zu beschäftigen. Da ich in einem kleinen Ort im Schwarzwald lebte, war es damals gar nicht so leicht, an Kursen für Taijiquan, Yoga, Bioenergetik oder Tanztheater teilzunehmen. Es fand sich aber immer wieder eine Möglichkeit dazu, z. B. als ein Bekannter, der in China studiert hatte, zurückkam und Taiji-Kurse im kleinen Kreis anbot. Ich nutzte jede Gelegenheit, verschiedene Methoden der Körperarbeit kennenzulernen, weil diese Erfahrungen mich faszinierten und weil ich spürte, dass da ein Weg vor mir lag, den ich gehen wollte. Ich verschlang jedes Buch dazu, das ich in die Finger bekommen konnte, und übte weiter die Übungen, die ich gelernt hatte, auch in den Zeiten, in denen es keine Kurse gab.
Dieses Interesse hat mich mein Leben lang begleitet. Ob nun in der Freizeit (wo ich viele Jahre lang verschiedene asiatische Kampfkünste übte) oder bei meiner Arbeit (zuerst als Masseurin in einem medizinischen Beruf, nach dem Studium dann als Psychotherapeutin, inzwischen selbstständig in eigener Praxis) – Körperarbeit spielte für mich immer eine wichtige Rolle, auch als Ausgleich und Ergänzung zu der vielen intellektuellen Betätigung in einem akademischen Beruf.
Was mich daran so anhaltend faszinierte? Neben der Freude an der Bewegung und an dem lebendigen Gefühl, im Körper zu sein, wurde auch immer wieder spürbar für mich, wie eng inneres Erleben und Körperausdruck verknüpft sind. Ich bemerkte, wie sich mein Umgang mit mir selbst und anderen Menschen veränderte durch die Beschäftigung mit diesen Erfahrungen, und dass in der Arbeit mit dem Körper (ob nun bei einer Partnerübung im Taiji oder Qigong-Dancing, beim Kampftraining im Karate, Ju-Jutsu oder Aikido oder auch im Feldenkrais-Kurs oder im Gesangsunterricht) Ängste und andere innere Hindernisse sofort ganz konkret spürbar und bearbeitbar wurden, über die ich auf einer rein intellektuellen Ebene lange ergebnislos hätte reden können. Auf diese Art die eigenen Grenzen zu erweitern, ist ein Weg, den man lebenslang immer wieder neu entdecken und gestalten kann.
Dieses Buch ist daher ein sehr persönliches geworden. Im Laufe der Jahre konnte ich so viele wertvolle und hilfreiche Erfahrungen mit verschiedenen Formen der Körperarbeit machen, dass ich mich dadurch reich beschenkt fühle. Für die vielen Menschen, von denen ich lernen durfte und die ihr Wissen und ihre Weisheit mit mir so freigiebig geteilt haben, empfinde ich große Dankbarkeit und hoffe, auf diesem Weg etwas von diesen Schätzen weitergeben zu können.
Wenn diese Einleitung Ihnen Lust gemacht hat, sich mit Ihrer Körperwahrnehmung einmal näher zu beschäftigen, finden Sie in diesem Buch zunächst einige Erklärungen über grundlegende Zusammenhänge:
- Was ist »Körperwahrnehmung«?
- Wie entwickelt sie sich?
- Wofür brauchen wir sie überhaupt?
- Und wie kann man sie trainieren?
Um das Ganze für Sie anschaulicher zu gestalten, erzähle ich auch von Beispielen aus dem Alltag und aus meiner psychotherapeutischen Praxis. Die Menschen, von denen ich erzähle, gibt es alle tatsächlich. Ihre Namen sind jedoch verändert, und teilweise habe ich auch in einem Beispiel die Erfahrung aus mehreren ähnlich gelagerten Fällen zusammengefasst.
Dieses Buch ist ein Praxisbuch. Sie finden darin viele Übungen zum Ausprobieren. Sie werden feststellen, dass es wenig bringt, über Körperwahrnehmung zu reden oder etwas zu lesen, solange das theoretische Wissen im Kopf nicht durch Ihre konkrete eigene Erfahrung untermauert wird. Durch das praktische Tun entsteht eine neue Erfahrungswelt, in der auf einmal auch die Möglichkeit von Veränderungen spürbar wird.
Vielleicht fällt es Ihnen sehr leicht, sich auf die Übungen einzustimmen und dabei angenehme und interessante Erfahrungen zu machen. Vielleicht sind Sie aber auch noch etwas skeptisch und zurückhaltend und wissen noch nicht, wie weit Sie sich darauf einlassen möchten. Gehen Sie es einfach schrittweise und in Ihrem eigenen Tempo an. Beginnen Sie mit den Übungen, die Sie spontan ansprechend und interessant finden und auf die Sie Lust haben. Falls Sie feststellen sollten, dass durch eine Übung in Ihnen starke und tiefe Gefühle aufgewühlt werden, dann sprechen Sie mit einem Menschen darüber, dem Sie vertrauen.
Wichtiger Hinweis
Die meisten der in diesem Buch vorgestellten Übungen sind »erlebnisaktivierend«, d. h. sie können unter Umständen starke Gefühlsreaktionen hervorrufen. Das ist meistens sehr interessant und erfreulich, in bestimmten Lebenssituationen kann es aber auch irritierend sein (z. B. wenn man sich gerade instabil fühlt aufgrund einer schweren Lebenskrise). Falls das so ist, will da etwas Neues passieren. Und dafür ist es oft gut, sich eine passende Begleitung (z. B. eine gute Freundin oder eine professionelle Psychotherapeutin) zu suchen. Falls Sie schon vorher wissen (oder es beim Durchführen einer Übung bemerken), dass Sie unter ernsthaften psychischen Problemen leiden, sollten Sie mit einer Person Ihres Vertrauens besprechen, welche der Übungen Sie ausprobieren möchten und in welchem Rahmen. Wenn Sie bereits in psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung sind, besprechen Sie das bitte mit Ihrem behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten.
An dieser Stelle möchte ich noch ein paar Worte des Dankes sagen: Dieses Buch konnte nur entstehen, weil viele Menschen sich dafür engagiert haben. Gitta Jacob danke ich für ihre Empfehlung, die das Projekt ins Rollen brachte, und Renate Klöppel für die Unterstützung bei Vertragsfragen. Ulla Littan, Peter Gunkel, Gudula Droste, Stephan Panning, Manu Dieter Giesen, Hans-Harald Niemeyer, Christine Funk und Constantin von der Lühe danke ich ganz herzlich für ihre konstruktive Kritik und die interessanten Denkanstöße, die sehr viel dazu beigetragen haben, dieses Buch zu einer runden Sache zu machen. Vielen Dank auch an Andrea Schrameyer, Svenja Wahl und Claudia Silbereisen vom Beltz Verlag für ihr fachkundiges Engagement und für die ausgesprochen freundliche und angenehme Zusammenarbeit sowie an Claudia Styrsky für die wunderbaren Illustrationen.
Darüber hinaus möchte ich mich ganz besonders bedanken bei allen Menschen, die mich dabei unterstützt haben, meinen eigenen Weg zu gehen: meine langjährige Taiji-Lehrerin, die mich ermutigte, Taiji und Qigong zu unterrichten und immer wieder aufs Neue den Anfängergeist zu pflegen, meine Supervisor(inn)en und Ausbilder(innen) in den diversen Psychotherapie-Ausbildungen, die in schwierigen Situationen an meiner Seite standen und mir den Rücken stärkten, und meine Gesangslehrerin, die mir immer wieder dabei hilft, Körper und Seele zu befreien, wenn ich dabei bin, sie in enge Kästchen hineinquetschen zu wollen. Und am allerwichtigsten: mein Mann und meine Familie, die meinem Körper und meiner Seele eine Heimat geben, auch in den Stürmen des Lebens, und auf die ich mich immer verlassen kann.
Noch eine kleine Anmerkung zur Sprache in diesem Buch: An vielen Stellen verwende ich um der besseren Lesbarkeit willen nicht sowohl die weiblichen als auch die männlichen Formen (z. B. »Arzt oder Ärztin«). Bitte fühlen Sie sich dennoch immer dann angesprochen, wenn Sie dies als stimmig und passend für sich empfinden, egal welchen Geschlechts Sie sind. Und nun wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen und beim Ausprobieren.
1 »Wahrnehmung« – was ist das überhaupt?
Ich habe keine besondere Begabung,
sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.
Albert Einstein
Wenn Sie verstehen möchten, wie Ihre Körperwahrnehmung funktioniert, ist es sinnvoll, sich erst einmal ein paar ganz allgemeine Gedanken über die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Wahrnehmung zu machen.
Als »Wahrnehmung« wird es bezeichnet, wenn äußere oder innere Reize von unserem Nervensystem verarbeitet werden.
Hören, Sehen und so weiter: die Außenwahrnehmung
Reize außerhalb von uns können wir sehen (mit den Augen) oder hören (mit den Ohren), das sind die sogenannten »Fernsinne«. Wir haben außerdem »Nahsinne«, nämlich das Riechen (mit der Nase), das Schmecken (mit der Zunge) und den Tastsinn (mit der Haut). Stellen Sie sich vor, einer dieser Sinne würde bei Ihnen nicht funktionieren: Das würde sofort zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung im Alltag führen.
Wenn ein Mensch z. B. nicht sehen oder nicht hören kann, fehlen ihm wichtige Informationen über seine Umwelt. Aber auch bei einer Beeinträchtigung der Nahsinne kann die Lebensqualität deutlich vermindert sein, z. B. wenn nach einer Infektionserkrankung der Geruchssinn nicht mehr funktioniert und das Essen deshalb keinen Spaß mehr macht. Dass wir etwas nicht wahrnehmen können mit unseren Außensinnen, heißt noch lange nicht, dass es nicht da ist. So hat der Mensch z. B. im Gegensatz zu einigen Tierarten kein Sinnesorgan für die Wahrnehmung von Radioaktivität oder Magnetfeldern. Auch Töne, die viele Tiere noch wahrnehmen können (z. B. Hunde), sind für unsere Ohren zu tief (Infraschall) oder zu hoch (Ultraschall), sodass wir sie nicht hören können.
Wahrnehmung ist immer eine Konstruktionsleistung unseres Gehirns
Um ein Verständnis dafür zu bekommen, was bei der Wahrnehmung geschieht, ist es wichtig, sich Folgendes klarzumachen: Unsere Sinnesorgane (Augen, Ohren usw.) nehmen einen Reiz auf, der in vielen Fällen auch objektiv messbar ist, z. B. können Lichtreize oder Schallwellen von technischen Geräten aufgezeichnet und gemessen werden.
Die Wahrnehmung, die in unser Bewusstsein gelangt, ist jedoch immer eine Konstruktion bzw. Interpretation dieser Reize durch unser Gehirn.
Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Sketch »Der menschliche Körper« (oder: »Wunder des Ärgerns«) des Entertainers Otto Waalkes, in dem er die Kommunikation der Organe untereinander parodierte. Falls nicht, können Sie ihn unter www.youtube.com ansehen. Ich kann mich über diesen Sketch auch nach so vielen Jahren immer noch köstlich amüsieren. Wir befinden uns im Körper von Herrn Soost, der in einer Kneipe seinen Feierabend genießt. Auf einmal wird das Ohr aktiv: »Ohr an Großhirn, Ohr an Großhirn – habe soeben das Wort ›Saufkopp‹ entgegennehmen müssen.« Ein akustischer Reiz (also Schallwellen einer bestimmten Frequenz) trifft auf das Ohr und wird dort (vereinfacht gesagt) von den Nervenzellen im Innenohr in elektrische Impulse umgewandelt. Diese werden nun über Nervenleitbahnen ans Gehirn weitergeleitet. Dort wird dieser »Input« mit den Vorerfahrungen und Kenntnissen verglichen, die schon in der Erinnerung gespeichert sind. Herr Soost hat in seinem Gehirn entsprechende Informationen parat, er kann also das Wort »Saufkopp« in deutscher Sprache erkennen und weiß, was es bedeutet. Im Sketch fragt das Gehirn nun beim Auge nach: »Was ist denn da eigentlich los, wer hat das gesagt?« Das Auge nimmt optische Reize (also Lichtreize) auf und meldet die erhaltene Information ebenfalls auf elektrischem Weg (bzw. mit Hilfe von körpereigenen Botenstoffen, die »Neurotransmitter« genannt werden) über die Nervenbahnen ans Gehirn weiter. Dort werden diese ganzen Seheindrücke (Linien, Farben, Größe und Form von Objekten) zusammengesetzt, Muster werden erkannt. Herr Soost kommt aufgrund seines Wissens über die Welt, mit dem er seine Wahrnehmungen vergleichen kann, zu dem Ergebnis: Da steht ein Mann vor mir, und zwar ein sehr großer und sehr kräftiger (»1,95 m groß mit Schlägervisage«), da bleibe ich doch lieber freundlich und spendiere ihm ein Bier.
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Wahrnehmung ist immer bereits eine Konstruktionsleistung unseres Nervensystems bzw. Gehirns und keine »objektive« Abbildung der Wirklichkeit.
Dass unser Gehirn sich dabei manchmal auch täuschen lässt, kann man durch sogenannte »optische Täuschungen« zeigen. Sind z. B. die Linien in Abbildung 1.1 gerade oder gebogen? Sie können das gerne einmal mit Hilfe eines Lineals überprüfen. Falls Ihre optische Wahrnehmung etwas anderes sagt als das Lineal: Haben Sie eine Idee, wodurch dieser Effekt hervorgerufen wird?
Abbildung 1.1 Beispiel für eine optische Täuschung
Selektive Wahrnehmung. Davon, dass die menschliche Wahrnehmung unvollständig und manchmal auch im Vergleich mit den objektiven Tatsachen fehlerhaft ist, kann jeder Polizeibeamte ein Lied singen, der verschiedene Zeugenaussagen über denselben Autounfall vergleicht: Die erste Zeugin hat einen von links heranrasenden schwarzen Golf mit aggressivem Fahrstil gesehen (»Ich dachte noch: Spinnt der, oder was?«), der zweite sah nur ganz flüchtig ein dunkles Auto (»Ich glaube dunkelblau. Wo das herkam, weiß ich auch nicht, auf einmal war es da und dann war es auch schon wieder weg. Das ging alles so schnell!«) und der dritte hat zwar das Quietschen der Bremsen gehört, aber nicht hingeschaut, weil er gerade mit Telefonieren beschäftigt war. Was wir wahrnehmen und was nicht, hängt sehr stark davon ab, welchen Reizen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden (ob z. B. das Telefongespräch interessant genug ist, um alle anderen Eindrücke solange auszublenden) und worauf wir achten.
Der unsichtbare Gorilla. In der Psychologie gibt es ein interessantes Experiment, das der amerikanische Psychologieprofessor Dan Simons und seine Forschungsgruppe an der Universität Illinois entwickelt haben. Ich selbst habe im Studium auch einmal daran teilgenommen, daher möchte ich erzählen, wie ich es damals erlebte: Uns wurde ein kurzer Film gezeigt, in dem zwei kleine Mannschaften in einer Halle Basketball spielen. Vorher bekamen wir die Anweisung, zu zählen, wie oft die Mannschaft mit den weißen Trikots den Ball hat. Nachdem das Ergebnis dieser Aufgabe besprochen worden war (alle hatten richtig gezählt), wurden wir gefragt: »Ist euch sonst noch irgendetwas aufgefallen?« Mir war nichts aufgefallen. Über die Frage »Wer von euch hat den Gorilla gesehen?« war ich sehr verwundert. Was sollte das, was für ein Gorilla? Beim zweiten Anschauen des Films konnte ich es kaum fassen: Da lief doch tatsächlich gut sichtbar ein als Gorilla verkleideter Mann groß und breit mitten durchs Bild. Nur ein einziger von uns hatte ihn beim ersten Ansehen des Films bemerkt, alle anderen waren viel zu konzentriert mit dem Zählen der Ballkontakte beschäftigt gewesen. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre. Wenn Sie es nicht glauben: Sie können diesen Film und einige Erläuterungen dazu von Professor Simons auf www.youtube.com ansehen. In diesem übrigens preisgekrönten Video erklärt er auch, dass bei einer weiteren Studie »eye tracking« eingesetzt wurde, d. h., während des Experiments wurde mit Hilfe einer technischen Vorrichtung aufgezeichnet, wohin die Versuchspersonen ihren Blick richteten. Sie stellten fest, dass auch die Personen, die den Gorilla nicht bemerkten, ihn tatsächlich eine ganze Sekunde lang direkt angeschaut hatten. Ihr Auge hatte ihn also erfasst, die Information gelangte jedoch nicht ins Bewusstsein, weil sie vom Gehirn als unwichtig aussortiert wurde.
Interessanterweise stellte ich fest, als ich bei der Vorbereitung dieses Kapitels den Film noch einmal ansah, dass ich dann, wenn ich mich wirklich fest auf die weiße Mannschaft und die Anzahl der Ballwechsel konzentriere und entschlossen bin, mich davon nicht ablenken zu lassen, den Gorilla immer noch nicht sehe,obwohl ich inzwischen weiß, dass er da ist (Ist das nicht faszinierend und zugleich ein wenig erschreckend?).
Die Rolle von Gedanken und Vorerfahrung
Um einen bestimmten Reiz, den unsere Sinnesorgane wahrnehmen, im Gehirn einem Muster zuordnen zu können, das wir erkennen, brauchen wir unsere Vorerfahrung. Unser Wissen über die Welt, aber auch unsere Einstellungen und Meinungen fließen dabei mit ein.
Wenn z. B. ein Zeuge des oben genannten Unfalls der festen Überzeugung ist, dass Frauen schlechte Autofahrer sind, ist sein Gehirn möglicherweise geneigt, die einzelnen Wahrnehmungen so zusammenzusetzen, dass er am Ende fest überzeugt ist, gesehen zu haben, wie die Frau den Unfall verursacht hat, auch wenn es objektiv gesehen ganz anders war.
Dieser Effekt führte z. B. in amerikanischen Studien regelmäßig dazu, dass die Versuchspersonen überzeugt waren, einen Film gesehen zu haben, in dem ein Schwarzer einen Weißen angriff. Objektiv gesehen zeigte der Film jedoch das Gegenteil (die weißhäutige Person hatte den Streit begonnen). Vorgefasste Meinungen beeinflussen also, was wir meinen, gesehen oder gehört zu haben.
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Wie wir über etwas denken, beeinflusst unsere Wahrnehmung und damit auch, wie wir auf das Wahrgenommene reagieren.
Als ich einmal im Urlaub war, war abends auf dem Balkon des Hotels immer wieder ein leises Plätschern zu hören. Ich fand das sehr romantisch und stellte mir dabei einen kleinen Brunnen vor, denn das Hotel hatte einen hübschen Innenhof, in den ein solcher Brunnen sehr gut gepasst hätte. Erst am dritten Abend wurde mir klar, dass da gar kein Brunnen war und dass dieses Geräusch von einem sehr hässlichen, an der Hauswand verlaufenden Wasserrohr kam. Auf einmal klang das Geräusch gar nicht mehr romantisch, ich glaubte nun eher, die Toilettenspülung des Zimmernachbarn zu hören. Da ich aber fest entschlossen war, mir meinen Urlaub nicht vermiesen zu lassen, entschied ich einfach, mir weiter vorzustellen, dass da ein hübscher kleiner Brunnen plätschert.
Vielleicht ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie nachts wach lagen und nicht schlafen konnten. Auf einmal bemerkten Sie das Geräusch der Heizung oder des Kühlschranks. Dieses Geräusch war mit hoher Wahrscheinlichkeit schon den ganzen Tag und die ganze Nacht über da, aber erst ab dem Moment, in dem Sie es bemerkten, störte es auf einmal. Sie begannen sich zu ärgern und steigerten sich in den Ärger so lange hinein, bis das Geräusch unerträglich laut geworden war und Sie zu der festen Überzeugung kamen, bei diesem Lärm doch unmöglich schlafen zu können. In dieser Situation fiel es Ihnen schwer, sich einfach umzudrehen, an etwas anderes zu denken und das Geräusch wieder zu vergessen.
Wenn Sie bei sich selbst schon einmal beobachtet haben, dass Sie sich über Störgeräusche sehr ärgern oder sich durch sie stark beeinträchtigt fühlen, wäre es vielleicht interessant für Sie, mit dem folgenden Experiment eine neue Erfahrung zu machen.
Übung
Alltagsexperiment zur Wahrnehmung von Störgeräuschen
Sie können selbst einmal ausprobieren, wie sich Ihre Wahrnehmung eines störenden Geräuschs verändert, wenn Sie sich absichtlich dafür entscheiden, ihm eine andere Bedeutung zu geben: z. B. das tiefe Brummen eines Motors, während Sie Yoga üben wollen: »Das Geräusch trägt mich wie ein weicher Wollteppich und hilft mir, den Boden unter meinen Füßen zu spüren«; die Geräusche eines Straßenfestes vor Ihrem Haus mitten in der Nacht: »Die Lebendigkeit draußen gibt mir das geborgene Gefühl, nicht alleine zu sein«.
Sie können auch einmal austesten, welche Bedeutung Sie dem Geräusch geben müssen, damit es maximal störend für Sie wird und anhaltenden Ärger auslöst: z. B. das tiefe Brummen des Motors: »Wie rücksichtslos von diesem unsympathischen Nachbarn, mitten am Tag seine Druckermaschine zu benutzen, und die Abgase sind bestimmt auch sehr giftig und gesundheitsschädlich«; das Straßenfest vor Ihrem Haus: »Ich hasse diese besoffenen Idioten, die nachts um Drei noch herumgrölen müssen, morgen ist bestimmt die Straße wieder voller Scherben«.
Ihrer Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, und vielleicht werden Sie erstaunt bemerken, wie groß der Einfluss Ihres eigenen Denkens darauf ist, wie laut das Geräusch klingt, wie schrill, wie unangenehm oder wie unerträglich – experimentieren Sie einfach mal damit!
Das heißt also: Auch das, was wir als »Außenwahrnehmung« bezeichnen, hat dennoch viel zu tun mit inneren Prozessen, und entsprechend ist auch das Ergebnis dieser Wahrnehmung keineswegs ein »objektives Abbild« der Wirklichkeit um uns herum, sondern immer unsere eigene Interpretation auf der Grundlage unserer Vorerfahrungen.
2 Der Blick nach innen: die Körperwahrnehmung
Ich wurde hastig und eher beiläufig erzogen,
wobei ich mir viele interessante Komplexe zuzog,
die seither meine Geschäftsgrundlage bilden.
Paul Flora (Karikaturist)
Lassen Sie uns nun nach innen schauen. Im Gegensatz zur Außenwahrnehmung richtet sich bei der Körper- oder Eigenwahrnehmung (Interozeption) die Aufmerksamkeit auf das innere Erleben.
Übersicht
Sinne für die Körperwahrnehmung
- Gleichgewichtssinn (das Gleichgewichtsorgan befindet sich im Innenohr)
- Tiefensensibilität (tief im Körper liegende Empfindungen, im Gegensatz zur Oberflächensensibilität der Haut)
- Temperatursinn (dafür haben wir sog. Thermorezeptoren, also Nervenzellen, die Kälte/Wärme unterscheiden können)
- Schmerzwahrnehmung (dafür haben wir sog. Nociceptoren, also Nervenzellen, die auf Schmerzreize reagieren)
Propriozeption. Mit speziellen Nervenzellen in den Muskeln und Sehnen nehmen wir die Bewegung und Lage unseres Körpers im Raum wahr bzw. die Lage und Stellung der Körperteile zueinander. Das wird auch als Propriozeption bezeichnet. Wenn Sie z. B. jetzt beim Lesen gerade gemütlich auf dem Sofa sitzen, können Sie mit Ihrem Lagesinn wahrnehmen, dass Sie sitzen, können also die Position Ihres Körpers im Raum bestimmen. Mit Ihrem Kraftsinn spüren Sie, welche Muskeln dabei angespannt sind und welche nicht (ob z. B. die Muskeln in Ihrem Arm arbeiten müssen, um das Buch zu halten, oder ob sich Ihr Nacken dabei angespannt hat). Mit Ihrem Bewegungssinn spüren Sie außerdem, in welche Richtung Ihre Hand und Ihr Arm sich beim Umblättern bewegen. Und all das ganz ohne Hinsehen, nur von innen her.
Sie denken jetzt vielleicht: Das ist doch ganz selbstverständlich, dass man das kann. Dass das alles jedoch Fähigkeiten sind, die zuerst geübt und ausdifferenziert werden müssen, bemerken Sie, wenn Sie eine neue Art von Bewegung ausprobieren, die Ihnen noch nicht vertraut ist, z. B. wenn Sie zum ersten Mal auf Skiern stehen.
Wie hoch die Anforderungen an die Eigenwahrnehmung schon bei ganz einfachen Alltagsaufgaben sind, wird mir z. B. klar, wenn ich mit dem kleinen Sohn einer Freundin Ball spiele. Einen Ball zu fangen und zu werfen ist eine ziemlich komplexe Aufgabe, die es erfordert, die eigene Hand- und Körperhaltung wahrzunehmen und passend zur Bewegung des Balls zu steuern, den eigenen Krafteinsatz an Schwere und Geschwindigkeit des Balls anzupassen und bei dem Ganzen auch noch das Gleichgewicht zu halten. Viele Versuche sind nötig, bis es dem Kind gelingt, den Ball genau dorthin zu werfen, wo es ihn haben möchte.
Wie genau und differenziert die Körperwahrnehmung ist, hängt sehr davon ab, wie gut man sie geübt und ausgebildet hat. Das lässt sich z. B. beobachten in Gymnastikgruppen, wenn der Trainer die Anweisung gibt: »mit dem Fußgelenk kreisen«, und einige Teilnehmer eine ganz andere Bewegung machen (etwa das ganze Bein aus dem Hüftgelenk heraus vor- und zurückschwingen), ohne das selbst zu bemerken.
Als Lehrer oder Sporttrainer tätige Menschen haben mir schon mehrfach berichtet, dass sie seit einiger Zeit immer häufiger mit Grundschulkindern zu tun haben, die schon durch einfache Bewegungsaufgaben wie »auf einem Bein hüpfen« oder »rückwärts gehen« überfordert sind. Offenbar verbringen heutzutage manche Kinder so viel Zeit sitzend am Computer oder vor dem Fernseher, dass sie einfach keine Erfahrung im Umgang mit ihrem Körper mehr sammeln können.
Viszerozeption. Im Gegensatz zur Wahrnehmung der eigenen Körperbewegung und -lage im Raum steht die sogenannte Viszerozeption, die Wahrnehmung der inneren Organe. Wir können z. B. spüren, wie leer oder gefüllt unser Magen ist, wie schnell das Herz schlägt oder wie sich beim Atmen unsere Lunge ausdehnt. Ansonsten nehmen wir die meisten unserer inneren Organe im Alltag nur dann bewusst wahr, wenn Schmerzen oder Beschwerden auftreten (z. B. bei einer Gallenkolik oder bei Verdauungsstörungen).
Übung
Bewusste Wahrnehmung der inneren Organe
Um das zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen folgende kleine Übung vorschlagen (und ich möchte Sie bitten, die beiden kurzen Anweisungen jeweils erst auszuführen, bevor Sie weiterlesen).
(1) Konzentrieren Sie sich jetzt bitte einmal für einige Sekunden darauf, Ihren Magen zu spüren.
Diese Aufgabe fällt den meisten Menschen leicht. Den eigenen Magen zu spüren (ob er voll ist oder leer, ob er »knurrt«, »rumort« oder weh tut, ob ein Gefühl von Übelkeit spürbar ist), ist eine häufig auftretende und für die meisten Menschen ganz vertraute Alltagserfahrung. Sie kennen ihren Magen, wissen ungefähr, wo er ist und welche Aufgabe er hat (Essen verdauen).
(2) Konzentrieren Sie sich jetzt bitte einmal für einige Sekunden darauf, Ihre Bauchspeicheldrüse zu spüren.
Bei dieser Aufgabe sind die meisten Menschen ratlos. Sie haben keine Ahnung, wie sie das machen sollen, ja sie wissen noch nicht einmal, wo in ihrem Körper die Bauchspeicheldrüse überhaupt ist, wie sie aussieht und welche Aufgaben sie erfüllt. Und das ist ja auch ganz verständlich, denn wer interessiert sich schon für seine Bauchspeicheldrüse, solange sie gut funktioniert und keine Schmerzen bereitet?
Für diejenigen unter Ihnen, die es jetzt doch interessiert: Die Bauchspeicheldrüse wird auch als »Pankreas« bezeichnet. Sie befindet sich im Oberbauch und produziert einerseits Verdauungsenzyme und andererseits Hormone, die den Blutzuckerspiegel regulieren.
Die Funktion unserer inneren Organe wird durch das vegetative (bzw. autonome) Nervensystem gesteuert. Dieser Teil unseres Nervensystems verarbeitet ständig eine Vielzahl von Wahrnehmungen, die uns selten oder nie bewusst werden. Mit Hilfe von Messfühlern für bestimmte Blutwerte (z. B. den Kohlenmonoxidgehalt des Blutes) steuert das vegetative Nervensystem über komplizierte Regelkreisläufe die Atmung, den Blutdruck, die Verteilung von Wärme im Körper, die Verdauung, Hunger und Sättigungsgefühl usw. Glücklicherweise funktionieren diese Abläufe sehr zuverlässig auch ohne bewusste und absichtliche Steuerung, denn wenn wir an all das den ganzen Tag und die ganze Nacht über denken müssten, wären wir alle schon lange erstickt, verhungert oder kollabiert.
Kleiner Ausflug in die Entwicklungspsychologie: Wann und wie entwickelt sich die Körperwahrnehmung?
Um Ihnen verständlicher zu machen, wie die Körperwahrnehmung sich entwickelt und was dabei zu beachten ist, möchte ich Sie zunächst zu einem kurzen Ausflug in die Entwicklungspsychologie einladen.
Die Reise beginnt. Schon im Mutterleib werden die neurophysiologischen Grundlagen der Wahrnehmung gelegt. Während der Schwangerschaft reift das menschliche Nervensystem in enormer Geschwindigkeit heran. Schon ab der achten Schwangerschaftswoche beginnt der Fetus, sich eigenständig zu bewegen. Für die Entwicklung des Babys sind diese Bewegungen sehr wichtig, denn die Sinneswahrnehmungen, die es dabei macht, beeinflussen die Entwicklung seines Gehirns.
Das Baby ist aufs Engste mit dem Organismus der Mutter verbunden und nimmt intensiv Anteil an ihrem Leben. Schon im dritten Schwangerschaftsmonat spürt es Stress, Glück oder Aufregung. Wenn die Mutter erschrickt, wird Adrenalin in ihrem Blut ausgeschüttet (das ist ein Botenstoff, der im ganzen Körper zu einer Aktivierung führt) und auch der Herzschlag des Babys beschleunigt sich. Über die Nabelschnur hat es teil an allem, was die Mutter zu sich nimmt (leider auch an Suchtstoffen aller Art, auch das ist eine Körpererfahrung, die ein Baby im Mutterleib machen kann).
Mit der zunehmenden Vernetzung der Nervenbahnen in den folgenden Monaten beginnt das Baby, sich immer lebhafter zu bewegen. Der Geschmackssinn und das Gehör bilden sich aus und werden immer differenzierter. Das Baby kann jetzt den Herzschlag, die Darmgeräusche und die Stimme seiner Mutter hören. Etwa im sechsten Monat beginnt es damit, den eigenen Körper zu erkunden. Es lutscht am Daumen, spielt mit seiner Nabelschnur und ertastet seine eigenen Arme und Beine. Etwa gleichzeitig mit den Gehirnstrukturen, die nötig sind, um Angst und Schmerz wahrzunehmen, bilden sich jetzt auch die Gehirnbereiche weiter aus, die für Glücksgefühle zuständig sind. Die neuronale Basis für die grundlegenden Lebensäußerungen Zuwendung, Neugier und Initiative auf der einen Seite, Vorsicht, Beobachten und Abwarten auf der anderen Seite ist damit gelegt.
Im letzten Drittel der Schwangerschaft kann das Baby zunehmend besser hören und nimmt dadurch am Leben der Außenwelt teil. Es entwickelt Vorlieben, z. B. für klassische Musik. Mehrere Menschen erzählten mir davon, dass sie viel später im Leben Musikstücke wiedererkannten, die ihre Mutter in der Zeit vor ihrer Geburt oft angehört oder selbst gespielt hatte, und dass sie zu dieser Musik eine ganz besondere Beziehung spürten. Das Baby öffnet auch bereits die Augen, reagiert auf Lichtreize (wenn man z. B. eine helle Taschenlampe an den Bauch hält) und zunehmend auch auf Berührungen von außen, z. B. wenn die Mutter zärtlich die Hand auf den Bauch legt und mit ihm spricht.
Ein eigenes Körperbild entsteht. Wenn das Kind geboren wird, tritt eine völlig neue Situation ein, nämlich die Trennung vom Organismus der Mutter. Das Kind steht jetzt vor der Herausforderung, ein eigenes Körperbild (dies wird auch oft als Körperschema bezeichnet) zu entwickeln und zwischen »Ich« und »Nicht-Ich« zu unterscheiden. In Studien konnte gezeigt werden, dass schon 24 Stunden alte Neugeborene unterscheiden können, ob eine Berührung an ihrer Wange von ihnen selbst kommt (dabei ist eine »doppelte Berührungsempfindung« zu spüren, nämlich an der Wange und an der eigenen Hand), oder ob jemand anderer ihre Wange berührt.
Lange bevor sie lernen, ihre Empfindungen in Worte zu fassen, und auch lange bevor das Gehirn so weit ausgebildet ist, dass bewusste Erinnerungen im Gedächtnis abgespeichert werden können, entwickeln Kinder ein vorsprachliches »Körper-Selbst«, das wiederum die Basis bildet für die gesamte weitere Selbstbild-Entwicklung.
Liebevolle Zuwendung und Körperkontakt. Wenn die Eltern dem Kind liebevolle körperliche Zuwendung