Tony Hillerman

Wolf ohne Fährte


Kriminalroman

Edel eBooks

Dies ist ein Kriminalroman,

und darum erhebt der Autor hinsichtlich des

verwendeten ethnologischen Materials nicht den Anspruch,

wissenschaftlichen Anforderungen zu genügen.

Trotzdem möchte er hier Willard W. Hill, Leland C. Wyman,

Mary C. Wheelwright, Father Berard Haile,

Clyde Kluckhohn und Washington Matthews danken,

deren Werken er wertvolle Informationen

entnommen hat.

Zugleich dankt er seinen Freunden unter den

Navajo für Rat und Hilfe.

 

1

Luis Horseman lehnte den flachen Stein behutsam gegen den Pinienzweig, balancierte ihn sorgfältig aus und zog dann vorsichtig seine Hand zurück. Der Zweig bog sich, brach aber nicht. Horseman ließ sich auf die Fersen zurücksinken und musterte die Baumfalle nachdenklich. Ich hätte ein bißchen mehr Blut an den Zweig schmieren sollen, sinnierte er. Aber vielleicht genügte es doch. Er hatte diese Falle genau an der richtigen Stelle gebaut: Der Zweig hing dicht an der Fährte der Känguruhratte. Der Stein mußte beim ersten Nageversuch fallen. Er griff in sein offenstehendes Hemd, zog einen Lederbeutel hervor und entnahm ihm einen seltsam geformten Türkis. Nachdem er ihn vor sich auf den Boden gelegt hatte, begann er zu singen:

«Der Himmel spricht davon.
Der Sprechende Gott berichtet davon.
Die Ewige Dunkelheit weiß davon.
Der Sprechende Gott hilft mir.
Mit dem Sprechenden Gott töte ich das Wild.
Mit dem Sprechenden Gott töte ich das männliche Wild.»

Es gab noch eine dritte Strophe des Gesanges, aber an die konnte sich Horseman nicht erinnern. Er saß still da und dachte nach. Sie mußte irgendwie vom Schwarzen Gott handeln, aber ihm wollte der Text nicht einfallen. Der Schwarze Gott hatte mit Wild eigentlich nichts zu tun, aber sein Onkel hatte gesagt, daß man diese Strophe anhängen müsse, wenn der Gesang richtig helfen solle. Luis Horseman starrte den Türkisbären an. Der Stein verriet nichts. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz vor sechs. Wenn er die Randklippen wieder erreicht hatte, konnte er ein Feuer machen. Es war dann so dunkel, daß man den Rauch nicht mehr sah. Zuerst aber mußte er sein Vorhaben hier zu Ende bringen.

«Das dunkle Horn des Bica,
Wer immer mir Böses will,
Das Böse soll mich nicht treffen.
Das dunkle Horn ist ein Schild aus gegerbtem Rehleder.»

Horseman sang es mit kaum hörbarer Stimme, nur eben so laut, daß ihn die Tiere im Geiste vernehmen konnten.

«Das Böse, das der Ye-i gegen mich richtete,
Kann mich nicht treffen durch das dunkle Horn,
Durch den Schild, den der Bica trägt.
Er schenkt mir Harmonie mit dem männlichen Wild.
Er läßt das männliche Wild meinen Herzschlag vernehmen.
Aus vier Richtungen kommen sie auf mich zu.
Sie treten hervor und bieten mir ihre Seite,
Damit mein Pfeil nicht Knochen trifft, wenn ich schieße.
Der Tod des männlichen Wildes wird meinen Körper waschen.
Das männliche Wild wird meinen Gedanken gehorchen.»

Er steckte den Türkisbären in den Medizinbeutel zurück und richtete sich, steif geworden, wieder auf. Er war ziemlich sicher, den falschen Gang gewählt zu haben. Dieser hier ist eigentlich nur für Hochwild, dachte er. Damit das Hochwild heraustritt und man es schießen kann. Aber vielleicht würden die Känguruhratten den Text auch verstehen. Sein Blick wanderte prüfend über das Plateau: zuerst über den Vordergrund, dann über die Mitte und schließlich über die hohen grünen Hänge der Lukachukai-Berge im Osten. Dann erst trat er aus dem Schutz des Krüppelwacholders hervor und ging mit raschen Schritten nach Nordwesten. Er bewegte sich fast geräuschlos und hielt sich, sobald es ging, am Boden der flachen Arroyos, der ausgetrockneten Bachbetten. Seine Schritte waren geschmeidig und leise. Auf einmal jedoch blieb er stehen. Aus den Augenwinkeln hatte er unten im Kam-Bimghi-Tal eine Bewegung entdeckt. Tief unter ihm, etwa ein Dutzend Meilen weiter westlich, stieg vor einer verwitterten roten Felsformation plötzlich eine Staubwolke auf. Es konnte eine Windhose sein, von einem der Hartstein-Jungen aufgewirbelt, um den Windkindern einen Streich zu spielen. Aber es war jetzt ganz windstill hier. Über die erodierte Wüste tief unter ihm hatte sich die Ruhe des Spätnachmittags gelegt.

Muß wohl ein Lastwagen gewesen sein, dachte Horseman. Sofort überfiel ihn wieder die alte Angst. Vorsichtig, im Schutz einer Pinienreihe, stieg er aus der Wasserrinne hinaus, blieb regungslos stehen und musterte das Gelände unter ihm. Weit hinten im Westen war Träger der Sonne den Himmel hinabgestiegen und ließ die weißen Haufenwolken über der Hoskininie Mesa aufleuchten. Das Plateau, auf dem Horseman stand, lag im Schatten, in das Kam-Bimghi-Tal dagegen fielen noch schräge Sonnenstrahlen. Jetzt war der Staub bei den roten Felsen verschwunden, und Horseman überlegte, ob er sich womöglich getäuscht hatte. Da aber sah er es zum zweitenmal: eine Staubwolke, die langsam über den Talboden wanderte. Ein Lastwagen, dachte Horseman. Oder ein Personenauto. Vermutlich benutzte das Fahrzeug den Weg über die glatten Felsen, der sich ein wenig später verzweigte und dessen Arme dann in den Horse Fell Cañon, den Many Ruins Cañon und – seit kurzem – auch noch bis zum Tall Poles Butte führten, dem Tafelberg, auf dem sich die Radarstation befand. Es mußte ein Lastwagen oder Jeep sein, denn der Weg war nicht mal bei gutem Wetter leicht zu befahren. Horseman spähte angestrengt hinab. Noch eine Minute, dann konnte er sicher sein. Wenn der Wagen die Richtung zum Many Ruins Cañon einschlug, würde er selbst sich über das Plateau nach Osten davonmachen und lieber in die Lukachukais gehen. Doch das bedeutete, daß er dann hungern mußte.

Der Staub legte sich; das Fahrzeug war im Labyrinth der unzähligen Arroyos verschwunden, die das Kam-Bimghi-Tal kreuz und quer durchzogen. Es tauchte zwar kurz wieder auf, doch an dem Punkt, an dem sich der Weg am Natani Tso, dem großen, tischflachen Lavaberg am Nordende des Tales, nach Westen wandte, verlor ihn Luis abermals aus den Augen. Fast fünf Minuten vergingen, bis er den Staub wieder sah.

«Ho!» sagte Horseman zutiefst erleichtert. Der Wagen fuhr auf den Tall Poles Butte zu. Also waren es vermutlich Army-Leute, die zu der Radarstation gehörten. Er löste sich von seinem Baum und setzte sich in Trab, denn er war hungrig und mußte, bevor er essen konnte, noch ein Stachelschwein abflammen, ausnehmen und braten.

Luis Horseman hatte seinen Lagerplatz gut gewählt. Hier wurde das Plateau von einem der hundert namenlosen Cañons durchschnitten, die in den tiefen Many Ruins Cañon mündeten. Am Rand des Einschnitts, wo Erosion den stützenden Sandstein zerfressen hatte, war die schwere Granitdecke des Plateaus unter ihrem eigenen Gewicht zerbrochen. Mehrere Felsblöcke waren in den Cañon gestürzt und hatten zimmergroße Löcher in den Klippen hinterlassen. Andere hatten lediglich das Übergewicht bekommen und waren ein Stückchen den Hang hinuntergerutscht. Hinter einem der letzteren kniete Horseman vor seinem Feuer, das er im äußersten Winkel dieser natürlichen Festung angelegt hatte. Da über ihm nichts war, durch das der Schein reflektiert wurde, konnte er nur gesehen werden, wenn man direkt am Rand des Cañons stand und auf ihn hinabblickte. Die Flammen verliehen Horsemans Gesicht einen rötlichen Schimmer. Es war ein junges Gesicht, schmal und sensibel, mit großen schwarzen Augen und weichem Mund. Die Stirn war hoch, zum Teil von einem roten, am Hinterkopf geknoteten Stoffstreifen verdeckt, die Nase messerscharf und gebogen. Ein Falkengesicht. Horseman saß mit gekreuzten Beinen auf einem Hügel aus dem vom Plateau herabgetriebenen Sand. Das einzige Geräusch in dieser Stille machte das Fett, das zischend vom bratenden Stachelschwein in die Flammen tropfte. Das Tier war höchstens ein Jahr alt gewesen und so klein, daß er es zu zwei Dritteln verzehrte. Er schüttete Sand auf die Feuerstelle und legte den Rest des Fleisches, den er am anderen Morgen essen wollte, in die glühende Asche. Dann streckte er sich im Dunkeln aus. Nicht lange nach Mitternacht würde der Mond aufgehen, jetzt aber standen nur die Sterne am Himmel. Zum erstenmal seit drei Tagen hatte Luis Horseman das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Als er so dalag und sich entspannte, überfiel ihn eine fast schmerzende Müdigkeit. Gleich durfte er schlafen, zunächst aber mußte er noch einmal nachdenken.

Morgen wollte er sich, wenn es ging, ein Schwitzhaus bauen und ein Dampfbad nehmen. Sobald es ohne Gefahr zu machen war, mußte er sich dann einen Sänger besorgen und sich von ihm den Heilszauber singen lassen, doch dazu gab es vorerst noch keine Gelegenheit. Für den Moment mußte er sich mit einem Dampfbad begnügen. Die Prozedur würde zwar einige Zeit in Anspruch nehmen, doch morgen hatte er ja Zeit genug, denn für morgen war er gut versorgt: mit dem Rest des Stachelschweines und vermutlich mehreren Känguruhratten. Die waren ihm sicher. Er hatte zwölf oder dreizehn mit Blut und Stachelschweinfett bestrichene Baumfallen gebaut, außerdem mußte sein Gesang in etwa gestimmt haben. Nicht ganz, aber so ungefähr. Über den morgigen Tag hinaus wollte er nicht denken. Jedenfalls noch nicht jetzt. Bis dahin hatten sie sicher gemerkt, daß er nicht ins Tsay-Begi-Gebiet zum Clan seiner Schwiegereltern zurückgekehrt war, und würden hier nach ihm suchen kommen.

Abermals wurde Horseman von Angst gepackt. Er wünschte auf einmal, er hätte seine Stiefel und irgend etwas, das er als Wasserbehälter benutzen konnte. Der steile Weg zur Quelle am Boden des Cañons war lang und beschwerlich. Sie würden ihn aber überall dort suchen, wo Wasser war, und selbst wenn er seine Spuren verwischte – irgendein Zeichen würde zurückbleiben, und sei es nur niedergedrücktes Gras. Als Wasserbehälter konnte er den Magen des Stachelschweines verwenden; einen Tag lang würde er mit dem Inhalt auskommen. Dann fand er vielleicht etwas anderes oder hatte Gelegenheit, ein größeres Tier zu erlegen. Für seine Füße hingegen konnte er gar nichts tun. Sie schmerzten, weil er den ganzen Tag in Stadtschuhen herumgelaufen war; sollte er noch weite Strecken zurücklegen müssen, würden die Schuhe nicht halten.

Auf einmal hörte er ein Geräusch – leise zuerst, dann immer lauter. Eindeutig ein Lastwagen. Nein, zwei. Sie fuhren im ersten Gang. Weit drüben im Westen. Die leichte Nachtbrise drehte sich jedoch ein wenig, und das Geräusch verklang. Erst als der Wind wieder von Westen kam, hörte er die Motoren erneut. Dann hörte er gar nichts mehr. Nur noch den Ruf des Ziegenmelkers, der auf dem Plateau jagte, und das Zirpen der Grillen unten an der Quelle. Muß drüben im Many Ruins Cañon gewesen sein, dachte Horseman. Es hatte geklungen, als bewegten sich die Fahrzeuge den Cañon entlang, von ihm fort. Aber warum? Und wer mochte das sein? Von seinem Clan war jetzt bestimmt keiner im Cañon. Die Angehörigen der Red-Forehead-Sippe mieden ihn wegen der Anasazi-Häuser. Der Ye-i und der Gehörnte Drache hatten die Anasazi vor langer Zeit schon verschlungen – ehe der Drachentöter kam. Die Geister der Alten aber hausten noch immer in den großen Fels-Hogans unter den Klippen, deswegen gingen seine Leute niemals dorthin. Deswegen hatte er auch diesen Platz gewählt. Nicht zu sehr in der Nähe der Totenhäuser, aber doch immerhin so nahe, daß der Blaue Polizist nicht auf den Gedanken kam, ihn hier zu suchen.

Horseman fühlte, wie sich das Messer in seiner Tasche schmerzhaft in seine Hüfte drückte. Er drehte sich auf den Rücken, zog es heraus, öffnete die lange Klinge und legte sie sich quer über die Brust. Kurz darauf stieg der Mond über das Plateau herauf und schien auf einen mageren, jungen Mann herab, der barfuß auf einem Treibsandbett schlief.

Bei Tagesanbruch war Horseman an der Quelle und trank in durstigen Zügen aus dem Teich unter dem Felsen. Dann reinigte er den Magensack des Stachelschweins gründlich mit Sand, spülte ihn aus, verknotete den Magenausgang und füllte ihn mit Wasser. Er faßte ungefähr zwei Tassen. Das Dampfbad würde er noch aufschieben müssen. Hier an der Quelle ein Schwitzhaus zu bauen war zu riskant. Und wenn er es an seinem geschützten Lagerplatz baute, hatte er keinen Behälter, der groß genug wäre, um so viel Wasser hinaufzutragen, wie er über die erhitzten Steine gießen mußte, um zu schwitzen. Mit einem Zweig der Goldasterstaude löschte er sorgfältig seine Spuren und hielt sich beim Erklettern der Cañon-Wand auf dem Fels.

Vier seiner Baumfallen waren zugeschnappt, tote Känguruhratten jedoch gab es lediglich zwei. Die dritte Falle hatte eine Waldmaus erschlagen, die er voll Widerwillen von sich schleuderte, die vierte war leer. Verdrießlich stellte er die Fallen wieder auf. Zwei Ratten reichten nicht. Es gab zwar Frösche an der Quelle, doch wenn man Frösche tötete, wurde man zum Krüppel. Er konnte es ja mal mit den Präriehunden versuchen. Ein ausgewachsenes Exemplar ergab eine ganze Mahlzeit.

Der Platz, wo Horseman die Präriehundkolonie entdeckt hatte, lag ungefähr eine Meile weiter östlich. Da er sich, eingedenk des Lastwagengeräusches, nur sehr vorsichtig bewegte, brauchte er eine halbe Stunde für den Weg. Vielleicht war wieder eine Rakete abgestürzt. Er erinnerte sich noch gut an das erste Mal. Das war im Jahr seiner Jünglingsweihe gewesen, und alles hatte von Soldaten gewimmelt. Lastwagen, Jeeps, Hubschrauber waren gekommen, und die Soldaten waren in alle Hogans gegangen, um zu verkünden, daß derjenige, der das Ding fand, zehntausend Dollar bekäme. Es war aber nicht gefunden worden. Dann hatten sie einen Weg zum Tall Poles Butte hinauf angelegt und dort die Radarstation gebaut. Und als vor einem Jahr die nächste Rakete abstürzte, hatten sie sie nach zwei, drei Tagen gefunden.

Er blieb bei einem abgestorbenen Wacholderbusch stehen, brach einen krummen Ast ab und schnitzte sich einen Wurfstecken daraus. Zuweilen gelang es ihm, damit ein Kaninchen zu treffen, Präriehunde waren jedoch gewöhnlich zu flink. Sie waren zu wachsam. Während er an seinem Stock herumschnitzte, beobachtete er konzentriert das Kam-Bimghi-Tal. Nichts rührte sich, also handelte es sich vermutlich doch nicht um eine abgestürzte Rakete. Denn dann gäbe es jetzt einen Riesenzirkus. Außerdem würden sie die Rakete bestimmt nicht bei Nacht suchen.

Er kam nicht dazu, den Wurfstock zu benutzen. Die Erdhöhlen der Kolonie lagen dicht beieinander unter einem Pinienhügel. Eines der Tiere entdeckte ihn, lange bevor er auf Wurfweite herangekommen war, und stieß warnende Pfeiftöne aus. Innerhalb einer Sekunde waren die Präriehunde in ihren Löchern verschwunden.

Horseman schob den Wurfstock in seine Hüfttasche und brach sich von einer Pinie einen kleineren Zweig. Das eine Ende spitzte er zu, das andere spaltete er. Zur Kolonie zurückgekehrt, wählte er einen Bau, der sich nach Westen öffnete. Er bohrte den Stock dicht davor in die Erde, holte ein dünnes Glimmerplättchen aus seinem Medizinbeutel und klemmte es in den Spalt. Dann richtete er das Plättchen so, daß es das Licht der aufgehenden Sonne reflektieren und in den Höhleneingang werfen mußte.

Jetzt brauchte er nur noch abzuwarten. Mit der Zeit würde das Licht eines der neugierigen Tiere herauslocken. Es würde an die Öffnung kommen, vom reflektierten Sonnenlicht geblendet werden, und dann hatte er endlich Gelegenheit, seinen Wurfstecken zu benutzen. Er sah sich nach einem geeigneten Standplatz um. In diesem Augenblick entdeckte er den Navajo-Wolf.

Gehört hatte Luis Horseman nichts. Dennoch stand der Mann keine zehn Meter von ihm entfernt und beobachtete ihn stumm. Es war ein großer, kräftiger Mann mit einem Wolfsfell über den Schultern. Die Vorderpfoten hingen schlaff über das schwarze Hemd herab, den Schädel der Bestie hatte er sich hoch auf die Stirn geschoben, so daß die Schnauze himmelwärts wies.

Der Wolf starrte Horseman an. Dann lächelte er.

«Ich werde nichts sagen», versicherte Horseman. Er sagte es laut, beinahe schreiend. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stürzte davon, rannte Hals über Kopf den Arroyo entlang, der sich von der Präriehundkolonie in den Cañon hinunterzog. Und hörte hinter sich den Navajo-Wolf lachen.

2

In dieser Nacht jagte das Windvolk über die Reservation. Nach dem Navajo-Kalender war es acht Tage vor dem Ende der Jahreszeit-wenn-der-Donner-schläft, der 25.Mai. Spät erst stand die Mondscheibe am Himmel. Der Wind kam aus einem Hochdrucksystem über dem Plateau von Nevada und grub bizarre Formen in den Packschnee auf den San Francisco Peaks, dem Heiligen Berg der Blauen Steinfrau. Unten, auf dem Flughafen von Flagstaff, registrierte man Böen von Geschwindigkeiten bis zu zweiunddreißig Knoten: der trockene, kalte Wind des Hochlandfrühlings.

Am Westabhang der Lukachukai-Berge pfiff das Windvolk an dem Felsblock vorbei, hinter dem Luis Horseman kauerte. Er hatte sich, um die Geister irrezuführen, den Körper mit dunkler Asche eingerieben und war jetzt beruhigt. Der Antí, der Bösen Zauber machen und sich nach Belieben in einen Werwolf verwandeln konnte – daher auch das Wolfsfell über den Schultern! –, war ihm nicht gefolgt, das hieß, er hatte nicht vor, ihn zu töten. Und ein anderes Versteck kam für ihn nicht in Frage. Billy Nez würde bald erfahren, daß er sich hier auf dem Plateau aufhielt, und ihm etwas zu essen bringen. Dann sah schon alles viel besser aus. Hier würde der Blaue Polizist ihn auch nicht finden. Also mußte er hierbleiben – trotz des Navajo-Wolfs.

Luis öffnete seinen Medizinbeutel und inspizierte den Inhalt. Pollen waren genügend vorhanden, von der Zaubermedizin aus Tiergalle jedoch nur noch eine Fingerspitze. Dabei war die der beste Schutz gegen Navajo-Wölfe. Er nahm den Türkisbären heraus und stellte ihn auf sein Knie.

«Bica-Horn, schütze mich», sang er. «Bewahre mich vor der ewigen Dunkelheit.» Er wünschte jetzt, wie schon so oft, seitdem er älter geworden war, dem Onkel besser zugehört zu haben, als dieser ihm erklärte, wie man mit dem Heiligen Volk reden mußte.

Ungefähr hundert Meilen weiter südlich, in Window Rock, rappelte das Windvolk an den Fenstern des Polizeigebäudes, in dem Joe Leaphorn sich durch die unerledigten Fälle einer ganzen Woche arbeitete. Die Akte mit dem Namen Luis Horseman war die drittunterste, deswegen wurde es beinahe zehn, bis Leaphorn sie endlich in Angriff nahm. Er las die Papiere durch, lehnte sich bequem zurück, steckte sich die letzte Zigarette aus seiner Packung an, trommelte mit den Fingern einen Wirbel auf der Schreibtischplatte und überlegte: Ich weiß, wo Horseman ist. Ich bin überzeugt, daß ich es weiß. Aber es hat keine Eile damit. Horseman läuft mir nicht davon. Dann lauschte er den Stimmen im Wind, dachte an Hexen und Zauberer und an Bergen McKee, seinen Freund, der sie zu seinem Studienobjekt gewählt hatte. Bei der Erinnerung an ihn mußte er lächeln. Aber das Lächeln verging ihm sofort, denn Bergen war selbst das Opfer einer Hexe geworden – der Frau, die ihn geheiratet, zutiefst verletzt und dann sich selbst überlassen hatte: Sollte er seine Wunden heilen, so gut es ging. Anscheinend aber ging es nicht.

Joe Leaphorn dachte an den Brief, den er in dieser Woche von McKee erhalten hatte. Wieder einmal hatte der Freund geschrieben, er habe vor, in die Reservation zurückzukehren und seine Forschung über den Navajo-Hexenglauben weiterzuführen. Vor allem interessierten ihn die Antís, eine Mischung aus Medizinmann, Zauberer und Hexenmeister, die sich, in der Vorstellung der Navajo, in mancherlei Getier verwandeln konnten und Schafe und Menschen rissen. Derartige Versprechen hatte McKee schon mehrmals gemacht, sie aber nie eingehalten. Und diesmal wird er wieder nicht kommen, dachte Leaphorn. Mit jedem Jahr, das er wartet, wird es ihm schwerer fallen, das alte Leben wiederaufzunehmen. Vielleicht fällt es ihm jetzt schon zu schwer. Joe Leaphorn schaltete die Schreibtischlampe aus und blieb, dem Wind lauschend, einen Augenblick still im Dunkeln sitzen.

Vierhundert Meilen weiter östlich, in Albuquerque, machte sich der Wind vorübergehend in der Wohnung Bergen McKees bemerkbar, indem er den Fernsehturm auf dem Sandia Crest so stark schüttelte, daß ein Flackern über den Bildschirm huschte – den Bergen McKee gar nicht beachtete. Den Ton hatte er schon vor einer Stunde abgestellt, weil er Examensarbeiten korrigieren wollte. Aber der Wind machte ihn nervös, und so hatte er sich statt dessen einen Shaker voll Martinis gemixt, die er bei seiner Arbeit austrank, damit er hinterher einschlafen konnte.

Vielleicht bekam er morgen Antwort auf seinen Brief, und Joe Leaphorn teilte ihm mit, daß es ein gutes, ein schlechtes oder ein durchschnittliches Jahr für Gerüchte über ihr Unwesen treibende Antís sei. Und wenn die Aussichten günstig waren, fuhr er in der kommenden Woche vielleicht in die Reservation, um während des Sommers die Fallstudien zu vervollständigen, die er noch für sein Buch brauchte. Obwohl ihn das Buch im Grunde gar nicht mehr interessierte. Es konnte daher ebensogut sein, daß er doch nicht fuhr.

Er schaltete das Radio ein und blieb an der Balkontür stehen. Der Wind hatte die Wolkendecke über dem Sandia-Berg davon-geblasen; die schwarze Silhouette stand klar vor den Sternen des östlichen Horizonts.

Zehn Stockwerke unter ihm zogen sich die Lichter der Stadt bis zu den Vorbergen hin – eine phosphoreszierende Wasserfläche in der Unendlichkeit der Nacht. Das Radio hinter ihm meldete für morgen kühleres Wetter mit nachlassendem Wind.

Bergen McKee kehrte an seinen Schreibtisch zurück – ein großer, starkknochiger, müder Mann, der zugleich kraftvoll und linkisch wirkte. Er raffte die unzensierten Examensarbeiten zusammen, schob sie in seine Aktentasche und schenkte sich einen letzten Martini ein, den er mit in sein Schlafzimmer hinübernahm. Nachdenklich betrachtete er die gerahmte Urkunde an der Wand. Das Glas war verstaubt. McKee säuberte es mit seinem Taschentuch.

«Sintemalen es bei den Studenten der Anthropologie eine weithin und allgemein bekannte Tatsache ist», lautete der Text, «daß Bergen Leroy McKee, B.A., M.A., Ph.D., wahrlich und gewißlich kein anderer ist als der leibhaftige Drachentöter, ebenfalls bekannt als der Helden-Zwilling des Navajo-Urmythos;

Item: Sintemalen diese Tatsache belegt und bewiesen ist durch den krankhaften Eifer und die Besessenheit, mit der besagter Professor McKee, im folgenden Drachentöter genannt, seine Studenten mit der erwähnten Entstehungssage traktiert;

Item: Sintemalen der Drachentöter bekanntermaßen von Wechselnder Frau geboren und von der Sonne gezeugt worden ist;

Item: Sintemalen obengenannte geschlechtliche Vereinigung ohne den Segen des Heiligen Ehestandes vollzogen wurde und gemeinhin als unzulässige, gesetzwidrige, ungeweihte und auch in sonstiger Hinsicht sittenwidrige Hurerei zu gelten hat;

Ergo sei allen Menschen kund und zu wissen getan, daß der besagte Drachentöter alle ungeschriebenen und geschriebenen Voraussetzungen für den Beinamen ‹Bastard› erfüllt und seinen Anspruch auf diesen Titel durch die Art und Weise, mit der er die Examensarbeiten seines Studienseminars für Primitiv-Aberglauben zensiert, in jedem Semester aufs neue demonstriert.»

Die Urkunde war in kunstvollen, verschnörkelten gotischen Lettern handgemalt, mit einem Notarsiegel versehen und von allen sieben Teilnehmern an McKees Seminar unterzeichnet worden. Vor sechs Jahren, im Jahr seiner großen akademischen Erfolge. In seinem letzten guten Jahr. Ein Jahr bevor er eines Tages nach Hause kam und Saras Schränke leer, statt dessen aber ihren Abschiedsbrief vorfand: siebzehn Wörter in blauer Tinte auf blauem Papier. Im letzten Jahr der Begeisterung, des eifrigen Pläneschmiedens für seine Forschungsarbeiten, mit deren Hilfe er den gesamten Navajo-Aberglauben zu einem sauberen, ordentlichen Bündel verschnüren wollte. Im letzten Jahr vor seinem Erwachen zur Wirklichkeit.

McKee leerte sein Martiniglas, schaltete das Licht aus, lag still im Dunkeln, lauschte dem Wind und versuchte sich zu erinnern, was für ein Gefühl es gewesen war, der Drachentöter zu sein.

3

Als Bergen McKee am Morgen des 26. Mai zu seinem Postfach im Fakultätsgebäude ging, empfand er dabei das gleiche wie jedesmal bei dieser Gelegenheit: eine gewisse Erwartungsfreude. Selbst lange Jahre negativer Erfahrungen, in denen er dem Fach höchstens Vorlesungslisten, Benachrichtigungen und Buchreklamen entnommen hatte, waren nicht in der Lage gewesen, dieses Gefühl ganz in ihm zu ersticken. Nur manchmal, wenn er sich in Gedanken mit einem anderen Problem beschäftigte, griff McKee ohne die optimistische Hoffnung, das Fach müsse heute eine besondere Überraschung für ihn bereithalten, nach seiner Post Doch als er jetzt das Vorzimmer der Fakultätssekretärin betrat, Mrs. Kreutzer einen guten Morgen wünschte und sich nach rechts, zu den Postfächern, wandte, war er keineswegs abgelenkt. War für ihn wieder mal nichts gekommen, mußte er sich allerdings sofort auf die Frage konzentrieren, wie er bis morgen mittag vierundachtzig Examensarbeiten zensieren sollte. Ein zweifellos deprimierender Gedanke.

«Hat Dr. Canfield Sie erreicht?» Mrs. Kreutzer hielt den Kopf ein wenig gesenkt, damit sie ihn durch die obere Hälfte ihrer Bifokalbrille ansehen konnte.

“Nein, Ma’am. Ich habe Jeremy seit drei Tagen nicht mehr gesehen.»

Der oberste Umschlag enthielt die Nachricht, sein Abonnement für Ethnology Abstracts sei abgelaufen.

«Er wollte Sie bitten, sich einer Bekannten anzunehmen», verriet ihm Mrs. Kreutzer. «Ich glaube, Sie haben sie gerade verpaßt.»

«Okay», sagte McKee.» Was will sie denn?» Der zweite Brief stammte von Dr. Green und erinnerte die Angehörigen des Lehrkörpers an eine Tatsache, die ihnen nur allzugut bekannt war: Die endgültigen Semesterzensuren mußten spätestens am 27.Mai, zwölf Uhr mittags, eingereicht werden.

«Irgendwas im Zusammenhang mit der Navajo-Reservation», antwortete Mrs. Kreutzer. «Sie sucht jemanden, der da draußen arbeiten soll. Dr. Canfield dachte, Sie könnten ihr vielleicht einen Tip geben.»

McKee mußte grinsen. Weitaus wahrscheinlicher war, daß Mrs. Kreutzer festgestellt hatte, die Dame sei ledig, mannbaren Alters und könne Dr. McKee – unverständlicherweise – attraktiv finden. Mrs. Kreutzer machte sich ständig Sorgen um ihre Mitmenschen. Jetzt fiel ihm ein, daß er beim Betreten des Anthropologie-Gebäudes einer jungen Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen begegnet war.

«Ist sie mein Typ?» erkundigte er sich. Der dritte und letzte Brief trug den Poststempel «Window Rock, Arizona» und den Absender «Division of Law and Order, Navajo Tribal Council». Der mußte von Joe Leaphorn sein. McKee schob ihn vorerst in die Tasche.

Mrs. Kreutzer sah ihn vorwurfsvoll an; sie kannte seine Gedanken und verabscheute seinen Ton. McKee empfand leichte Gewissensbisse.

«Sie machte einen sehr netten Eindruck», erklärte Mrs. Kreutzer. «Ich finde, daß Sie ihr helfen sollten.»

«Mal sehen, was sich da tun läßt», gab er zurück.

«Jeremy sagte mir, daß Sie ihn in diesem Sommer in die Reservation begleiten», fuhr Mrs. Kreutzer fort. «Das finde ich ausgezeichnet.»

«Steht aber noch nicht fest. Ich muß vielleicht einen Sommerkurs übernehmen.»

«Das sollen Ihre Kollegen ruhig selber tun.» Mrs. Kreutzer musterte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg. «Sie sind schon ganz blaß.»

McKee wußte genau, daß er nicht blaß war. Im Gegenteil, seine Gesichtshaut schälte sich sogar, weil er einen Sonnenbrand hatte. Aber er wußte ebenfalls, daß Mrs. Kreutzers Äußerung sinnbildlich gemeint war. Einmal hatte er sie das gleiche zu einem nigerianischen Studenten sagen hören, und als der Nigerianer ihn anschließend fragte, was denn Mrs. Kreutzer damit gemeint haben könne, hatte McKee ihm erklärt, das heiße nichts weiter, als daß sie sich seinetwegen Sorgen mache.

«Sollen die doch ihren Dreck alleine machen», grollte Mrs. Kreutzer und überraschte ihn nicht nur mit ihrer Heftigkeit, sondern auch mit ihrem Jargon. «Sie werden immer nur ausgenutzt.»

«Aber nein», entgegnete McKee. «Jedenfalls habe ich nichts dagegen.»

Als er jedoch den Flur zu seinem Büro entlangging, hatte er doch ein wenig dagegen. George Everett hatte ihn gebeten, in diesem Sommer seinen Kursus zu übernehmen, da Everett selbst zu einer Ausgrabung in Guatemala eingeladen worden war, und jetzt erinnerte sich McKee verärgert, daß Everett fest überzeugt gewesen war, der gute alte Bergen werde ihm diesen Gefallen schon tun. Und außerdem hatte er etwas dagegen, das ständige Objekt von Mrs. Kreutzers Mitleid zu sein. Der Hahnrei läßt sich nicht gern an seine Hörner erinnern, der Ausgestoßene nicht an sein Versagen.

Er zog den «Law and Order»-Brief aus der Tasche und dachte an die Vergangenheit – an jene Zeit, als er, erst siebenundzwanzig Jahre alt, in der Navajo-Reservation die Wahrheit gesucht hatte, damals noch voller Begeisterung und Naivität, damals noch voll Optimismus, damals noch ohne daß ihm jemand erklärt hatte, er sei kein Mann. Er konnte sich nicht mehr recht vorstellen, wie das gewesen war.

Er zog die Jalousien hoch, schaltete die Klimaanlage ein und hörte, als er sich hinsetzte, das vertraute Knarren seines Drehsessels. Dann erst riß er den Umschlag auf.

Lieber Berg,

auf Deine Frage nach Antí-Fällen habe ich ein wenig herumgehorcht, aber es sieht nicht sehr vielversprechend aus. Es hat zwar in der Gegend des No-Auga-Beckens ein paar Gerüchte, in den Lukachukais östlich von Chinle das eine oder andere Vorkommnis und westlich vom Colorado River oben an der Utah-Grenze Gemunkel über gewisse Zwischenfälle gegeben, doch nichts davon scheint mir gefährlich oder ungewöhnlich, falls Du auf so etwas aus sein solltest. Bei der No-Agua-Geschichte handelt es sich, wie ich gehört habe, um einen Streit zwischen zwei Gruppen des Salt Cedar Clan, in dem es um ein Stück Weideland geht. Die Sache in Utah scheint sich um einen alten Sänger mit schlechtem Ruf zu drehen, und was die Lukachukais angeht, so berichten mir unsere Leute von der Unteragentur Chinle, daß sie noch nicht genau feststellen konnten, was da eigentlich los ist. Die Story, die man ihnen – aus mindestens vierter Hand – aufgetischt hat, besagt, daß es da irgendwo im Cañon-Gebiet des Westabhangs eine Navajo-Wolf-Höhle geben soll. Diese Antís sollen sich angeblich bei den Sommer-Hogans da oben herumtreiben, Tiere töten und so weiter. Das Übliche. Und wie gewöhnlich fällt die Geschichte, die man zu hören bekommt, jedesmal anders aus.

Die ersten beiden Gerüchte könnten zu den Theorien in Deinem Buch über «Social and Psychotherapeutic Utility of Navajo Wolf and Frenzy Superstitions» passen, aber das wirst Du selbst besser beurteilen können. Bei der Lukachukai-Sache bin ich mir nicht ganz sicher. Sie könnte etwas mit einem Mann zu tun haben, nach dem wir dort fahnden. Es sei denn, es handelt sich um einen richtigen, echten Antí, der sich tatsächlich in einen Werwolf verwandelt. Würde das Euch Gelehrtentypen nicht mal so recht aus den Pantinen hauen?

Die letzten beiden Abschnitte des Briefes berichteten von Leaphorns Frau und Familie und von einem gemeinsamen Freund aus der Schulzeit. Außerdem enthielten sie das Angebot, McKee zu unterstützen, falls er in diesem Sommer auf «Hexenjagd» gehen wollte.

McKee mußte lächeln. Leaphorn war ihm bei seinen anfänglichen Forschungen eine große Hilfe gewesen; er hatte ihm die Archive der Law and Order Division zugänglich gemacht und ihm geholfen, die Leute zu finden, die er brauchte: von der Zivilisation unverdorbene Indianer, die sich mit Bösem Zauber auskannten. Er hatte es stets bedauert, daß Leaphorn seine These nicht recht akzeptieren wollte – die These, der Werwolf-Aberglaube sei nichts weiter als das Bedürfnis primitiver Völker nach einem Sündenbock, dem sie in Zeiten der Not und Verzweiflung die Schuld an ihren Leiden aufbürden konnten.

Er lehnte sich bequem zurück, las den Brief noch einmal durch und dachte an die vielen Diskussionen, die sie geführt hatten. Leaphorn hatte beharrlich erklärt, es müsse ein Kern von Wahrheit im Ur-Mythos der Navajo stecken, es gebe immer wieder Menschen, die sich absichtlich antisozial verhielten, den goldenen Weg der Natur verließen, bewußt das Unnatürliche und damit, nach dem Glauben der Navajos, das Böse wählten. Mit Vergnügen dachte McKee an die langen Abende in Leaphorns Wohnung, wenn Leaphorn im Eifer des Gefechtes in die Navajo-Sprache verfiel und Emma, damals noch eine frischgebackene Ehefrau, sie alle beide einfach auslachte und Bier auftischte. Es wäre schön, die beiden wiederzusehen, aber der Brief klang nicht sehr ermutigend. Er brauchte noch ein Dutzend Fallstudien für sein neues Buch, wenn er seine Theorie in allen Punkten untermauern wollte.

Ohne anzuklopfen, kam Jeremy Canfield herein. «Ich möchte Ihnen eine Frage stellen», erklärte er. «Wo könnte man in der Navajo-Reservation einen Elektroingenieur suchen, der seine Apparaturen testet?»

Er zog seine Pfeife aus der Jackentasche und klopfte sie in McKees Aschenbecher aus. «Ich kann Ihnen sogar einen Anhaltspunkt geben. Wir wissen, daß er einen hellgrünen Kastenwagen fährt. Was er für Geräte bei sich hat, wissen wir nicht, aber er muß seine Tests weitab von Stromleitungen, Telefondrähten und ähnlichem durchführen.»

«Damit kann ich ungeheuer viel anfangen», spottete McKee. «Jetzt bleiben nur noch neunzig Prozent der Reservation für eine Suche offen – neunzig Prozent, also ungefähr fünfundzwanzigtausend Quadratmeilen. Finden Sie mal in einem Gebiet, das größer ist als ganz New England, einen grünen Kastenwagen!»

«Es handelt sich um die Tochter eines meiner Freunde. Eine Miss Ellen Leon», erklärte Canfield. «Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, diesen Vogel von der U.C.L.A. aufzutreiben.» Canfield war ein kleiner Mann mit einem fröhlichen Mondgesicht, das durch die Glatze noch runder wirkte. Eine leichte Rückgratverkrümmung zwang ihn, immer ein wenig gebeugt zu gehen.

«Diese verdammten Flachländer haben keine Ahnung von Geographie», schimpfte Canfield. «Die glauben immer, die Reservation sei nicht größer als der Central Park.»

«Weswegen sucht sie ihn denn?» erkundigte sich McKee.

Canfield zog ein verlegenes Gesicht.

«So etwas fragt man eine Frau nicht, Berg. Nehmen wir einfach an, daß es um Liebe geht. Nehmen wir an, sie hat was für seinen Adonis-Körper übrig.» Canfield setzte seine Pfeife in Brand. «Nehmen wir an, sie hat ihm einen Korb gegeben, er ist enttäuscht auf und davon, um sein gebrochenes Herz zu kurieren, und jetzt hat sie es sich doch noch überlegt.»

Oder nehmen wir an, sie ist genauso dumm wie ich, dachte McKee. Nehmen wir an, er hat sie verlassen, und sie ist zu jung, um zu wissen, daß alles hoffnungslos ist.