Kirsten Holst

Der rätselhafte Doppelgänger - Kinder-Krimi

Aus dem Dänischen übersetzt von
Christel Hildebrandt

Saga

1. Kapitel

Das Wohnmobil brummte stetig und monoton auf der flachen, schnurgeraden norddeutschen Autobahn dahin, fraß die Kilometer einen nach dem anderen in sich hinein und spuckte sie wie ein endloses, grauschwarzes Band hinten wieder aus.

Stina beugte sich ein wenig vor, so daß ihr langes hennafarbenes Haar fast das ganze Gesicht verdeckte, und wühlte in ihrem großen Beutel, den sie auf den Schoß hochgezogen hatte.

„Paß auf, daß du nicht kopfüber reinfällst!“ warnte Bengt grinsend.

„Worein?“ fragte Stina, ohne aufzublicken.

„In die Tasche. Dann verschwindest du ganz und gar! Und ich muß einen Suchtrupp nach dir aussenden, der mindestens 14 Tage braucht, bevor er dich zwischen Lippenstiften, Eyeliner und dem ganzen anderen Kram gefunden hat. Wonach suchst du denn?“

„Ach, nach gar nichts“, sagte Stina.

„Gar nichts? Das findest du in dem Durcheinander bestimmt.“

„Ha! Hier ist es!“ rief Stina und hielt triumphierend ein Päckchen Kaugummi hoch. „Willst du auch einen?“

„Nein, aber vielen Dank.“

Stina wickelte ein Kaugummipäckchen aus und stopfte es sich in den Mund. Fast gleichzeitig sah sie aus dem Augenwinkel die Ecke eines Hinweisschildes:

Letzte Ausfahrt vor der Bundesgrenze.

„Jetzt sind wir gleich an der Grenze“, bemerkte sie.

Bengt nickte. Einen Augenblick lang fuhren sie, ohne daß ein Wort fiel.

„Wo du sowieso schon deine Tasche raus hast“, sagte Bengt, „dann könntest du eigentlich gleich mal das braune Päckchen hinter meinem Sitz da reinlegen, ja?“

Stina drehte sich halb auf ihrem Sitz um. „Das paßt da nicht rein.“

„Nicht das große“, erklärte Bengt, „das kleine. Das müßte doch gehen.“

Mit etwas Mühe bekam Stina das Päckchen zu fassen und steckte es in ihre Tasche. Sie zögerte kurz, schaute es nachdenklich an, holte dann ihr Portemonnaie und ihre Sonnenbrille heraus, stopfte das Päckchen noch ein wenig tiefer und legte Portemonnaie, Sonnenbrille und ihr Taschentuch obendrauf.

Sie schaute Bengt fragend an, aber der hatte die Augen nur auf die Fahrbahn gerichtet.

„Warum?“ fragte sie.

„Um dumme Fragen zu vermeiden.“

„An der Grenze?“

„Ja, wo denn sonst? Und das gilt auch für dich.“

„Was ist denn im Päckchen?“

Bengt schielte zu ihr hinüber. „Heroin!“

Stina zog eine Grimasse und machte das Wichserzeichen. Sie wußte, wenn Bengt ihr nicht erzählen wollte, was in dem Päckchen war, dann konnte sie das Fragen gleich aufgeben. Ihm gegenüber jedenfalls.

Sie rutschte etwas auf ihrem Sitz hin und her und lehnte sich an den Türrahmen, damit sie ihn heimlich beobachten konnte, während sie so tat, als schaue sie aus dem Fenster.

Aus Bengt wurde man nie richtig klug. Er war ihr Stiefvater, eigentlich ihr Exstiefvater, und er war der Mensch, den sie am allerliebsten auf der ganzen Welt hatte, jetzt, seit ihre Oma tot war. Seit acht Jahren wohnte sie schon mit ihm zusammen, aber immer noch hatte er etwas Geheimnisvolles an sich. Er ließ die Menschen nie ganz an sich herankommen. Nicht einmal sie. Und obwohl sie sicher diejenige war, die ihn am allerbesten kannte, kannte sie ihn dennoch nicht so genau. Oder es gab in Wirklichkeit gar keine Geheimnisse. Vielleicht war das das ganze Geheimnis, wenn man es genau betrachtete.

Sie passierten die deutsche Grenzstation und reihten sich an der dänischen Grenze in die Schlange ein.

Stina wickelte eine Haarsträhne um den Finger, steckte die Spitze der Strähne in den Mund und kaute nervös darauf herum.

Bengt gab ihr einen beruhigenden Klaps auf die Schulter.

„Easy, girl! Take it easy! Und paß auf, daß du keinen Kaugummi ins Haar kriegst!“

Stina schaute ihn resigniert an. Sie hatte immer Bauchschmerzen, wenn sie gemeinsam mit Bengt eine Grenze überqueren mußte. Das war das gleiche gewesen, als sie nach Deutschland eingereist waren.

Jetzt war das Auto vor ihnen durchs Nadelöhr geschlüpft, und sie waren dran. Bengt gab dem Beamten hinter der Fensterscheibe ihre Pässe. Einen Moment lang betrachtete der die Pässe, sah dann lange Bengt an, um ihm sodann ein Zeichen zu geben, zur Seite zu fahren.

Stina seufzte. Sie wußte, daß sie Probleme bekommen würden. So war es immer.

Sie warf Bengt einen wütenden Blick zu. „Das ist dieser blöde Schnurrbart. Du könntest ruhig versuchen, ein bißchen schwedischer auszusehen.“

„Isch nischt verschtehen, was du sagen!“ sagte Bengt in gebrochenem Schwedisch. „Isch nischt gut verschtehen swedische Schprach!“

„Das ist überhaupt nicht lustig!“ schimpfte Stina sauer. „Jedesmal passiert uns das! Die denken garantiert, du bist so ein Perser oder Türke mit falschem Paß!“

Bengt hatte das Wohnmobil an die Seite gefahren, wo bereits ein alter Schrotthaufen mit vier Passagieren stand. Alles Männer, alle schwarzhaarig und dunkelhäutig. Gastarbeiter, vermutete Stina. Sicher entweder Türken oder Jugoslawen. Sie schaute sie böse an. Die sind schuld, dachte sie und wußte nur zu gut, daß das vollkommen ungerecht war.

„Nun“, sagte Bengt, als er in den Rückspiegel guckte und einen Beamten entdeckte, der auf dem Weg zu ihnen war. „Nun steige ich mal lieber aus und entfalte all meinen schwedischen Charme.“

Stina blieb im Auto sitzen. Sie hatte das Gefühl, es dauerte eine Ewigkeit, aber in Wirklichkeit verging nicht einmal eine Minute, bevor Bengt wieder einstieg und die Pässe auf die Ablage vor ihnen warf.

„Alles glattgegangen – mal wieder“, sagte er, als der Beamte sie lächelnd weiterwinkte.

Stina warf ihm und Bengt einen bösen Blick zu.

„Das ist alles so verdammt verunsichernd. Und jedesmal. Weil du so dunkel bist, und dann ist da noch dieser idiotische Schnurrbart.“

„Das zeigt nur, daß man nicht vorsichtig genug damit sein kann, seine Familie auszuwählen.“

„Du gehörst nicht zu meiner Familie, zum Glück.“

„Ich habe ja auch an mich selbst gedacht. Zigeunerfamilie, weißt du!“

„Bilde dir nur nicht ein, daß du mit diesem Schnurrbart geboren wurdest. Du könntest ihn einfach abrasieren.“ „Spinnst du? Der gehört doch zu meinem Image. Ohne ihn hätte ich keine Ahnung, wer mir da morgens aus dem Spiegel entgegenblickt. – Obwohl das manchmal auch was für sich hätte“, fügte er nachdenklich hinzu.

„O ja. Glaubst du, wir kommen noch rechtzeitig zur Fähre?“

„Immer mit der Ruhe, mein Mädchen. Schaffen wir’s heute nicht, schaffen wir’s morgen.“

Stina lehnte sich zurück. Bengt war nicht gerade der Richtige, mit dem man über Ruhe reden konnte. Wenn es etwas auf der Welt gab, was er nicht konnte, dann war es, sich entspannen und Ruhe bewahren. Er tat nur immer so.

Sie schob eine Hand in ihren Beutel und fühlte das viereckige Päckchen.

Zum Teufel, was da wohl drin war?

2. Kapitel

Der Campingplatz lag mitten im einzigen Dorf der Insel. Man fuhr direkt von der Hauptstraße auf ihn zu, und er erstreckte sich ganz bis zum Strandweg, der halb um die Insel herumführte. Der Platz war umgeben von hohen, schattenspendenden Bäumen, und zum Weg hin bot eine fast undurchdringliche Dornenhecke Windschutz.

„War einst ein kleines Segelschiffchen, war einst ein kleines Segelschiffchen“, summte Louis, während er sein Schiff anschubste, „das war noch nie, nie, nie auf hoher See – BANG!“ Er gab dem Schiff einen ordentlichen Stoß, so daß es kenterte und die roten Segel unter die Wasseroberfläche tauchten.

Im gleichen Augenblick kam Manette mit einem Tablett voll schmutzigen Geschirrs aus dem Campingwagen. Vor dem Mittagessen hatte es nach Regen ausgesehen, deshalb hatten sie drinnen gegessen, aber jetzt hatte es zum Glück wieder aufgeklart. Sie sah sich traurig um. Wenn Stina und Bengt heute nicht kämen, würde es schwer sein, ihnen den Platz hier zu reservieren. Sie hatten ihn zwar bestellt, aber der Campingwart hatte gesagt, daß er den Platz nicht länger als bis heute freihalten könnte. Sie balancierte vorsichtig mit dem Tablett in den Händen die Stufen hinunter und entdeckte Louis und sein Schiff erst, als sie auf Gras trat.

„Nein, jetzt ist aber ...! Louis, was zum Teufel machst du hier, du verdammtes Dreckschwein!“

Louis hatte gerade sein Lied von vorn begonnen. Er hielt inne und schaute sie verständnislos an.

„Was ist denn?“

Lis nahm das Buch herunter. „Was ist denn los?“

„Ach, Louis, dieses alte Dreckschwein!“ begann Manette anklagend.

„Vorhin hast du gesagt, ich bin ein verdammtes Dreckschwein“, warf Louis ein.

„Halt die Klappe“, fuhr Manette ihn wütend an. „Ich habe grade das Wasser zum Abwaschen geholt, und da steckt dieses Ferkel sein dreckiges Schiff rein.“

„Das ist überhaupt nicht dreckig“, protestierte Louis hartnäckig. „Es ist funkelnagelneu.“

„Dann ist ja nichts passiert“, sagte Lis und nahm ihr Buch wieder hoch.

„Oh, Mama! Man kann doch verdammt noch mal nicht in so dreckigem Wasser abwaschen!“

„Dann kipp es weg und hol neues. Und hör auf, so zu fluchen.“

„Wieso ich? Louis ist das Schwein mit seinem blöden Dreckschiff. Ich hole doch nicht noch mal Wasser. Immer ich.“

Ihre Mutter nahm wütend das Buch wieder herunter. „Dann laß es bleiben und nimm das hier. Aber mach um Himmels willen kein Problem daraus. Ich will hier keine Probleme haben. Zu Hause habe ich verdammt noch mal genug davon.“

„Und hör auf, so zu fluchen“, äffte Manette sie halblaut nach und verdrehte die Augen.

„Außerdem bist du es gar nicht immer, die das Wasser holt. Das letzte Mal hab’ ich es geholt.“ Louis warf Manette einen wütenden Blick zu.

„Stimmt doch nicht“, ging Manette sofort darauf ein. „Du ...“

Lis schlug mit einer Hand auf ihr Buch. „Jetzt haltet ihr alle beide euren Mund. Ich will mir nicht die Ferien durch eure ewigen Streitereien verderben lassen.“

Manette blinzelte zu ihr hinüber. „So, du bist schuld, daß sie sauer ist“, zischte sie.

„Du hast angefangen“, entgegnete Louis halblaut. „Außerdem war sie schon vorher sauer.“

„Das ist sie immer an den ersten Ferientagen“, sagte Manette.

Louis warf ihr einen einschmeichelnden Blick zu. Er konnte es nicht ertragen, sich mit Manette zu streiten. „Du, das Schiff war wirklich ganz sauber. Großes Ehrenwort. Dann können wir doch einfach das Wasser benutzen, oder?“

„Na gut, machen wir’s so. Aber du hilfst mir auf jeden Fall beim Abwasch. Hier!“ Sie gab ihm ein Geschirrhandtuch. „Du kannst abtrocknen.“

„Saustark, ey! Ich bin absolut geil drauf, abzutrocknen!“

„Wer’s glaubt, wird selig!“ Manette gab ihm ein Glas.

„Aber es stimmt wirklich“, behauptete Louis, während er so wild losrieb, daß er fast das Glas dabei zerdrückte. „Es gibt kaum was Geileres, es kommt gleich nach Spinat und Mülleimer ausleeren. Das ist echt das tollste an den Ferien.“

Manette grinste. „O Mann, du darfst sicher jeden Tag abtrocknen, wenn du willst. Auch nach den Ferien. Wir brauchen ja die Geschirrspülmaschine nicht zu benutzen.“

Louis verzog sein sommersprossiges Gesicht zu einer Grimasse. „Dann wäre es nicht mehr so lustig.“

Manette schaute ihn verwundert an. „Das klingt ja, als ob du wirklich gerne abtrocknest. Ist das echt wahr? Du hast wohl ’ne Meise.“

Louis sah sie todernst an. „Auf jeden Fall geht es leichter, wenn ich sage, ich mag es, als wenn ich sage, ich mag es überhaupt nicht, auch wenn ich es nicht so gern mag, wie ich sage.“

Manette schüttelte den Kopf. „Davon habe ich jetzt kein Wort verstanden.“

Louis grinste begeistert. „Gratuliere! Ich auch nicht. Aber ich glaube, es war sauklug.“

„Ganz sicher“, stimmte Manette ihm zu. „Bestimmt.“

Louis war dabei, den letzten Teller abzutrocknen. „Wollen wir noch ’ne Runde mit dem Fahrrad drehen, wenn wir fertig sind?“

Manette zögerte. Sie war kurz davor zu sagen, daß sie keine Lust hatte, aber was sollte sie sonst tun? Es machte keinen Spaß, allein zu baden oder in der Sonne zu liegen. O verdammt, wie freute sie sich auf Stina, dann hatte sie endlich jemanden, mit dem sie was unternehmen konnte. Aber bis dahin mußte sie mit Louis vorliebnehmen.

„Können wir machen“, antwortete sie. „Aber ich denke, dein Fahrrad hat ’nen Platten?“

„Hat es auch, aber scheiß drauf. Wir fahren eben auf deinem.“

„Alle beide?“

„Klar. Ist doch auch viel lustiger.“

„Dann sitz’ ich aber hinten“, sagte Manette schnell. Sie hatte keine Lust, Louis herumzukutschieren. „Wohin wollen wir denn?“

„Zuerst nach oben und dann in den Ort“, schlug Louis vor. „Vielleicht treffen wir ja deinen Liebsten.“

„Meinen Liebsten!“ Manette starrte ihn an. „Ich soll einen Liebsten hier haben? Davon wußte ich ja gar nichts. Wen denn?“

„Anders!“

Manette grinste. „Ach, hör bloß auf. Das ist doch nicht mein Liebster.“

„Jedenfalls war er letztes Jahr ein bißchen dein Liebster.“

„Jaaa, letztes Jahr. Das war ja auch was anderes.“

„Wieso?“

„Weil ich da erst 12 war. Und jetzt bin ich 13.“

Louis sah sie fragend an. „Aber er ist doch auch älter geworden.“

„Nicht so viel wie ich.“

Louis schüttelte den Kopf. Aus Manette wurde man nicht immer richtig klug. Sicher, weil sie ein Mädchen war.

Er hatte eine freche Bemerkung auf der Zunge, aber in dem Augenblick brummte ein kleines Flugzeug über den Platz. So niedrig, daß es fast aussah, als würde es gleich die Baumwipfel berühren.

Louis winkte eifrig und rief: „Das ist Tommy! Hallo, Tommy!“

„Hör auf zu schreien, Louis“, schimpfte Manette. „Er kann dich doch nicht hören.“

Lis schaute auf. „Ich glaube auch, daß das Tommy war. Er holt bestimmt die Zeitungen.“ Sie lachte. Aus irgendeinem Grund versetzte allein der Gedanke an Tommy die Leute immer in gute Laune.

 

Verdammte Scheiße, ist die schwer, dachte Anders bei sich, während er die schwere Kiste vor die Ladentür stellte und verschnaufte. Dreimal war er schon im Hafen gewesen, um die Waren zu holen, die mit der Fähre gekommen waren. Einmal zur Morgenfähre und zweimal zur Mittagsfähre. Zum Glück war das nun die letzte Kiste. Dafür aber auch die schwerste. Oder sie war nur deshalb schwerer, weil er langsam müde wurde. Er hätte sie fast nicht vom Transportrad herunterbekommen.

Ein alter, ramponierter Lieferwagen kam herangefahren und hielt neben ihm. Das war der Inselvogt.

„Hallo, Anders“, rief er durchs heruntergekurbelte Seitenfenster. „Ist dein Vater unterwegs und liefert aus?“

Anders warf ihm einen finsteren Blick zu. Idiotische Frage. Ob der Blödkopf dachte, er würde die halbe Fährenladung auf dem Fahrrad nach Hause manövrieren, wenn das Auto da wäre?

„Ja, wolltest du was von ihm?“ fragte er. „Er ist heute draußen bei den Sommerhäusern, da wird er nicht vor einer guten Stunde wieder hier sein. Es sind ja reichlich Gäste da draußen.“

„Ich wollte nur hören, ob er immer noch an einem der Welpen interessiert ist.“

Anders schüttelte den Kopf. „Er schon, aber Mutter nicht. Deshalb wird da nichts draus.“

„Hm“, der Inselvogt rieb sich das Kinn. „Du hast nicht zufällig den alten Alfred heute schon gesehen?“

Anders nickte. „Doch, heute morgen. Und als die Mittagsfähre gekommen ist, war er bestimmt auch im Hafen, das ist er ja immer. Aber ich bin erst etwas später gekommen, deshalb habe ich ihn nicht gesehen. Jetzt ist er wohl draußen am Turm. Da ist er immer um diese Uhrzeit. Er ist ja nicht ganz richtig im Kopf.“

„Na, na, Anders. Wir werden ja alle mal alt.“

„Ja, anzunehmen.“

„Und dann werden wir vielleicht auch etwas wunderlich.“ „Damit meinst du wohl dich“, murmelte Anders, während er sich über die Kiste beugte.

„Was hast du gesagt?“

„Ich habe gesagt, das kann schon sein.“

„Genau, und dann können wir nur hoffen, daß die Jüngeren uns mit Nachsicht behandeln“, fuhr der Inselvogt belehrend fort, aber seine Worte wurden von dem Lärm verschluckt, den ein kleines Flugzeug verursachte, das plötzlich direkt über ihnen auftauchte. Der Inselvogt und Anders traten automatisch zur Seite, und einen Augenblick später landete mit einem dumpfen Knall neben ihnen auf dem Fußweg ein Bündel Zeitungen.

 

Manette und Louis kamen in halsbrecherischer Fahrt ins Dorf geschlingert.

„Lenken, Louis, lenken!“ schrie Manette, als sie fast ein Auto streiften. Der Fahrer streckte einen Arm aus dem offenen Seitenfenster und winkte ihnen zu. „O Mann, das war der Inselvogt!“ rief sie.

„Dann spring schnell ab“, sagte Louis. „Sonst kriegen wir noch eine Strafe, weil wir zu zweit auf dem Fahrrad sind.“

„Das ist ihm total egal. Guck dir nur das Wrack an, mit dem er selbst rumfährt. Wir sind doch nicht in der Stadt, du Dummkopf!“

„Nein, aber er ist doch auch so eine Art Polizist, oder?“ überlegte Louis und drehte sich dabei zu Manette um.

„Louis, du Blödmann. Paß auf! Lenken! Nein, paß auf! Halt! Halt! Haaaaalt!“

Aber Manettes Warnung kam zu spät. Das Fahrrad raste durch eine niedrige Hecke direkt in einen Garten vor einem kleinen, verfallenen Haus und landete schließlich in ein paar traurigen Johannisbeersträuchern.

„Was bist du nur für ein Schafskopf“, rief Manette, während sie versuchte, in den Büschen wieder auf die Beine zu kommen. „Ich habe doch gesagt, du sollst aufpassen.“

„Ach, wenn schon“, grinste Louis. „Das sind doch nur die Johannisbeerbüsche vom blöden Alfred.“

„Du selbst bist blöd. Wir hätten uns den Hals brechen können.“

Sie hatten sich immer noch nicht aus den Büschen befreit, als Anders auf seinem Transportrad vorbeikam.

„Hallo! Ist es nicht noch ’n bißchen früh, um Johannisbeeren zu pflücken?“ rief er grinsend, hielt an und stellte einen Fuß auf den Boden.

„Halt bloß die Klappe! Das war Louis, der Trottel.“

„Kommt Stina heute?“ fragte Anders.

„Sie hat es jedenfalls geschrieben. Wenn sie die Fähre kriegen. Und das hoffe ich wirklich, sonst sterbe ich noch vor Langeweile.“

„Ich hoffe jedenfalls, daß auch noch andere Kinder kommen. Welche in meinem Alter. Sonst sterbe ich vor Langeweile“, sagte Louis voller Inbrunst.

„Ach, und ich dachte, daß du ganz wild auf Stina bist“, ärgerte Anders ihn.

„Quatsch“, Louis wand sich ein wenig. „Sie ist zwar echt witzig, aber sie ist doch ein bißchen alt – und außerdem ist sie ein Mädchen.“

Anders und Manette zwinkerten sich über Louis’ Kopf hinweg zu. Mit den Jahren würde auch er anders darüber denken. Dann fuhr Anders wieder los. „Wir sehen uns an der Fähre, ja?“

„Na logo. Wir sind da, wenn sie kommt. Falls sie kommt. Wir müssen nur erst noch nach Hause, was essen.“

„Dann müßt ihr aber einen anderen Gang einlegen. Es sind nur noch zwanzig Minuten, bis die Fähre kommt.“

„Zwanzig Minuten!“ schrie Manette und sprang auf den Gepäckträger des Fahrrads, das Louis inzwischen aus den Büschen hatte befreien können.

„Landegestell einfahren, Klappen schließen und Sicherheitsgurte anlegen“, rief Louis. „Wir starten!“

 

Nur wenige Minuten später kamen sie auf dem Campingplatz an. Dem Fahrrad war die Tour in die Johannisbeerbüsche nicht besonders gut bekommen. Sie stellten es am Ständer beim Gemeinschaftshaus ab und liefen zu ihrem Caravan. Dort duftete es schon intensiv nach Frikadellen, und Lis war fast fertig mit Tischdecken.

„Hallo Papa“, rief Louis schon von weitem, als er sah, daß Per am Wagenende stand und Angelzeug sortierte. „Du hast versprochen, mein Fahrrad zu flicken.“

„Das habe ich vergessen. Tut mir leid, entschuldige. Aber eigentlich solltest du langsam alt genug sein, so was selbst zu machen. So ein großer Junge von zehn Jahren.“

„Ja, aber du hast versprochen ...“

„Ja, ja, ja, ich werde es auch tun. Aber du guckst zumindest zu, wie ich es mache, damit du es nächstes Mal kannst“, sagte Per. Er wandte sich ihnen zu und zeigte triumphierend einen winzigen Fisch.

„Guckt mal, was ich gefangen habe!“

Manette bedachte ihren Vater und das Fischlein mit einem höhnischen Blick. Sie war keineswegs beeindruckt, aber Louis klatschte übertrieben begeistert in die Hände.

„Wow, Papa! Hast du den selbst gefangen? Ganz allein? Was du alles kannst!“

Per lachte geschmeichelt, während Louis bewundernd weitersprach: „Das ist bestimmt der größte Wattwurm, den ich jemals gesehen habe.“

„Wattwurm“, brauste Per auf. „Hat sich was mit Wattwurm, du kleine graue Milbe. Da steht dein alter Vater im Morgengrauen auf, um Nahrung für seine hungernden Kinder zu beschaffen, und dann ...“

„Nahrung!“ rief Manette empört. „Du glaubst doch nicht, daß wir dieses eklige Würmchen, das Selbstmord begangen hat, essen wollen? So hungrig sind wir nun auch wieder nicht.“ „Ich glaube, er hat den Köder mit nach Hause gebracht“, meinte Louis zu seiner Schwester.

„Lis!“ rief Per klagend. „Lis, weißt du, daß wir ganz undankbare und schlecht erzogene Kinder haben?“

„Ja. Merkst du das jetzt erst?“

Per schüttelte den Kopf. „Dann esse ich meinen Fisch allein. Ihr verdient es gar nicht, was abzubekommen.“

Lis setzte sich. „Nein, das verdienen sie nicht, aber da ich nun schon mal Frikadellen gebraten habe, denke ich, wir sollten Gnade vor Recht ergehen lassen.“

„Wir wollen gar nichts haben“, entgegnete Manette. „Wir müssen gleich zum Hafen runter.“

„Jetzt?“ fragte Lis und reichte den Teller mit den Frikadellen zu Per hinüber. „Wollt ihr gar nichts essen?“

„Nein, die Fähre kommt doch gleich“, antwortete Manette über die Schulter. „Wir können später was essen.“ Sie ging schon los, und Louis wollte ihr gerade folgen, als er zögerte.

„Ach was, ich klau’ mir noch schnell einen Bremsklotz!“ sagte er, und einen Augenblick später starrte Per verblüfft auf seinen leeren Teller, während Louis mit der Frikadelle in der Hand zur Einfahrt lief.

 

Sie konnten die Fähre schon sehen, als sie auf die Mole kamen. Manette starrte mit zusammengekniffenen Augen raus aufs Meer. Abwechselnd erschien das Fährschiff riesengroß und dann wieder winzigklein wie ein Spielzeugschiff. Manchmal sah es aus, als läge es still, und im nächsten Augenblick war es ein ganzes Stück näher gekommen. Ihr war schon klar, daß es sich hierbei um eine optische Täuschung handelte, aber dennoch verwunderte es sie jedesmal wieder.

Auf halbem Weg zur Molenspitze wurden sie von Anders auf seinem Transportfahrrad eingeholt. Louis durfte auf der Ladefläche mitfahren, während Manette versuchte, das letzte Stück bis zum Anleger Schritt zu halten.

Dort war schon munteres Treiben. Es wimmelte nur so von Autos, Traktoren, Fahrrädern und Lieferwagen, und überall standen Menschen in kleinen Grüppchen beisammen. Einige wollten ihre Sommergäste oder Waren abholen, andere waren nur gekommen, um zu schauen. Soviel passierte ja sonst nicht auf der Insel, deshalb nahm man gern jede Abwechslung wahr, und die Ankunft einer Fähre war immer wieder ein Ereignis. Jedenfalls im Sommer. Und am Samstag erst recht.

Anders stellte sein Fahrrad ab, und gemeinsam gingen sie zum Anleger. Unterwegs kamen sie am alten Alfred vorbei, der auf seiner Bank saß und das Treiben um sich herum beobachtete.

„Hallo, Alfred!“ rief Louis, während Anders und Manette sich damit begnügten, ihm zuzunicken.

„ Ja, guten Tag auch.“Alfred grinste. „Da haben wir ja schon fast die gesamte Französische Revolution!“

Manette sah Anders an und verdrehte die Augen. „Er wird auch immer wunderlicher, oder?“ flüsterte sie und schielte über die Schulter zu Alfred hinüber.

Anders lachte. „Nee, das sind eure Namen, die wunderlich sind. Louis und Marie-Antoinette. Das ist doch auch komisch. Aber ansonsten hast du recht. Er wird wirklich immer wunderlicher. Hast du gesehen, was er da draußen am Aussichtsturm fabriziert hat? Das ist wirklich die Höhe! Er hat einen reichlichen Triller.“

Das Fährschiff näherte sich dem Anleger, und jetzt sah es zweifellos groß aus. Kolossal. Es wuchs über ihnen in die Höhe, während es an den Anleger heranglitt.

„Bin ja neugierig, ob Stina und Bengt drauf sind“, sagte Manette und spähte eifrig zur Schiffsklappe, die langsam aufglitt.

„Sieht aus wie ein Nilpferd, das gähnt“, sagte Louis.

Das erste Auto, das herausfuhr, war ein alter, rostiger Trabant, der aussah, als würde er nur noch von den Seilen und Drähten zusammengehalten, mit denen das Gepäck auf dem Dach befestigt war. Der Fahrer versuchte vergebens, ihn in Gang zu bekommen, während seine Frau und ein paar hilfsbereite Männer das Auto an Land schoben.

Anders schüttelte den Kopf. „Ach du meine Fresse, guckt euch mal den Trabi an! Was ist das denn für ein Schrotthaufen! Und dann noch aus Polen. Daß der überhaupt so weit gekommen ist.“

„Die haben ihn bestimmt den ganzen Weg geschoben“, lästerte Manette, aber dann erregte eine vierköpfige Familie ihre Aufmerksamkeit, die offenbar Fahrradferien machte.

Manette starrte sie mit offenem Mund an. Die beiden Kinder trugen sowohl Schwimmwesten als auch Fahrradhelme.

„Na, da würde ich mich ja bedanken“, rief sie und stieß Anders kichernd an. „Was ist denn das für eine witzige Familie!“

„Die sind sicher mit dem Wasserrad gekommen“, grinste Anders.

„Das sind Norwegische“, behauptete Louis.

„Das heißt Norweger“, korrigierte Manette ihn. „Woher weißt du das überhaupt?“

„Von den Flaggen“, sagte Louis. „Und ich meinte die Räder, und dann heißt es nämlich norwegische.“

„Ja, ja, ganz sicher.“ „Ob die auch auf den Campingplatz wollen?“ überlegte Louis.

„Um Gottes willen!“ stieß Manette aus. „Dann doch lieber der da.“

Sie zeigte auf einen schicken großen Volvo, der einen imposanten Wohnwagen mit Rennrädern und Surfbrettern auf dem Dach hinter sich herzog. „Da ist auch ein Junge drin, aber mit dem kannst du bestimmt nicht reden. Der ist nämlich finnisch.“

„Finnisch! Du hast ja wohl ‘n Elch im Stall!“ protestierte Louis. „Der ist doch schwedisch. Da steht ein S, und das bedeutet Schweden.“

„Nein, da steht SF“, widersprach Anders. „Und das ist Finnland.“

„Bist du nicht ganz dicht?“ Louis schüttelte den Kopf. „Finnland mit S. Du bist wirklich dumm, Anders. SF bedeutet Sch-feden.“

„Nein, du Hohlkopf! Suomi-Finnland.“

„Suomi hat doch nicht das geringste mit Finnland zu tun. Das sind Japaner. Das hab’ ich schon mal auf Video gesehen. Irgendsolche japanischen Krieger. Ha!“ endete er mit einem Karateschrei, der Manette zusammenschrecken ließ.

„Du Blödmann“, rief sie verärgert. „Das heißt nicht Suomi, sondern Samu ...“ sie unterbrach sich selbst. „Da kommen sie! Da sind sie. Da sind Stina und Bengt!“ Sie winkte wild und hüpfte begeistert auf der Stelle. „Stina! Stina!“ jubelte sie, aber das Wohnmobil rollte an ihnen vorbei, ohne daß Stina sie bemerkt hatte.

Louis stürzte ihnen nach. Bengt und Stina kamen nicht weit, ehe sie hinter dem Trabant halten mußten, der immer noch nicht ansprang.