Impressum

© 2020 Tanja Sahib

Zeichnungen: Tanja Sahib

Coverdesign und Buchlayout: BookDesigns, Potsdam

Lektorat: Karin Schwind

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7526-3061-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Urheberrecht beachten:

Alle Rechte der Wiedergabe dieses Buches zur beruflichen Weiterbildung, auch auszugsweise und in jeder Form, liegen bei der Autorin. Für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme, die Vervielfältigungen für den privaten Gebrauch, oder zum Zwecke der Unterrichtsgestaltung ist die schriftliche Genehmigung der Autorin einzuholen. Zuwiderhandlungen berechtigen die Autorin zu Schadensersatzforderungen.

Die Autorin

Tanja Sahib, Diplom-Psychologin und Systemische Traumatherapeutin, ist Mutter und Großmutter. Sie arbeitet seit zwei Jahrzehnten als Beraterin in der Beratungsstelle Familienzelt des Vereins „Selbstbestimmte Geburt und Familie“. Tanja Sahib berät und begleitet Frauen und ihre Familien vor und nach der Geburt eines Kindes.

Anregungen, Ideen und Fragen bitte an:

info@tanja-sahib.de

Hinweise

Geschlechtsneutrale Schreibweise:

Zur besseren Lesbarkeit werden in diesem Buch die Bezeichnungen „Klient“, „Therapeut“ und „Berater“ im Sinne der weiblichen und männlichen Formen verwendet.

Haftungsausschluss:

Teile des vorliegenden Buches basieren auf unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen. Daraus bestimmte Schlussfolgerungen für das eigene Handeln zu ziehen, liegt in der individuellen Verantwortung der Leser. Die Autorin übernimmt keine Haftung für eventuelle Nachteile und Schädigungen, die aus diesen Schlussfolgerungen entstehen.

Inhalt

Geleitworte von Anja Constance Gaca

Die Arbeit von Tanja Sahib begleitet mich schon mein ganzes Hebammenleben.

So wurde mir Tanja anfangs von den Berliner Kolleginnen als „der Geheimtipp“ empfohlen, wenn es darum ging, Frauen nach belastenden Geburtserlebnissen psychologisch zu unterstützen. Die anschließenden Rückmeldungen der Frauen zu Tanjas Beratungsarbeit im Familienzelt bestätigten immer wieder die guten Referenzen der Kolleginnen. Mit Tanjas Hilfe begannen Frauen auch nach sehr belastenden Ereignissen und traumatischen Geburten wieder zu heilen. Das Erlebte konnte in die eigene Lebensgeschichte integriert werden – mit stärkenden Auswirkungen auf ihr Muttersein und auch auf weitere Geburten.

Vor über 15 Jahren habe ich selbst mein erstes Kind geboren – statt wie geplant zu Hause ganz unerwartet in der Klinik aus überraschender Beckenendlage. Verbunden war diese eigentlich „gute Geburt“ mit den damals bei Beckenendlagengeburten üblichen Interventionen, wie z.B. einem routinemäßigen Dammschnitt. Dennoch sagte ich mir, dass ja doch alles ganz gut gelaufen sei, weil es eben auch viele positive Erinnerungen an diese Geburt gab und ich mich von den Hebammen eigentlich gut begleitet gefühlt habe.

Erst mit der nächsten Schwangerschaft erlaubte ich mir selbst, über diese doch an einigen Stellen so ganz anders gelaufene Geburt traurig oder auch wütend zu sein. Den Raum dafür hat mir die systemische Beratung bei Tanja gegeben, die ich nun erstmals selbst aus der Klientinnensicht erleben durfte. Durch Tanjas Impulse konnte ich bestärkt in die nächste Geburt gehen. Und sicherlich hat sich das auch auf die noch folgenden beiden Hausgeburten meines dritten und vierten Kindes ausgewirkt. Geburten sind nicht vorhersehbar und es kann immer anders kommen als gewünscht. Dennoch ist es wichtig und wertvoll, wenn die Selbstbestimmung gerade in schwierigen Situationen gewahrt bleiben kann. Wenn Eltern gut aufgeklärt entscheiden können und gerade nach schweren Verläufen gut nachbetreut werden.

Doch dafür braucht es genügend Personal, das die werdenden Eltern unter der Geburt entsprechend begleiten kann. Es muss nicht immer der völlig unerwartet kommende Notkaiserschnitt sein, den werdende Eltern als traumatisch erleben. Es kann auch das zeitweise Gefühl des Alleingelassenwerdens sein, weil die Hebamme für mehr als eine Frau unter der Geburt gleichzeitig zuständig war. Noch immer sind wir in den Kreißsälen weit entfernt von einer wirklich verlässlichen 1:1-Betreuung für alle Frauen.

Und selbst unter vermeintlich idealen Bedingungen kann das Geburtserleben eine Frau so überrollen, dass sie sich anschließend von Angst, Trauer, Wut oder auch Schuldgefühlen überwältigt fühlt. Hinzu kommt, dass jede Frau mit ihrer ganz eigenen Geschichte und ihren bisher gemachten Erfahrungen in diese doch so wenig planbare Lebensphase rund um die Geburt hineingeht. Manchmal vertrauen uns die Frauen ihre Geschichten an. Manchmal ist es vielleicht schwer nachvollziehbar, warum eine Situation als so belastend erlebt wurde.

Um auch in der Hebammenarbeit diesem Umstand gerechter werden zu können, habe ich vor gut zehn Jahren bei Tanja Sahib die Fortbildung für systemische Familienberatung gemacht. Hier habe ich vor allem gelernt, die Situation der Frau anzuerkennen und aktiv zuzuhören, ohne immer gleich in zu viel Aktionismus zu verfallen. Denn auch wenn wir die Frauen auf ihrem Weg begleiten, schaffen sie es vor allem aus eigener Kraft aus der Krise zu kommen. Um sie dabei zu unterstützen, hat uns Tanja in der Fortbildung einen wunderbaren Schatz an systemischen Werkzeugen an die Hand gegeben. Diese sind neben dem umfangreichen theoretischen Hintergrundwissen auch in diesem Buch zu finden – erklärt an zahlreichen Beispielen aus dem praktischen Beratungsalltag. Die Fallbeispiele zeigen, wie individuell und auch wie langanhaltend belastend Situationen rund um die Geburt von den Betroffenen wahrgenommen werden. Und sie zeigen vor allem, wie und mit welchen Schritten das Geburtserlebnis irgendwann gut in die eigene Lebensgeschichte integriert werden kann.

Später in meiner Weiterbildung zur Familienhebamme erlebte ich Tanja Sahib erneut als wunderbare Ausbilderin. Die riesige praktische Erfahrung mit so vielen Müttern, Vätern und Familien in belasteten Situationen rund um die Geburt machen Tanjas Arbeit als Dozentin, aber auch als Buchautorin so wertvoll. Genau diese Stärke zieht sich auch durch dieses wertvolle Buch. Tanja wird fehlen in der aktiven Beratungsarbeit mit den Eltern. Doch mit diesem Buch und ihrer fortgeführten Tätigkeit als Dozentin wird ihr Wissen weiterhin für die Familien da sein. Allen Fachpersonen, die rund um die Geburt tätig sind, kann ich es ebenso wie die zwei vorhergehenden an Eltern gerichteten Bücher nur empfehlen.

Liebe Tanja, ich danke Dir – als Mutter und als Hebamme – für Deine Arbeit, die meinen persönlichen und beruflichen Weg maßgeblich geprägt hat.

Mein Leben in wachsenden Ringen…1

Liebe Leserin und lieber Leser,

mit diesem Buch schließt sich für mich ein Lebenskreis. Schon als junge Frau arbeitete ich als Erzieherin mit Säuglingen und Kleinkindern. Kinder sind großartig. Sie sind die besten Experten für Gefühle und haben einen unbändigen Willen zu wachsen, zu lernen und nie aufzugeben. Eltern lieben ihre Kinder und tun für sie alles, was in ihrer Macht steht. Dennoch beobachtete ich in den 80er Jahren, als ich ein Säuglings-Wochenheim leitete, dass es manchen Eltern nicht gelang, ausreichend gut für ihre Kinder zu sorgen. Ich nahm die Gelegenheit wahr, mich weiterzubilden und mein theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen. Am Ende meines beruflichen Lebensweges begleite ich noch immer Eltern mit Säuglingen. Nun ist die Zeit gekommen, meine Erkenntnisse und meine Erfahrungen weiterzugeben.

Damals begegneten mir Babys und Kleinkinder, deren Bedürfnisse nach Nahrung, Nähe und Sicherheit nicht ausreichend gestillt wurden. Es war eine Zeit, in der die Angestellten staatlicher Institutionen nicht lange zusahen, wenn ein Säugling schlecht ernährt oder unzureichend gepflegt wurde. Im ersten Schritt wurden deren Eltern in meinem Berliner Stadtbezirk verpflichtet, ihre Babys und Kleinkinder in das Wochenheim zu geben, das ich damals leitete. Von den achtzig Kindern, die meine Einrichtung besuchten, wurden siebzig Kinder morgens gebracht und nachmittags abgeholt – wie in einer ganz normalen Kinderkrippe. Ungefähr zehn Kinder blieben von Montag bis Freitag auch über Nacht bei uns. Es waren einige Kinder von Straßenbahnfahrerinnen oder Flugbegleiterinnen dabei, denen es auf diese Weise ermöglicht wurde, im Schichtdienst zu arbeiten oder in fremden Ländern zu übernachten. Doch auch die unzureichend versorgten Kinder blieben über die Woche bei uns. So war gesichert, dass die Kinder an den Wochentagen gut genährt, gepflegt und meist auch geliebt wurden. An den Wochenenden nahmen die Eltern ihre Kinder mit nach Hause.

Leider führte dieser pädagogische Ansatz von Kontrolle und Druck nicht dazu, dass die Kinder an Samstagen und Sonntagen gut versorgt wurden. Ich habe Babys am Montagmorgen gesehen, die noch die gleiche Windel trugen, die wir am Freitagabend umgebunden hatten. Fast alle Kinder dieser Eltern, denen es an mütterlichen und väterlichen Kompetenzen aufgrund ihrer eigenen Probleme mangelte, kamen früher oder später in das „Dauerheim“ unseres Berliner Stadtbezirkes. Es schien damals, als sei der Prozess der Vernachlässigung nicht aufzuhalten, doch das konnte und wollte ich nicht akzeptieren.

Diese Erfahrung hat mich nachhaltig geprägt und motiviert, mein Abitur auf der Abendschule zu erringen und ein Studium am Wundt-Institut der Universität Leipzig, Fachrichtung Kleinkindpsychologie, zu absolvieren. Sie stärkte mich in meiner Haltung, dass der beste Kinderschutz darin besteht, die Eltern zu schützen und zu unterstützen. Ich nahm mir vor, Mütter und Väter so zu begleiten, dass sie ihre eigenen Krisen überwinden können, um somit ihre elterlichen Kompetenzen zu stärken. In diesem Sinne arbeitete ich in den letzten zwei Jahrzehnten in der Beratungsstelle Familienzelt des Vereins Selbstbestimmte Geburt und Familie in Berlin. Hinter mir liegt eine Zeit voller intensiver Beratungsgespräche und gelungener begleiteter Veränderungsprozesse.

Als ich in den 90er Jahren meine systemische Ausbildung am Norddeutschen Institut für Kurzzeittherapie (NIK) in Bremen absolvierte, war ich fasziniert von dem systemisch-lösungsorientierten Ansatz der Kurztherapie. Mir gefiel, dass die Fragen oder Interventionen, die wir erlernten, sehr schnell unsere Klienten befähigen, ihr Leben auf positive Weise zu verändern. Am meisten beeindruckte mich, dass ich mich nicht als Expertin für das Leben anderer fühlen musste, sondern mich eher als eine Wegbegleiterin verstehen durfte. Alle Verantwortung für das eigene Leben blieb bei den Klienten. Diese Freude an dem Begleiten von Veränderungsprozessen hält bis heute an. Vielleicht gelingt es mir mit diesem Buch, meine Begeisterung Kolleginnen und Kollegen zu vermitteln, die Schwangere und Eltern von Säuglingen und Kleinkindern beraten oder therapeutisch begleiten.

Meine systemische Sichtweise unterscheidet sich nicht von anderen Systemikerinnen und Systemikern. Das systemische Denken und Handeln bedeutet gleichzeitig professionell auf Probleme zu schauen und lösungsorientiert die Autonomie unserer Klienten zu fördern. Dazu gehört, die Perspektiven anderer zu respektieren und ihnen zuzutrauen, dass sie ein riesiges Potential an Veränderungsenergie besitzen. Wir Systemiker unterstützen die Suche nach passenden Lösungen und erweitern unorthodox die verschiedenen Möglichkeiten auf dem Weg zur Lösung.

Es gab Klienten, bei denen ich mit meinem systemischen Rüstzeug an Grenzen gestoßen bin. Das ist vor allem dann passiert, wenn Klienten in einer vergangenen Situation feststeckten und deshalb nicht in der Lage waren, meinem Tempo zu folgen. Die systemische Therapeutin in mir möchte mit den Klienten lösungsorientiert vorwärts stürmen und mit ihnen eine schönere Zukunft ausmalen. Dabei ist es mir so manches Mal passiert, dass ich in meiner Begeisterung zu spät bemerkte, dass die Mütter oder Väter zurückblieben. Sorgenvoll steckten sie noch in der Vergangenheit. Mir wurde im Laufe der Zeit immer klarer: Erst wenn wir im „Hier und Jetzt“ sind, können wir uns Gedanken über die Zukunft machen.

Ich schloss zwei Ausbildungen als Traumatherapeutin ab, bei denen ich vor allem die therapeutischen Geschwindigkeiten interessant fand. Im Trauma-Zentrum Berlins beschäftigte ich mich mit einem ressourcenorientierten traumatherapeutischen Ansatz, bei dem ich mich als Systemikerin zuhause fühlte. Nach Ressourcen suchen – das konnte ich. Der Ansatz, Ressourcen als Kraftquellen bei der Bewältigung belastender Lebensereignisse zu nutzen, sprach mich an. Im Trauma-Institut Berlin erlernte ich die EMDR-Methode, die sehr schnell traumatische Belastungen aufdeckt und über bifokale Bewegungen, z. B. der Augen auflöst. Das Tempo war rasant, davon war die lösungsorientierte Therapeutin in mir anfangs begeistert. Doch mit zunehmender Erfahrung wurde mir vor allem eines immer deutlicher: Zu einer guten therapeutischen Beziehung gehört neben Akzeptanz, Vertrauen und kreativer Methoden das Erkennen und Achten der Veränderungsgeschwindigkeiten der Klienten. Das gilt für systemische wie auch für traumatherapeutische Begleitungen.

Im Laufe meiner beruflichen Erfahrungen wurden meine Interventionen immer bedächtiger. Ich nahm mir Zeit für die Gedanken, die gerade Raum brauchten, tastete mich behutsam voran und würdigte auch die minimalsten Schritte der Klienten: Die Systemikerin in mir stellt begeistert gute Fragen oder schöpft aus ihrem kreativen Pool der systemischen Methoden. Meine traumatherapeutische Seite achtet gleichzeitig darauf, dass Menschen in Krisen, gerade zu Beginn einer neuen Lebensphase wie Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, einen vorsichtigen Blick zurück wagen können. Dies kann nur in einem sicheren Raum und mit schützenden Personen geschehen.

Aufgrund des phänomenalen aktuellen Ereignisses, wie die Geburt eines Kindes, wird die Vergangenheit neu beleuchtet. Die Erfahrung, zurück auf schmerzhafte Erlebnisse zu blicken und sich dabei in einem Beratungskontext aufgehoben zu fühlen, ist heilend. Zunehmende Stabilität verleiht den Menschen die Fähigkeit, Krisen zu überwinden und sie als Chance zu Wachstum zu begreifen. Erst dann gelingt es, zuversichtlicher in die Zukunft zu schauen und bereit zu sein für all das Neue, das diese Lebensphase rund um die Geburt eines Kindes mit sich bringt.


1 Rilke, 1899, online

Teil I
Lebensübergänge

1. Rituale

Ich beginne dieses Kapitel mit einem Einblick in die Kraft der Rituale, die Lebensübergänge symbolisieren. Danach versuche ich einen ersten Einblick in das bewusste Kreieren von Übergangsritualen zu geben. Am Ende dieses ersten Teils erzähle ich die beeindruckende Geschichte von Frau D., der es gelang, sich mittels eines nachinszenierten Geburtsrituals an die traumatische Geburt ihres ältesten Sohnes zu erinnern, um sie zu betrauern und zu integrieren.

Rituale gibt es seit Menschengedenken. In jeder Gemeinschaft haben sich bestimmte formale verbindende Verhaltensweisen entwickelt, die sich bei bestimmten Anlässen immer wieder wiederholen. Als Rituale werden gemeinsam entwickelte Zeremonien bezeichnet, die mittels eines bestimmten Vorbereitungsprozesses und Ablaufes und unter Verwendung von Symbolen Halt und Orientierung vermitteln. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – Rituale vermögen es, diese Zeitformen miteinander zu verknüpfen. Es ist interessant, wie umfangreich und unterschiedlich Rituale aus verschiedenen Blickwinkeln, z. B. seitens der Religion, der Anthropologie oder der Familientherapie, erklärt werden.

Rituale umfassen folgende Aspekte2:

Durch Rituale, die Übergänge symbolisieren, gelingt es den Menschen, ihr Leben und die sie umgebende Welt mit allen Sinnen zu begreifen. Das können zum Beispiel die Übergänge von Jahreszeiten sein, wie die Sommer- oder Wintersonnenwende. Es können aber auch bestimmte Feste sein, die die Kraft der Gemeinschaft stärken, wie zum Beispiel Erntefeste.

In jeweiligen kulturellen Kontexten stützen sich Menschen auf jahrelange Traditionen. Bestimmte Abläufe sind fest verankert und in diesem Prozess für fast alle Menschen in der Gemeinschaft ähnlich definiert. Ein jahreszeitliches Übergangsritual in unseren Breitengraden wird zum Beispiel durch das Weihnachtsfest symbolisiert. Rund um die letzten Dezembertage beginnt die Zeit, in der die Nächte wieder kürzer werden. Ursprünglich aus dem heidnischen Wintersonnenwendefest hervorgegangen, kennen wir es in Europa seit vergangenen Jahrhunderten als das christliche Weihnachtsfest, an dem die Geburt Jesus gefeiert wird. Wir alle bereiten uns darauf vor: Es werden heimlich Geschenke gekauft, Plätzchen gebacken, ein Baum gefällt und geschmückt. Es gibt viele vorbereitende Konzerte in Schulen und in Kirchen, die auf dieses Fest einstimmen. Das eigentliche Ritual ist dann das Weihnachtsfest am Heiligen Abend und an den beiden Feiertagen. Es wird in jeder Familie etwas anders gefeiert, hat aber in der jeweiligen Familie einen bestimmten rituellen Ablauf. Das Fest wird nachbereitet, indem die Geschenke ausgepackt und in Besitz genommen werden und der Baumschmuck vorsichtig abgenommen und verstaut wird. Die Nächte werden kürzer und die Tage wieder länger.

Demnach sind Rituale meist kulturell eingebundene Handlungen, die den Zusammenhalt einer Gruppe fördern und dadurch dem Einzelnen in der Gemeinschaft Sicherheit geben.

Ein Ritual vermittelt eine bestimmte Struktur3:

Zuerst gibt es die Zeit, in der das Ritual vorbereitet wird. Van Gennep spricht von einer Trennungsphase, in der ein Abschied von bisher Vertrautem erfolgt. Es werden innerhalb der Gemeinschaft vorbereitende Kenntnisse über das spezielle Ritual weitergegeben und die Rahmung der folgenden Zeremonie besprochen. Dann folgt die eigentliche feierliche Handlung, die Übergangsphase genannt wird. In dieser Phase erfahren sich die Menschen durch die Teilnahme an dem Ritual neu. Sie übernehmen neue Rollen und Identitäten. In der dritten Phase, der Reintegration, wird das Fest nachbereitet.


2 Roberts, 1995, S. 21

3 van Gennep, 1986, S. 12

2. Rituelle Rahmungen von Lebensübergängen

Im menschlichen Leben gibt es Abschnitte, in denen beeindruckende Veränderungen stattfinden. Geburt, Schuleintritt, Beginn der Berufsausbildung, Hochzeit etc. – Rituale können diesen Verwandlungen einen schützenden Rahmen geben. Sie ermöglichen die Trauer des Abschieds von einer alten Lebensphase, geben Sicherheit und symbolisieren die Vorbereitungen auf kommende Veränderungen.

Wir kennen hier im Berliner und Brandenburger Raum die Einschulungsfeiern mit großen Zuckertüten. Es ist unausgesprochen und doch für alle ähnlich, dass die Eltern mit Schultüte und Familienfeier ihre Kinder auf die Schule einstimmen. So wird für jedes Kind deutlich symbolisiert: „Jetzt beginnt für mich und meine Familie ein neuer Lebensabschnitt.“ Die Zuckertüte und der neue Schulranzen sind Symbole einer Initiation der Kinder in die Gemeinschaft der Schulkinder. Sie sind nun keine Kindergartenkinder mehr, sondern gehen zur Schule. Sie erleben Trauer um den Abschied von ihren alten Freunden und Erziehern aus der Kindergartenzeit, Angst vor dieser großen Veränderung, aber auch freudige Erwartung auf das Neue. Auf diese Weise integrieren die Kinder die Veränderung dieser Lebensphase in ihre eigene Biografie.

Gehe ich in diesem Buch auf die Geburt eines Menschen ein, möchte ich zuerst über das natürliche Sterben am Ende eines Lebens nachdenken. So wie Geburt der erste Übergang des Lebens ist, so ist Sterben der letzte im menschlichen Leben. Da das inzwischen immer weniger zuhause und im Kreise der Familie geschieht, kann der Verstorbene häufig nicht von seinen Lieben auf den letzten Metern seines Lebensweges verabschiedet werden. Früher verlief die Sterbebegleitung ritualisiert: Die Verwandten wurden herbeigerufen. Der Sterbende lag in seinem vertrauten Bett, Kerzen wurden angezündet, Lieder wurden gesungen und die Familienmitglieder unterhielten sich leise über vergangene Epochen miteinander und verabschiedeten sich auf diese Weise. Nachbarn brachten Essen, damit die Familie Zeit und Kraft für diese Wegbegleitung hatte. Selbst wenn der Verstorbene „gegangen“ war, blieben die Hinterbliebenen noch Stunden bei ihm und öffneten die Fenster, damit die Seele „hinausfliegen“ konnte. Die ritualisierte Form erlaubte, den erlittenen Verlust gemeinsam auszudrücken, um sich im Leid beizustehen.

Rituale wandeln sich. Da inzwischen weniger zuhause und im Beisein der nahestehenden Verwandten gestorben wird, bekommt die Trauerfeier rund um die Beerdigung die eigentliche rituelle Bedeutung. Es wird in einer Rede an den Verstorbenen gedacht. Musik, die er mochte, wird gespielt. Alle schauen auf eines der letzten Fotos und auf den Sarg oder die Urne. Nach der Trauerfeier begleiten Freunde und Bekannte die Angehörigen, den letzten Abschied an der Grabstelle in Gemeinschaft zu begehen. Die Beerdigung als Abschiedszeremonie übernimmt den kraftvollen Vollzug der Veränderung des Lebens für alle Beteiligten. Das ist notwendig, bevor die Menschen bereit sind, etwas Neues und Hoffnungsvolles in ihr Leben zu lassen. Die Rahmung des Rituals gibt der Trauer Raum und lässt sie mit Unterstützung der Gemeinschaft sicher erleben.

Es ist ermutigend, zu wissen, dass rituelle Handlungen bei Lebensübergängen für fast alle Menschen im eigenen Kulturkreis ähnlich sind. Sie ermöglichen, dass sich der Einzelne aufgehoben fühlt. Durch die Struktur der Rituale gelingt es, die Widersprüche zwischen scheinbar unvereinbaren Gefühlen, wie Trauer/Freude und Angst/Mut auszudrücken und aufzulösen. Durch den derzeitigen Pluralismus und Individualismus in den westlichen Gesellschaften sind Rituale weniger verbindlich. Die Menschen sind vor die Aufgabe gestellt, eigene Rituale zu finden und zu verabreden. Auf der Suche nach dem für sie passenden Ritual müssen sie sich aktiv mit der zu bewältigenden Lebensphase auseinandersetzen, um ihren neuen Status in der Gemeinschaft zu finden. Ich erinnere mich an eine Familie, für die weder Konfirmation noch Jugendweihe als Initiationsritual ins Erwachsenenleben stimmig war. Sie erfanden eine Zeremonie zur Einführung ihres Sohnes in den Kreis der Erwachsenen. Die Familie verabredete sich an einem kleinen See im Norden Berlins und der vierzehnjährige Sohn stieg mit dem Vater und dem großen Bruder ins Wasser. Sie schwammen auf das andere Ufer zu. Die anderen Familienmitglieder gingen in dieser Zeit um den See herum und begrüßten den ankommenden Sohn als Erwachsenen. Es folgte ein großes Picknick am See.

Zusammenfassung:

Rituale ermöglichen eine aktive Auseinandersetzung mit den Wandlungen im Leben eines Menschen. Gemeinschaftliche rituelle Zeremonien sind Handlungen, die vorher verabredet wurden, die zusammen nach bestimmten Regeln durchgeführt werden und die durch den hohen Symbolgehalt dem Einzelnen Sicherheit und Trost geben. Die dabei verwendeten Symbole helfen, auch manchmal schwierige Übergänge zu bewältigen. Auf diese Weise erfolgt eine Initiation, eine Einladung in eine andere Art von Gemeinschaft.

3. Geburt – der kraftvollste Lebensübergang

Das Leben aller Menschen, die Anteil an einer Geburt haben, verändert sich. Ein Kind kommt auf die Welt – unberührt und vollkommen. Es beginnt sein eigenes Leben. Alle Beteiligten spüren, dass es kaum etwas Wichtigeres und Tiefgreifenderes gibt als diesen magischen Moment. Frau und Mann werden zu Eltern. Die Generation davor wird Großmutter und Großvater, Geschwister der Eltern werden Onkel und Tanten. Kinder gewinnen ein Geschwisterchen dazu.

Die Vorbereitungszeit ist das Wachsen des Ungeborenen im Mutterleib. Alles im Körper der Frau bereitet sich auf diese Veränderung vor. Auch die Gedanken der Eltern verändern sich. In dieser Trennungsphase von dem alten Leben tauchen bei den werdenden Eltern ambivalente Gefühle auf. Neben der Freude auf das Kind fühlen sie Trauer um ihr bisheriges selbstbestimmtes Leben und Angst vor dem Neuen. Die Mutter lernt das Kind in ihrem Bauch kennen und vielleicht auch schon lieben. Sie spürt seine Bewegungen und kommuniziert mit dem Ungeborenen, in dem sie die Hand auf den Bauch legt. Der Vater bekommt, viel intensiver als früher, ebenfalls die Chance, sich auf die Geburt des Kindes einzustellen. Das Betrachten der Ultraschallbilder unterstützt die Erkenntnis, dass im Bauch der Frau ein reales Wesen wächst und gedeiht. Es gibt in manchen Gegenden kleine Feste, bei denen Schwangere miteinander und mit ihren Freunden feiern, um sich auf das veränderte Leben einzustellen.

Ein Kind wird geboren. Die Geburt kennzeichnet als Übergangsritual, dass sich alles verändert. Glücklicherweise erleben die meisten Frauen die Geburt ihres Kindes als eigene kraftvolle Leistung. Die Eltern begrüßen das Kind. Das ist ein zutiefst archaischer Prozess, der vorher kaum gedanklich vorweggenommen werden konnte. Diese Begrüßungszeremonie des neuen Wesens in der familiären Gemeinschaft findet sich in ähnlicher Weise bei den meisten Säugetieren: Eine Stute dreht sich nach der Geburt um und schaut ihr Fohlen intensiv an. Sie erkennt es als ihr Junges. Erst dann nimmt das Tier Kontakt auf und stubst es an. Sie fördert die Atmung ihres Jungen, indem sie die Nase und allmählich den ganzen Körper leckt. Sie unterstützt ihr Fohlen aufzustehen, um erste Milch zu saugen. Traglinge, wie die Affen und auch wir Menschen, brauchen ebenfalls diesen Moment des Sehens und Fühlens, bis wir das Kind als das eigene erkennen, es aufnehmen und dicht an unserem Körper tragen.

Viele kleine unbewusste Augenblicke, wie das intensive Schauen in die Augen, das Ansehen jedes Körperteils und das Berühren und Halten des Kindes erleben die Eltern zum ersten Mal. Doch tun sie es ähnlich wie alle anderen Eltern seit Menschengedenken. Sie erkennen dieses Kind als ihr Eigenes. Sie nehmen es hoch, tragen es und verspüren das Bedürfnis, es sofort an die Brust zu nehmen und zu nähren.

In diesem Moment werden nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern geboren. Es ist ein Übergangsritual, die Initiation von der Frau zur Mutter, von dem Mann zum Vater. Sie werden in die Gemeinschaft aller Eltern aufgenommen. Ein Vater – sein Sohn war erst zwei Wochen alt – fragte mich kürzlich: „Hört das wieder auf? Ich sehe mein Kind an und bin so angefüllt von Liebe, aber auch von Sorge um den Kleinen.“ Lächelnd antwortete ich: „Das hört nie auf, egal wie alt wir Eltern werden.“

Für einige Eltern verläuft dieser archaische Prozess jedoch ganz anders: Die heutige Geburtskultur kann dem natürlichen Beginn des Lebens nicht immer gerecht werden. Durch Vorgaben und Richtlinien in den Geburtskliniken, die vor allem auf das Überleben von Mutter und Kind gerichtet sind, kann das wichtige Begrüßen des Kindes gestört werden. Die allererste Kontaktaufnahme über die Sinne – Augen, Nase, Ohren und Haut – kann vielleicht nicht sofort nach der Geburt stattfinden. Es ist ein extrem sensibler Moment. Spüren alle an der Geburt Beteiligten die Lebensgefahr von Mutter und Kind, liegt die Frau nach einer operativen Beendigung der Geburt in Narkose oder erleben die Eltern etwas, was sie traumatisiert, ist es ihnen nicht möglich, das Kind auf natürliche und schöne Weise begrüßen.

Der Nachhall von Lebensgefahr rund um die Geburt oder dem sich Ausgeliefertfühlen verhindert für diese Eltern das Ankommen in der neuen Lebensphase als Mutter oder Vater. Ein Kind wurde geboren, ist glücklicherweise in den meisten Fällen vital und lebenshungrig, aber die betroffenen Eltern sind seit der Geburt von ihren Gefühlen abgeschnitten. Die Geburt ist vorbei, aber sie stecken noch fassungslos mittendrin. Die Zeit ist für sie stehen geblieben.

Es gibt Rituale, die verlorene Nähe nachholen und traumatische Ereignisse bewältigen lassen. Ein Willkommensfest für das Kind kann die Zeitrahmen von Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpfen.

Zusammenfassung:

Geburt und Sterben sind die markantesten Übergänge im Leben eines Menschen. Werden diese Prozesse irritiert oder gestört, können nachträgliche Zeremonien wie Willkommensfeiern oder Beerdigungen den rituellen Rahmen für die notwendigen Umwandlungen aller beteiligten Menschen herstellen.

4. Willkommenszeremonie – das heilsame Übergangsritual

Es gibt verschiedene Willkommenszeremonien. In meinem ersten Buch „Es ist vorbei – ich weiß es nur noch nicht“ stelle ich drei Rituale vor: das Baderitual, das Begrüßungsritual und ein tatsächliches Willkommensfest. Hier nur zwei von den dreien4:

1. Begrüßungsritual – das erste Mal nach Hause kommen!

Halten Sie ihr Baby im Arm und gehen Sie vor die Tür. Treten Sie mit ihm bewusst über die Schwelle und gehen Sie langsam mit ihm durch alle Räume. Zeigen Sie ihm alle Ecken und Winkel und erzählen Sie dabei, wie lange Sie hier schon wohnen und was Ihnen an Ihrem Zuhause gefällt.

Erklären Sie Ihrem Baby, wie es für Sie war, in der Zeit der Schwangerschaft und Vorfreude ein Nest zu bauen, in dem Sie sich sicher und geborgen fühlen. Lassen Sie Ihr Kind daran teilhaben. Zeigen Sie die Fenster, durch die die Sonne zu bestimmten Tageszeiten herein scheint und wo jeder schläft. Beschreiben Sie die Bilder an den Wänden und was sie bedeuten. Erzählen Sie kleine Episoden über schöne Erlebnisse in den verschiedenen Räumen.

Machen Sie Ihrem Baby deutlich, dass es ab jetzt dazu gehört!

2. Das Baderitual

Baden Sie gemeinsam mit dem Baby. Legen Sie sich anschließend mit nacktem Oberkörper ins Bett und lassen Sie sich das Baby auch nackt und nass auf Ihre Brust legen, so, wie Sie es sich nach der Geburt gewünscht haben.

Holen Sie gemeinsam das verpasste Erlebnis der ersten Kontaktaufnahme mit ihrem Baby nach! Stellen Sie sich vor, dass dies Ihr erstes Kennenlernen ist! Nehmen Sie sich in Ihrem Bett Zeit und Ruhe zum Kuscheln mit Ihrem Baby und stellen Sie sich vor, dass Sie auf diese Weise verlorene Nähe nachholen! Decken Sie sich und das Baby gut zu und erzählen Sie ihm, wie die Geburt verlaufen ist. Dann erzählen Sie Ihrem Kind, wie Sie es sich gewünscht hatten und wie traurig und enttäuscht Sie waren, weil alles ganz anders gekommen ist.

Manche Frauen weinen dabei. Das ist okay. Die Tränen werden bald versiegen und Sie werden die Situation immer mehr genießen.

Sie holen den Moment des ersten ungestörten Kontaktes mit dem Baby nach! Spüren Sie, wo sich Ihre Haut berührt und schnuppern Sie an Ihrem Kind. Schauen Sie Ihrem Baby in die Augen, betrachten Sie die Form der Ohren und der Nase. Zählen Sie die Finger und Zehen.

Was brauchen Sie noch an inniger Berührung, damit sich die lang ersehnte Verbundenheit einstellen kann?

Haben Sie das Gefühl, dass Sie noch mehr Zeit brauchen, wiederholen Sie das Baderitual.

Fürchten Sie sich vor diesem Ritual, weil Ihre Traurigkeit noch zu groß ist, nutzen Sie einfach schöne und geschützte Momente für eine vorsichtige Annäherung!

Rituale müssen zu den jeweiligen Familien passen, es sollte deren Ritual sein. Mir fällt die Geschichte einer Frau ein, die ich vor einigen Jahren begleitete. Ihr Kind wurde nach starken Blutungen, nur 500 g leicht, in der 26. Schwangerschaftswoche geboren. In unseren Gesprächen stellten wir fest, dass die Mutter bis heute nicht realisieren konnte, dass Liv geboren war, obwohl sie neben ihr lag. Das reale Kind, das sie liebevoll versorgte und mütterlich begleitete, war nicht das, das aus ihrem Bauch geboren wurde. In den dramatischen Stunden rund um die Geburt ging alles viel zu schnell. Als die Geburtshelfer der Mutter das winzige Kind auf die Brust legten, dachte sie spontan: „Kann das wirklich leben oder ist es besser, es überlebt nicht?“ Die kleine Tochter zeigte einen starken Lebenswillen. Sie atmete, trank und wuchs. Ihr ging es immer besser. Doch der Mutter ging es nicht gut. Sie warf sich ihre allerersten Gedanken nach der Geburt vor und entwickelte eine anhaltende Traurigkeit im ersten Lebensjahr von Liv. Ich fragte die Mutter, ob ein Willkommensritual ihr helfen würde, das Geschehen rund um die Geburt zu verstehen. Sie antwortete, dass sie das Baderitual für sich nicht passend findet, aber irgendwie müsste es auch mit Wasser zu tun haben. Ich fand das interessant und erzählte, dass in vielen Religionen bei Übergangsritualen Wasser benutzt wird. Die Hindus reinigen sich im für sie heiligen Fluss Ganges. Bei der urchristlichen Religion der Mandäer5 steigen die Gläubigen bei Lebensübergängen ins Wasser. Selbst bei den Christen in Europa werden die Kinder mit Wasser getauft. Nachdenklich sagte sie: „Meine Tochter könnte aus dem Meer zu mir kommen, wie die Venus bei Sandro Botticelli.“ Ich bestärkte sie in diesem Gedanken und bat sie, gemeinsam mit ihrem Partner über eine für sie passende Zeremonie nachzudenken. Die Familie fuhr an dem ersten Geburtstag der Tochter an die Ostseeküste. Der Vater setzte Liv am Ufer ab, die Mutter breitete die Arme aus und Liv kam aus dem Meer zu ihrer Mutter.

Mit diesem Ritual war es für die Frau möglich zu realisieren, dass die Geburt vorbei ist und Liv überlebt hat. Dieser Moment war sehr heilsam für die Frau. Die Familie ist übrigens an den nächsten Geburtstagen der Tochter immer wieder ans Meer gefahren.

Zusammenfassung:

Rituale besitzen die Kraft, auch nachträglich wichtige Übergänge im Leben der Menschen zu markieren. Mit der Handlung – Baden, Kuscheln, dem Kind die Wohnung zeigen, sich bei Gästen für die Unterstützung bedanken – wird die Bedeutung des Erlebten rund um die Geburt anders wahrgenommen. Notwendige Gefühle zur Akzeptanz der Veränderung, wie z.B. Wut oder Trauer, finden erst jetzt ihre Würdigung.


4 Sahib, 2016, S. 92-97, S. 210

5 Mandäer (von aramäisch manda, Erkenntnis) – monotheistische Religionsgemeinschaft nach Johannes dem Täufer, mit etwa 100.000 Anhängern auf der ganzen Welt. Anders als bei der christlichen Taufe durchleben Mandäer mehrmals im Leben das Reinigungsritual – so zum Beispiel fünf Wochen nach der Geburt und auch bei der Hochzeit.

5. Klettern – das nachgeholte Willkommensritual

Häufig sind es äußere Ereignisse, die verdrängte Erinnerungen wecken. Im Fall von Frau D. war es ein Zeitungsartikel in der Berliner Zeitung über unsere Beratungsstelle, in dem es um die Bewältigung traumatischer Geburtserfahrungen ging.6 Frau D. ist 45 Jahre alt und hat drei Kinder im Alter von zweiundzwanzig, zwanzig und vierzehn Jahren. Roman, der Älteste hat das Gymnasium mit guten Noten abgeschlossen und will studieren. Als das Studium beginnt, zieht er aus. Die Mutter hält es kaum aus, dass der Sohn in einer Wohngemeinschaft in der Nähe der Universität lebt und nicht mehr jeden Tag nach Hause kommt. Sie ruft ihn mehrmals täglich an und erkundigt sich danach, wie es ihm geht. In unserem ersten Gespräch sagt sie, auch wenn sie sich vornehme, nicht anzurufen, würde etwas in ihrem Inneren sie dazu drängen. Sie müsse es tun.

Begleitung von Frau D., erster E-Mail Kontakt bis zum vierten Gespräch

Nach dem Lesen des Zeitungsartikels geht es Frau D. plötzlich sehr schlecht. Sie schreibt deshalb eine E-Mail an unsere Beratungsstelle: „Das Lesen dieses Artikels hat die Geburt wieder aufgewühlt, aber ich fühle, dass das nötig ist. Mein Sohn ist heute schon zweiundzwanzig Jahre alt und dennoch ist es noch nicht vorbei.“

Ich schreibe ihr zurück, dass ich es sehr mutig finde, sich nach so vielen Jahren dem Schmerz rund um die Geburt zu stellen. Ich erwähne, dass Geburtsberichte 30 Jahre lang aufgehoben werden müssen und sie immer noch die Berichte der Geburten ihrer Kinder anfordern könne.

Einen Monat später antwortet sie: „Ich habe die Geburtsberichte meiner drei Kinder angefordert. Es gibt nur noch die Geburtsprotokolle, nicht die Akten, die die zeitlichen Abfolgen darstellen. Dabei würde mir das gerade bei Romans Geburt sehr helfen, da ich mich an vieles nicht erinnern kann.“

Sie ist sehr aufgewühlt. Viele Jahre hatte sie verdrängt, wie schlimm die Geburt ihres ersten Sohnes war. Nun ist die ganze Geschichte wieder hochgekommen. Frau D. bittet um ein Gespräch in unsere Beratungsstelle, obwohl ihr Sohn schon erwachsen ist.

Zu unserem ersten Termin erscheint eine zarte, gepflegte Frau im mittleren Alter, sehr blass und angespannt. Frau D. hatte bisher nicht über die Geburt sprechen können, obwohl diese schon zwei Jahrzehnte zurücklag. Um möglichst wenig Schmerz zu spüren und stark zu sein, hatte sie in den letzten zwanzig Jahren das traumatisierende Ereignis nicht mehr erwähnt. Sie fragt mich, was die Begleitung leisten könne. Ich antworte, dass wir vergangene Schmerzen oder Verluste nicht rückgängig machen könnten, aber das Geburtserlebnis in den gesamten Verlauf ihres Lebens integrieren können. Dann wagt sie von Romans Geburt zu erzählen. Die Geburt ihres ersten Kindes dauerte lange, sie hatte zweiundzwanzig Stunden lang Wehen. Die Geburt ging nicht voran und sie schwebte an der Grenze zum Kaiserschnitt. Die Hebamme hatte die Idee, den Muttermund zu weiten und kündigte an, dass das wehtun werde. Dennoch war Frau D. nicht auf diese unerträglichen Schmerzen eingestellt, die bis heute in ihrer Seele brennen. Sie kann inzwischen vieles einsortieren, aber diese Schmerzen waren nicht auszuhalten gewesen.

Sie ist damals innerlich zusammengebrochen. Heute fragt sie sich, ob diese Schmerzen etwas vorangebracht haben. Denn es ist eine Geburt mit Zange geworden, vielleicht hätte sie ohne diese manuelle Weitung des Muttermundes einen Kaiserschnitt erleben müssen. So hatte sie wenigstens das Geburtserlebnis. Dennoch erträgt sie diese Erinnerungen nicht, sie bekommt sie nicht aus dem Kopf. Der Vater von Roman hatte mit ihr immer über die Geburt reden wollen, doch sie ist dem ausgewichen. Und ihre Eltern und ihre Freunde hatten nicht wahrhaben wollen, wie schlecht es ihr nach der Geburt gegangen ist. Einmal – vor Jahren – ist sie in den Wald gegangen und hatte so geschrien wie damals. Sie wollte schreien, bis es nicht mehr ging. Doch das hatte nicht geholfen. In vielen Nächten schreit und kämpft sie in ihren Albträumen. Nun redet sie zum ersten Mal darüber.

Siebzehn Monate danach kam ihr zweiter Sohn auf die Welt. Er wog über vier Kilogramm und trotzdem war das eine gute Geburt. Im Vergleich mit Romans Geburt erlebte sie noch einmal, wie extrem die Erfahrung ihrer ersten Geburt war. Ihre Tochter konnte sie vor vierzehn Jahren ebenfalls auf gute Weise gebären.

Ich mache Frau D. viele Komplimente über ihren bisherigen Umgang mit dem Schmerz. Verdrängung ist eine Bewältigungsstrategie, die es ermöglicht, im Alltag präsent zu sein. Mütter müssen präsent sein, um ihren Kindern ein gesundes Leben zu ermöglichen. Wir besprechen die damalige Situation einer mutigen jungen Frau, die unter allen Umständen eine natürliche Geburt anstrebte und bereit war, über ihre Grenzen zu gehen. Wir entwickeln die Tresor-Methode7, um ihr Erleichterung zu verschaffen und mehr Kontrolle über ihre Gedanken zu fördern.

Drei Wochen später schreibt sie eine E-Mail: „Für einige Momente ist es klar in meinem Kopf und ich denke – Wie geht das, dass ich anders auf alles sehen kann? Ich fühle mich befreit. Aber dann kommen nachts die Albträume, immer gegen zwei bis vier Uhr. Ich sehe Bilder aus dem Kreißsaal, mein Herz rast und ich fühle mich dem Schmerz ausgeliefert. Damals durfte ich nichts trinken, wegen der OP-Wahrscheinlichkeit. Ich kämpfte so und es gab nichts zu trinken, darunter leide ich immer noch. Doch nun kann ich aufstehen und laufe etwas herum. Ich bin in meiner Wohnung sicher. Jetzt weine ich, weil ich damals Durst hatte und ich trinke etwas. Ich habe keine Schmerzen mehr, aber ich suche Trost für all das Leid. Irgendwann kann ich mich wieder hinlegen. Ich weine jetzt öfter und denke darüber nach, was ich damals für Alternativen gehabt hätte. Es war gut so, anders ging es ja nicht, das macht mich ruhiger. Gleichzeitig macht es mich unendlich traurig.“

Eine Woche danach sind wir zu unserem zweiten Gespräch verabredet. Frau D. findet es wertvoll, jemanden zu haben, dem sie von der Geburt von Roman erzählen kann. Ihre bisherigen Versuche davon zu erzählen, hatten immer mit entsetzten Blicken ihres Gegenübers geendet. Dann ist es ihr schlechter als zuvor gegangen. Sie erzählt, dass sie immer noch ganz wirr im Kopf ist. Jetzt kann sie die Erinnerungen zumindest aushalten, auch wenn es ihr damit nicht gut geht. Jahrelang hatten sie in ihren Träumen Männer mit Messern in den Händen verfolgt. Heute glaubt sie, dass das die permanent drohende Gefahr des Kaiserschnittes war, die während der Geburt über ihr schwebte. Sie durfte nicht in Ruhe ihr Kind bekommen, obwohl sie sich das selbst zugetraut hatte. Nachdem ihr Sohn auf der Welt war, blau und nicht richtig atmend, mit einem Hämatom von der Geburtszange über dem linken Auge, hatte der Schock sie abgeschaltet. Sie konnte mit dem Erlebten nicht umgehen. Doch irgendwie musste sie ja weiterleben. Kurz nach der Geburt des zweiten Kindes trennte sie sich von dem Vater der beiden Söhne. Sie hatte ihre Unbeschwertheit verloren. Sie hatte sich zu sehr verändert. Ihr jetziger Mann sagt, dass dieses Thema in den vergangenen Jahren nie präsent war. Nur rund um Romans Geburtstag wurde sie sehr still und zog sich zurück. Sie hatte alles verdrängt, weil sie nicht wollte, dass das Geschehene ihr Leben verändere. Sie wollte die Kraft für ihre Familie behalten.

Wir sprechen über die Albträume, die bis heute einen Weg finden, das Trauma hervorzuholen. Ich betone, wie beeindruckend es ist, dass es ihr immer besser gelingt, die Träume und die nachts empfundene Sicherheit in ihrer Wohnung voneinander zu trennen. Und dass sie trotz der vielen vergangenen Jahre ein gutes Gefühl für das richtige Timing besitze. Sie lässt nur so viel zu, wie sie im Moment aushalten kann, auch wenn dafür Jahre vergehen mussten. In diesem Gespräch können wir herausarbeiten, dass ihre Fähigkeit, mit dieser damals absolut überfordernden Situation fertig zu werden, bemerkenswert ist. Sie muss viele unbewusste persönliche Ressourcen haben, denen sie das zu verdanken hat. Noch beeindruckender finde ich, dass sie nach dieser Geburt wagte, zwei weitere Kinder zu bekommen.

Es folgte eine E-Mail drei Wochen später: „Vorsichtig stelle ich fest, dass ich seit ungefähr zwei Wochen keinen Albtraum mehr hatte. Es gab in den Jahren auch Phasen, wo ich nicht derart geträumt habe, aber immer kamen die Albträume unverhofft wieder. Jetzt fühlt es sich anders an. Es wird besser. Bis zu dem Zeitungsartikel vor fünf Monaten war mir nie klar, dass ich durch die erste Geburt ein Trauma erlebt habe. Mir ging es im ersten Lebensjahr von Roman gar nicht gut, ihm übrigens auch nicht. Er hat so viel geschrien. Ich habe ihn quer über meine Oberschenkel gelegt, so dass sein Kopf auf dem Sofa auflag. Diese Position war für ihn angenehm. Ich weinte, er weinte – wir waren im Leid verbunden. Jetzt erkenne ich, dass unsere Reaktion ein normaler Schutz war. Das hilft mir weiter. Ich habe das Gefühl, ich muss das erste Lebensjahr von Roman aufarbeiten, in dem ich mich so sehr verändert hatte. Jetzt erst versuche ich, das Erlebnis in mein Leben zu integrieren und merke, wie verdrängt und gleichzeitig präsent es immer war.“

In unserem dritten Gespräch nach weiteren drei Wochen reden wir vor allem über die Zeit nach der Geburt. Frau D. bringt Fotos mit, auf denen sie selbst und das Neugeborene mit dem verletzten Auge zu sehen sind. Mit leerem niedergedrückten Blick lag sie im Krankenhausbett und umarmte ihr Baby. Die Fotos drücken so viel sprachloses Entsetzen aus und wir fragen uns beide, wieso das damals niemand gesehen hat. Dieses Gespräch, das Anschauen und Würdigen dieser traurigen Bilder empfindet sie als sehr hilfreich. Sie ist erstaunt darüber, dass sie sich erinnern und weinen kann, ohne dass es zum Zusammenbruch führt. Sie sagt, dass sie das allein nicht gekonnt hätte.

Wir sprechen über Willkommensrituale und ich erzähle von dem Baderitual. Lachend stellen wir beide fest, dass dieses Ritual nicht mit einem 22-jährigen Mann möglich ist und ich fordere sie auf, über ein passendes Ritual für sich und ihren Sohn nachzudenken. Habe sie eins gefunden, sollten sie gemeinsam darüber reden, wie der Ablauf wäre und welche Rollen diejenigen bekämen, die daran teilnehmen. Sie darf formulieren, welche Erwartungen sie an alle Beteiligten damit verknüpft. Ich erkläre, dass durch ein bestimmtes Ritual die Bedeutung ihrer Verletzung für alle Angehörigen verständlich werden würde.

Fünf Wochen später, nach ihrem Urlaub, sehen wir uns zum vierten Gespräch wieder. Frau D. wirkt gelöst, sieht erholt aus und erzählt von ihrem Geburts-Ritual: „Wir sind in einen Kletterpark gefahren. Der Verantwortliche dort hat uns die Sicherheitsgurte angezogen. Die Gurte waren ganz schön schwer. Er hat mich mit meinem Sohn Roman und meinem jetzigen Ehemann verbunden. Vor dem Klettern gab es eine Sicherheitseinführung. Wir mussten alle einmal auf eine Übungsplattform klettern und bekamen Anweisungen, wie wir uns verhalten sollen. Spontan habe ich an einen Geburtsvorbereitungskurs gedacht. Dann sind wir zum Aufstieg der geplanten Tour gegangen. Roman ging voran und war ruck zuck oben. Meine Knie waren schon nach den ersten Stufen weich, ich war sehr ängstlich und aufgeregt. Ich dachte – Warum muss ich mir das antun? Ich will diese Panik nicht mehr. Die Höhe hat mich schwindlig gemacht, deshalb habe ich vermieden nach unten zu schauen. Marco, mein Mann, war immer hinter mir, das hat sich gut angefühlt. Er sagte – Ich passe auf dich auf. Trotz der Angst habe ich mich umsorgt gefühlt.