Inhalt
  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Karte
  8. Einführung
  9. TEIL I: Eine erfüllte Prophezeiung
    1. 1. Eine bedeutsame Reise des Großen Dreizehnten
    2. 2. Mystiker und Seher: Beginn der Regentschaft des Reting Rinpoche
    3. 3. Ein Kind wird geboren
    4. 4. Ein kleines Dorf namens »Brüllender Tiger« – Tibets »namenlose Religion«
    5. 5. »Einsam und etwas unglücklich«: Geboren mit der Bürde der Heiligkeit
  10. TEIL II: DER LÖWENTHRON
    1. 6. Die Heimstatt des Vierzehnten Dalai Lama: Lhasa 1940
    2. 7. Knabenalter: Zwei Peitschen mit Bambusgriff
    3. 8. »Ärger in Shangri-La«: Niedertracht und Intrigen auf dem Dach der Welt
    4. 9. Vollendung der Weisheit: Die höhere Ausbildung zum buddhistischen Gelehrten
    5. 10. »Scheiß auf Euer ›Picknick‹!«: Einmarsch der Chinesen, 1949/50
    6. 11. In der Drachenhöhle: Der Dalai Lama in China, Juli 1954 bis Juli 1955
    7. 12. Land der Götter: Indien, November 1956 bis März 1957
    8. 13. »Verkauft den Dalai Lama nicht für da yuan!«: Lhasa, 1957 bis 1959
  11. TEIL III: Freiheit im Exil
    1. 14. Auf dem Rücken eines dzo: Flucht in die Freiheit
    2. 15. Das Herz des Erwachens: Allen Ginsberg und die Beat-Generation
    3. 16. »Wir können Sie nicht zwingen«: Kulturrevolution in Tibet, harsche Realitäten in Indien
    4. 17. »Dem tibetischen Volk unbegreiflich«: Das Yellow Book und die Glorreiche Göttin
    5. 18. Rangzen und Umaylam: Unabhängigkeit und Politik des Mittleren Weges
  12. TEIL IV: Bodhisattva des Mitgefühls
    1. 19. »Den Kopf der Schlange abschlagen«: Reaktion und Repression in Tibet
    2. 20. Ein Schutzgott macht Probleme: Die Ermordung des Lobsang Gyatso
    3. 21. Tibet in Flammen: Die Olympiade in Peking und ihre Nachwirkungen
    4. 22. Das magische Spiel der Illusion
  13. Nachwort und Dank
  14. Die vierzehn Dalai Lamas
  15. Glossar
  16. Anmerkungen
  17. Literaturverzeichnis
  18. Register

Über dieses Buch

Die Botschaft des Dalai Lama von Frieden und Mitgefühl findet bei Menschen aller Glaubensrichtungen Anklang. Doch bei allem Weltruhm bleibt er als Persönlichkeit schwer fassbar. Jetzt liefert Alexander Norman, der langjährige Wegbegleiter und renommierte Oxford-Wissenschaftler für die Geschichte Tibets, die endgültige Biografie – einzigartig, vielschichtig und manchmal sogar schockierend. Die Lebensgeschichte eines der radikalsten, charismatischsten und beliebtesten Weltführers von heute.

Über den Autor

Alexander Norman hat buddhistische Philosophie studiert und lernte den XIV. Dalai Lama 1988 kennen, über den er vielbeachtete Porträts in The Spectator und in der Financial Times veröffentlichte. Er war Ghostwriter der beiden Welt-Bestseller des XIV. Dalai Lamas Das Buch der Freiheit (1990) und Das Buch der Menschlichkeit (2000). Beide Bücher wurden weltweit millionenfach verkauft und in über 30 Sprachen übersetzt. Alexander Norman wurde 2001 in das »Dalai Lama’s Special Review Committee« berufen und arbeitet an Projekten des »Department of Tibetan and Himalayan Studies« an der Universität Oxford mit.

Alexander Norman

DALAI LAMA

Ein außergewöhnliches Leben

Aus dem Englischen von
Regina Schneider

Für meine Kinder:
M.R.N.
E.A.N.
T.F.H.N.

Einführung

Waldorf Astoria Hotel, New York, August 1989

Voller Elan gehe ich geradewegs auf die Rezeption zu und bringe mein Anliegen vor.

»Ich suche Mr. Tenzin Tethong, den Privatsekretär Seiner Heiligkeit des Dalai Lama.«

Unter dem Arm trage ich den Manuskriptentwurf der Autobiografie des Dalai Lama, Das Buch der Freiheit, an der ich die letzten Monate gearbeitet habe.

Die Empfangsdame blickt mich stirnrunzelnd an. Vielleicht liegt es an meinem starken britischen Akzent.

»Mr. … wer?«, fragt sie gedehnt.

Heute, gut drei Jahrzehnte später, wäre eine solche Reaktion undenkbar. Als einer der bekanntesten Menschen der Welt füllt der Dalai Lama die größten Stadien von Sydney bis São Paulo, von Oslo bis Johannesburg. Mit rund zwanzig Millionen hat er mehr Twitter-Follower als der Papst, und seine Internetpräsenz wächst stetig. Er erhielt den Friedensnobelpreis, die Goldene Ehrenmedaille des Kongresses der Vereinigten Staaten sowie den Templeton-Preis für den Beitrag zum Fortschritt der Religion, die am höchsten dotierte seiner zahlreichen Auszeichnungen. Er ist Ehrenbürger so vieler Städte und Träger so vieler Ehrentitel, dass es kaum möglich wäre, sie alle einzeln aufzuzählen. Sein Konterfei ziert das Ziffernblatt von Armbanduhren, ist als Bildschirmschoner erhältlich, und die Amazon-Website gibt detaillierte Einblicke in mehr als zweihundert Bücher, die aus seiner Feder stammen. Die Verkaufszahlen einzelner Titel gehen in die Millionen. Ohne jeden Zweifel ist der Dalai Lama eine der berühmtesten und beliebtesten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der heutigen Zeit.

Doch bei all dem Hype um seine Person, der ihn zu einer Art Superstar gemacht hat, weiß kaum jemand etwas über ihn selbst oder über die Kultur, die er verkörpert. Und ein Großteil dessen, was wir wissen, ist von Missverständnissen begleitet. So gehen beispielsweise viele davon aus, dass der Dalai Lama ein religiöser Führer sei – eine Art buddhistischer Papst. Doch im Unterschied zum Papst, der den alleinigen Führungsanspruch über jeden Priester und Prälaten in der christlichen Kirche erhebt, besitzt der Dalai Lama keinerlei Hoheitsgewalt über irgendeinen anderen Lama oder Mönch. Er ist auch nicht das Oberhaupt seiner eigenen Glaubenstradition und auch nicht der Führer irgendwelcher Teilgruppen innerhalb dieser Tradition. Und streng genommen ist er noch nicht einmal Vorsteher des Klosters, dem er angehört. Wenn der Dalai Lama also sagt, wie er es häufig tut, er sei »nur ein einfacher buddhistischer Mönch«, dann ist dies nicht Ausdruck gebotener Bescheidenheit, sondern schlichtweg die Wahrheit. Alle Dalai Lamas (von denen der heutige der vierzehnte ist) waren von jeher einfache buddhistische Mönche. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Große Fünfte Dalai Lama einer der mächtigsten Männer Asiens war oder dass die Dalai Lamas immer schon von vielen Menschen verehrt wurden, auch weit über das Schneeland hinaus (wie die Tibeter selbst ihre Heimat oft bezeichnen).

Aus politischer Sicht jedoch waren die Dalai Lamas niemals nur »einfache« Menschen wie Sie und ich. Beginnend mit dem Großen Fünften Dalai Lama, waren sie allesamt – theoretisch zumindest – weltliche Führer eines Volkes, dessen Land von der Größe her Westeuropas entspricht. Begrenzt von Pakistan im Westen, erstreckt es sich über mehr als 2500 Kilometer bis nach China im Osten und von der Mongolei im Norden über gut 1600 Kilometer bis nach Indien, Nepal und Myanmar im Süden. Kaum bekannt jedoch ist, dass der derzeitige Dalai Lama 2011 sein Amt als politischer Führer der Tibeter zugunsten eines demokratisch gewählten Laien als Volksvertreter aufgab und seither nur mehr als ihr spiritueller Lehrer fungiert, was in sich durchaus schlüssig erscheint: Lama ist die tibetische Übersetzung des Wortes guru aus dem Sanskrit und bedeutet »spiritueller Lehrer«.

Zu all den Missverständnissen kommt noch hinzu, dass das Bild des Dalai Lama als ewig lächelnder Heiliger weder ihm als Person gerecht wird noch der Tradition, die er repräsentiert. Denn dieses Bild erzählt nichts von seinen außerordentlichen Verdiensten um die Entwicklung einer tibetischen Diaspora-Gemeinde, die mittlerweile eine Viertelmillion Menschen umfasst. Es erzählt nichts davon, wie er ein Volk vereinigt hat, das entlang geografischer, indigener und konfessioneller Linien über lange Zeit tief gespalten war. Es erzählt auch nichts davon, wie er allen Tibetern die Institution des Dalai Lama in einer nie da gewesenen Weise erschlossen hat. Es erzählt nichts von den politischen Reformen, die er durchgesetzt hat. Es erzählt nichts von seinen beachtlichen Erfolgen als großer spiritueller Lehrer und auch nichts davon, dass er zweifelsohne einer der höchstgelehrten Meister des Vajrayana-Buddhismus ist, die im vergangenen Jahrhundert in Erscheinung traten. Es erzählt nichts von dem enormen Einfluss, den er auf die Gestaltung der modernen Welt hatte und bis heute hat. Vor allem aber erzählt es nichts von einer Kultur, die zu den außergewöhnlichsten gehört, die sich je auf unserem Globus entwickelt haben, und auch nichts von der komplexen und oft turbulenten Geschichte, der diese Kultur entstammt.

So geht es mir in diesem Buch vor allem darum, Taten und Werke des Dalai Lama in den Kontext der tibetischen Geschichte und Kultur zu stellen. Gleichwohl möchte ich ein Streiflicht darauf werfen, unter welchen Bedingungen die weltliche Herrschaft über Tibet, die der Dalai Lama bis ins hohe Alter innehatte, ihren Anfang und ihr Ende nahm. Denn ohne eine gewisse Kenntnis seiner Person, seiner Prägung und seiner Herkunft werden wir wohl nicht nur die historische Dimension seiner Leistungen verkennen, sondern auch die gewaltigen Herausforderungen, die er immer wieder zu meistern hatte.

Insbesondere aber möchte ich zeigen, welche inneren Motive den Dalai Lama bewegen, so zu handeln, wie er es tut – Motive, die sich wiederum aus seinem Verständnis der tibetischen Tradition speisen. Und damit bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich die Geschichte beginnen lasse, am Urquell seiner Inspiration, dem Bodhisattva-Gelübde, das er einst im Alter von fünfzehn Jahren ablegte. Geleitet von unermesslichem Mitgefühl, gelobte er, all seine Gedanken, Worte und Taten so zu lenken, dass sie dem Wohle aller fühlenden Wesen in ihrem Streben, alle Arten von Leid zu überwinden, dienlich seien. Die Lebensgeschichte des Dalai Lama kann somit als ein Lehrstück verstanden werden, das aus der Perspektive der buddhistischen Tradition heraus zeigt, was wahres Mitgefühl wirklich ist und wie sich dieses so verstandene Mitgefühl in der alltäglichen Welt umsetzen lässt.

An dieser Stelle sei kurz erläutert, wie ich die Begriffe »Tradition« und insbesondere »tibetische Tradition« in dem vorliegenden Buch verwende. Wenn ich sage, dass der Dalai Lama die tibetische Tradition exemplifiziere, dann meine ich all das, was von Generation zu Generation weitergegeben wurde und wird – und zwar nicht nur lange tradierte Praktiken der Tibeter, sondern auch die vielen Überzeugungen und Glaubensvorstellungen, die mit diesen Praktiken verbunden sind. Wenn ich zum Beispiel darüber schreibe, dass es nach tibetischer Tradition viele Höllen gebe, einige heiß, andere eiskalt, dann meine ich damit, dass dies nach dem Verständnis und der Ansicht der meisten orthodoxen Gläubigen innerhalb dieser Tradition genau so der Fall ist. Ich will damit nicht behaupten, dass alle Tibeter immer und überall daran geglaubt hätten (oder glauben), aber der Großteil eben schon.

Und wo ich gerade von Tradition rede, noch ein Wort zur tibetischen religiösen Tradition: Im Buddhismus, wie ihn die Tibeter praktizieren, gibt es zwar einzelne lokale Ausprägungen, wenn man so will, aber keinesfalls etwas wie einen spezifisch tibetischen Buddhismus. Aus tibetischer Sicht ist der Buddhismus, wie er innerhalb dieser Tradition bewahrt und gelebt wird, die höchste, vollkommenste Form des Buddhismus – auch wenn einige seiner Lehren und Praktiken von Andersgläubigen als heterodox erachtet werden.

Da mir daran liegt, den Dalai Lama in den Kontext der tibetischen Kultur und Geschichte zu stellen und seine Biografie als ein lebendiges Beispiel dessen zu zeigen, was wahres Mitgefühl nach tibetischer Tradition bedeutet, ging es mir weniger darum, das nachzuerzählen, was der Dalai Lama sagt. Seine spirituellen Botschaften ebenso wie seine politischen Ansichten finden sich in Hunderten von Büchern und vielen Tausenden Video- und Audio-Aufzeichnungen, die in sechzig Jahren Exil entstanden sind – für alle Interessierten mehr als genug Quellen also, um in die spirituellen und politischen Philosophien des Dalai Lama einzutauchen.

Wie er nun tatsächlich ist, der Dalai Lama, ist für mich die zweitrangige Frage. Was er tatsächlich meint – nicht nur mit dem, was er sagt, sondern auch mit dem, was er tut –, ist für mich die oberste Frage überhaupt. Gewiss, es gibt bestimmt viele erzählenswerte persönliche Details, aber meiner Meinung nach berichten sie uns viel weniger über den Mann, zu dessen religiösen Bekenntnissen einige gehören, die eine Reihe von Autoritäten der Gelug-Schule als äußerst gewagt ansehen. Wie der Dalai Lama die tibetische Tradition interpretiert und formt und insbesondere, wo er davon abweicht, sind für mich die spannenderen und aufschlussreicheren Fragen sowie, aus historischer Sicht, auch bedeutsamer als Fragen nach seiner Lieblingsfernsehsendung oder seinen Hobbys. Und nur nebenbei, Naturdokumentationen sieht er am liebsten (er ist ein Fan von David Attenborough), und zu seinen Interessen zählen die Uhrmacherei (die er früher als Laie begeistert betrieb) sowie die Gärten und Landschaften rund um seine Residenz.

Dennoch will ich mich an einer Antwort auf die Frage, wie der Dalai Lama als Person so ist, gerne versuchen, hatte ich doch das enorme Privileg, mit ihm an drei seiner wichtigsten Bücher zu arbeiten, einschließlich seiner (zweiten) Autobiografie.1 Und dies tue ich am besten, indem ich von einem Gespräch erzähle, das ich vor ein paar Jahren mit ihm führte. Ich erzählte ihm, dass meine Frau mir kürzlich vorgehalten habe, ich solle mich schämen, dass ich mich immer noch nicht richtig mit ihm in seiner Muttersprache unterhalten könne, obwohl ich Seine Heiligkeit nun schon mehr als ein Vierteljahrhundert lang kenne. Ich musste zugeben, sie hatte recht. Und dafür, so sagte ich zu ihm, wolle ich mich aufrichtig entschuldigen.

»Nun, wenn es darum geht«, antwortete er wie üblich auf Englisch mit dem mir so wohlvertrauten starken Akzent, »so müsste ich mich entschuldigen. Ich lerne Ihre Sprache schon seit 1947!«

In diesen wenigen Worten spiegeln sich die Güte, die Demut und die Freundlichkeit wider, die diesen Mann ausmachen.

Ich traf den Dalai Lama zum ersten Mal im März 1988 in Dharamsala, in seiner indischen Exilheimat, zu einem Interview im Auftrag des britischen Wochenblatts The Spectator. Diese erste Begegnung war begleitet von einem Umstand, der mir in jenem Moment etwas befremdlich erschien, im Nachhinein aber etwas geradezu Prophetisches hat. Als ich in den Audienzsaal geführt wurde, ließ ich den Blick durch den Raum wandern und registrierte, dass er leer war, bis ich mit einem Mal bemerkte, dass der Dalai Lama fast direkt vor mir stand. Nicht etwa so, als hätte er die ganze Zeit schon dagestanden und ich es nur nicht bemerkt, nein, vielmehr hatte ich den Eindruck, dass er buchstäblich aus dem Nichts erschienen sei.

Ein ähnliches Erlebnis hatte ich noch einmal ein Jahr später – doch damit genug (dies hier soll schließlich seine Biografie sein, nicht meine Autobiografie). Noch ein Wort zu unserer gemeinsamen Arbeit in den vielen Jahren danach. Das meiste entstand nicht, während er sich in Dharamsala aufhielt, sondern während er unterwegs war – in den USA, in Dänemark, Italien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder irgendwo in Indien. Ich konnte ihn daher an vielen verschiedenen Orten und in vielen verschiedenen Situationen erleben, in denen ich einige Beobachtungen machte, die vielleicht erzählenswert sind.

Ich kenne ihn zum Beispiel als einen peniblen, etwas pingeligen Menschen – seine Nägel sind immer ordentlich geschnitten, sich aufzuputzen aber ist ihm fremd. Seine Kleidung ist von guter Qualität, aber nicht vom Allerfeinsten. Seine Schuhe sind fest, bequem und immer poliert, aber von keiner Exklusiv- oder Luxusmarke. Rupert Murdoch – Medien-Tycoon und kein Moralist – nannte den Dalai Lama einmal einen »weisen alten Mönch in Gucci-Schlappen«. Da lag er falsch. Der Dalai Lama trägt in der Regel Hush Puppies, niemals Gucci. Zu Hause Flip-Flops.

Und ja, er hat ein Faible für gute Armbanduhren, besitzt aber keine Sammlung. Er trägt eine schlichte, unverzierte Rolex. Und regelmäßig verschenkt er Uhren, die er nicht mehr braucht. Ich selbst habe auch eine von ihm (die er zuerst jemand anderem geschenkt hatte). Es ist eine schlichte Jaeger-LeCoultre Edelstahl-Memovox mit einer mechanischen Weckfunktion (die ihm bestimmt einmal sehr gefallen hatte), welche er in den 1960ern trug.

Extravagant oder verschwenderisch im Hinblick auf materielle Güter war er aber nie, ganz im Gegenteil, wenngleich er von sich selbst einmal gesagt hat, er habe ein gewisses »großzügiges« Naturell. Als Kind hat er so viele Tiere wie möglich gekauft, um sie vor dem Schlachter zu bewahren – bis seine Betreuer kaum mehr wussten, wohin mit dem ganzen Zoo. Und als Erwachsener besuchte er auf seiner ersten USA-Reise 1979 auch einige Einkaufszentren. Sein Tutor Ling Rinpoche mahnte ihn, keine unnötigen Einkäufe zu tätigen, und soweit ich weiß, hat man ihn in üblichen Einzelhandelsgeschäften auch nie gesehen. Einen Computer hat er nicht und ist also auch kein Online-Shopper. Seine Extravaganz – so sie überhaupt vorhanden ist – beschränkt sich heute einzig darauf, Geld zu verschenken, hauptsächlich für humanitäre Zwecke. Als er 2012 mit dem Templeton-Preis geehrt wurde, gab er das Geld sofort weiter und spendete den Großteil der Summe (immerhin fast zwei Millionen US-Dollar) an den Save the Children Fund – als ehrendes Dankeschön für die Großzügigkeit der Wohltätigkeitsorganisation gegenüber tibetischen Flüchtlingen in den frühen Tagen des Exils.2

Auch privat hat der Dalai Lama stets einen Blick für die Bedürfnisse anderer, fragt zum Beispiel, ob jemand Kaffee möchte, wenn nur Tee angeboten wird. Und er achtet darauf, dass mit dem dri churra (einem Hartkäse aus Tibet), den er sehr mag, immer auch ein paar Nüsse oder Kekse serviert werden. Er richtet die Jalousien so aus, dass die Sonne Sie nicht blendet, fragt, ob es Ihnen zu heiß oder zu kalt ist, und stellt Heizung oder Klimaanlage entsprechend ein. Und wenn er meint, dass man einen Raum für Gäste oder Zuhörer noch angenehmer gestalten könne, lässt er die Möbel entsprechend verrücken. Ich weiß noch, wie ich in den frühen Tagen unserer Zusammenarbeit einmal in sein Hotelzimmer kam, wo er gerade dabei war, die Stühle umzustellen, um eine Pressekonferenz vorzubereiten.

Der Dalai Lama ist ein guter Esser, obwohl dies teils darauf zurückzuführen sein mag, dass er als ordinierter Mönch nur zweimal am Tag essen darf – und nicht nach Mittag. Doch hin und wieder tut er es, wenn er auf einer Auslandsreise zum Essen eingeladen ist, und an besonders anstrengenden Tagen gönnt er sich nachmittags auch mal ein paar Kekse. Wählerisch oder mäkelig beim Essen ist er nicht. Er bevorzugt eine vegetarische Lebensweise, isst aber, auf Anraten seiner Ärzte, auch ohne Weiteres Fleisch – wobei man sicher sein kann, dass er für das postmortale Wohlergehen einer jeden Kreatur, die er verzehrt, betet.

Was sein eigenes Wohlergehen anbelangt, so scherzt er manchmal, dass er nicht einmal wisse, wie man eine Tasse Tee zubereitet. Er kocht auch nicht, und abgesehen davon, dass er als kleiner Junge manchmal in den Küchen des Potala-Palastes beim Backen von khabse half (den traditionellen Neujahrskeksen), hat er eine Küche nur selten von innen gesehen. Feuer zu machen hat ihm als Kind großen Spaß gemacht. Aber auch dies hielt sich in Grenzen, denn er hatte ja seit früher Kindheit für alles seine Diener. Von diesen sind bis heute einige um ihn. Alles in allem gibt es in seinem Haushalt etwa zehn Bedienstete, darunter Köche und Krankenpfleger. Er hat vier oder fünf persönliche Betreuer, allesamt Mönche, sowie eine Reihe von Angestellten, die aufgrund ihres Alters nur leichtere Arbeiten verrichten, als treue Freunde aber bei ihm bleiben. Im Kreis dieser kleinen Gemeinschaft tauscht er sich am Ende eines Tages aus und kommt zur Ruhe. Das Büropersonal besteht aus tibetischen und englischen Mitarbeitern, von denen die meisten, wenn auch nicht alle, Laien sind. Es gibt insgesamt vier Privatsekretäre (noch vor Kurzem waren es nur zwei), die wiederum von ein paar Mitarbeitern unterstützt werden. Obwohl der Dalai Lama alle Bediensteten persönlich ernennt (in einer mönchischen Gemeinschaft allesamt Männer, versteht sich), werden ihm ihre Namen von der tibetischen Exilregierung vorgelegt. Zusammengenommen bilden sie seinen kleinen Hofstaat außerhalb der Mauern von Ganden Phodrang, wie sein offizieller Regierungssitz genannt wird (so wie das Weiße Haus in Washington). Und er ist ein guter Zuhörer, schenkt jedem Besucher aufmerksam Gehör, und er hat Familie und Freunde, die ihn über alles auf dem Laufenden halten.

Wenn er über irgendein Thema weniger Bescheid weiß, als er es sollte, dann nur deshalb, weil er von den Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld, aus welchen Gründen auch immer, nicht ausreichend informiert wurde. Und das kommt gelegentlich vor, was bei einem so kleinen Kreis von Leuten, auf die er sich verlassen muss, wohl nicht ausbleibt.

Neben seinem ständigen Personal gibt es eine größere Zahl von Leibwächtern. Zu Hause wird der Dalai Lama zusätzlich zu seinen tibetischen Sicherheitsleuten auch von einem kleinen Kontingent der indischen Armee bewacht. Zu ihnen pflegt er eine eher nüchterne Beziehung, außer zu den Ältesten unter ihnen, begegnet ihnen aber ebenfalls stets aufmerksam. Er hat immer ein freundliches Wort für jene, die nachts Wache halten oder auf seinen morgendlichen Spaziergängen an seiner Seite sind. (Sobald er seine ersten Morgengebete gesprochen hat, geht er spazieren oder läuft die Hotelflure auf und ab.) Auf Reisen nimmt er sich jedes Mal Zeit, um ein paar Worte mit all denen zu wechseln, die rund um die Uhr für ihn da sind.

Auch der Humor des Dalai Lama sorgt immer wieder für Gesprächsstoff. Ich hatte oft den Eindruck, dass der tibetische Humor dem englischen recht ähnlich ist: geradeheraus, oft derb, liebevoll gewürzt mit Ironie und Absurdität. Ich machte einmal einen recht harmlosen Witz über eine Maus und erntete allseits herzliche Lacher. Ordinäre Witze oder Anekdoten erzählte ich natürlich keine. Der Dalai Lama würde es wohl höchst befremdlich finden. Aber er ist kein Spaßverderber. Er fragte mich einmal nach der Hochzeit eines jungen tibetischen Beamten, an der ich teilgenommen hatte – ob es sehr beschwipst zugegangen sei, wollte er wissen. Als ich bejahte, reagierte er überhaupt nicht missfällig. Und als ich erfuhr, dass er neben Naturdokus auch gerne mal die englische Dauer-Comedy-Serie Dad’s Army schaut, schickte ich ihm eine Kassette mit ein paar Folgen, wobei ich nicht weiß, ob er sie jemals angeschaut hat. Ich legte noch einen Mr.-Bean-Film dazu, da ich mir gut vorstellen konnte, dass er seinen Humor traf.

Obwohl er keinen Wert auf Förmlichkeiten und Etikette legt (er hat eine regelrechte Abneigung gegen aufgesetztes Getue), ist er sich der Würde seines Amtes dennoch sehr wohl bewusst. Als ich es einmal nicht hinbekam, einen khatag richtig zu drapieren, den traditionellen buddhistischen Begrüßungsschal aus weißer Seide, zögerte er nicht, mich zu tadeln. Ein andermal unterlief mir ein Fauxpas, der mir als Ausländer gar nicht so schlimm erschien, der aber eine schwere Beleidigung darstellte. Abermals machte er mich auf meinen Fehler aufmerksam, immer in freundlicher Weise. Ich glaube nicht, dass er dies getan hätte, wenn er mich nicht so gut gekannt hätte. Er ist für die Gefühle anderer sehr sensibel. Trotzdem macht er hin und wieder eine arglose Bemerkung, mit der er manche vor den Kopf stößt. Ich erinnere mich, wie er einmal laut lachend einen Schriftstellerkollegen schalt, weil er Fingernägel »wie Krallen« hatte.

Der Dalai Lama ist von Natur aus ein zugeneigter und nahbarer Mensch. Freunden gibt er oft einen verspielten Klaps auf den Hinterkopf. Er mag spontan Ihre Hand ergreifen, sie halten, seine Wange an die Ihre schmiegen oder durch Ihren Bart streichen. Nahbarkeit ist eine Eigenschaft, die er mit seinem Vorgänger, dem Großen Dreizehnten Dalai Lama, teilt – mit dem Mann, der dem chinesischen Militär nur knapp entkam, indem er über die Berge ins benachbarte Sikkim floh, und der nach seiner Rückkehr von seinem Volk stürmisch gefeiert wurde, je nach Region mit eigenen Bräuchen – mit Verbeugungen, Niederwerfungen oder anderen Respektbezeigungen. In der Menge waren auch drei kleine schottische Mädchen auf ihren Ponys (ihr Vater war örtlicher Missionar), die sich in die Prozession gleich hinter dem Großen Dreizehnten einreihten. Als er langsamer ging, um die Menge zu grüßen, sprangen die drei Mädchen ab, rannten voraus zum Gästehaus der Regierung, in dem er wohnen würde, und warteten auf seine Ankunft. Dann kam der Große Dreizehnte auf die Mädchen zu, hielt wortlos inne, fuhr mit den Fingern durch Isa Grahams flachsblonde Locken, »befühlte ihr Haar zwischen Finger und Daumen, so wie man gesponnene Seide befühlt, als wolle er Qualität und Textur prüfen«. Dann verschwand er im Gebäude, um nur wenig später wieder herauszukommen und ihre Haare noch einmal zu befühlen, während die Menge den Atem anhielt.

In der Betrachtung dieser persönlichen Eigenschaften dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass der Dalai Lama vor allem eins ist – Mönch. Ein Mönch mit gewaltigen rituellen Verantwortungen. Biografien können schnell den Eindruck erwecken, das Leben der Person drehe sich allein um ihre öffentlichen Taten und Werke. Im Fall des Dalai Lama aber ist es das innere Leben, sein inneres Leben, das am allerwichtigsten ist. Und so ist es unerlässlich, dass der geneigte Leser im Sinn behält, dass der Dalai Lama sich seiner monastischen Berufung uneingeschränkt verpflichtet fühlt. Jeden Morgen, ohne Ausnahme, beginnt er den Tag mit mindestens drei Stunden in Gebet und Meditation. Und jeden Abend, ohne Ausnahme, beschließt er den Tag mit mindestens einer Stunde in Gebet und Meditation. Tagsüber betet und studiert er, soweit es sein Zeitplan erlaubt, oft auch beim Essen. In Klausur, in die er sich mindestens einmal im Jahr für bis zu drei Wochen begibt, manchmal auch nur für einige Tage mehrmals im Jahr, steigert er sein Pensum (dann steht er um 3:00 Uhr morgens statt um 4:30 Uhr auf) und begrenzt seine Beschäftigung mit weltlichen Angelegenheiten auf möglichst ein oder zwei Stunden am Tag.

Mein mangelhaftes Tibetisch habe ich bereits erwähnt. Und obwohl ich eigentlich recht lese- und schreibkundig bin, bin ich oft auf Wörterbücher oder die guten Dienste netter Personen angewiesen, außer bei sehr kurzen oder sehr einfachen Texten. In gewisser Hinsicht war dies auch ein Segen, denn so lernte ich meine tibetischen Freunde noch näher kennen, als es vielleicht sonst der Fall gewesen wäre. Und es war mir stete Mahnung, dass ich als Außenseiter schreibe, als Beobachter, der von draußen »hineinschaut«.

Dass ich kein Buddhist bin, war weniger ein Nachteil als ein Vorteil. So konnte ich Fragen stellen und Gedanken denken, wie es andernfalls schwieriger, wenn nicht gar unmöglich gewesen wäre. Aus dem gleichen Grund kann es durchaus sein, dass einiges von dem, was ich im Buch sage, vielleicht etwas vorlaut und möglicherweise sogar respektlos erscheint, obwohl mir dies mehr als fernliegt. Und es kann durchaus sein, dass für den einen oder anderen Leser manches sehr schmerzhaft ist. Dessen eingedenk, nehme ich mir die ermutigenden Worte des Dalai Lama zu Herzen, den ich oft von einer fairen und ausgewogenen Bewertung der Tatsachen habe reden hören. Ich vertraue darauf, dass es mir gelungen ist – nichts anderes war mein Ziel!

TEIL I

Eine erfüllte Prophezeiung