Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. TRIZ 1 ist eine systematische Erfindungsmethodik, die seit den 1950er Jahren auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion entwickelt wurde und besonders nach 1990 weltweite Verbreitung gefunden hat. Im Gegensatz zum spekulativen Charakter vieler anderer Kreativmethodiken geht TRIZ von einer systematischen Analyse erfindungsmethodischer Erfahrungen vor allem im ingenieurtechnischen Bereich aus. Genrich Saulowitsch Altschuller – der Nestor von TRIZ – hat hierfür eine größere Anzahl von Patentschriften analysiert und biografische Aufzeichnungen bekannter Erfinder ausgewertet.

Seit Mitte der 1970er Jahre waren mit [1], [2] und [3] einzelne zentrale TRIZ-Publikationen auch in deutscher Übersetzung verfügbar und fanden im Kreis der „Verdienten Erfinder“2 um Michael Herrlich und andere Interesse und Beachtung. Aus diesen Wurzeln entstand die Erfinderschulbewegung der DDR der 1980er Jahre, die in den zwei Varianten ProHEAL als Programm des Herausarbeitens von Erfindungsaufgaben und Lösungsansätzen (Rindfleisch, Thiel) und WOIS als Widerspruchs-Orientierte Innovations-Strategien (Linde) auch einen eigenständigen Beitrag zur Weiterentwicklung der TRIZ-Methodik leistete. Diese Entwicklungen fanden nach 1990 ein schnelles und jähes Ende, die Erfahrungsschätze jener Zeit warten noch immer auf eine systematische Aufarbeitung.

Es mag als Ironie der Geschichte erscheinen, dass sich zur gleichen Zeit Altschullers Schüler über die Welt verteilten und die TRIZ-Methoden damit vor allem in den aufstrebenden asiatischen Industrienationen (Südkorea, China, Japan, Indien), den USA und Israel Wurzeln geschlagen haben. Nch einem kurzen Intermezzo der Abkürzung TIPS als Theory of Inventive Problem Solving hat sich das russische Akronym TRIZ in dieser latinisierten Schreibweise selbstbewusst als Bezeichnung auch international durchgesetzt. Mit der MATRIZ3 gibt es seit 1997 eine Internationale TRIZ-Assoziation, die auch das unter Altschuller eingeführte fünfstufige Zertifikationssystem weiterführt. Bis jetzt wurden 108 TRIZ Level 5 (Master), 132 TRIZ Level 4, 1769 TRIZ Level 3, 7555 TRIZ Level 2 und 20 841 TRIZ Level 1 Zertifikate vergeben4. Im Jahr 2000 gründete sich mit ETRIA5 auch eine Europäische TRIZ-Assoziation.

2. Diese Entwicklungen sind Teil eines fundamentalen Wandels des gesellschaftlichen Wissensregimes, der sich mit dem Übergang zu einer industriellen Produktionsweise in den letzten 150 Jahren vollzogen hat. Während theoria cum praxi zu Leibniz’ Zeiten noch eine eher theoretische Forderung war, ging die Herausbildung der modernen Produktionsweise mit sehr praktischen Strukturierungen einer engeren Bindung der reproduktiven Prozesse von produktiver und kreativer Basis einher. In Leipzig lässt sich dies von der 1838 erfolgten Gründung der Königlich-Sächsischen Baugewerkenschule unter Albert Geutebrück über die 1875 eingerichtete Städtische Gewerbeschule als historischer Wurzel einer ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung im Maschinenbau und in der Elektrotechnik, verschiedene Ingenieurschulen, die Zusammenfassung jener in der Leipziger Ingenieurhochschule im Jahr 1969 und schließlich die 1977 erfolgte Gründung der Technischen Hochschule Leipzig nachzeichnen. Neben der klassischen universitas litterarum, die in jener ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Aufspaltung der alten Philosophischen Fakultät in eine geisteswissenschaftliche und eine mathematischnaturwissenschaftliche ihr eigenes Schisma zu verarbeiten hatte, etablierte sich Technik als Wissenschaft an verschiedenen renommierten Technischen Universitäten weltweit, welche der „alten“ Universitas litterarum Rang und Bedeutung mittlerweile streitig machen.

„Produkt“ jener Ausbildungsstätten war und ist die Profession des Ingenieurs als wesentlicher Leistungsträger jener neuen Produktionsweise, in welcher „es nicht mehr der Arbeiter ist, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozess, den er in einen industriellen umwandelt“ (MEW 42, S. 592). Jener Berufsstand, der auf neue Weise Hand- und Kopfarbeit vereinigt und zugleich struktureller Träger von Kreativität ist, bildet Erfahrungsreservoir und Target zugleich einer Theorie des Lösens innovativer Probleme. Es mag als weitere Ironie der Geschichte erscheinen, dass mit TRIZ eine solche Theorie an den Rändern des sozialistischen Gesellschaftsexperiments entwickelt wurde, verkennt aber möglicherweise die Triebkräfte, die eine solche nachholende Modernisierung freizusetzen vermag.

3. In den letzten 20 Jahren ist auch im (west)-europäischen Kulturraum das Interesse an TRIZ als Theorie oder, genauer, als Methodologie des schöpferischen Problemlösens deutlich gestiegen. Allerdings scheint selbst die Möglichkeit von „Schöpfertum als exakter Wissenschaft“ [3] in einem hochgradig psychologisch aufgeladenen und mit entsprechender Ratgeberliteratur überschwemmten Gebiet nicht gegeben. So richten sich die Managementtheorien der Entwicklung entsprechender human resources primär auf die Bedingungen – meist ebenfalls psychologischer Art –, unter denen sich Schöpfertum entfalten könne.

Solchen Theorien, in denen das schöpferische Subjekt als Objekt von Managementprozessen erscheint, steht mit TRIZ ein Theoriegebäude gegenüber, das aus der Selbstreflexion des Handelns schöpferischer Subjekte zunächst vor allem im technisch-ökonomischen Bereich erwachsen ist. Mit dem Thema TRIZ und Business, das sich inzwischen mit der IBTA, der International Business TRIZ Association6, auch in einer eigenständigen internationalen Vereinigung organisiert hat, ist ein weiterer Schritt getan, diese managementtheoretischen Ansätze zusammenzuführen. Allerdings bleibt auf diesem Weg noch einiges zu tun, denn die strikte Betonung der „Nicht-Technizität“ von Managementhandeln verkennt den hohen algorithmischen Gehalt gerade von standardisierten Management-Entscheidungen. Rollen, Rollenbilder, Qualifikationsvoraussetzungen, Zertifizierungen und Assessments spielen in jenen Bereichen eine kaum weniger wichtige Rolle als in klassischen ingenieur-technischen Berufsprofilen.

4. Derartige Fragen standen bereits in den 1980er Jahren auf der Agenda der DDR-Erfinderschulen. Sich dieser Erfahrungen zu erinnern und sie positiv in das TRIZ-Erbe aufzunehmen erscheint dem Herausgeber dieses Sammelbandes nicht nur für einen innerdeutschen Diskurs wichtig, sondern auch für die Weiterentwicklung des TRIZ-Methodikrahmens insgesamt. Viele Fragen, die sich heute insbesondere aus widersprüchlichen „nicht-technischen“ Anforderungen ergeben, standen bereits damals auf der Tagesordnung der Erfinderschulen im Kampf gegen sich zunehmend verschlechternde Rahmenbedingungen des ökonomischen Handelns der Kombinate. Die relativ zentralistischen internen Entscheidungsstrukturen mit dem Kombinatsdirektor als „CEO“, wie man es heute bezeichnen würde, waren ein guter Resonanzboden, die widersprüchliche Entwicklung von gesellschaftlich Notwendigem und technisch Machbarem nicht nur zu analysieren, sondern auch zu praktisch umsetzbaren Handlungsoptionen weiterzuentwickeln. Auch wenn dieser Versuch im Großen 1990 letztlich gescheitert ist, so weisen gerade die Ansätze der Analyse technisch-ökonomischer Widerspruche, die in den Erfinderschulen entwickelt wurden, in eine Richtung, in der heute im Bereich TRIZ und Business ähnliche Fragen neu diskutiert werden.

5. In diesem Sammelband können allein eine Reihe von Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Entwicklung angerissen werden. Für eine vertiefte Darstellung der Prozessdimension jener Jahre sei auf [7] verwiesen, für tiefergehende inhaltliche Aspekte auf die allerdings schwierig zugänglichen Originalmaterialien jener Zeit. LIFIS plant, derartige Materialien schrittweise in digitaler Form zu republizieren und so auch für eine weitere Aufbereitung mit entsprechenden digitalen Werkzeugen, insbesondere für Übersetzungen in andere Sprachen, zugänglich zu machen. Eine erweiterte und von Rainer Thiel überarbeitete Form eines der KdT-Lehrbriefe wird als Band 21 der Rohrbacher Manuskripte erscheinen.

6. Wie der Titel „TRIZ und Dialektik“ schon andeutet, steht im Mittelpunkt unseres Workshops auch weniger eine Leistungsschau der DDR-Erfinderschulen als vielmehr ein Thema, das Rainer Thiel seit über 50 Jahren beschäftigt: Welche Rolle spielen widersprüchliche Anforderungssituationen in unserem Leben? Sind solche Widersprüche allein der aktuellen Begrenztheit unseres Erkenntnisstandes geschuldet oder entwickelt sich die Welt inhärent widersprüchlich? Ist also Welt sinnvoller dynamisch statt deontisch zu fassen, als Werden statt als Sein? Was folgt auf den Zustand, in dem „alle Verhältnisse umgeworfen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385)? Ist dies allein ein Ideales Endresultat im besten TRIZ-Verständnis oder liegen in der Unterschätzung der Widersprüche einer freien Gesellschaft auch Wurzeln des Scheiterns des Sozialismusexperiments des 20. Jahrhunderts? In welchem Verhältnis stehen Kants Philosophie eines kategorischen Imperativs, Hegels Philosophie des Werdens und die TRIZ-Methodik zueinander und zur vernünftigen Gestaltung unseres Zusammenlebens?

Ken P. Kleemann spürt in seinem Beitrag der philosophische Dimension der engen Verquickung von praktisch-kreativer Lösung widersprüchlicher Anforderungssituationen und einer angemessenen Adjustierung dialektischer Denk- und Handlungsweisen in ihrer historischen Entwicklung genauer nach. Spannend hierbei, dass die praxisphilosophischen Ansätze, die in der DDR der 1960er Jahre entwickelt wurden, ingenieur-technischen Praxen deutlich näherstehen als selbst rezente Versuche des „Making it explicit“ einer Refundierung der analytischen Philosophie.

7. Eine etwas engere historische Perspektive nimmt Hans-Gert Gräbe in seinem Betrag ein, der die TRIZ-Methodik auf die sozialen Prozesse der historischen Entwicklung kreativer Potenziale in drei Jahrzehnten DDR-Geschichte anwendet, um die Wurzeln zu analysieren, aus denen die Erfinderschulen der 1980er Jahre gewachsen sind.

Diese historischen Prozesse werden im Detail in Rainer Thiels Beitrag über Erfinderschulen nachgezeichnet. Bei diesem Beitrag handelt sich um den Nachdruck eines bereits 2016 in LIFIS-Online erschienen Textes.

8. TRIZ ist weniger eine fertige Methodik als vielmehr eine Anleitung zur Entwicklung der eigenen schöpferischen Fähigkeiten 7 . Zum TRI Z-Theoriekorpus gehört deshalb nicht nur eine systematische Methodik zur Analyse widersprüchlicher Anforderungssituationen, sondern auch eine Theorie des Lebens schöpferischer Persönlichkeiten 8 . Altschuller hat hierfür die Biografien bekannter Erfinder analysiert und festgestellt, dass sich deren Erfolge vor allem aus zwei Quellen speisen – aus Beharrlichkeit und der Verfolgung eines „würdigen Ziels im Leben“ auch unter ungünstigen Umständen. Genialität und Geistesblitze, die gewöhnlich mit Schöpfertum verbunden werden, haben ihre Basis in einer solchen, über viele Jahre gewachsenen Aufmerksamkeitsstruktur.

Rainer Thiel beschreibt für sich selbst in seiner Autobiografie [9], wie diese Aufmerksamkeitsstruktur bereits von jungen Jahren an gewachsen ist und von ihm nahestehenden Personen befördert wurde. Nicht ganz so klar wird der für Altschuller ebenso wichtige Aspekt eines würdigen Lebensziels. Die Ausführungen in der einschlägigen TRIZ-Literatur über Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen sind eher ein Plädoyer für eine unternehmerische Persönlichkeit und verweisen mit dem Begriff der Häresie

[5] auf einen wesentlichen Widerspruch nicht nur des realsozialistischen, sondern jedes autoritär-etatistischen Gesellschaftsmodells. Das schöpferische Potenzial kooperativer Strukturen, in denen das Ganze deutlich mehr als die Summe der Teile ist, bleibt dabei unterbelichtet. Hier bietet die durch vielfache Wendungen des Lebens gebrochene Biografie von Rainer Thiel viel Unabgegoltenes. In diesen Band ist der Nachdruck einer Besprechung der Autobiografie [9] von Hans-Gert Gräbe aufgenommen, die erstmals im Heft 18 der Rohrbacher Manuskripte publiziert wurde.

9. Den Abschluss bildet ein weiterer Beitrag von Rainer Thiel, den er auf der legendären, von Klaus Fuchs-Kittowski im Jahr 2007 unter Federführung der Leibniz-Sozietät organisierten Kybernetik-Konferenz 9 hielt und der in gewisser Weise einen Schlusspunkt in einer Debatte um „Lehrbarkeit von Dialektik“ setzte, die in den 10 Jahren vorher mit Rainer Thiels Buch [8] sowie insbesondere mit der „Dialektik-Debatte“ in der Zeitschrift „EWE“ 10 geführt worden war. Schlusspunkt nicht in dem Sinne, dass sich danach alle einig waren, sondern dass von einem anderen Teilnehmer jener Debatte zu Thiels weiteren Einlassungen schlicht geantwortet wurde, die Argumente seien ausgetauscht. Die Debattenverweigerung war mit Händen zu greifen, das Thielsche „Sondervotum“ schließt allerdings mit bemerkenswerter Klarheit an die Kleemannsche Argumentation an.

Literatur

[1] G. Altschuller. Erfinden – (k)ein Problem. Berlin 1973. Original: Алгоритм изобретения (Der Algortihmus des Erfindens). Moskau 1969.

[2] G. Altschuller, A. Seljuzki. Flügel für Ikarus. Über die moderne Technik des Erfindens. Leipzig 1983. Original: Крылья для Икара: как решить изобретательские проблемы. Petrozavodsk 1980.

[3] G. Altschuller. Erfinden – Wege zur Lösung technischer Probleme. Berlin 1984. Original: Творчество как точная наука (Schöpfertum als exakte Wissenschaft). Moskau 1979.

[4] G. Altschuller, I. Wertkin. Рабочая книга по теории раз-вития творческой личности (Arbeitsbuch zur Entwicklung schöpferischer Persönlichkeiten). — Kischinjow 1990.

[5] G. Altschuller, I. Wertkin. Как стать еретиком: Жизненная стратегия творческой личности (Wie Häretiker werden: Lebensstrategie schöpferischer Persönlichkeiten). In: A. Seljutzki (Hrsg). Как стать еретиком (Wie Häretiker werden). Petrozavodsk 1991.

[6] V. Petrov, M. Rubin, S. Litvin. Основы знаний но ТРИЗ (Der TRIZ-Wissenskorpus). Erstpublikation 2007. Neuauflage 2020. ISBN 978-5-4496-8183-6.

[7] H.-J. Rindfleisch, R. Thiel. Erfinderschulen in der DDR. Berlin 1994. ISBN 3-930412-23-3.

[8] R. Thiel. Allmählichkeit der Revolution. Blick in sieben Wissenschaften. Berlin 2000. ISBN: 978-3-8258-4945-7.

[9] R. Thiel. Neugier – Liebe – Revolution. Berlin 2010. ISBN 978-3-86465-060-4.

[10] I. Wertkin. Бороться и искать ... О качествах творческой личности (Kämpfen und suchen ... Über die Qualitäten einer schöpferischen Persönlichkeit). In: A.B. Seljutzki (Hrsg). Нить в Лабиринте (Der Faden im Labyrinth). Petrozavodsk 1988.

Hans-Gert Gräbe

Leipzig, im August 2020


1 RIZ ist ein russisches Akronym und steht für Теория решения изобрета- тельских задач – Theorie der Lösung von Erfindungsaufgaben.

2 Der Titel eines Verdienten Erfinders wurde seit 1950 vergeben und brachte nicht nur Ehre und Anerkennung der besonderen sozialen Rolle eines Erfinder mit sich, sondern seine Träger bildeten auch einen gesellschaftlichen Kontext, der für die aufstrebende Erfinderschulbewegung wichtig war.

3 https://matriz.org

4 Quelle: Webseiten der MATRIZ.

5 http://etria.eu/portal/

6 http://www.biztriz.net/.

7 Ein gängiger TRIZ-Slogan argumentiert: „Der Zweck der TRIZ ist es, dem Hungrigen eine Angel zu geben und nicht einen gefangenen Fisch“.

8 Dieser TRIZ-Part einer „Theorie der Entwicklung und Lebensstrategie schöpferischer Persönlichkeiten“ liegt nicht in deutscher Übersetzung vor. Eine Literaturübersicht dazu (in Russisch) ist in [3.2, 6] zu finden. Siehe auch [4], [5] und [10].

9 Unter http://www.leipzig-netz.de/index.php/HGG.2019-09 sind hierzu einige Aufzeichnungen zusammengetragen.

10 Siehe https://groups.uni-paderborn.de/ewe/indexe27e.html.

Dialektik der kreativen Innovation

Ken Pierre Kleemann, Leipzig

Digitalisierung ist zum Epochenbegriff geworden und fordert die Wissenschaftler und Ingenieure, aber auch Politiker und zivilgesellschaftliche Akteure. Eine Veränderung, welche jeden betrifft und selbst noch in der Entfaltung ist, stellt extreme Anforderungen sowohl an die Erstellung der Infrastruktur als auch an ihre Einbettung und Umsetzung in unseren alltäglichen Verhaltensformen. Eine derartige sozio-technische Veränderung erzeugt nicht nur einen Druck auf die politischen Verfahrensweisen, sondern einen allgemeinen Innovationsdruck in der ganzen Gesellschaft. Doch wird nicht auf eine strukturelle und soziale Gestaltung der Bedingungen der Möglichkeit für derartiges Erfinden gesetzt, sondern der Mythos einer fantasievollen und spontanen Kreativität gepflegt. Dieses Bild einer genialen Spontanität ist ein echtes philosophisches Problem, denn es wird nicht nur ein problematisches Menschenbild gepflegt, sondern auch die Vorstellung eines unstrukturierten Umschlages von Quantität in Qualität in einer eigenwilligen Vorstellung von Dialektik tradiert.

In einem ersten Schritt wird es folglich um dieses neue heilige Triumvirat gehen: Digitalisierung, Innovation, Kreativität. In einem zweiten Schritt wird das Problem der Spontanität zur neueren Entwicklung der Philosophie der letzten Jahre in Verbindung gebracht. Daraus wird sich in einem nächsten Schritt das Problem des verwendeten Bildes der Spontanität als philosophisches und historisches Bild ergeben. Im vierten Schritt wird es somit möglich, die Dialektikdiskussion in der DDR als Erfahrung und Inspiration zu beleuchten, und in einem weiteren Schritt die alternativen Formen einer derartig theoretisch gestützten Praxis deutlich zu machen. Im sechsten Schritt kann so die theoretische und praktische Leistung Rainer Thiels gewürdigt werden, welche sich nicht nur auf die Einführung von TRIZ beschränkt. Erfinderschulen sind auch heute noch eine Chance, die Bedingungen der Möglichkeit von Innovationen fruchtbar zu machen und dennoch dem mythischen Bilde der spontanen Kreativität Raum zu geben, auch ohne die Tradierung eines mehr als problematischen philosophischen Erbes.

1. Kreative Innovation und das Problem der Spontanität

In mantrischen Zügen erschallt das neue heilige Triumvirat durch Fachzeitschriften und Feuilletonartikel: Digitalisierung, Innovation, Kreativität. Unleugbar stehen wir heute in einer Entwicklung, die nicht nur Arbeits- und Verfahrensweisen ändert, sondern auch die Vorstellungen über unser Verhalten entscheidend umgestaltet. Seit nunmehr fast fünfzehn Jahren ist das, was man einst Datenverarbeitung und Computerisierung nannte, in eine neue und qualitativ andere Phase getreten. Nullen und Einsen, Bits und Bytes, Zeichensätze und Programmiersprachen sind nicht nur in riesigen Datenverarbeitungszentren erfasst, sondern durch das Internet vernetzt und in sich relatiert.

Diese Digitalisierung arbeitet nicht mehr einfach mit der Rekursivität einzelner Rechenoperationen, sondern mit einer versprachlichten und verlinkten Wissensbasis. Diese ist mitnichten „einfach programmiert“, sondern in einem langen historischen Prozess von vielen Akteuren erstellt und entwickelt worden. Semantische Technologien und die – wohlgemerkt nicht philosophischen – Ontologien sind digital-sprachlich erfasste Nachbildungen unserer alltäglichen begrifflichen Kategorisierungen; sie sind digitale Begriffe und Relationen, welche sich aus dem Vollzug unserer alltäglichen und durch digitale Geräte gestützten Urteilspraxen nicht nur ergeben, sondern gleichzeitig diese umgestalten.

Neben den Schreckgespenstern des gläsernen Menschen oder des totalen Überwachungsstaats werden echte Optionen einer humanen sozio-technischen Infrastruktur möglich11. Der digitale Behaviorismus12 ist somit nicht allein die Möglichkeit der Abrichtung durch neue Pawlowsche Glöckchen, sondern das echte und umfassende Begreifen und Gestalten wirklicher menschlicher Lebensvollzüge. Big Data Analyse ist nicht einfach die quantitative Erfassung und Steuerungsmöglichkeit einer beschleunigten Gesellschaft, sondern auch Auswertung, Abgleich und Verwendung digitalisierter Lebensweisen. Der sogenannte digitale Wandel fordert somit nicht allein einen Breitbandausbau oder ein 5G Netz, sondern die Anwendung und Veränderung unserer täglichen Lebensweise und die gleichzeitige Adaption und Veränderung der technologischen Grundlagen. Der Sinn des Begriffs einer sоzio-technischen Infrastruktur erhält dementsprechend eine sehr weite Konnotation, welche sich in ihrer Bedeutung nicht auf die Gründung von innovativen Start-ups oder einer volkswirtschaftlichen Ausrichtung von einer Markt- auf eine Technologieführung beschränken kann. Digitalisierung unserer soziotechnischen Infrastruktur bedeutet immer auch, die Bedingungen der Möglichkeit für jegliche Innovation in den Blick zu nehmen und für die gesellschaftliche Gestaltung fruchtbar zu machen.

Damit lässt sich Digitalisierung und Innovation kaum noch trennen von dem, was gebräuchlicherweise Kreativität genannt wird. Fantasie, Genialität und ein gewisses unkonventionelles ästhetische Erleben werden dabei kolportiert und in eine Zwangssynonymisierung gedrängt, in der der „kreative Säulenheilige“ der heutigen digitalen Ära sofort präsent ist. Ob nun Steve Jobs oder ein fragwürdiger Elon Musk, der neue Typus des begnadeten Erfinders ist nicht nur gefunden, sondern selbst als Mythos mit der „digitalen Wende“ emporgestiegen. Das neue heilige Triumvirat wird durch eine derartige popkulturelle Beleuchtung ins Scheinwerferlicht gerückt; Digitalisierung und das heutige Verständnis von Innovation brauchen den Geistesblitz einer intellektuellen Anschauung, welche sich nicht durch Zwänge oder Vorgaben beschränken lassen will und schon gar nicht durch eine systematische und methodische Herangehensweise. Digitalisierung braucht Innovationen, und diese müssen, so der Chor der Allem-A-Strukturellen, fantasievoll und kreativ sein. Der begnadete Erfinder der digitalen Ära ist ein spontaner Kopf. Es ist eine Vorstellung von Kreativität in den heutigen Diskursen im Spiel, welche mit einer problematischen Vorstellung von Spontanität agiert. Dieses Bild der Spontanität ist ein echtes philosophisches Problem.

2. Die Rückkehr der Dialektik und die Kritik des spontanen Menschenbildes

Ein philosophisches Problem wird problematisch, wenn nicht klar wird, was das Problem ist, sondern einen Streit auslöst, was Philosophie selbst ist und soll.

Seit gut dreißig Jahren ist für die Universitäten der Berliner Republik die Verheiratung der kontinentalen und analytischen Philosophie, wie es Habermas nannte, maßstabsgebend13. Sinnfragen oder weltanschauliche Grundsätze werden bei beiden „Richtungen“ einer sprachlichen und damit wissenschaftstheoretischen Kritik unterzogen, wobei die sogenannte kontinentale Philosophie sehr wohl eher den Nimbus der gesellschaftskritischen Gewichtung für sich verbuchen kann. Angelsächsische oder analytische Philosophie geniesst hingegen immer noch den Ruf einer kalten und trockenen Arbeit an Logik und gesellschaftlich unkritischer Wissenschaftstheorie. Mag diese Vorstellung auch auf einige Vertreter der sogenannten Philosophie der idealen Sprache zutreffen14, so gilt dies aber zum einen nicht für die Väter dieser Richtung und zum anderen auch nicht für deren Erben.

Für die Väter aus dem Wiener Kreis war die Kombination von Einheitswissenschaft und Sozialtechnologie eine Selbstverständlichkeit15 und konnte bei einem Menschenbild der individuellen und spontanen Kreativität nicht haltmachen. Gesellschaftliche Gestaltung braucht hier nicht nur den genialen Erfinder, sondern Bedingungen, sowohl wissenschaftlich als auch politisch, welche überhaupt erst einmal Möglichkeiten zeitigen16.

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