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© 2020 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Andjelka Antonijevic
Korrektorat: Anna Katharina Müller
Umschlaggestaltung: kaziminmizan
eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar
ISBN ePub 978-3-7296-2320-0
ISBN mobi 978-3-7296-2321-7
www.zytglogge.ch
In der Heimat
meines Vaters
riecht die Erde
wie der Himmel
Roman
Der Verlag unterstützt das Vorhaben der Autorin, in diesem Roman eine diskriminierungssensible Sprache zu verwenden.
«Schwarz» wird in Zusammenhang mit der von Rassismus betroffenen sozial-politischen Position in der Selbstbezeichnung großgeschrieben, empowernd verwendet und soll die geteilte Rassismuserfahrung sichtbar machen.
«Weiß» wird klein und kursiv geschrieben, wenn es die privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus abbildet und soll zeigen, wer in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsnorm oft unbenannt bleibt.
«Schwarz» und «weiß» bezeichnen somit keine Hautfarben, sondern zwei rassifizierte Positionen.
Die Figuren in diesem Roman bedienen sich der Begrifflichkeiten ihrer Generation. Ende der Achtziger-Jahre heißt dies, dass sie z. B. «Afrika» nicht genauer differenzieren, wenn sie über Herkunftsländer sprechen, auch wenn dies oftmals diskriminierend wirken kann. Die Autorin hat sich entschieden, solche Begriffe in dem damaligen Sprachgebrauch zu belassen. Dennoch möchte sie darauf aufmerksam machen, dass diese Bezeichnung die Gefahr birgt, pauschalisierende, stereotype Bilder über Menschen afrikanischer Herkunft hervorzurufen.
Für A.E.
Meine Mutter ist stolz, wenn sie über die Heimat meines Vaters spricht. Ich glaube, weil es etwas Exotisches ist, jemanden aus Afrika in der Schweiz zu haben.
Wie die Kokosnüsse in der Migros, die sind auch etwas Spezielles, weil sie nicht bei uns wachsen.
Mein Vater riss seine Wurzeln in Sansibar heraus und pflanzte sie wieder in der Schweiz ein. Hier kann er weiterwachsen.
«Langsam, aber sicher verwurzelt er sich», meint meine Mutter.
«Wie lange geht es denn, bis sich eine Pflanze ganz verwurzelt?», frage ich sie.
«Das kommt auf die Pflanze drauf an.»
«Und auf die Erde», fügt meine Schwester hinzu.
Wenn mein Vater kocht, schickt er uns unter dem Küchentürspalt hindurch kleine Duftkostproben aus seiner Heimat in das Innere der Wohnung. Wir atmen sie ein und schweben auf den Düften davon, in die Heimat meines Vaters, dort, wo die Erde seine ist. Dort, wo ihn alle begrüßen und die Haut nach Jasminblüten riecht. Es riecht nach Kardamom und Zimt in den Töpfen. Es riecht nach warmem Hefebrot in der Pfanne und nach Hennafarbe an den Händen.
Unter der Woche kocht mein Vater für andere und am Wochenende für uns und unsere Gäste.
«An fünf Wochentagen koche ich nur langweilige Sachen. Röschti mit Bratwurst, Gulasch mit Spätzle, Speck mit Sauerkraut, solches Zeugs eben», sagt mein Vater, «das muss ich kochen, damit es den Arbeitern in der Kantine in Zürich schmeckt. Ich darf nicht einmal eine eigene Salatsauce machen.» Mein Vater rückt seine Brille gerade.
«Die Arbeiter kommen mit grauen Gesichtern ins Restaurant und gehen auch wieder mit grauen Gesichtern raus.» Er blickt uns über den Brillenrand an. «Mit mehr Gewürzen und mehr Liebe könnte ich das ändern. Sie würden nach dem Mittagessen mit einem Lächeln wieder zurück an ihre Arbeit gehen und sicher viel besser arbeiten. Aber man lässt mich nicht machen – warum auch immer», sagt mein Vater, dabei rutscht ihm seine Brille wieder auf die Nasenspitze.
«Aber sei doch froh, dass du eine Arbeit hast», ruft meine Mutter.
«Diese Küche ist auf jeden Fall nicht meine Küche», sagt mein Vater, als hätte er meine Mutter nicht gehört. «Eigentlich bin ich ja nicht das, was ich jetzt mache, ich bin gelernter Chemiker», sagt er mit geraden Schultern. «Aber kochen kann ich auch.»
«Und wie», sagt meine Mutter lachend.
Zum Glück hat mein Vater seine Nase, die macht ihn zum besten Koch der Welt. Mit der kann er riechen,
welche Gewürze und Zutaten zusammenpassen
er erriecht aus allen Gerichten
alle Kräuter, Gewürze und Zutaten einzeln
Sogar aus den Duftlampenmischungen von Mamo kann er jedes einzelne Kraut und Gewürz herausriechen. Kein Fett und keine Schärfe können seine Nase irritieren.
Er weiß sogar, ohne sich zu bewegen, aus welcher Richtung ein Geruch kommt.
Ich glaube, mein Vater lernte schon zu kochen, als er noch im Bauch seiner Mutter war. Er nahm jedes Essen, das sie runter zu ihm in den Bauch schluckte, auseinander und merkte sich die Geschmäcker für später, für dann, wenn er selbst einmal kochen würde.
Am Wochenende kocht mein Vater bei uns zu Hause oft einen ganzen Tag lang und kommt nicht mehr aus der Küche raus.
Seine Küche ist sein Heimatland.
In seiner Heimat spricht mein Vater in seiner Sprache, er flüstert mit jeder einzelnen Zutat. Ich glaube, er erzählt ihnen seine Geschichten, die er dann sorgfältig in die verschiedenen Gerichte verpackt: In jedes einzelne Samosa verpackt er einen Teil der Geschichte, die von dem kleinen Jungen erzählt, der seiner Tante in Sansibar beim Kochen über die Schultern schaut. Er will unbedingt auch so gut kochen lernen, aber seine Tante verscheucht ihn jedes Mal mit lautem Geschrei aus der Küche. Trotzdem erhascht der Junge immer wieder neue Kochgeheimnisse und notiert sie.
Der Pilawreis ist ein Spaziergang durch einen duftenden Gewürzmarkt. Der scharfe Zwiebeltomatensalat, der den Reis begleitet, rüttelt unsere Gäste, als würde ein Markthändler energisch auf ihre Schultern klopfen, um ihnen seine Ware zu zeigen.
Die in Fett gebackenen Mahamris mit der Bohnentomatensauce verbergen meine Lieblingsgeschichte. Darin erzählt mein Vater von den schäumenden, rauschenden Wellengängen des Meeres. Ein süß-salziges Meeresbad, in das ich eintauche. Die Kardamomsamen, die er in den süßlichen Teig der Mahamris einarbeitet, sind die Muscheln, die ich im klaren Wasser auf dem Meeresgrund glitzern sehe.
Für die Vorspeise kocht mein Vater kleine Crevetten in einer Zwiebelkokosnusstomatensauce.
«Dazu passt doch ein weißes Baguette», sagt meine Mutter, «dann haben unsere Gäste noch etwas, was sie kennen.»
Mein Vater findet, das sei eine gute Idee. «So können sich unsere Gäste langsam an die fremden Geschmäcker gewöhnen.»
Aber ich glaube, es würde auch ohne weißes Brot gehen, denn unsere Gäste bekommen durch die cremige, fast schäumende Kokosnusssauce ein warmes Herz. Mit einem warmen Herz gewöhnt man sich ganz schnell an alles.
Nach dem Kochen ist mein Vater jedes Mal erschöpft und oft isst er gar nicht viel von seinem gekochten Essen. Seine haarigen Hände über seinem dicken Bauch gefaltet, sieht er uns schmunzelnd beim Essen zu. Er weiß genau, was wir beim Essen sehen und hören.
Zum Dessert gibt es immer frische Mangos. Mangos sind das Lieblingsessen meines Vaters, er isst nicht nur zum Dessert Mangos. Er isst sie zum Frühstück, mittendrin, nach dem Mittagessen, mittendrin, nach dem Abendessen. Mein Vater isst Mangos mit geschlossenen Augen. Er lutscht am Fruchtkern, als hätte er darin seine Lieblingsgeschichte versteckt.
«Sie sind süß, aber auch etwas sauer, so wie das Leben auch», sagt er manchmal.
Vaters Hände riechen nach Mango, auch seine Haut riecht nach Mango.
Ich würde gerne wissen, wie Nelson Mandela riecht. Ich glaube, er riecht erst einmal nach Gefängnis. Aber dieser Geruch ist nur eine Lüge, denn auch Gerüche können lügen. Eigentlich riecht Nelson Mandela anders, da bin ich sicher. Er riecht kristallklar, wie die Luft im Herbst oder das Wasser eines Bergflusses, und wenn man ihm ganz nahekommt, dann riecht man Zimt, vermischt mit einem warmen, holzigen Duft.
«Eines Tages wird er das Gefängnis mit erhobenem Haupt verlassen», sagt mein Vater und blickt zu Nelson Mandela hoch. Nelson Mandela hängt in unserer Küche. Ich sehe ihn jeden Tag mit geballter Faust in der Luft geradeaus blicken. Unter ihm steht: ‹Ein Leben in Freiheit›.
«Er kann seine Freiheit behalten, auch wenn er gefangen ist», sagt meine Mutter. «Das kann er, weil er die Versöhnung kennt.»
Bevor wir ins Bett gehen, betet unsere Mutter mit uns, oder mein Vater erzählt uns von Nelson Mandela. Er erzählt, dass Nelson Mandelas Vater ihm einen Namen gab, der ‹Unruhestifter› bedeutet. Er erzählt von dem Dorf, in dem Nelson Mandela aufgewachsen ist, und wie er als Hirtenjunge auf Kälber aufpasste und Fische in Flüssen fing. Wie er die Weite und den Horizont liebte. Mein Vater erzählt uns jedes Detail, als hätte er die Geschichte selbst erfunden oder als wäre er selbst dabei gewesen. Am Schluss beendet er die Erzählung mit «Mayibuye i Afrika! – Lasst Afrika zurückkehren!»
Wenn ich meinen Vater frage, ob er mit Nelson Mandela aufgewachsen ist, fragt er zurück: «Wie kommst du darauf?»
Ich weiß mehr über die Geschichte von Nelson Mandela als über die Geschichte meines Vaters.
Immer wenn meine Schwester und ich traurig sind, geht unser Vater in die Küche und röstet Goldnüsse für uns.
«Ihr müsst aber zuschauen, damit ihr eure Sorgen später selbst behandeln könnt», sagt er mit dem Zeigefinger in der Luft.
Dann zermahlt er drei Safranfäden und legt sie ins Wasser. Die grünen, großen Kardamomkapseln, die er nur für die Goldnüsse braucht, lässt er unter seinen Fingern zerplatzen und nimmt die darin liegenden kleinen, schwarzen Samen heraus. Dabei sieht er aus, als würde er sie liebevoll herauslocken, da sie Angst davor haben könnten, danach mit dem Mörser zerstampft zu werden. Um die Samen tut es mir nie leid, ich finde, sie sehen wie kleine Insekten aus, aber wenn ich einen esse, dann bekomme ich ein warmes Bauchgefühl.
Mein Vater zerstampft die harten Samen nur kurz, damit sie noch körnig bleiben, und man immer wieder auf kleine Überraschungen beim Zerbeißen der Nüsse trifft. Die Cashewkerne röstet er in der Pfanne braun, bis sie zu duften beginnen. Er nimmt den Safran aus dem goldfarbenen Wasser und leert dieses zu den Nüssen.
Dann fügt er Zucker dazu. Sobald sich der Zucker um die Nüsse legt, wirft er ein paar Fingerspitzen Kardamomsamen dazu, karamellisiert alles, bis die Cashewkerne knacken. Danach verteilt er sie schnell auf dem Blech, trennt jede einzelne, damit wir eine nach der anderen essen können.
Weil die Zutaten der Goldnüsse wertvoll sind, dürfen wir sie nur einzeln und am besten mit geschlossenen Augen essen.
Beim Essen erzählt uns mein Vater eine kurze Geschichte aus seiner Heimat. Nur so lang wie ein Safranfaden und so flüchtig wie ein Augenaufschlag. Am Anfang der Geschichte schließt er die Augen und erzählt zum Beispiel, wie seine Tante für das Gericht wali wa nazi – Kokosnussreis – frische Kokosnussmilch macht. Dafür sitzt sie auf einem Hocker, der vorne ein scharfes Messer eingebaut hat, und raspelt aus einer Kokosnusshälfte feine Raspeln heraus. Die füllt sie in einen Bastbehälter und wringt sie von Hand aus, so dass die dünne Kokosnussmilch durch ihre Finger rinnt. Am Schluss öffnet mein Vater wieder seine Augen und fragt: «Kila kitu kizuri tena – Ist jetzt alles wieder gut?»
Und wir fragen zurück: «Was war denn los?»
Ich weiß mehr über die Geschichte von Nelson Mandela als über die Geschichte meines Vaters.
«Du siehst aus wie Vater, nur als Mädchen», sagt meine Schwester. Doch der Unterschied zwischen mir und meinem Vater ist der, dass mich alle Menschen anfassen, ihm jedoch schauen sie nicht einmal in die Augen.
Mein Vater ist anders, aber nur wegen seiner Hautfarbe.
«Aber eigentlich nur, weil wir in der Schweiz leben, Ende der Achtziger-Jahre, und noch viele Köpfe in Schachteln und Schubladen denken», sagt meine Mutter.
Ich glaube, dass wir eigentlich eine normale Familie sind, obwohl mein Vater ein Ausländer ist,
und nicht immer alles so versteht, wie es die Schweizer meinen
und die Schweizer manchmal denken, er ist aus dem Urwald
und obwohl wir kein Auto haben
und anstatt ‹Butter› ‹Anke› sagen
und manchmal Fondue im Frühling essen
und obwohl unser Fernseher im Keller steht
Aber jedes Kind findet seine Familie normal, es ist ja seine Familie. Sobald es aber aus der eigenen Wohnung in die Wohnung von anderen Kindern geht, sieht es, dass es noch andere normale Familien gibt, und vielleicht ist dann seine Familie gar nicht mehr so normal, wie es dachte.
Ich kenne nur zwei Familien bis jetzt: unsere und die von Carmelina. Beide sind gleich normal, außer dass ihre beiden Eltern kein Deutsch verstehen, aber sie sind beide weiß. Und Carmelinas Fernseher steht immer im Wohnzimmer.
Wir dürfen unseren kleinen Fernseher nur zu besonderen Anlässen vom Keller ins Wohnzimmer stellen, nur dann, wenn die Fußball-Weltmeisterschaft oder die Fußball-Europameisterschaft läuft. Da gibt es keine Diskussionen. Dann sitzt mein Vater mit gespreizten Beinen auf dem Sofa und merkt gar nicht, dass er so viel Platz einnimmt, dass wir auf dem Sofarand sitzen müssen und bei jedem Goal, bei dem er aufspringt, auch aufspringen müssen.
Ich mag meinen Vater am allerliebsten, wenn die WM läuft, weil er sich dann so freut, dass er ganz außer sich ist und überall hingehört und mit allen etwas zu reden hat.
Wenn ich die Welt erschaffen hätte, hätte ich in jedem Land die Menschen vermischt. Dann wäre es normal, dass auch in der Schweiz Menschen mit einer braunen Hautfarbe herumlaufen. Aber Gott ist auch nur ein Mensch und macht Fehler. Er kann auch nicht hellsehen und wissen, wie sich die Menschen untereinander verhalten und sich miteinander fühlen.
Vor dem Einschlafen bete ich zu Gott, er möge doch seinen Fehler rückgängig machen, aber am nächsten Morgen ist alles so wie gestern.
Frau Baumann, meine Lehrerin, ist weiß
mein Schwimmlehrer ist weiß
meine Singlehrerin ist weiß
meine Handarbeitslehrerin ist weiß
alle Kassiererinnen in der Migros sind weiß
alle Kassiererinnen im Coop sind weiß
die Bahnhofkioskverkäuferin ist weiß
äweiß