Lotte Meisner genießt ihr Rentner-Leben inmitten der Weinberge und der Gesellschaft ihrer Hündin Käthe, als die Idylle des ruhigen Örtchens in der Vorderpfalz durch einen Todesfall bei der Probe des Kirchenchors getrübt wird. Fräulein Meisner, ein langjähriges Mitglied, glaubt nicht an einen natürlichen Tod der Solistin und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Doch bald stirbt ein weiteres Mitglied und sein Tod wirft sofort eine Frage auf: will sich im Chor etwa jemand nach oben morden … ?
Erstausgabe Februar 2020
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E-Book-ISBN: 978-3-96087-961-9
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-968-8
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Lektorat: Daniela Höhne
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Für meine liebe Familie:
Tim, Sammy, Josie
und unsere Bullydame Käthe
Ein letzter Blick in den Spiegel, ein kritisches Zupfen am bunten Hut und Lotte Meisner wandte sich mit einem zufriedenen Grunzen ab. Wie jedes Mal, wenn sie ihr kleines Häuschen verließ, kontrollierte die rüstige alte Dame den Sitz ihrer Kopfbedeckung. Das Haus ohne passenden Hut zu verlassen, würde Lotte niemals einfallen. So besaß sie mittlerweile eine beachtliche Sammlung, die sie in einem großen Regal im Hausflur aufbewahrte. Heute hatte sie sich für ein hellblaues Exemplar mit roter Feder entschieden.
Beim Heraustreten in den schmalen Gang konnte sich Lotte gerade noch abfangen, bevor sie stolperte. Entrüstet blickte sie auf das kleine, haarige Hindernis, das sie mit großen Augen ansah. „Willst du, dass ich mir den Hals breche, Käthe? Wer soll dich denn dann Gassi führen?“
Bei diesem Stichwort wedelte das Tier eifrig mit dem Schwanz. In ihrem Fall wackelte jedoch das gesamte Hinterteil, da sie rassebedingt nur ein kleines Stummelschwänzchen besaß.
„Gleich, Käthe, wir gehen ja gleich zur Probe“, vertröstete Lotte ihre französische Bulldoggendame, die daraufhin direkt vor der Haustür parkte. Eines ihrer Ohren stand wie immer schnurgerade in die Höhe, während das andere schlaff nach unten hing.
Lotte ergriff ihre Handtasche, zupfte ein letztes Mal den Hut zurecht und verließ, in Begleitung einer aufgeregt hechelnden Käthe, das Haus. Da ein kühler Wind wehte, zog sie ihren Hut etwas tiefer in die Stirn. Für Ende März war es empfindlich kalt und es wurde noch früh dunkel. Lotte ließ sich davon nicht irritieren und stapfte entschlossen die schmale Straße entlang, in der ihr kleines Häuslein lag und die direkt an ein Weinfeld angrenzte. Sie liebte die Weinberge und freute sich schon auf die Zeit, wenn die ersten zarten Blätter an den Weinreben wachsen würden. Der kleine Weinort Ganzenheim in der Vorderpfalz war seit sechs Jahrzehnten Lottes Wahlheimat. Sie hatte das Dörfchen kennen- und lieben gelernt, als sie mit dem Chor ihrer Heimatgemeinde aus dem schwäbischen Augsburg hier ein Konzert gegeben und eine Woche vor Ort verbracht hatte. Nach dieser recht kurzen Zeit, in der sie unzählige Kilometer durch die Weinberge spaziert war, hatte sie sich eine Rückkehr in ihre Heimat nicht mehr vorstellen können. Da sie ungebunden war und noch nie Probleme mit spontanen Entscheidungen gehabt hatte, ließ sie sich kurzerhand in Ganzenheim nieder.
Das Konzert hatte damals in derselben Kirche stattgefunden, die Lotte nun flotten Schrittes ansteuerte. Sie lag, wie in so vielen Dörfern, in der Mitte der Ortschaft und war der Dreh- und Angelpunkt des Dorflebens. Hier fand samstags der Wochenmarkt statt und sämtliche Dorffeste wurden hier gefeiert.
Lotte bog nach rechts ab und folgte einem schmalen Fußpfad, der sie in Richtung Dorfzentrum führte. Dieses mündete in eine ziemlich ausladende Treppe, die sie trotz ihrer achtundsiebzig Jahre mühelos bewältigte. Die täglichen Spaziergänge durch die Weinberge hielten sie fit. Oben angekommen, erblickte Lotte den roten Sandsteinbau der St. Marienkirche. Zweimal die Woche kam sie abends zur Probe des Chores hierher und unzählige Sonntagsmessen hatte sie auf der harten, hölzernen Bank in der Empore der Kirche verbracht.
Der Ganzenheimer Kirchenchor war die Besonderheit des kleinen Örtchens. Obwohl das Weindorf gerade mal zweitausendfünfhundert Einwohner zählte, war der Chor überregional bekannt und hatte zahlreiche Preise gewonnen. Lotte war sehr stolz darauf, Mitglied in dieser Gesangsgemeinschaft zu sein, und sang mit Inbrunst die zweite Stimme.
Am heutigen Dienstag hatten sich vor dem Portal der Kirche bereits eine Handvoll Damen und Herren versammelt und unterhielten sich vor Beginn der Probe miteinander.
„Ah, Fräulein Meisner, Sie haben wieder Ihren Hund mitgebracht“, begrüßte sie ein älterer Herr. Die Missbilligung in seiner Stimme war kaum zu überhören. Lotte gönnte dem gedrungenen Gottlieb Meier mit dem graumelierten Haar nur einen kurzen, eisigen Blick und ging an dem Grüppchen vorbei in den Kircheneingang. Seine Abneigung gegenüber ihrer Hündin kannte sie schon. Sein Bruder Wolfgang, der neben ihm stand und ihn um zwei Köpfe überragte, warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Wie so oft dachte Lotte kurz darüber nach, wie zwei Brüder nur so unterschiedlich sein konnten. Während Gottlieb Meier keine Gelegenheit ausließ zu sticheln, war sein zwei Jahre jüngerer Bruder Wolfgang ein hilfsbereiter Mann, der sich um seine Mitmenschen kümmerte. Wenn es etwas zu reparieren gab, war Wolfgang immer zur Stelle. Seinem älteren Bruder wäre es niemals eingefallen, auch nur einen Finger für seine Mitmenschen krumm zu machen.
Nachdem sie mit Käthe die schmale Holztreppe zur Empore erklommen hatte, ließ sie sich mit einem leisen Seufzer auf ihrem Stammplatz in der ersten Sitzbank nieder und die kleine Bullydame legte sich darunter. Nach und nach füllten sich die Reihen, als die übrigen Chormitglieder ihre Plätze einnahmen. Die Organistin Margarete Neuhaus breitete sorgfältig ihre Noten aus und der Chorleiter Hermann Lang wippte auf den Fußballen auf und ab, wie es seine Art war. Im Geiste schien er bereits das erste Lied durchzugehen, was seine wild in der Luft fuchtelnden Arme verrieten. Die Kirchenbank knarrte laut, als sich neben ihr eine kleine, rundliche Frau mit kurzen, grauen Locken darauf plumpsen ließ. Obwohl es keine Anzeichen von Regen gab, hielt die alte Dame einen Regenschirm in den Händen. Diesen schob sie zu Käthe unter die Kirchenbank, was die Bullydame mit einem leichten Grunzen quittierte.
„Hallo, Lotte. Was für ein Mistwetter heute, oder?“, wandte sich die alte Dame an Lotte. Das wilde Schnaufen, das wohl von den gerade erst erklommenen Treppenstufen herrührte, machte es Lotte schwer, ihre Banknachbarin zu verstehen. Als das Japsen endlich abgeklungen war, kramte diese wild in der überdimensionalen Handtasche, zog schließlich ein braunkariertes Stofftaschentuch hervor und schnäuzte ausgiebig hinein.
Lotte wartete das Ende des eher undamenhaften Getrötes ab und erwiderte: „Guten Abend, Agnes. Ja, da hast du wohl recht. Ich hoffe, dass der Frühling nicht mehr so lange auf sich warten lässt. Spätestens zur Ostermesse würde ich mich über wärmeres Wetter freuen.“ Freundlich lächelten sich die Frauen an. Die Banknachbarinnen verstanden sich gut und trafen sich öfter auf einen kleinen Sherry, um über dieses und jenes zu plaudern. Gerade Agnes’ offenherzige Art hatte es Lotte angetan. Die Tatsache, dass diese ebenfalls nie verheiratet gewesen war, verband sie noch stärker.
„Oh ja, wenn sogar das Fernsehen zur Ostermesse kommt, muss es doch schönes Wetter haben, das geht ja quasi gar nicht anders“, erwiderte Agnes.
Die Ostermesse war das Highlight im Jahresablauf des kleinen Ortes. Traditionellerweise fand direkt im Anschluss das erste Weinfest rund um die Dorfkirche statt. Eine Auftaktveranstaltung, die im ganzen Ort beliebt war und die jährlich viele Touristen anlockte. Der Ganzenheimer Kirchenchor probte schon seit dem Ende der Weihnachtszeit unermüdlich für seinen großen Auftritt. Dieses Jahr hatte sich sogar ein Team des Regionalfernsehens angekündigt, das die Messe filmen und im Anschluss einen kleinen Dokumentarfilm über den bekannten Chor drehen wollte. Seit Herr Lang dies verkündet hatte, gab es kaum ein anderes Gesprächsthema mehr zwischen den Mitgliedern.
Ein leises Pupsgeräusch unter der Kirchenbank verriet, dass die kleine Bullydame eingeschlafen war. Agnes kräuselte ein wenig die Nase, während Lotte die Ausdünstungen ihrer kleinen Gefährtin ignorierte. Wenn die Duftnote etwas zu gravierend wurde, fand sie stets eine andere Person, der sie diese zuschreiben konnte. Besonders die Banknachbarin ihrer hochbetagten Freundin Erna Meier, die direkt hinter Lotte saß und die die Mutter von Wolfgang und Gottlieb Meier war, hatte sich schon oft deren strengen Blick eingefangen und war, wie jedes Mal, sofort schuldbewusst errötet.
Herr Lang zog bedächtig seinen kleinen hölzernen Dirigierstab aus einem Lederetui und klopfte dreimal an den vor ihm stehenden Notenständer. Das Gemurmel und leise Gelächter der Chorgemeinschaft verebbte nach und nach und dreißig Augenpaare richteten sich aufmerksam auf Herrn Lang, der wie üblich auf einer Holzkiste stand. Warum er dies tat, war Lotte ein Rätsel, maß er doch mindestens zwei Meter und überragte somit die allesamt älteren Herrschaften.
„Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte“, erklang die hohe Stimme, die so ganz und gar nicht zu seiner hünenhaften Statur passen wollte. „Wir haben nur noch zwei Wochen Zeit bis zu unserem großen Fernsehauftritt und es gibt noch so einiges zu tun. Wir steigen in die heutige Probe direkt mit Aufwärmübungen ein und dann machen wir mit der Missa brevis weiter.“
Lotte seufzte laut, was Herr Lang mit einem strafenden Blick quittierte. Die Missa brevis wäre nicht ihre erste Wahl für die Ostermesse gewesen. Sie schätzte zwar das Werk an sich, doch hatte es einen Solistenanteil von beachtlicher Zeitdauer und für Lottes Geschmack kam der Chor hierbei zu kurz.
„Frau Giebelhofer, wenn ich Sie dann bitten dürfte?“ Der Chorleiter zeigte mit seinem Dirigentenstab auf den Platz neben der Orgel und eine relativ hochgewachsene, kräftige Dame in schickem Kostüm bewegte sich aufrecht und langsam voranschreitend in die gezeigte Richtung. Klara Giebelhofer durfte in diesem Jahr erstmals die Solistenrolle übernehmen, was sie offensichtlich mit großem Stolz erfüllte. Dass sogar das Fernsehen dabei sein würde, tat sein Übriges.
Lotte kräuselte leicht die Nase, als die Solistin an ihr vorbeischritt. „Wenn das so weitergeht, schwebt die Giebelhoferin demnächst nach vorne“, wisperte sie Agnes zu, was diese mit einem Grinsen quittierte.
Nachdem Klara Giebelhofer endlich Aufstellung bezogen hatte, leitete Herr Lang zunächst Aufwärmübungen ein, die abwechselnd der Chor und die Solistin durchliefen. Als sie das hohe C ansang, wurde der helle Ton von einem leisen Krächzen begleitet. Etwas irritiert blickte Lotte auf. Klara Giebelhofer hatte doch sonst nie Probleme bei den hohen Tönen? Sie musste sich verhört haben. In der Tat, da war es wieder. Sobald sie das H beendet hatte und zum hohen C ansetzte, nahm ihre Stimme einen leicht krächzenden Ton an. Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die das bemerkt hatte, denn hinter sich hörte Lotte den tiefen Bass von Fritz Engels sagen: „So eine kann wohl kaum die Solistenrolle angemessen ausfüllen.“ Seine Stimme klang verärgert.
Lotte schüttelte leicht den Kopf. Sie konnte verstehen, dass Fritz Engels nicht gut auf die neue Solistin zu sprechen war. Seine Frau hatte schließlich die letzten Jahre immer diese Rolle mit viel Bescheidenheit und Bravour ausgefüllt. Lotte hatte die alte Eva Engels gemocht, doch leider war diese vor zwei Monaten nach einer schweren Krebserkrankung verstorben.
Ein weiteres Krächzen ertönte und Lotte bemerkte, wie einige Schweißtropfen vom Gesicht der Sängerin perlten. Der Dirigent klopfte erneut mit dem Stab auf den Notenständer, diesmal deutlich lauter, und warf seiner Solistin einen strengen Blick zu.
„Nun mit ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit, meine Damen und Herren. Schließlich feiern wir die Auferstehung des Herrn“, wandte er sich an den gesamten Chor. Lotte war sich sicher, dass er eigentlich: „Schließlich kommt das Fernsehen“, meinte.
Die Solistin räusperte sich, nahm einen großen Schluck Wasser aus dem bereitstehenden Glas und atmete tief durch. Ihre Hände nestelten an dem seidenen Schal um ihren Hals. Der Chor stimmte die ersten Töne der Messe an und Lotte gab sich der imposanten Musik hin. Schon setzte Frau Giebelhofer zu ihrem großen Einsatz an. Immer höher und höher erklangen die Töne, bis sie schließlich den Höhepunkt erreichten. Lotte schloss genießerisch die Augen. Gar nicht so miserabel, urteilte sie. Doch statt des langgezogenen silberhellen Tons, der nun folgen sollte, herrschte plötzlich Totenstille in der Ganzenheimer Kirche. Lotte riss überrascht die Augen auf.
Die Solistin lag zusammengesackt neben dem Klavier.
Wie versteinert starrten die Chormitglieder auf das Spektakel, einige hielten sich entsetzt die Hände vor das Gesicht. Lotte reagierte als Erste. Entschlossen schob sie sich an Agnes vorbei aus ihrem Platz in der vordersten Reihe und begab sich zur Orgel. Ein leises Kratzen von Hundekrallen auf den Holzdielen zeigte, dass Käthe ihrem Frauchen gefolgt war. Als sich Lotte zu der regungslosen Sängerin hinabbeugte, erkannte sie sofort an deren Gesichtsausdruck, dass Klara Giebelhofer tot war.
Die Holzkiste, auf der der Dirigent mit zitternden Knien stand, klapperte leise und Lotte vernahm ein gemurmeltes: „Oje, oje, oje.“ Die Organistin war an das äußerste Ende der Sitzbank gerückt und hielt die Augen fest zusammengepresst. Käthe schnupperte eifrig an Klara Giebelhofer und gab dabei die ihr eigenen, grunzenden Geräusche wieder, die ein wenig an einen Staubsauger erinnerten. Am Kopf der Solistin bellte sie zweimal. Obwohl ihr Bellen eher leise und fast heiser klang, wurde es durch den Hohlraum in der Kirche verstärkt, was dazu führte, dass einige Chormitglieder zusammenzuckten.
Lotte bedeutete ihrer Gefährtin mit der Hand, still zu sein und erhob sich langsam. Mit gefasster Stimme sagte sie: „Ich gehe jetzt in die Sakristei und verständige die Polizei.“
„Die Polizei?“, stöhnte Herr Lang, seine Jammerlitanei für eine Sekunde unterbrechend.
„Ja, eben die. Frau Giebelhofer ist tot und das scheint mir nicht mit rechten Dingen zugegangen zu sein.“
Beiläufig ergriff sie das Glas der Solistin, als sie sich auf den Weg nach unten zum Telefonieren machte und ließ es in ihrer Handtasche verschwinden.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis das Polizeiauto eintraf. Die gesamte Chorgemeinschaft, inklusive des zitternden Chorleiters, hatte sich mittlerweile vor der Dorfkirche versammelt. Ein aufgeregtes Gemurmel war zu hören, das abrupt stoppte, als der junge Streifenbeamte, der das Fahrzeug lenkte, geräuschvoll mit diesem direkt vor dem steinernen Portal zum Stehen kam. Lotte kam der junge Mann bekannt vor, konnte ihn aber nicht direkt einordnen. In seiner Begleitung erschien ein großer Herr mittleren Alters, der aussah, als hätte er sich in aller Eile in seinen Anzug geworfen. Während er sich aus dem Auto schälte, bemerkte Lotte, dass sein Hemd leicht zerknittert war und an einer Stelle aus der Hose hing. Die wenigen Haare, die er noch besaß, standen in verschiedene Richtungen ab und verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der eben erst aufgestanden war. Die Stirn krausziehend, trat Lotte ihm festen Schrittes entgegen und streckte ihre Hand aus: „Meisner, Lotte. Guten Abend, Herr Kommissar.“
Der Mann erwiderte ihren Händedruck mit leicht schwitzigen Händen. Er musste sich aufgrund seiner Größe etwas zu der alten Dame hinabbeugen. „Hauptkommissar Gruber. ’N Abend“, betonte er mit seiner tiefen Stimme.
Lotte reckte den Kopf, um den jungen Polizeibeamten zu begrüßen, der hinter dem Ermittler stand. „Guten Abend, Herr …?“
Dieser stellte den schwarzen Koffer, den er in der rechten Hand trug, kurz ab, trat neben seinen Vorgesetzten und streckte ihr schüchtern lächelnd die Hand hin. „Guten Abend. Mein Name ist Polizeimeister Martin Klopfer.“
Martin Klopfer, natürlich! Lotte strahlte den jungen Mann an und schüttelte seine Hand. „Sie können sich bestimmt nicht mehr an mich erinnern, denn Sie waren noch ein Baby, als ich Sie zum letzten Mal gesehen habe. Ihr Großvater war damals Bürgermeister und ich seine Sekretärin und da -“
„Entschuldigen Sie bitte,“ unterbrach sie Hauptkommissar Gruber mit strengem Tonfall, „könnten Sie ihre Bekanntschaft vielleicht ein anderes Mal erneuern?“
Lotte ließ die Hand des jungen Beamten los und runzelte leicht verärgert die Stirn.
Der Ermittler ignorierte dies, blickte sich um und fragte dann wieder an Lotte gewandt: „Sind Sie hier die Chorleitung?“
„Nein. Das wäre unser Herr Lang.“ Sie deutete mit dem Kopf auf den zitternden Zweimetermann, der dazu übergegangen war, sich unablässig mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn zu wischen. Irritiert blickte der Hauptkommissar von Lotte zum Chorleiter. „Wenn Sie mir dann bitte die Leiche zeigen würden?“, wandte er sich an den zitternden Mann.
Bei dem Wort Leiche wurde Herr Lang ganz grün im Gesicht und begann bedrohlich zu schwanken.
„Das übernehme ich“, verkündete Lotte, vergaß ihren Ärger über das ungehobelte Verhalten des Ermittlers und griff ihn am Ärmel. Ohne auf seinen Einwand zu achten, zog sie den verblüfften Mann in den Kirchenvorraum und ging die Treppe voraus nach oben. Der junge Polizist eilte, den Koffer mit sich schleppend, dem Duo nach. Oben deutete Lotte auf die Tote.
Langsam schritt der Ermittler auf diese zu und beugte sich hinab. „Wurde ein Arzt verständigt?“, fragte er, während er die Leiche betrachtete.
„Wozu? Frau Giebelhofer ist eindeutig tot“, stellte Lotte nüchtern fest.
Hauptkommissar Gruber schüttelte den Kopf und murmelte etwas über „das Prozedere“ und „Vorschriften“. Er gab Polizeimeister Klopfer die Anweisung, sofort den zuständigen Mediziner zu informieren sowie den Leichenwagen zu rufen, woraufhin dieser, nach kurzem Blick aufs Handy, die Treppe hinuntereilte, wo er vermutlich einen besseren Empfang hatte.
„Was ist mit der Spurensicherung?“, fragte Lotte.
„Die Spurensicherung? Was soll die denn hier?“ Die Verblüffung in seiner Stimme war deutlich hörbar.
„Na, muss denn bei einem Mord der Tatort nicht untersucht werden?“, fragte Lotte den Beamten, der sie mit offenem Mund anstarrte.
„Wie kommen Sie denn auf sowas, Frau Meisner?“
„Fräulein Meisner, wenn ich bitten darf.“
„Äh, wie kommen Sie denn auf sowas, Fräulein Meisner?“, wiederholte der Hauptkommissar seine Frage.
„Ganz einfach. Die Giebelhoferin war pumperlgesund, als sie hier zur Probe erschien. Während des Einsingens bemerkte ich jedoch, dass sie sich unwohl zu fühlen schien. Sie traf die hohen Töne nicht richtig und schien zu schwitzen“, stellte Lotte fest.
Hauptkommissar Gruber kratzte sein schütteres Haupthaar: „Das heißt noch lange nicht, dass sie ermordet wurde. Sie ist vermutlich an plötzlichem Herzversagen gestorben. Ich meine, sie war ja auch nicht mehr die Jüngste“, erwiderte er mit Blick auf die Tote.
Lotte zog eine Augenbraue hoch: „Junger Mann“, dieses Wort betonte sie äußerst bewusst, „ich bin vielleicht auch nicht mehr die Jüngste, aber ich erkenne sehr wohl, dass das nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.“ Lottes Worte klangen in der sich anschließenden Stille nach. Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf und beugte sich über die tote Solistin.
Just in diesem Moment berührte etwas Feuchtes sein zwischen Socke und Hose nackt herausragendes Bein und er schrie entsetzt auf: „Igitt, was ist denn das?“ Der Beamte sprang linkisch zur Seite und starrte auf das Wesen vor sich.
„Das ist nur meine Käthe. Kein Grund zur Sorge“, erwiderte Lotte amüsiert.
Die kleine Bullydame war unbemerkt unter der Kirchenbank hervorgekrochen, wo sie sich seit dem Eintreffen der Polizei versteckt hatte, und wartete offensichtlich auf eine angemessene Begrüßung mit viel Kopfkraulen durch den Neuankömmling. Mit wackelndem Hintern stand sie vor dem Ermittler.
„Nehmen Sie das schreckliche Vieh weg, Frau Meisner!“, kreischte dieser hektisch.
„Fräulein Meisner“, korrigierte ihn Lotte, rief aber im Anschluss ihre Hundedame zu sich. Sie kraulte dem Bullymädchen den Kopf: „Das Vieh, wie sie meine Käthe nennen, hat im Übrigen ebenfalls bemerkt, dass hier etwas nicht stimmt. Im Gegensatz zu Ihnen.“
Der aufgebrachte Mann starrte Lotte mit offenem Mund an. Sein Gesicht wurde immer röter und sein Bass hallte lautstark durch das Kirchengebäude: „Ich sage, das Vieh muss weg.“
Lotte blickte dem Hauptkommissar ruhig entgegen und machte keinerlei Anstalten, ihre Bullydame nach draußen zu bringen. Stattdessen zog sie ein Wasserglas aus ihrer Handtasche und hielt es dem Ermittler hin. „Dies ist das Glas, aus dem Frau Giebelhofer getrunken hat, kurz bevor sie tot umfiel. Sie werden es sicher untersuchen lassen wollen.“
Diesmal, sichtlich entgeistert, starrte Hauptkommissar Gruber die alte Dame an. „Sie haben das Wasserglas der Toten in Ihrer Handtasche herumgetragen?“ Mit jeder Silbe wurde seine Stimme einen Tonfall höher.
Vielleicht sollte er im Kirchenchor mitsingen, überlegte Lotte amüsiert.
„Das ist ja wohl das Allerhöchste. Ein Wasserglas in der Handtasche. Mit Wasser drin!“ Der Beamte schüttelte, scheinbar verzweifelt, den Kopf. „Sie gehen jetzt zu den anderen“, wiederholte er seine Aufforderung. „Sie können sagen, was Sie wollen. Hier sieht alles nach einem natürlichen Tod aus.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und murmelte: „Wasserglas, wie lächerlich“, vor sich hin.
Lotte zuckte kurz die Schultern und ging die Treppe hinunter in Richtung Ausgang. Dort traf sie auf Polizeimeister Klopfer, der gerade das Telefonat mit dem Arzt beendet hatte und streckte ihm kurzerhand das Glas entgegen. „Das sollen Sie auf verdächtige Rückstände untersuchen lassen.“
Verblüfft griff der junge Mann danach und nahm es Lotte vorsichtig ab. Dann holte er aus dem Koffer, der zu seinen Füßen stand, einen Plastikbehälter und kippte die im Glas befindliche Flüssigkeit hinein. Das Glas selbst steckte er in eine kleine Plastiktüte.
„Grüßen Sie bitte Ihren Vater von mir.“ Mit diesen Worten ging Lotte an dem jungen Mann vorbei und begab sich mit Käthe zu den anderen Chormitgliedern nach draußen, wo sofort das Gemurmel der älteren Damen und Herren erstarb.
„Und, Lotte? Was sagt die Polizei?“, fragte Agnes mit großen Augen.
Lotte blieb auf der zweithöchsten Stufe stehen und blickte ihre Gesangskollegen an: „Hauptkommissar Gruber geht von einem natürlichen Tod von Frau Giebelhofer aus.“
Lautes Gemurmel erhob sich unter den Chormitgliedern. Worte wie „Tragödie“ und „Unglück“ wurden stetig wiederholt, doch Lotte hörte auch Dinge wie „Fernsehen“ und „Auftritt“ heraus und wunderte sich, wie Leute das tragische Schicksal anderer aufgrund ihres eigenen Stolzes missachten konnten. So nickte sie Agnes nur kurz zum Abschied zu und machte sich dann mit Käthe auf den Heimweg.
Am nächsten Tag stand Lotte, wie jeden Morgen, um halb sechs in ihrer Küche. Sie genoss die frühen Morgenstunden und setzte sich gern mit einem Kaffee in der Hand auf die kleine, knarzige Holzbank in ihrem Vorgarten. Von hier aus konnte sie die Sonne über dem angrenzenden Weinberg aufgehen sehen. Selbst im Winter ließ sie sich diese Zeit nicht nehmen. Eine warme Decke bot ihr dann Schutz vor der Kälte und auch Käthe, die sich gern auf ihren Schoß legte, trug zu einer angenehmen Temperatur bei. Die warme Kaffeetasse in der Hand haltend, ließ sie sich noch einmal die Geschehnisse des Vorabends durch den Kopf gehen. Sie war davon überzeugt, dass die Solistin keines natürlichen Todes gestorben war. Was aber war geschehen? War Klara Giebelhofer vergiftet worden?
Lotte schüttelte den Kopf. Ihr quietschgelber Filzhut wackelte dabei beachtlich; auch in ihrem Vorgarten trug Lotte immer eine Kopfbedeckung. Für Gelegenheiten dieser Art bevorzugte sie das schlichte quietschgelbe Modell, da es ihr hierfür am passendsten schien. Nicht auszumalen, wenn sie jemand ohne Kopfbedeckung sehen würde. Nahezu unanständig!
Wieder schüttelte Lotte ihren Kopf. Ein Giftmord in einem kleinen Weindorf, das schien ihr zu weit hergeholt. Andererseits waren die Umstände des Todes doch verdächtig in ihren Augen und sie war froh, dass sie Polizeimeister Klopfer das Glas mitgegeben hatte. Wenn es Gift gewesen war, würde das die Untersuchung sicher hervorbringen. Lotte konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand, der vor ein paar Tagen noch kerngesund durch das Dorf spaziert war, kurze Zeit später plötzlich tot zusammenbrach. Immerhin hatte die feine Spürnase von Käthe dies ebenfalls bestätigt. Sie bellte nie, es sei denn, sie bemerkte einen besonderen Geruch. Diese Fähigkeit hatte Käthe mehrfach unter Beweis gestellt. Einst waren sie bei einer Bekannten zu Besuch gewesen und Käthe hatte unvermittelt gebellt. Sie hatte sich kaum beruhigen lassen und so waren Lotte und die Hausbesitzerin auf die Suche gegangen. Nach einiger Zeit fanden die Frauen die Ursache. Ein Herdknopf des Gasherdes war nicht zugedreht gewesen und die Bullydame hatte den austretenden Gasgeruch angezeigt. Seit diesem Moment vertraute Lotte dem besonderen Näschen ihrer Hundedame.
Lotte fröstelte ein wenig an diesem kühlen Frühlingsmorgen und zog sich die karierte Wolldecke über die Knie. Klara Giebelhofer war nicht sonderlich beliebt im Ort gewesen, doch dass sie richtige Feinde gehabt hatte, bezweifelte sie. Frau Giebelhofer war dem Ganzenheimer Kirchenchor beigetreten, als ihr erwachsener Sohn vor zehn Jahren das Haus verlassen hatte. Damals hatte sie das Haus verkauft, da sie nach dem Tod ihres Gatten allein war. Sie hatte sich daraufhin bei Gottlieb Meier eine kleine Einliegerwohnung eingemietet, was Lotte bis heute nicht verstand, denn diesen als Vermieter zu haben, konnte nicht angenehm sein. Mit Eifer – für manchen Geschmack etwas übereifrig – hatte sich Klara Giebelhofer in die Arbeit in der ersten Stimme gestürzt. Dass sie dabei immer wieder versuchte, das Ruder komplett an sich zu reißen, stieß so manchem Mitsänger etwas sauer auf. Es war jedoch unbestritten, dass die immer elegant gekleidete 73 – Jährige eine kräftige, wohlklingende Stimme besaß, die sie passend einzusetzen wusste. Es war eher ihre leicht herrische Art, die ihr keine Freunde einbrachte. Lotte konnte sich gut erinnern, wie Klara Giebelhofer selbst am abendlichen Stammtisch nach den Proben versucht hatte alles zu kommentierte. Dabei fiel ihr ein, dass dies vor allem den anwesenden Herren nicht gefallen hatte. Neben Fritz Engels, dem Ehemann der verstorbenen Solistin, der einen beeindruckenden Bass sang, gab es vier weitere Männer, die sich im Chor engagierten. Der 80 – jährige Karl Pfannenstiel war der Älteste der Truppe. Gottlieb Meier und sein Bruder Wolfgang sangen Bariton, während Hans Schirrach, der ehemalige Dorfmetzger, gemeinsam mit Fritz Engels und Karl Pfannenstiel die Bassstimme sang. Die fünf Herren bildeten eine eingeschweißte Truppe und trafen sich auch außerhalb des Chorstammtisches täglich im örtlichen Wirtshaus. Das Lokal Zur goldenen Traube, von den Einheimischen kurz Traube genannt, lag im Zentrum des Ortes, der Kirche gegenüber und verfügte über einen Biergarten, in dem großgewachsene Kastanien den Gästen Schatten spendeten. Zu Lottes Entzücken hatte der Biergarten auch typisch bayerische Speisen auf der Karte und so konnte sie hin und wieder Gerichte aus ihrer alten Heimat genießen. Ihre Erinnerungen schweiften zurück zu einem warmen Juliabend, als die Chormitglieder gemeinsam an einem der langen Holztische im Biergarten gesessen hatten. Man hatte gerade erfahren, dass das Fernsehen die Ostermesse filmen wollte. Aufgeregt unterhielten sich die Damen und Herren über die Neuigkeiten und stießen mit so mancher Weinschorle oder Bier an. Es wäre ein durchweg netter Abend gewesen, hätte Klara Giebelhofer nicht immer wieder lautstark verlauten lassen, dass es ihr zu verdanken sei, dass das Fernsehen käme. Dies mochte in Teilen der Wahrheit entsprechen, da ihr Sohn bei dem Regionalsender arbeitete, der sich angekündigt hatte. Doch handelte es sich bei ihrem Sprössling um einen einfachen Kameratechniker und nicht um eine höhergestellte Person. Der Chor hatte sich mit einem kleinen Video beworben, als der Sender einen Aufruf zu einer Reihe namens Vorderpfälzer Besonderheiten gestartet hatte, wofür Beiträge gesucht worden waren. Neben dem Hambacher Schloss und den entzückenden Weinorten Edenkoben und Deidesheim wurde der Ganzenheimer Kirchenchor ausgewählt, um für die Sendung porträtiert zu werden. Es war mehr als fraglich, ob, beziehungsweise inwiefern, der Sohn von Klara Giebelhofer darauf Einfluss gehabt hatte. Diese verkündete jedoch vehement, wie ausgezeichnet sie das hinbekommen habe und versuchte ein ums andere Mal, Lob einzuheimsen. Irgendwann war es Karl Pfannenstiel zu dumm geworden und er hatte seinen Unmut mit einem Faustschlag auf den Tisch kundgetan. Kein Wort hatte er verloren, doch allen Beteiligten war klar, was seinen Ärger erregt hatte. Als die neue Solistin davon unbeeindruckt ein weiteres Mal ansetzte, ihre herausragende Rolle in der Vergabe der Fernsehrechte hervorzuheben, wurde es ihm und seinen männlichen Kollegen zu viel. Demonstrativ standen alle fünf auf und verließen den Stammtisch vorzeitig. Sie begaben sich ins Innere der Traube an den Tresen und tranken dort ihr Bier in Ruhe weiter. Lotte fand es peinlich, wie Klara Giebelhofer, ohne mit der Wimper zu zucken, weiterhin mit ihrem Eigenlob fortfuhr, ohne auf die Geschehnisse zu reagieren. Kurz darauf hatte sich Lotte verabschiedet und mit Käthe den Heimweg angetreten.
Lotte leerte ihre Kaffeetasse mit einem großen Schluck. Das Getränk war mittlerweile lauwarm, doch das störte sie nicht weiter. Fest nahm sie sich vor, den fünf Herren bald einen kleinen Besuch abzustatten. Es konnte nicht schaden, den männlichen Chorkollegen ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Immerhin hatte die verstorbene Solistin bei einem von ihnen als Untermieterin gewohnt. Auch kannte sie Karl Pfannenstiel und Wolfgang Meier als recht besonnene Männer und sie war neugierig, wie diese die Situation einschätzten.
Seufzend stand sie auf, faltete ihre Karodecke ordentlich zusammen und verstaute diese in der Kiste neben der Holzbank, die ihr auch als Beistelltischchen diente. Es war Zeit für ihren allmorgendlichen Spaziergang mit Käthe. Dieser führte sie die kleine Straße am Rande des Weinfeldes entlang, die einfacherweise Feldweg hieß. Obwohl diese nicht geteert war, störte das Lotte nicht weiter. Käthe schnupperte zwischen den noch kahlen Rebstöcken und genoss den Auslauf sichtlich. Am Ende der Sackgasse tauchte das Haus von Magda Schuster, ihrer Freundin und Chorkollegin, auf. Die Vorderseite zierten grüngelbe Fliesen, die für die Pfalz typisch waren. Hauptsache praktisch, lautete die Devise beim Hausbau in der Gegend. Lotte war froh, dass ihr Häuschen aus roten Klinkersteinen erbaut war. Auf diese spezielle Pfälzer Eigenart konnte sie, trotz ihrer Liebe zur Wahlheimat, gerne verzichten. Magda war jeden Morgen bereits sehr früh in ihrem Vordergarten tätig, wo sie mit Hingabe ihre Stauden und sonstigen Pflanzen pflegte. Die rüstige Endsiebzigerin, die bereits vor zwei Jahrzehnten ihren Mann beerdigt hatte, lebte seit dessen Tod allein in dem Haus am Ortsrand von Ganzenheim. Sie hatte eine Vorliebe für Kittelschürzen und trug auch heute ein graublaues Exemplar. In den weiten Taschen der Schürze fanden alle Gartenutensilien Platz. Als sie Lotte erblickte, streifte sie ihre mit Erde verklebten, gelben Gummihandschuhe ab und verstaute sie. Ihre kurzen, grauen Haare steckten unter einem roten Kopftuch. Obwohl Lotte selbst nie auf die Idee gekommen wäre, ein solches zu tragen, schließlich gab es spezielle Gartenhüte für diese Gelegenheit, fand sie es passender als offene Haare.
„Morgen, Lotte“, rief ihr Magda Schuster entgegen. „Ihr zwei seid heute ja früh dran!“
Lotte lachte und versuchte, Käthe davon abzuhalten, an dem Gartentörchen hochzuspringen.
„Morgen, Magda. Käthe meinte, es wäre schon Zeit für ihren Spaziergang und da habe ich mich halt gefügt.“
Die Damen lächelten sich an. Lotte mochte Magda. Sie war eher ruhig, jedoch immer freundlich. Meist saß sie nach den Chorproben neben Agnes und Lotte am Stammtisch.
„Was für ein furchtbares Ereignis, nicht wahr?“, spielte Lottes Gesprächspartnerin auf die Geschehnisse der letzten Chorprobe an. Tiefe Furchen bildeten sich auf der Stirn der 79-Jährigen und sie stützte sich mit einer Hand auf ihr Gartentörchen. Lotte nickte verständnisvoll und tätschelte den Handrücken der Gesangskollegin. Magda war in Lottes Augen eine sensible Seele. Die Geschehnisse der Welt gingen ihr allesamt sehr nahe. Am Stammtisch nach den Chorproben ließ sie sich oft über die Grausamkeiten dieser Welt, über die sie sich allabendlich in den 20-Uhr-Nachrichten informierte, aus. Den Tod eines Menschen live mitzuerleben, war etwas völlig anderes und schien sie sichtlich mitzunehmen. Gemeinsam standen sie, beide schweigend und in Gedanken versunken, kurz beieinander, bis Lotte sich verabschiedete und den Rückweg antrat. Keine von beiden war zum Plaudern aufgelegt und so fiel das allmorgendliche Schwätzchen kurz aus.
Zuhause schlug Lotte am Frühstückstisch die Tageszeitung auf. So sehr sie auch suchte, sie fand keinen Artikel über die Geschehnisse des letzten Abends. Den Kopf schüttelnd murmelte sie leise vor sich hin: „Typisch.“
Jäh hob Käthe den Kopf, sprang auf und rannte zur Eingangstür – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich jemand dem Haus näherte. Lotte erhob sich bereits, als die Türklingel ertönte. Käthe quittierte dies mit wildem auf und abspringen und konnte es offensichtlich kaum erwarten, bis ihr Frauchen die Haustür öffnete.
Im Eingang stand Agnes, bewaffnet mit einem Regenschirm, und versuchte Käthe am Hochspringen zu hindern: „Aus, Käthe. Lass das.“ Das wilde Herumfuchteln mit dem Schirm stachelte die kleine Bullydame jedoch noch mehr an und erst nach einiger Zeit ließ sie von der nun heftig schnaufenden Agnes ab, die sich an Lotte vorbei in die Wohnküche schob. Käthe folgte ihr hechelnd und ließ sich friedlich zu Füßen der betagten Dame nieder, nachdem ihr diese über den runden Kopf gestrichen hatte.
Lotte ging zu ihrer linoleumgrünen Küchenzeile und holte eine buntgemusterte Tasse aus ihrem Schrank.
„Auch einen Kaffee, Agnes?“, frage sie die Seniorin, die in ihrer Handtasche nach ihrem Stofftaschentuch kramte.
„Gerne, Lotte.“ Ein lautes Tröten folgte dieser Aussage und verriet, dass sie fündig geworden war.
Lotte stellte die Tasse, die Zuckerschüssel und ein kleines Milchkännchen vor Agnes und ließ sich dann gegenüber auf einem Stuhl nieder.
„Ist das nicht einfach furchtbar, Lotte?“, holte Agnes aus. „Die arme Frau Giebelhofer – Gott sei ihrer Seele gnädig! Sie war zwar eine Zicke, aber das hat sie nicht verdient.“
Agnes tupfte sich mit dem gerade benutzten Taschentuch die Augen. Lotte grinste, als sie das Wort „Zicke“ aus Agnes Mund vernahm. Sie kannte deren Abneigung gegen die Solistin. Diese ließ keine Gelegenheit verstreichen, Agnes „Ratschläge“ zu geben. Erst war es ihre „altmodische“ Kleidung, die Frau Giebelhofer kritisiert hatte, dann ihre „undamenhafte Art, sich die Nase zu putzen“. Es stimmte zwar, dass Agnes’ Kleidungsstil alles andere als modern war. Sie trug immer einen etwa wadenlangen Rock und liebte Twinsets in allen Farben. Diese bestanden aus einem Shirt und einer Strickjacke, die jeweils einfarbig waren. Heute trug sie das apricotfarbene Modell. Lotte fand an diesem Kleidungsstil grundsätzlich nichts auszusetzen, bevorzugte sie doch selbst die Rock- und Blusenvariante. Nur Twinsets suchte man vergebens bei Lotte im Kleiderschrank. Die waren ihr ein wenig zu altmodisch. Im Gegensatz zu Klara Giebelhofer wäre es Lotte aber nie eingefallen, Agnes diesbezüglich zu kritisieren. Die verstorbene Solistin selbst hatte immer Kostüme getragen, die farblich perfekt auf ihren Ohrschmuck und die Handtasche abgestimmt waren. Lotte hielt nichts von derlei Tand. Sie hatte nicht einmal Ohrlöcher. Der einzige Schmuck, den sie trug, war ihre silberne Armbanduhr, die sie von ihrer Schwester Josefine zum 50. Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Lotte wartete ab und nickte nur leicht. Agnes würde von allein über die weiteren Geschehnisse berichten.
Schon holte die rüstige Seniorin aus: „Kurz nachdem du gegangen warst, kam dieser Kommissar Griebler nach draußen.“
„Hauptkommissar Gruber“, korrigierte ihr Gegenüber sanft.
„Genau, der Kommissar Gruber kam also nach draußen und befragte Herrn Lang über die Geschehnisse. Der arme Mann brachte kaum mehr als ein Stottern zustande.“
Agnes nahm das Milchkännchen und gab einen großen Schluck in ihre dampfende Kaffeetasse. Dann fügte sie drei Stück Würfelzucker hinzu. Während sie das Ganze verrührte, fuhr sie fort: „Der Gruber hat dann noch die Grete befragt und ist nach kurzer Rücksprache mit dem Arzt, der zwischenzeitlich eingetroffen war, abgedampft. Die arme Grete war auch ziemlich durch den Wind.“ Kopfschüttelnd nahm Agnes einen tiefen Schluck von ihrem Kaffee.
Aus Erzählungen war Lotte bekannt, dass Agnes und Margarete Neuhaus schon von Kindesbeinen an miteinander befreundet waren. Auch sie mochte die kauzige, kleine Organistin, der man die mächtigen Töne, die sie der gewaltigen Kirchenorgel entlocken konnte, auf den ersten Blick nicht zutraute.
Lotte nahm nun ebenfalls einen Schluck aus der Kaffeetasse. „Was ist danach passiert?“, fragte sie Agnes, auch wenn sie die Antwort bereits erahnte.
„Nichts! Was soll schon passiert sein? Die meisten sind nach Hause gegangen. Nur Herr Lang, Grete und ich haben auf das Eintreffen des Leichenwagens gewartet.“
Lotte schüttelte irritiert den Kopf: „Also ist keine Spurensicherung gekommen, um den Tatort –“
„Tatort?“, unterbrach Agnes entsetzt. „Was denn für ein Tatort?“
Sie fächerte sich wild mit ihrer linken Hand Luft zu, während sie die rechte auf ihren üppigen Busen drückte. Lotte musste wieder ein Grinsen unterdrücken, kannte sie doch Agnes leicht theatralische Art. Sie wusste aus Erfahrung, wie sie diese schnell wieder beruhigen konnte. So stand sie auf und holte Sherry sowie zwei bauchige Gläser aus ihrer Kommode. Es war recht unüblich in der Pfalz, die für den Weinanbau bekannt war, Sherry zu trinken. Doch die beiden hatten diesen, nach einer gemeinsamen Chorfahrt, die sie nach Spanien geführt hatte, kennen – und lieben gelernt.
Nachdem Agnes einen großen Schluck genommen und sich sichtlich wieder beruhigt hatte, fuhr sie fort: „Der Kommissar Griebler hat gleich gesagt, dass die arme Giebelhoferin eines natürlichen Todes gestorben ist. Da gäbe es gar nichts dran zu rütteln.“
Lotte unterdrückte diesmal ihren Impuls, Agnes zu korrigieren. Diese hatte es nicht so mit Namen, dafür aber ansonsten ein ausgezeichnetes Gedächtnis, für das Lotte sie bewunderte.
„Meinst du nicht, dass der Tod der Giebelhoferin äußerst verdächtig ist?“, hakte Lotte nach und nippte an ihrem Sherryglas.
Agnes blickte Lotte bestürzt an. „Verdächtig? Wieso verdächtig? Die Arme hatte wohl einen Herzkasper, zumindest hat das der alte Doktor Lohe gesagt, der den Totenschein ausgestellt hat.“
Interessiert horchte Lotte auf: „Ach, er hat die Untersuchung vorgenommen?“
Doktor Lohe war der Dorfarzt und somit der Hausarzt der meisten Dorfbewohner. Auch Lotte suchte ihn auf, wenn sie ein Gebrechen plagte, dem sie nicht mit einem ihrer unzähligen Hausmittelchen beikommen konnte. Sie nahm sich vor, gleich morgen einen Termin bei ihm zu vereinbaren. Vielleicht erfuhr sie dort ja mehr.