Autorenverzeichnis

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Universität Zürich

Kinder- und Jugendpsychiatrischer

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SCHWEIZ

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Otto-von-Guericke-Universität

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Dr. Karin Grossmann

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Prof. Dr. em. Klaus E. Grossmann

Burgunderstr. 9

93053 Regensburg

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Prof. Dr. em. Gisela Klann-Delius

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ÖSTERREICH

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Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Neumünsterallee 3

CH-8032 Zürich

SCHWEIZ

Kapitel 1

Theoretische und historische Perspektiven der Bindungsforschung

von Klaus E. Grossmann

Einleitung

Der Beitrag beginnt historisch. Bindung, Bindungssignale und Bindungsgefühle gehören zur Natur des Menschen und zu seiner Geschichte. John Bowlby hat das Wissen über Bindung theoretisch konzipiert. Dies gelang, weil er die Naturgeschichte (Phylogenese) und die individuelle Entwicklung (Ontogenese) miteinander verknüpfte und damit den falschen Gegensatz von Anlage und Umwelt überwand. Mit der historischen Dimension fügt sich auch das dritte Element – die kulturelle Entwicklung – in das Zeitgeschehen von Bindung zwischen Phylogenese und Ontogenese. Historische Ereignisse können zu Verschleiß oder zur Erhaltung menschlichen Lebens führen. Dem Erleben von Bindung zwischen evolutionärer Verhaltensforschung und psychoanalytischen Fragen ist Abschnitt 2 dieses Kapitels gewidmet. Die Bindungstheorie ist eine offene Theorie, auf deren Grundlage die Bindungsforschung vor allem Unterschiede von mehr oder weniger adaptiven Bindungsqualitäten als Folge unterschiedlicher Bindungserfahrungen untersucht (s. Abschnitt 3). Mary Ainsworth hat uns den empirischen Weg dazu geöffnet. Ihre klassischen Untersuchungen über mütterliche Feinfühligkeit, die sich in sicheren oder unsicheren kindlichen Bindungsmustern mit ihren unterschiedlichen Ausdrucksbewegungen spiegeln, werden in Abschnitt 4 vorgestellt; ein besonderer Fall ist dabei die Desorganisation kindlichen Bindungsverhaltens. Abschnitt 5 des vorliegenden Kapitels verweist ergänzend auf unterschiedliche Rollen von Vätern und Müttern in der Bindungsentwicklung des Kindes. Der Beitrag endet mit einer individuellen Lebensgeschichte, die den Kern der Bindungsforschung enthält: die Qualität des psychischen Gefüges beim Umgang mit sich und der Welt.

1    Bindung, Entwicklung und Kultur

Die Bindungstheorie und die Bindungsforschung befassen sich mit der Psychologie von den besonderen Beziehungen zwischen Bindungspersonen und ihren Kindern. Aus der langen Zeit der so genannten „vorwissenschaftlichen Psychologie“ stammen Überzeugungen, dass Bindung die individuelle Entwicklung von Kindern tief beeinflusst. Dem wurde von der „wissenschaftlichen Psychologie“ in den letzten 100 Jahren ebenso häufig zugesprochen wie widersprochen. Von der antiken Literatur an, über die bildende Kunst vieler Kulturen finden sich zahlreiche Hinweise über die nachhaltige Wirkung früher Einflüsse.

In Platons „Nomoi“, „Die Gesetze“, z.B. bespricht der Athener mit seinem Gesprächspartner Kleinias die Erziehung bis zum dritten Lebensjahr. Er sagt: „Zu große Nachsicht mache die Sinnesart der Jungen mürrisch, niemals heiter, jähzornig und sehr durch Kleinigkeiten erregbar. Zu strenge und harte Unterwerfung dagegen erzeuge eine niedrige, unfreie und menschenfeindliche Gesinnung, die nicht für ein Zusammenleben tauge.“ (Platon 1959, „Nomoi“, 7. Buch, 3). Die Frage des Kleinias, wie denn diejenigen Kinder aufzuziehen seien, die der Sprache noch unkundig und für andere Unterweisungen noch unempfänglich sind, beantwortet der Athener: „Etwa so: Jegliches Geborene pflegt sogleich mit Geschrei seine Stimme zu erheben, vor allem auch der Mensch; und neben dem Schreien ist ihm auch das Weinen natürlicher als anderen Geschöpfen.“ Die Wärterinnen erforschen nun, was das Kind begehrt und schlussfolgern aus seinem Verhalten: „wobei es nämlich, wird es ihm dargereicht, schweigt, das ihm zu reichen, halten sie für gut, wobei es aber weint und schreit, für nicht gut.“ (Platon 1959, „Nomoi“, 7. Buch, 3).

In der Bindungstheorie heißt das theoretisch Systemkontrolle und empirisch Feinfühligkeit. Die Bindungsperson möchte dem Bedürfnis des Kindes entsprechen und erkennt an der Beendigung des Weinens ihren Erfolg, nämlich das Richtige getan zu haben, und am fortdauernden Weinen ihren Misserfolg. Kindliches Weinen wird tatsächlich am ehesten durch promptes und angemessenes Verhalten der Bindungsperson beendet (s. u.).

Auch die Konsequenzen solcher feinfühliger Art der Behandlung des noch sprachunkundigen Säuglings werden von Platon erläutert: Wenn in den ersten drei Jahren „mit Anwendung aller Mittel das Kind an Schmerzen und Befürchtungen und allem Leid so wenig wie möglich erfahre, glauben wir nicht, daß dies dann die Seele des Aufzuziehenden wohlgemuter und heiterer machen werde?“ (Platon 1959, Nomoi, 7. Buch, 3). Dies entspricht feinfühligem und kooperativem Umgang mit dem Säugling, und dazu muss die Bindungsperson dessen Signale wahrnehmen und richtig interpretieren (Ainsworth et al. 1974).

Über die positiven emotionalen Folgen sicherer Bindung – eine Kernthese der Bindungstheorie – hatte der römische Dichter Vergil in seinem vierten Hirtengedicht Zeitloses zu sagen. Er sprach von einem individuellen psychologischen Zustand, der etwas von dem Glück ahnen lässt, das aus Zuneigung frei von Angst und Ambivalenz, von Unzufriedenheit, Einsamkeit und innerem Zweifel ist. Mein Regensburger Kollege Adolph Vukovich bezeichnet es als das Lied vom New Age, vom Paradies, von der Nestwärme. Die Ode, die Vergil die Ehre eintrug, als christlicher Prophet Dante durch das Inferno leiten zu dürfen, endet mit den Worten:

„Richte, mein Junge, mit Lächeln den forschenden Blick auf die Mutter – Brachten zehn Monate ihr doch mancherlei arge Beschwerden: Wer nicht als Kind durch sein Lächeln den Eltern ein Lächeln entlockte, speist nie an göttlichem Tische und teilt nie ein göttliches Lager.“

John Bowlby, der die Bindungstheorie formuliert hat (Bowlby 2003), sagt folglich: Kriterien, die durch prospektive Untersuchungen zu prüfen sind, indem sie der Persönlichkeitsentwicklung durch verschiedene Phasen des Lebenslaufs und in verschiedenen Umwelten folgen, sind: Bestehen psychiatrischer Störungen (Gegenwärtiges Funktionieren), und gibt es größere oder geringere Verletzlichkeit gegenüber unangenehmen Lebensereignissen oder Situationen (Persönlichkeitsstruktur)? Angeborene Unterschiede müssen dabei natürlich in Rechnung gestellt werden. Vor allem aber ist wichtig – und hier trifft er sich mit Vergil – ob das Lebensgefühl meistens erfreulich und emotional reich ist oder eine Last, die zu ertragen ist, eine emotionale Leere. Und:

„Wer dem Leben nur die angenehmen Seiten abgewinnt, es in vollen Zügen genießt und all seine Facetten als emotionale Bereicherung erlebt, ist weit weniger vulnerabel als jener, der das ganze Leben als einzige Last und trostlose Existenz empfindet.“ (Bowlby 1995a, 156ff)

Lange Zeit hat man in der Psychologie den Prozess der Entwicklung eines Kindes weniger gut verstanden als heute. Häufig stellte man die kurzsichtige Frage nach dem Vorrang von Anlage oder Umwelt. Das Problem liegt in dem Wörtchen „oder“. John Bowlby war vertraut mit der Metapher der epigenetischen Landschaft Waddingtons, in der ein Ball bergab rollt und dabei – je nach Neigung der Ebene oder nach Seitenwinden – in das eine oder andere Tal rollen kann. Seitenwind und Neigung symbolisieren die Umwelt, aber die Landschaft selbst ist, über den Ball hinaus, potenziell im Genom enthalten. Die vor allem beim Menschen vorhandene Lernoffenheit bedarf also wesentlich reicherer genetischer Information als geschlossene Programme ungesteuert ablaufender Instinkthandlungen, weil sie die aus phylogenetischer Selektion entstandenen „angeborenen Formen möglicher Erfahrungen“ (Lorenz 1943) mit enthalten muss. Welche genetischen Anlagen eintreffen und welche nicht, hängt von den tatsächlichen Gegebenheiten während der individuellen Entwicklung (Ontogenese) ab. Dazu gehören auch Unterschiede zwischen Bindungspersonen und Unterschiede im Verhalten ein und derselben Bindungsperson gegenüber verschiedenen Kindern. Bindung ist folglich ein in der Evolution entstandenes genetisches „Offenes Programm“, auf dessen Grundlage die Qualität ihrer phänotypischen Ausprägung allerdings erfahrungsabhängig ist.

Die Psychologen Arnold Sameroff und Michael Chandler (1975) haben die unselige Diskussion um das Anlage-Umwelt-Problem in der Psychologie aufgezeigt und den Weg geebnet vom Anlage-Umwelt-Dogmatismus („Hauptmodell“) über das „Interaktive Modell“, das auf statistischen Varianzanteilen durch Verwandtschaftsvergleiche vor allem bei zwei- und eineiigen Zwillingen sowie Adoptivkindern beruht, bis hin zum „Transaktionalen Modell“, in dem der Lauf der Waddington’schen Kugel als Metapher von der Entwicklung des Kindes durch ständige wechselseitige Einflüsse mit anderen Menschen gesteuert wird. Gilbert Gottlieb hat überzeugend argumentiert und belegt, dass die Ausgestaltung des individuellen genetischen Potenzials zu großen Unterschieden in der adulten Form des Lebens führen kann. Die Qualität des Phänotyps – also das, was aus dem genetischen Potenzial während der Ontogenese geworden ist – kann wiederum die biologische Selektion – also die Maximierung eigener Gene im Genpool der Art durch den wachsenden Anteil von Trägern eigener Gene bei den Nachkommen – positiv beeinflussen (Gottlieb 1992).

Auch die Kultur, die jedes menschliche Kind erwirbt, wird durch Personen vermittelt, die, wie John Bowlby gesagt hat, „stronger and wiser“ sind. Sie bestimmen, welches genetische Potenzial zur Entfaltung kommt in Welten, die sich ja von der ursprünglichen Welt evolutionärer Selektion inzwischen weit entfernt haben. Der anthropologische Psychologe Michael Tomasello (1999) hat jüngst wieder deutlich gemacht, dass erst die Kultur bestimmt, was Menschen lernen – auch über sich selbst und über andere. Das genetische Potenzial des Cro-Magnon-Menschen im Paläolithikum vor etwa 30.000 Jahren unterschied sich nämlich nicht von unserem eigenen.

Unverändert geblieben ist u.a. das Programm von Bindung. Es ist also wichtig, die Entwicklung von Bindung zwischen Evolution und soziokulturellen Lebensbedingungen zu betrachten. Grundlage dafür ist die Fähigkeit des Menschen zu gemeinsamer Aufmerksamkeit, wie beim Anschauen von Bilderbüchern von Kind und Bindungsperson. Man lernt dabei u.a. auch, die Dinge aus der Sicht des anderen zu sehen und seine Perspektive zu übernehmen (Meins 1999).

Einige wenige Historiker haben sich mit der Entwicklung von Kindern in früheren Zeiten befasst. Es gibt Geschichten über Mutterliebe aus vielen Völkern und Kulturen, auch aus dem Altertum. Vergil ist ein Beispiel. Häufig gibt es allerdings desgleichen Berichte über mangelnde Mutterliebe, nicht nur in früheren Zeiten. Sie sind Negativbeispiele für Beeinträchtigungen denkbarer optimaler Entwicklungsverläufe. Lloyd de Mause (1992) betont z.B. die grausame Behandlung vieler Kinder während des dunklen Mittelalters. Elisabeth Badinter (1984) hat eine Fülle von Belegen gesammelt, die einen Mangel an Mutterliebe im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts darstellen. Auf dieser Grundlage meinte sie zu erkennen, dass erst die nachfolgenden sozialen Veränderungen zur Entstehung moderner Mutterliebe geführt hätten. Der kanadische Historiker Edward Shorter (1977) zeichnet ebenfalls einen langen historischen Weg von traditioneller Indifferenz gegenüber Kindern und anderen Schwachen hin zu einem Sinn für gegenseitige Rücksicht zwischen Partnern, der erst nach der industriellen Revolution im Bürgertum zur Geburt der modernen Familie geführt haben soll. Ob das so stimmt, sei dahingestellt.

Der Berliner historische Demograf Artur Imhof (1981) hat einen beeindruckenden Zusammenhang zwischen epochalen Traumata in verschiedenen Zeiten – wie Hunger, Krieg und Pest – und zunehmender Indifferenz in engen menschlichen Beziehungen gefunden, vor allem in der Familie. Aus allem spricht eine beträchtliche Übereinstimmung darüber, dass vor allem im 17., 18. und auch noch im 19. Jahrhundert Vernachlässigung, Indifferenz, Misshandlung, sexueller Missbrauch, Feindseligkeit, Gewalt und das Verlassen von Kindern weit verbreitet waren (s. weiter unten). Erstaunlich ist allerdings, dass es auch in diesen Zeiten große Unterschiede gab. Imhof stellte z.B. fest, dass in 50% der Familien trotz hoher allgemeiner Kindersterblichkeit überhaupt keine Kinder starben, dagegen sehr viele in etwa 10% der Familien. Was machte den Unterschied aus? Nach allem, was die historischen Dokumente hergeben, war es die Bereitschaft der Eltern, den Bedürfnissen ihrer Kinder zu entsprechen, sich um sie zu sorgen, zu bangen, wenn sie krank waren, sie zu lieben. Sie trauerten tief, wenn sie sie verloren (Eibl-Eibesfeldt 1995, 266). Dies sind elementare Bindungsgefühle. Es ist trivial festzustellen, dass vernachlässigte Kinder – damals wie auch heute – nicht die geringsten Lebenschancen hatten und haben.

Vernachlässigung kennzeichnet ein System menschlichen Verschleißes, liebevolle Bindung dagegen ist charakteristisch für ein System der Erhaltung menschlichen Lebens, wie der Demograf H. V. Musham dies kontras tiert (Shorter 1977).

Ein Beispiel von Imhof für Verschleiß und Gleichgültigkeit im Gegensatz zu Bewahrung, Lebensbejahung und positiven Gefühlen gegenüber nahe stehenden Menschen ist das Folgende: Zwischen 1780 und 1899 betrug z.B. die Kindersterblichkeit in Hesel (Ostfriesland) 13%. Hesel war vom Krieg weitgehend verschont geblieben. In Gabelbach (Schwaben), das zuvor mehrere Male von Krieg, Hunger und Pest heimgesucht worden war, betrug die Kindersterblichkeit dagegen 33,9%. Die Reproduktionsraten waren vergleichbar: 4,51 in Hesel, 4,61 in Gabelbach, nicht aber die Kosten. Im verschonten Hesel waren dafür 5,3 Geburten nötig, und 7,94% der Mütter starben bei der Niederkunft; im gebeutelten Gabelbach dagegen waren dafür 6,83 Geburten nötig und 10,68% der Mütter starben bei der Niederkunft. Sie mussten also 1,53 mehr Kinder gebären, um den gleichen reproduktiven Erfolg zu haben. Mütter in Gabelbach wurden eher „verschlissen“, in Hesel dagegen „erhalten“. In Gabelbach heirateten 74% der Witwer innerhalb von 6,7 Monaten nach dem Tode ihrer Frauen, in Hesel jedoch 53,6% erst nach 27,7 Monaten (nach über zwei Jahren) und 74% erst nach fast drei Jahren (nach 35,5 Monaten). Die Trauer um die verlorene Frau währte also in Gabelbach nicht lange, was auf eine gewisse Gleichgültigkeit schließen lässt.

Ab 1822 stieg die Kindersterblichkeit in Gabelbach auf über 50%, begünstigt durch viele Faktoren wie schwere Arbeit der Mutter bis kurz vor und sofort nach der Niederkunft, Kopulation ebenfalls, kaum Bruststillen, mangelhafte Ernährung, weinende abgelegte Kinder, während die Mütter arbeiteten, Widerstand gegen Impfungen, vermiedene medizinische Behandlungen kranker Kinder und abstoßende hygienische Bedingungen trotz besseren Wissens. Dies alles sind weitere Indikatoren für den Verschleiß von Leben. Zahlreiche Ärzte in jener Zeit kommentierten die weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber Säuglingen und Kindern (weitere Beispiele in K. E. Grossmann 1995).

Sind liebevolle Bindungen deshalb ein Produkt der Kultur? Ja, sicher, auch. Aber sind sie nicht ein Produkt unseres genetischen Erbes? Ein Produkt, das uns potenziell dazu befähigt, die Bedürfnisse und Wünsche anderer zu erkennen und im Interesse auch derjenigen zu handeln, deren Motive wir berücksichtigen? Ganz sicher auch das. Die Bindungstheorie muss sich mit beiden Zusammenhängen befassen, wenn sie die Ontogenese von Kindern unter Bedingungen unterschiedlicher Bindungsqualitäten erforscht. Die Bindungsentwicklung geschieht nach Überzeugung der Bindungstheorie durch Bindungspersonen. In ihrer Verantwortung liegt die Umwandlung der „umweltstabilen“, durch Erfahrungen unveränderbaren Anlage für Bindungen in „umweltlabile“ und damit durch Erfahrungen beeinflussbare partnerschaftliche Qualitäten von individuell gelebten Bindungen.

2    Die Analyse der Psyche: Sehnsucht nach der Erklärung des eigenen Lebens

Die historische Sehnsucht nach Erklärungen des eigenen Lebens wurde neuzeitlich erstmalig im autobiografischen Roman „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz (1987) literarisch dokumentiert. Er vermittelt in Mitleid erregender Weise Einsichten und Beschreibungen selbst erlebter psychologischer Verunsicherung bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die eigene psychologische Befindlichkeit zu verändern, zu beherrschen oder zu verbessern. Literarisch ist der Roman, der vor über 200 Jahren geschrieben wurde, das Ergebnis eines verzweifelten Versuchs, durch Aufklärung zur Selbsterkenntnis zu gelangen, um so vielleicht eine Grundlage für Veränderungen zu schaffen. Das zwischen 1783 bis 1793 im Verlag August Mylius in Berlin erschienene, von Karl Philipp Moritz groß angelegte „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben“ (Moritz 1983) widmete sich ebenfalls, unter Beteiligung zahlreicher weiterer Autoren, Begründungen für individuelles Befinden durchaus im Sinne Bowlbys.

Solche Versuche scheiterten allerdings am Fehlen naturwissenschaftlichen Denkens und angemessener Methoden, ohne die intuitive Schlussfolgerungen nicht zu prüfbaren Hypothesen oder Theorien ausgestaltet werden können. Die Unbedingtheit der Entwicklung angemessener Methoden und Experimente zur notwendigen empirischen Prüfung von Hypothesen kennzeichnet die moderne wissenschaftliche Psychologie. Der Begriff Naturwissenschaft bezieht sich hier vornehmlich auf evolutionsbiologisches Denken im Sinne von Charles Darwin (1874), um die Anpassung von Arten (Spezies) an ihre ökologischen Lebensbedingungen zu beschreiben.

Ein Jahrhundert später kulminierte der Blick in die eigene Psyche in Freuds Psychoanalyse, die besonders erfolgreich in ihrer kulturprägenden Wirkung war. Im Gegensatz zur akademischen Psychologie, die sich mit einem geringen zeitlichen Vorsprung etwa zur gleichen Zeit etablierte, beteiligte sich jedoch die Psychoanalyse nicht am positivistischen Wissenschaftsverständnis. Sie formulierte keinerlei Hypothesen zum Zwecke einer methodengerechten Überprüfung und konstruierte stattdessen Weltbilder über psychisches Geschehen. Die Theorie „psycho-sexueller Entwicklungsphasen“ war nicht Gegenstand empirischer Überprüfung, sondern wurde stattdessen Prinzipien hermeneutischer Stimmigkeit und Loyalität der Schüler unterworfen.

Es gehörte zum psychoanalytischen Glaubenskanon, dass die frühe Kindheit einen nahezu unwiderruflich prägenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Individuums zum Erwachsenen ausübte. Man glaubte, in den kindlichen „libidinösen“ Erfahrungen den späteren Charakter zu erkennen, im Kind also den „Vater des Mannes“. Das Kind als „Mutter der Frau“ kam allerdings nicht vor. Das Problem dabei sind nicht die Ansichten selbst, sondern zu vergessen, dass es zunächst lediglich spekulative Annahmen sind. In den Augen seiner Schüler sollte Freuds Werk möglichst unverändert erhalten bleiben. Dies wurde auch mit Dogmatismus gepflegt (s. Sandor Ferenczi in einem Brief vom 1.12.1919 an Max Eitington, in Wittenberger/Tögel 1999, 254) und führte – nicht nur aus bindungstheoretischer Sicht – zu einem „sacrificium intellectus“, was selbstverständlich im unüberbrückbaren Widerspruch zu jeglichem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt steht (Lütkehaus 2000; s. Dornes, Kap. 2 in diesem Band).

Bowlby, ausgebildeter Psychoanalytiker, meinte darüber hinaus, dass die Psychoanalyse zwar oft die richtigen Fragen gestellt, aber meist die falschen Antworten gegeben hätte. Die Suche nach einer wissenschaftlichen Grundlage zur Bewahrung der „richtigen“ Fragen und zur Überprüfung der Wahrheit von Antworten darauf war für ihn deshalb unabdingbar. Eine theoretische Grundlage dafür musste allerdings auch erst noch gefunden werden.

3    Die Bindungstheorie

Die Bindungstheorie von John Bowlby stellte zentrale Hypothesen über die besondere Beziehung von Kindern zu ihren Bindungspersonen in den naturwissenschaftlichen Zusammenhang der Evolutionstheorie, die seit Charles Darwin für die Entwicklung des Lebendigen grundlegend ist. Die besonderen Bindungsbedürfnisse von Kindern werden als offene phylogenetisch präadaptierte Programme (Genotyp, umweltstabil) gesehen, die im Sinne des epigenetischen Grundprinzips von Waddington verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten in natürlichen Grenzen eröffnen (Phänotyp, umweltlabil).

Die Mutter, zentrale Person in der Psychoanalyse wie in der Bindungstheorie – und überwiegend auch im wirklichen Leben –, unterstützt das Kind, indem sie seine Bindungsbedürfnisse aufgrund ihrer empathischen Interpretation seines Ausdrucksverhaltens „erkennt“ und angemessen und prompt darauf reagiert. Das phylogenetische Bindungssystem des Kindes ist insofern umweltstabil, als es sich an jede Mutter bindet, selbst an eine „Rabenmutter“. Die ontogenetische Ausbildung einer sicheren Bindungsqualität ist dabei allerdings nicht zu erwarten. Das Bindungssystem erfährt dann nämlich nicht die im Genom vorgesehene Unterstützung für eine sichere Bindungsentwicklung und seine Bindungsqualität wird unsicher oder desorganisiert. Fürsorgliche und investierende Bindungspersonen sind das phylogenetisch notwendige Unterstützungssystem für ein Kind, um seine Gefühle und Verhaltensweisen zielgerichtet – und später zielkorrigiert – zu koordinieren (Verhaltensebene; Ainsworth et al. 2003) sowie innerlich zu integrieren (Repräsentationsebene; Main et al. 1985). Dies muss nicht allein durch die biologische Mutter oder den Vater geleistet werden, sondern auch Großeltern, Pflege- oder Adoptivmütter können ebenso natürlich Bindungspersonen für ein Kind werden.

Als offene Theorie ermöglicht und fördert die Bindungstheorie die Entdeckung neuer Zusammenhänge, wie z.B. Qualität der Bindung, Desorganisation, gesetzmäßige Veränderungen über den Lebenslauf oder mögliche Einflüsse anderer Bindungspersonen (Geschwister, Väter u.a.). Sie untersucht auf einer unteren Ebene physiologische Prozesse als Folge unterschiedlicher Bindungserfahrungen. Auf der kognitiven Ebene untersucht sie die Entwicklung von Reflektion und flexibler Anwendung von Wissen beim Planen und Ausführen mehr oder weniger „adaptiver“ Handlungen bei verschiedenen sicheren und unsicheren hypothetischen inneren Arbeitsmodellen. Weiterhin erforscht sie psychische Veränderungen der Wahrnehmung von Personen und Ereignissen, die eigene Gefühle stark berühren. Die Bindungstheorie bietet einen interdisziplinären Orientierungsrahmen, der sich zwischen Evolution, Anthropologie, Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie, Kontrolltheorie und Ethologie bewegt (K. E. Grossmann et al. 2003a, b).

Das Grundprinzip des empirischen Zugangs der modernen Bindungsforschung ist das evolutionsbiologische Konzept von Anpassung (Adaptation), das in die Psychologie übernommen wurde. Biologisch geschieht die Anpassung einer Spezies durch Selektion von Genen solcher Individuen mit ihren individuellen Genkombinationen, die unter gegebenen Lebensbedingungen mehr Nachkommen über Generationen hinweg haben. Für Bindung ist dies der Fall, sie ist „umweltstabil“, für Bindungsqualität dagegen nicht, sie hängt von der Qualität der Interaktion mit Bindungsperson ab und ist „umweltlabil“.

Psychologische Anpassung in bindungstheoretischer Sicht hat viel mit seelischer Gesundheit zu tun. Im Verlaufe der individuellen Entwicklung, der Ontogenese, erfährt das psychologisch angepasste Kind auf seinem Wege zum Erwachsenen etwas, das wir „konstruktive internale Kohärenz“ nennen (K. Grossmann/Grossmann 2004). Sie macht das Kind „klug“ und kompetent. Ein im bindungstheoretischen Sinn kluges Kind empfindet sich als wert, Hilfe zu erhalten, und kann dies auch deutlich seinen Bindungspersonen mitteilen. Es kann seine negativen Gefühle mit Worten erklären und „weiß“, wie negative Gefühle und äußere Widrigkeiten zusammenpassen. Es orientiert sich deshalb eher angemessen an der Wirklichkeit und kann – trotz belastender Gefühle – zielorientiert planen und handeln. Eine sichere Organisation von Gefühlen im Kleinkindalter vor dem Sprechen kann damit eine hervorragende Voraussetzung für die Entwicklung einer konstruktiven internalen Kohärenz sein, aber natürlich keine Garantie. Beide Eltern sind an der frühen und an der weiteren Entwicklung beteiligt und sie beeinflussen, wie sich die drei individuellen Bindungsmerkmale – als Folge sicherer Bindungsbeziehungen – qualitativ zusammenfügen: Integrität der Gefühle, Klarheit der eigenen Motive und die uneingeschränkte und unbelastete Breite der Handlungsmöglichkeiten.

Die Entwicklung einer Bindung ist, wie bereits gesagt, phylogenetisch vorprogrammiert, aber in ihrer phänotypischen Ausprägung ist sie abhängig von der Qualität des Umgangs von Bindungspersonen mit den Bindungsbedürfnissen des Kindes von Geburt an bis zum Erreichen psychologischer Reife im Erwachsenenalter. John Bowlby spricht deshalb von Bindung während der Jahre der Unreife. Während der frühen Jahre der Bindungsforschung war zunächst der Eindruck entstanden, als konzentriere sie sich ausschließlich auf die frühe Kindheit und auf den von der Psychoanalyse behaupteten prägenden Einfluss auf das ganze Leben. Tatsächlich lassen sich manche frühen Einflüsse unter manchen Bedingungen langfristig nachweisen, aber nicht immer ist eine solche Kontinuität zu beobachten (K. E. Grossmann et al. 1999). Wir betrachten im Folgenden die dyadischen Bedingungen, also die Interaktion zwischen Kind und Bindungspersonen, die zu sicheren und unsicheren Bindungen führen können, erörtern kurz die unterschiedlichen Rollen von Müttern und Vätern als Bindungspersonen und fragen nach möglichen Auswirkungen im jungen Erwachsenenalter.

4    Interaktion zwischen Kind und Bindungspersonen, die zu sicheren und unsicheren Bindungen führen

Der Ausdruck und die Mitteilung emotionaler Bedürfnisse werden von Anfang an durch die Feinfühligkeit der Bindungsperson gegenüber den kindlichen Signalen geformt. Die reichste kommunikative Entwicklung wird durch subtile, prompte und angemessene Antworten durch den Interaktionspartner erreicht. Die Antworten werden begleitet von Vokalmelodien und Worten, auch wenn der Säugling die Bedeutung der Worte nicht erkennt. In allen Interaktionen erhält das Kind unmittelbare Antworten, die seine Wünsche und seine Bedürfnisse anerkennen oder ignorieren und aus seiner Sicht richtig oder falsch interpretieren. Feinfühligkeit kann nur gelingen, wenn man aus der Sicht des Kindes handelt. Das Kind „fühlt“, ob es verstanden wurde oder nicht. Allmählich beginnen die Worte der Bindungsperson bedeutungsvoll zu werden. Durch Worte lernt das Kind, allmählich und zusätzlich zu der bereits bestehenden Erfahrung auf der prozeduralen Ebene Gefühle als wichtige Bewertungssysteme (appraisal systems) zu verstehen, die allerdings noch viele Jahre – „during his years of immaturity – infancy, childhood and adolescence“ (Bowlby 1983, 41) – interpretationsbedürftig sind. Auf diese Weise können negative Gefühle allmählich in klare zielorientierte Planvorstellungen integriert werden und das Kind kann beispielsweise mit negativen Gefühlen wie Ärger, Wut, Trauer, Verlassenheit, Hilflosigkeit usw. lernen, nach dem Anlass der negativen Gefühle zu suchen, anstatt auf die Gefühle selbst zu reagieren. Dies alles geschieht schon früh (etwa ab Mitte des ersten Lebensjahres) in „Formaten in denen Mutter und Kind ihre Absicht teilen, um etwas mit Worten zu tun“ (Bruner 1987, 171). Solche Formate sind, wie eingangs ausgeführt, „kleine Stücke Kultur. Sie ermöglichen die Klärung von Missverständnissen und von Intentionen und Bedeutung“ (172). Auf diese Weise lernt das Kind bei feinfühligen Unterstützungssystemen auch die Bedeutung seiner Gefühle in bestimmten Situationen kennen, und was man tun kann, um die Umstände zu verbessern (K. E. Grossmann 1997; K. E. Grossmann/Grossmann 2002; 2008).

Die Integration negativer Gefühle in eine kommunikative Strategie erlebt z.B. ein Säugling, der ärgerlich auf die Trennung von seiner Mutter reagiert. Wenn die Mutter den Ärger als Signal der Unsicherheit interpretiert, wird sie zurückkommen, um das Kind zu vergewissern und es eventuell mit einer anderen sicheren Basis zu versorgen. Auf diese Weise steht die Funktion des Ausdrucks von Ärger und Distress klar und eindeutig im Dienste von Nähe und psychischer Sicherheit. Wenn jedoch die Mutter den kleinkindlichen Ärger etwa als gegen sie gerichtete Aggression interpretiert, könnte sie dazu neigen, das kindliche Verhalten zu ignorieren oder zurückzuweisen. Unter solchen Bedingungen würde sich der Ärger-Ausdruck des Kindes „dysfunktional“ entwickeln und seinen Zweck verfehlen, weil das Ziel von Nähe und psychischer Sicherheit nicht erreicht wird und der Ärger dadurch weiter schwelt. Angemessene klärende Diskurse mit dem sprechenden Kind über solche Zusammenhänge zwischen inneren Gefühlszuständen und den Antworten der Bindungspersonen und auch anderer nahe stehender Mitmenschen machen solche Bindungserfahrungen für das Kind auf der Ebene bewusster sprachlicher Diskurse „verfügbar“. Die „richtige“ Sprache ermöglicht also nicht nur das Erkennen und Mitteilen von Zusammenhängen, die negative Gefühle hervorrufen, sondern auch wie man sie löst (s. a. Klann-Delius, Kap. 8 in diesem Band).

Mary Ainsworth ging davon aus, dass alle Verhaltensweisen, Zustände und Äußerungen des Säuglings Informationsträger für die Mutter sind, durch die sie ihr Kind als einzigartige Persönlichkeit kennen lernt. Auf diese kindliche Individualität, die auch Temperamentsunterschiede einschließt, muss sich die Mutter oder Hauptbetreuungsperson feinfühlig einstellen. Auf dieser Grundlage haben wir zwei deutsche Langzeituntersuchungen durchgeführt (K. Grossmann et al. 1985; K. Grossmann/K.E. Grossmann 2004). Ainsworth (2003) definiert mütterliche Feinfühligkeit für die Kommunikationen des Babys durch vier Merkmale: Sie muss

(1)   das Kind aufmerksam „im Blick“ haben und darf keine zu hohe Wahrnehmungsschwelle haben, damit der Säugling erfährt, dass sie ihn bemerkt, und muss

(2)   die richtige Interpretation der Äußerungen des Säuglings aus seiner Lage und nicht nach ihren Bedürfnissen anwenden – damit der Säugling weiß, dass er soziale Wirkungen erzielen kann. Weiterhin sind wichtig:

(3)   die prompte Reaktion – damit der Säugling eine Verbindung zwischen seinem Verhalten und dem Spannung mildernden Effekt der mütterlichen Handlung in seinem Gedächtnis knüpfen kann, die ein erstes Gefühl der eigenen Effektivität im Gegensatz zur Hilflosigkeit vermittelt und

(4)   die Angemessenheit der Reaktion – damit der Säugling die Qualität der Wirkung seiner Signale differenziert einzusetzen lernt, die im Einklang mit seinen Bedürfnissen und Entwicklungsprozessen steht.

Die Umsetzung dieser Charakteristika der Feinfühligkeit verlangt eine hohe geistige Flexibilität und Kompromissbereitschaft der Bindungspersonen. Ihre Erfassung war ein entscheidender Durchbruch für die empirische Bindungsforschung (K. E. Grossmann 1977). Da wir die Feinfühligkeit für so zentral halten und sie in unseren eigenen Forschungen seit über 30 Jahren im Mittelpunkt steht, gehen wir etwas genauer auf sie ein (s. auch Lohaus et al., Kap. 7 in diesem Band).

Feinfühligkeit ist leicht von Überbehütung zu unterscheiden. Man muss darauf achten, ob die Bindungsperson dem Kind etwas abnimmt, was es selbst tun könnte und damit ihren Respekt vor der kindlichen Autonomie bezeugt. Ainsworth spezifizierte noch zwei weitere Konzepte:

(1)   die Annahme des Kindes mit seiner individuellen Eigenart versus der Ablehnung des Kindes und

(2)   die mütterliche Fähigkeit, mit dem Baby zu kooperieren und ihre eigenen Pläne mit seinen Bedürfnissen in Einklang zu bringen, im Gegensatz zu einem einmischenden oder gar rücksichtslosem Durchsetzen eigener Pläne auf Kosten des Säuglings (Ainsworth 2003a, b).

Im Rahmen der Kooperationsbewertung wird insbesondere erfasst, ob die Mutter ihr Kind als eigene Persönlichkeit respektiert, mit eigenen Gefühlen, Gedanken und Absichten. Beide Konzepte korrelieren hoch mit mütterlicher Feinfühligkeit, erfassen aber auch weitere Aspekte mütterlichen Verhaltens. Beide Verhaltenskonzepte fördern die Ausbildung differenzierter innerer Arbeitsmodelle, die dem Kind psychische Sicherheit beim Umgang mit den Komplexitäten des sozialen Miteinanders weit über enge menschliche Beziehungen hinaus verleihen (Csikszentmihalyi/Rathunde 1998).

Es gibt inzwischen zahlreiche Belege für die Auswirkung unterschiedlicher mütterlicher Feinfühligkeit. Hohe Feinfühligkeit steht z.B. in enger Beziehung zu vielen positiven Verhaltensweisen der Säuglinge. Die sechs bis neun Monate alten Babys feinfühliger Mütter weinten seltener, zeigten eine ausgewogene und harmonische Balance zwischen selbstständigem Spiel und Freude am Kontakt mit der Mutter, suchten ihre Nähe bei Leid, aber lösten sich auch wieder von ihr, wenn sie getröstet waren (Ainsworth et al. 1978; K. Grossmann et al. 1985). Sie äußerten in unseren eigenen Untersuchungen wenig Ärger, Aggressionen oder Ängstlichkeit in Interaktionen mit ihrer Mutter. Sie hatten Vertrauen in die Verfügbarkeit und Hilfsbereitschaft der Mutter und benutzten sie als Sicherheitsbasis, von der aus sie zuversichtlich ihre Umwelt explorierten. Sie waren auch eher bereit, auf die Ge- und Verbote ihrer Mutter einzugehen, d.h. die Kooperationsbereitschaft der Mutter fand schon zum Ende des ersten Lebensjahres eine positive Entsprechung in der Bereitschaft des Krabbelkindes einzuwilligen. Die Krabbelkinder weniger feinfühliger Mütter dagegen zeigten entweder eine außergewöhnliche Unabhängigkeit von ihren Müttern, vermischt mit einzelnen Episoden unvermittelten Ärgers oder eine gesteigerte Ängstlichkeit und Unzufriedenheit, so dass sie sich weder von ihrer Mutter weg und hin zum Spiel entfernen konnten, noch in ihrer Nähe ausreichend Beruhigung empfingen. Sie kümmerten sich auch seltener um die Verbote ihrer Mütter.

Besonders deutlich zeigte sich der Einfluss mütterlicher Feinfühligkeit in der vorsprachlichen Kommunikation. Säuglinge feinfühliger Mütter weinten nicht nur seltener, sondern äußerten mit sechs und zehn Monaten mehr und differenziertere Laute im fröhlichen Plappern als Säuglinge weniger feinfühliger Mütter. Mütterliche Feinfühligkeit im ersten Lebensjahr sagte in einer großen Anzahl von Untersuchungen die Bindungssicherheit des Kindes im zweiten Lebensjahr voraus. Die Stärke der gefundenen Zusammenhänge hing allerdings u.a. ab von der Dauer der Beobachtung, ob in der Beobachtungssituation das Bindungssystem des Kindes überhaupt aktiviert war (was in Spielsituationen meist nicht der Fall ist) und ob sich die Mutter in der Situation auf das Kind konzentrieren konnte oder ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Anforderungen verteilen musste und deshalb oft keine gemeinsam geteilte Intention bestand (Seifer et al. 1996).

Der Zusammenhang zwischen mütterlicher Feinfühligkeit und Bindungssicherheit des Kindes hängt vor allem von der Güte des Feinfühligkeitsmaßes ab, die nicht in allen veröffentlichten Untersuchungen garantiert zu sein scheint. Dafür gibt es vermutlich viele Gründe. Beispielsweise hat bisher ein systematisches Training zuverlässiger Messungen von Feinfühligkeit oft nicht stattgefunden, so dass bislang jeder Forscher dies auf seine Weise erarbeiten musste oder es wurden zu kurze Beobachtungen eingeschätzt oder Situationen, in denen nur gespielt wurde, und deshalb Bindungssignale überhaupt nicht vorkamen.

In einer holländischen Interventionsstudie (van den Boom 1994a, 1997) konnte die Feinfühligkeit von Müttern sehr unruhiger Säuglinge im Rahmen von drei Hausbesuchen im dritten Vierteljahr des Säuglings überaus deutlich verbessert werden. Während in der Kontrollgruppe von 50 hoch irritablen Neugeborenen in 68% der Fälle ein unsicheres Bindungsmuster im Alter von zwölf Monaten zeigte, war der Anteil der Kinder mit unsichereren Bindungsmustern in der Interventionsgruppe auf 28% gesunken. Damit wurde gezeigt, dass die Befunde von Ainsworth und von uns, die bis dahin als unbeeinflusste individuelle Unterschiede zwischen den Müttern dokumentiert wurden, unter günstigen Bedingungen auch durch Interventionen herbeigeführt werden können. Langfristige Erfolge solcher Interventionen sind dabei allerdings abhängig von der Sensibilität während der Intervention, den Augenblick größter Empfänglichkeit der Mutter für derartige Hilfe abzupassen (s. Suess/Hantel-Quitmann, Kap. 17 in diesem Band).

Die von der Bindungstheorie postulierte, vom kindlichen Befinden gesteuerte und durch die mütterliche Feinfühligkeit beeinflusste Balance zwischen Explorations- und Bindungsverhalten sowie die mit zwölf Monaten bereits entwickelte Erwartungshaltung an die Bindungsperson überprüfte Ainsworth et al. (1978) durch die so genannte Fremde Situation zur Erfassung der Bindungsqualität eines Kleinkindes zu seiner bemutternden Person. Die Fremde Situation beleuchtet allerdings nur einen Ausschnitt, eine „Momentaufnahme“ von Bindung (Ainsworth 2003a, b). Beobachtet wird hierbei, ob Kinder Trennungsschmerz zeigen und ob sie ihn durch physische Nähe zu ihrer Bindungsperson überwinden können. Unter diesem Kriterium lassen sich Bindungsqualitäten in Bezug auf engere Modellannahmen differenzieren (s. a. Gloger-Tippelt, Kap. 4 in diesem Band).

Darüber hinaus ist die Fremde Situation zwar eine Methode zur frühen Erkennung von Bindungsqualität, nicht aber automatisch ein prognostisches Instrument zur Vorhersage der weiteren Bindungsentwicklung. Nur wenn die Bedingungen gleich bleiben, kann man dies erwarten. Eine Mutter, die wegen bedrückender Lebensumstände keine zuverlässige und feinfühlige Unterstützung geben konnte, kann feinfühlig werden, wenn sich ihre Lebensumstände verbessern. Ihr kleines Kind wird unmittelbar darauf eingehen, ein älteres wird mehr Zeit brauchen, um sein Misstrauen aus schlechter Erfahrung zu überwinden. Als Paradigma für Schlussfolgerungen über den inneren Zustand von Kindern mit unterschiedlichen Bindungserfahrungen ist die Fremde Situation allerdings unübertroffen.

Charles Darwin sah im Gefühlsausdruck den Kern für das psychologische Verständnis der Entwicklung zwischenmenschlicher Bindungen. John Bowlby stellte das folgende Zitat über sein Kap. 7 des ersten Bandes seiner Trilogie über Bindung, in dem er die theoretischen Grundlagen aus evolutionsbiologischer Sicht darlegt. Das Zitat handelt von Bewerten, Auswählen, Fühlen und Emotionen und lautet in der Übersetzung von J. Victor Carus wie folgt:

„Die Bewegungen des Ausdrucks im Gesicht wie am Körper, welcher Art auch ihr Ursprung gewesen sein mag, sind an und für sich selbst für unsere Wohlfahrt von großer Bedeutung. Sie dienen als die ersten Mittel der Mitteilung zwischen der Mutter und ihrem Kinde; sie lächelt ihm ihre Billigung zu und ermutigt es dadurch auf dem rechten Wege fortzugehen, oder sie runzelt ihre Stirn aus Mißbilligung. Wir nehmen leicht Sympathie bei anderen durch die Formen ihres Ausdrucks wahr; unsere Leiden werden dadurch gemildert und unsere Freuden erhöht; und damit wird das gegenseitige wohlwollende Gefühl gekräftigt. Die Bewegungen des Ausdrucks verleihen unseren gesprochenen Worten Lebhaftigkeit und Energie. Sie enthüllen die Gedanken und Absichten anderer wahrer, als Worte es tun, welche gefälscht werden können [...] Diese Resultate sind zum Teil eine Folge der innigen Beziehung, welche zwischen allen Gemütserregungen und ihren äußeren Offenbarungen besteht [...]“ (Darwin 1874, 374f)

Heute kennen wir sogar die hirnphysiologischen Prozesse dafür. Sie werden von sogenannten Spiegelneuronen ausgeführt (Bauer 2006; 2007).

Der Gefühlsausdruck findet aber „bei anderen“ nicht automatisch Beachtung, sondern stellt, wie die verschiedenen Bindungsqualitäten, ebenfalls nur eine offen genetisch programmierte Möglichkeit dar. Beachtung tritt dann ein, wenn die potenzielle Bindungsperson das Leben des Kindes für erhaltenswert erachtet. Es muss im Rahmen von Bindungsbeziehungen gelernt werden, den Gefühlsausdruck „für unsere Wohlfahrt“ zu interpretieren und ihn nicht zu übersehen und zu ignorieren. Es gab und gibt Lebensumstände, unter denen das gegenseitige Wohlwollen nicht nur nicht bekräftigt wird, sondern geschwächt oder die Wahrnehmung gar in ihr Gegenteil verkehrt wird, wie z.B. unter den eingangs dargestellten historischen Lebensbedingungen. Die Spiegelneurone müssen im sozialen Miteinander eingeübt werden!

Die Investition in Kinder unterliegt außerdem einem soziobiologischen Kalkül, das je nach Lebensumständen gelegentlich den Verlust einzelner Kinder in Kauf nimmt, um die Chancen für mehr oder „bessere“ Nachkommen zu erhöhen (Voland 1995; 2000; Hrdy 1999; 2005). Diese Zusammenhänge bekommen erst neuerdings eine gewisse Aufmerksamkeit (Carter et al. 2005), würden aber den hier gesetzten bindungstheoretischen Rahmen sprengen.

Analysen des auf die Bindungsperson gerichteten Ausdrucks 12 und 18 Monate alter Kinder in der Fremden Situation belegen deutliche Unterschiede bezüglich der Mitteilung von Gefühlen zwischen der Gruppe der sicheren (B) und der unsicher-vermeidenden (A) Kinder. Kinder mit „guter“ oder „schlechter“ Stimmung verteilen sich dabei auf beide Gruppen gleich. Nach den beiden Trennungen kommunizieren nahezu alle Kinder in sicheren Beziehungen direkt und unmittelbar mit ihren Müttern, aber nur eine Minderheit der Kinder in vermeidenden Beziehungen. Je schlechter ihre Stimmung ist, umso mehr kommunizieren die bindungssicheren Kinder und umso weniger die vermeidenden Kinder. 70% der vermeidenden Kleinkinder richteten während der gesamten Zeit des Zusammenseins nach der zweiten Trennung keine Signale mehr an ihre Mütter (K. E. Grossmann et al. 1986).

Dieser Zusammenbruch der gerichteten Mitteilung von Gemütsbewegungen bei innerer Belastung – der bereits bei einjährigen Kindern auftritt – ist für das Verständnis der Entwicklung und Fehlentwicklung von Beziehungen außerordentlich bedeutsam, vor allem wenn er sich während der weiteren Ontogenese verfestigt. Er ist aus unserer Sicht eine Folge der Abwertung liebevoller Bindung, eine gewisse psychische Gleichgültigkeit, die bis zu kleinkindlicher Depression gehen kann. Die psychologischen Konsequenzen sind allerdings wesentlich subtiler als die drastischen historischen Schilderungen von Säuglingen, die an der Vernachlässigung starben oder durch Weggabe an professionelle Ammen „gehimmelt“ wurden, wenn sie lästig wurden (K. E. Grossmann 1995). Wertschätzung und der Erhalt zeigen sich klar in den sicheren, durch mütterliche Feinfühligkeit geprägten Bindungsbeziehungen.

Mitte der 80er Jahre wurde entdeckt, dass nicht alle Kinder einem der drei bekannten Bindungsmuster – den (A) sicher, (B) unsicher und (C) ambivalent gebundenen Kindern – zugeordnet werden konnten. Bei der Analyse von Kindern in der Fremden Situation, die als nicht oder nur schwer klassifizierbar galten, fanden Main und Solomon (1986) als gemeinsames Merkmal dieser Kinder eine Reihe von ungewöhnlichen „desorganisiert“ oder „desorientiert“ genannten Verhaltensweisen, die oft nur sehr kurz – für Sekunden oder noch kürzer – auftraten. Eine klare Verhaltensstrategie, wie sie bei den drei Hauptklassifikationen von A, B oder C zu finden ist, war entweder nicht vorhanden oder kurzfristig zusammengebrochen. Desorganisation (D) sagt häufig gravierende Formen von Fehlanpassungen und spätere pathologische Störungen voraus (Lyons-Ruth et al. 2002; Lyons-Ruth, 2008).

Das bestehende Datenmaterial zeigt, dass in der Fremden Situation bei Mittelschicht-Stichproben etwa 15% der Kinder als desorganisiert/desorientiert klassifiziert werden können, während der Anteil bei Risikostichproben mit bis zu 80% wesentlich höher liegt (Main 1995). Die Charakterisierung der Desorganisation auch des B-Musters als bindungsunsicher konnte mit physiologischen Daten durch Spangler und Grossmann (1993) bestätigt werden. In klinischen Stichproben, aber auch bei besonderen belastenden Umständen durch Misshandlung, Übernachtung in Kinderhäusern (z.B. in israelischen Kibbutzim) und bei häufigem Wechsel zwischen geschiedenen Eltern finden sich mehr Kinder mit D-Merkmalen in der Fremden Situation (Aviezer/Sagi 1999; Lyons-Ruth/Jacobvitz 2008 (im Druck); Solomon/George 1999b; Hesse/Main 2002).

Das biologische Programm erfordert eine Anpassung auf der Verhaltensebene. Biologische Selektion setzt am Phänotyp an. Die Unfähigkeit zu adaptiven Strategien, für die die Desorganisation ein deutliches Merkmal zu sein scheint, ist gewissermaßen ein unzureichendes oder überfordertes Verhaltenssystem. Alan Sroufe vermutet mit uns, dass dies auch für viele Fälle später diagnostizierter Aufmerksamkeitsstörungen zutrifft (Sroufe, mündliche Mitteilung; de Hart et al. 2004, 542–545). Desorganisiertes Bindungsverhalten wurde einerseits besonders häufig in Risikostichproben beobachtet, in denen Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung vorlagen oder unangemessenes elterliches Verhalten aufgrund mütterlicher Depression oder Hilflosigkeit gegeben war. Andererseits konnten Spangler und Grossmann (1999) bei jenen desorganisierten Kindern, die kein pathologisches mütterliches Verhalten erlebt hatten, bereits im Neugeborenenalter eine eingeschränkte Verhaltensorganisation feststellen. Darüber hinaus stellten wir bei diesen Kindern eine Stabilität über Bindungspersonen hinweg fest, was bei den klassischen Bindungsmustern nicht der Fall war. Während also bei einem Teil der Kinder ungünstige individuelle Verhaltensdispositionen vorliegen, kommt es bei anderen Kindern durch grob unangemessenes Verhalten der Bindungsperson zur Desorganisation. Natürlich kann auch beides zusammenwirken (s. Zulauf-Logoz, Kap. 15 in diesem Band).

5    Die unterschiedlichen Rollen von Müttern und Vätern als Bindungspersonen

Das Konzept der Monotropie, das in der psychoanalytischen Tradition der Nachkriegszeit stand und wonach Kinder in den ersten Lebensjahren nur eine tiefer gehende und für die weitere Entwicklung bedeutsame Bindung (zumeist mit der Mutter) eingehen können, wurde von Bowlby (1969)