Roman
Digitale Originalausgabe
Impressum
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Ein Imprint der Arena Verlag GmbH
Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2016
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Covergestaltung: Casandra Krammer unter Verwendung von Bildern von ©iStock
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2017
ISBN: 978-3-401-84031-4
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Prolog
London, New End Hospital, 02:21 Uhr
Ein verwaister Operationssaal liegt in völliger Dunkelheit da. Zwei Ameisen verteilen LED-Leuchten am Boden und wenige Sekunden später ist der Raum in goldenes Licht getaucht. Ein Waschbär legt seine Taschenlampe beiseite und schließt seine Gitarre an einen kleinen, tragbaren Verstärker an. Ein Wolf, ein Clown und ein Elefant holen Trommeln aus ihren Umhängetaschen.
Ein Fuchs rollt die letzte von fünf großen Gasflaschen neben die Rohre, die in der grün gekachelten Wand verschwinden. Dann zieht er zwei Drumsticks aus der hinteren Hosentasche und streicht mit ihnen über die Flaschen, die dabei wie ein Xylofon eine fast perfekte Tonfolge von sich geben.
Die Sturmhaube, die er – wie alle anderen – unter seiner Tiermaske trägt, verbirgt seine Gesichtszüge vollkommen.
Die beiden Ameisen halten inzwischen Kameras in den Händen und warten, bis auch die Hummel ihren Bass bereit gemacht hat.
»Vier Minuten«, sagt die größere Ameise und alle nicken.
Der Fuchs wendet sich den Rohren in der Wand zu, greift nach einer verstaubten Krücke, die am Boden liegt und holt aus.
Ein tiefes Klonk hallt durch den Raum, wird von den Wänden zurückgeworfen, jagt hinaus, die Flure entlang, durch die leeren Wartezimmer, und erfüllt den ganzen, verlassenen Flügel des Krankhauses, das für heute Nacht ihre Bühne ist.
Der Fuchs dreht sich zu dem Wolf, dem Clown und dem Elefant um. Wie auf Kommando beginnen sie zu trommeln, während er zwischen den Gasflaschen und den Rohren hin- und herwechselt. Als sich die Gitarre und der Bass dazugesellen, tritt ein Weißer Hase aus dem Schatten und hält sich ein Mikro an die Lippen, oder besser gesagt, an das Loch in der Sturmhaube, wo sie sein sollten.
Die Lämpchen an den Kameras blinken, die Luft vibriert, ein Sturm bricht los, der den dicken Staub auf dem Boden aufwirbelt.
Vier Minuten Freiheit. Rebellion. Spaß.
Kamikaze-Sessions. So haben wir sie getauft. Es gibt nur eine Regel: Halt dich an die Regeln! Ansonsten warst du das letzte Mal dabei.
1
Die Wembley Arena platzt aus allen Nähten. Der Jubel von 12.000 Menschen wirft sich wie ein wütendes Tier gegen die Rückwand der Bühne, wo das Banner hängt. ANTONIA. Weiß auf Schwarz. Davor zwei Podeste, ein Schlagzeug und ein Keyboard. Daneben Verstärker, am Bühnenrand drei Mikrofone. Alles steht bereit und langsam wird es immer dunkler in der Halle.
Clara steht im Backstagebereich, an der Treppe zur Bühne. Zum hundertsten Mal streicht sie sich eine widerspenstige Strähne ihres lila Pagenkopfs hinters Ohr. Wäre sie der Nägel-Knabber-Typ hätte sie längst blutende Finger. Das Bühnenlicht schlägt endlich in kräftiges Blau um und tiefes, dumpfes Pochen, das an einen Herzschlag erinnert, erklingt.
Auf dem Weg nach oben nimmt sie die Gitarre, die ihr aus dem Schatten gereicht wird, entgegen, legt sie in einer fließenden Bewegung um und tritt hinaus ins Licht. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie winkt dem Publikum zu. Ohrenbetäubender Jubel bricht los. Am Mikrofon in der Mitte angekommen, greift sie nach dem Kabel für ihre Gitarre. Clara weiß: Jedes Augenpaar in der Arena ist auf sie gerichtet. Die Gesichter aus den ersten Reihen kann sie sogar erkennen.
Auf einen Schlag ist es mucksmäuschenstill.
Clara sieht hoch und statt der Freude, die eben noch geherrscht hat, werden wütende Rufe laut.
Ein Schauer läuft über Claras Rücken und schnell macht sie einen Schritt rückwärts. Sie dreht sich um, zu ihrer Band, zu ANTONIA, doch mit einem schmerzhaften Stich in der Brust stellt sie fest, dass die Podeste leer sind, dass niemand außer ihr auf der Bühne steht.
Wütende Schreie lassen sie herumwirbeln. Sie will die aufgebrachte Menge beruhigen, aber als sie ans Mikro tritt, versagt ihre Stimme und kein Ton kommt über ihre Lippen. Ihr Blick wandert zu der Hand am Gitarrenhals. Blut. Die Stahlsaiten schneiden tief in ihre Finger. Panisch streift Clara die Gitarre ab und mit einem elektrischen Dröhnen knallt sie auf den Bühnenboden.
Clara presst die Hände auf die Ohren. Der aufdringliche Geruch von Metall steigt ihr in die Nase, sie fühlt, wie etwas Warmes an ihren Schläfen hinabrinnt. Die Ersten aus dem Publikum erklimmen bereits die Bühne und im nächsten Moment stürzen sie sich auf sie.
Mit einem Schrei schreckt Clara aus dem Schlaf. Schluchzend wirft sie die Bettdecke zurück, springt auf und reißt das Fenster auf. Die Tränen, die sich mit Schweißperlen mischen, glänzen im fahlen Mondlicht. Nur mit Mühe kann sie sich davon abhalten, hinauszuspringen und wegzulaufen. Vor den Träumen. Vor der Realität, die den Träumen in nichts nachsteht. Vor sich selbst.
Nur langsam begreift sie, dass sie nicht auf der Bühne steht, sondern in ihrem Zimmer am Fenster. Alleine. Draußen schläft die Londoner Innenstadt. Sie ist im Hier und Jetzt. Das Lila ihrer Haare ist natürlichem Blond gewichen und der Pagenkopf ist längst herausgewachsen. Zitternd reibt sie über ihre Fingerkuppen. Wo früher dicke Hornhaut vom Gitarrespielen war, ist die Haut zart und dünn. Und unversehrt. Kein Blut. Keine Schmerzen.
Erleichtert und erschöpft sinkt Clara neben ihr Bett und schlingt ihre Arme um ihren schlanken Körper. Das Mondlicht fällt in einem breiten Strahl auf ihre blasse Haut, die weder tätowiert noch gepierct ist. Eine Seltenheit für einen Rockstar. Ex-Rockstar.
Claras Blick wandert zum Wecker auf dem Nachttisch. 04:57, leuchtet es rot in der Dunkelheit. Fünf Stunden bis sie in der Firma sein muss. Sie schluckt. War der Traum deshalb so klar? Weil sie aufgeregt ist, nervös?
Kaum denkt sie an den Traum, beginnt ihr Herz schlagartig mit voller Wucht gegen ihren Brustkorb zu hämmern. Verdammt, es ist nur ein Traum! Aber Jimmy, Chris und Liam sind wirklich weg. Für immer. Das ist die bittere Realität.
Wütend schluckt Clara den Kloß, der gegen ihre Kehle drückt, hinunter. Ihre zitternden Finger tasten nach dem MP3-Player und den Kopfhörern neben dem Kopfkissen. Sie setzt sie auf. Kein Schlaf, kein Traum. Als die Musik langsam in ihren Körper sickert, entspannen sich ihre Gesichtszüge. Clara schließt die Augen und atmet tief durch.
2
Music is the only key.
3
JAM RECORDS hatte in den 70ern das baufällige Gelände einer Schokoladenfabrik im Herzen Londons gekauft und darauf das Geschäftsgebäude einer der erfolgreichsten britischen Plattenfirmen errichtet. Fast überraschend harmonisch schmiegt sich der moderne Bau aus grauem Beton und bunten Glasscheiben zwischen die roten, viktorianischen Ziegelsteinhäuser zu beiden Seiten der Wright’s Lane. Dahinter liegt ein großer Innenhof mit Bäumen, Bänken und Büschen, auf dessen Nordseite immer noch eine der alten Ziegelsteinlagerhallen steht. Heute erfüllt dort nicht mehr der Duft von gemahlenen Kakaobohnen die Luft, sondern die Klänge von Schlagzeug, Bass und Songtexten. Ein Proberaumkomplex mit kostenlosen Räumen für alle bei JAM unter Vertrag stehenden Künstler.
Zu eben einem dieser Proberäume öffnet Clara die Tür. Im nächsten Moment springt sie wieder zur Seite und eine Zeitschrift zischt haarscharf an ihr vorbei. Das Klatschen, als sie auf dem Steinboden landet, ist kaum zu hören, viel zu laut ist die Musik, die aus dem Raum dröhnt. Nirvana. »Come As You Are.« Clara mustert das Cover der Zeitschrift, auf dem sich Blink 182 nur in Boxershorts unter dem Rolling Stone-Schriftzug räkeln. Vorsichtig streckt sie den Kopf durch die Tür.
Der Schein der Vormittagssonne fällt durch große Industriefenster auf die hellgrün gestrichenen Wände, an denen Poster von Pearl Jam, Nirvana, Billy Talent und drei Platin- und zwei Goldscheiben hängen. In einer Ecke, zwischen einem Kühlschrank und einem Tisch mit drei Stühlen, lehnt ein ganzer Stapel von Auszeichnungen. Als wären sie nichts Besonderes. Auf dem abgewetzten Ledersofa sitzt der Sänger der Band. Daniel. Clara kennt seinen Namen und die seiner Bandkollegen aus zahllosen Musikzeitschriften – und Klatschblättern. Daniel ist eins achtzig groß, hat schulterlanges blondes Haar, zerrissene Jeans, blaue Chucks, breite Schultern im verwaschenen Jamiroquai-Shirt. Dreitagebart. Genauso muss ein Rockstar aussehen, selbst Clara findet ihn heiß.
Neben ihm steht der Bassist, Lani, und wirft mit einem weiteren Magazin nach dem Sänger, der es mit seinem Arm abwehrt. Beide schreien sich pausenlos an. Max, der Drummer, versucht den Bassisten davon abzuhalten, noch mehr Magazine aus dem Regal zu ziehen. Clara kann kaum verstehen, was er sagt, aber Lanis Reaktion ist eindeutig.
»Beweg endlich deinen Arsch!«, schreit er über Kurt Cobains Stimme hinweg. Er überragt Daniel um ein paar Zentimeter und das liegt nicht nur an den Locken, die seinen Kopf wie ein dunkler Feuerball einkreisen. Die Muskeln unter der olivbraunen Haut lassen ihn fast bedrohlich wirken. Sein Hawaii-Hemd mit den surfenden Affen nicht.
»Du kotzt mich so an«, brüllt der Sänger ebenso laut zurück.
Obwohl er der Kleinste ist, schiebt sich Max zwischen die beiden und drückt sie auseinander. Plötzlich bemerkt er Clara, die daraufhin einen Schritt in den Raum macht. Sie hebt grüßend die Hand.
Lani und Daniel sehen sie jedoch nicht.
»Du bist so ein Egoist«, ruft Lani.
»Von wegen. Ich bin nur ehrlich«, antwortet Daniel. Seine Augen funkeln.
»Ähm, Jungs …« Max schaltet den iPod aus und schafft es so, die Aufmerksamkeit der Streithähne in Richtung Tür und Clara zu lenken. Ertappt schleudert Lani das Magazin aufs Sofa. Daniel streicht sich sichtbar genervt eine Haarsträhne aus dem roten Gesicht und mustert Clara von oben bis unten. »Du bist also das Genie, das Arran schickt, um uns zu zeigen, wie man eine Gitarre richtig hält?«
Autsch. Clara zieht die Augenbrauen nach oben. Optik ist eben doch nicht alles. Sie räuspert sich. »Wenn du damit meinst, dass Arran mich gebeten hat, bei euch reinzugucken und mir ein Bild von eurer Musik zu machen, dann ja: Ich würde dir sagen, wenn du die Gitarre falsch rum hältst.«
»Wie nett von dir«, erwidert Daniel gereizt.
Claras Mundwinkel zucken. »Nur um alle Verwirrungen von vornherein auszuschließen: Das spitze Ende zeigt immer nach oben.«
Während die anderen loslachen, zieht Daniel ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Im Gegensatz zu Max, der ihr die Hand reicht. Die Tätowierungen, die seinen ganzen Körper zu überziehen scheinen, zeigen Wellen, die sich schäumend aufbäumen. Dazwischen ein Sonnenuntergang, Gitarren, das Gesicht einer jungen Frau mit grünen Augen. Wie die seinen. Die schulterlangen dunkelbraunen Haare fallen glatt in sein Gesicht, das an Unterlippe, Augenbraue und Nase gepierct ist. Auf den Knöcheln seiner linken Hand steht in schwarzen Buchstaben SURF. Auf der, die Clara ergreift, ROCK.
»Ich bin Max und«, er deutet auf den Bassisten, »das ist Lani. Unser Genie hier, ist Dan.«
»Daniel«, korrigiert Daniel ihn, während auch Lani ihr die Hand reicht.
»Clara.« Mit einem letzten Blick zu Daniel, der keinerlei Anstalten macht, sie zu begrüßen, stemmt sie die Hände in die Hüften. »Dann schießt mal los, was macht ihr gerade?« Fragend blickt sie zu den herumliegenden Magazinen.
»Wir haben, ähm, diskutiert …«, stottert Lani und fährt sich verlegen durch die krausen Haare.
»Was dich eigentlich nichts angeht«, sagt Daniel, während er eines der Hefte vom Sofa zurück ins Regal wirft.
Clara zuckt mit den Achseln. »Zeigt mir, an was ihr gerade arbeitet. Das darf mich hoffentlich interessieren. Oder?«
Daniel wirft ihr einen bösen Blick zu, aber anstatt zu antworten, verschwindet er durch eine Tür in den Nebenraum, den eigentlichen Proberaum der Band. Kopfschüttelnd sieht Clara ihm nach.
»Entschuldige«, sagt Max, als Lani Daniel folgt. »Die Stimmung ist heute etwas angespannt.«
Clara winkt ab. »Lass uns einfach anfangen.«
Was Mars Comes Clara jedoch an neuem Material zeigt, ist für eine Top-Ten-Band ziemlich jämmerlich. Schon der erste Song klingt ganz und gar nicht ausgereift. Plump steigt er direkt in die Strophe ein, deren Melodie nicht unbedingt originell oder auch nur annähernd eingängig ist. Dabei kann man mit simplen Mitteln die geilsten Songs schreiben! London Grammar haben es bewiesen. Drei Leute. Vier Instrumente, zählt man die Stimme dazu. Das Resultat ist ein Album, dessen Songs alle gleich gestrickt sind und dennoch begeistern.
Clara lehnt sich gegen das Fensterbrett und verschränkt die Arme. Die Band wirkt nicht als Einheit. Es klingt, als wolle jeder von ihnen eigentlich gerne ganz woanders sein. Max hat am meisten Spaß und nickt sogar im Takt mit. Lani wirft Daniel, der keine Sekunde von seiner Gitarre aufsieht, immer wieder genervte Blicke zu. Er hämmert etwas zu laut auf seinen Bass ein. Blickkontakt gibt es nur zwischen Lani und Max.
Ja. Eine gut funktionierende Band sieht anders aus.
Als der zweite Song genauso ideen- und emotionslos dahinplätschert hakt Clara die Band beinahe ab. Doch dann beginnt der dritte Song und mit ihm verschwinden all ihre Zweifel: Daniels Stimme windet sich so verzweifelt und zart aus ihren rauen Tiefen nach oben, dass sie ihr eine Gänsehaut beschert.
Shit, denkt sie und reibt sich eine Minute später immer noch über die Arme. Er hat doch recht gehabt.
Arran, der Gründer und Boss vom JAM, der die Band auf dem Schulfest seines Patenkindes gesehen und sofort unter Vertrag genommen hat, behauptete, sie hätte etwas Besonderes, etwas, das es wert wäre dranzubleiben. Und ja, muss Clara nun überrascht feststellen, da blitzte diese kleine Besonderheit für einen Sekundenbruchteil hervor. Auch wenn es der Band – zumindest im Moment – an Drive, originellen Ideen, Leidenschaft, Enthusiasmus, Glanz und Glamour und an allem anderen fehlt. Dieser Moment dauert nun schon zwei Jahre, wohlgemerkt. Wie Alice im Wunderland waren sie auf dem Weg zum dritten Album im dunklen Wald verloren gegangen und finden, so Arrans Vermutung, ohne Hilfe nicht ans Ziel. Und diese Hilfe soll nun Clara sein.
Mit ihrem Gespür für den richtigen Ton und ihrer Liebe zur Musik zieht sie alle in ihren Bann. Für sie gilt nur ein Grundsatz: »Wenn du ohne Musik atmen kannst, hast du in der Band nichts verloren.« So gelingt Clara das, woran die meisten Bands in Krisen scheitern: das Feuer für die Musik am Leben zu erhalten. Oder wieder zu entfachen.
Vor etwa zehn Monaten war Clara – wie immer ein bisschen zu spät für ihren monatlichen Kaffeetratsch – in Arrans Büro aufgeschlagen. Es lief Musik und er hatte Clara mit einem Wink aufgefordert, sich hinzusetzen und zuzuhören. Demoaufnahmen von The Horizon, einer Band, die Clara noch aus ihren eigenen Tourzeiten kennt und die mittlerweile europaweit angesagt ist. Gute Songs, aber man hörte den fünf Mädels die schlechte Stimmung an: das Timing war nicht sauber, die Einsätze zu unkonzentriert, die Melodien schlampig. Als Arran erzählte, die Band stecke in einer Krise, der bisher niemand Herr geworden war, bot Clara ihre Hilfe an. Ohne zu überlegen. So begann Clara für JAM Records zu arbeiten und brachte The Horizon binnen weniger Monate wieder bis in die Top Twenty der internationalen Billboard-Charts.
Im Nachhinein würde Clara nicht behaupten, dass das alles purer Zufall gewesen war. Arran ist kein Idiot. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt, bekommt er es auch. Und er wollte Clara bei JAM. Der Quereinstieg brachte aber nicht nur Freunde, vor allem den Damen der Belegschaft, die sich jahrelang um Aufträge wie Claras bemüht hatten, war sie ein Dorn im Auge. Doch Clara biss sich durch und tat, was sie für richtig hielt.
4
Langsam schiebt Clara die Tür zu Arrans Büro auf. Ein riesiger Raum im neunten Stock mit einem unglaublichen Panoramablick auf London. St. Pauls Cathedral erhebt sich im Osten über die vielen Dächer, dazwischen die Kuppel der Royal Albert Hall. Im Norden erstreckt sich der Hyde Park mit dem Kensington Palace und im Westen die Wohngebiete von Kensington und Shepard’s Bush. Zwischen den bodentiefen Fenstern befinden sich dunkle Holzregale, voll mit CDs und Büchern. Eine große schwarze Sitzecke steht vor der Fensterfront. Arran arbeitet an seinem riesigen Schreibtisch, der fast leer ist. Ein Laptop, zwei iPhones, ein fast altmodisch wirkender Buchkalender, die aktuellste Ausgabe vom Rolling Stone und einige Dokumentenmappen. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, als er Clara bemerkt.
»Da bist du ja.« Er kommt auf sie zu und drückt ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie kennen sich seit Jahren, er war der Manager von ANTONIA. Diese grau-schwarze Lagerfeld-Frisur trägt er schon immer. Genau wie das Tweet-Jackett mit den Flicken an den Ellbogen und dem schwarzen Rollkragenpulli. Dinge, die ihn eher wie einen College-Professor erscheinen lassen und in seiner Jugend sicher cool waren.
Während Clara es sich in der Sitzecke gemütlich macht, bereitet Arran zwei Espressos zu und setzt sich damit zu ihr. »Wie war es bei Mars Comes?« Er schiebt ihr eine der Tassen hin.
Seufzend greift Clara nach ihr und schnuppert. »Du hattest recht. Sie haben was.« Triumphierend lacht Arran auf und nimmt einen Schluck. »Aber es ist ganz schön versteckt unter all …«
»Der schlechten Laune?«, hilft Arran.
»Danke, dass du es sagst.« Clara lehnt sich zurück.
Arran mustert sie. »Was denkst du?«
»Okay. Entweder die könnten echt was Großartiges raushauen oder die sind komplett am Arsch. Ein Zwischendrin gibt es nicht.«
»Wie lange wird es dauern, um das herauszufinden?«
»Puh«, stöhnt sie, »ich hab doch da keine Erfahrung.«
»Aber du hast ein Wahnsinnsgespür und dem vertraue ich.«
Clara nippt am Espresso, bevor sie antwortet. »Weniger als drei Monate auf keinen Fall. Und selbst dann weiß ich nicht, was dabei rumkommt. Allein die drei wieder auf die gleiche Spur zu bekommen, wird dauern.« Clara erzählt, wie ihr die Rolling Stone heute schon einmal begegnet ist. »Daniel … seine Stimme: wow. Mit ihm steigt und fällt die Zukunft der Band. Leider ist auch er der mit der miesen Laune.«
Es klopft.
»Komm rein«, ruft Arran und fährt herum.
Ein junger Mann, groß, schlank, in einem Anzug, der passt, als wäre er darin zur Welt gekommen, öffnet die Tür. Schlagartig fühlt sich Clara in die Schulaula der Kensington Academy zurückversetzt. Alle hatten George, den Schulsprecher und Cricket-Captain, angehimmelt. Auch sie.
Er hat sich kaum verändert: sein charmantes Lächeln, die lässige Geste, mit der er seine dunkelbraunen, kinnlangen Haare zurückstreicht. Hipsterbrille. Glatt rasiert. Als wäre er eben aus einer Calvin-Klein-Werbeanzeige gefallen.
Dass Clara George gerade heute über den Weg läuft, damit hat sie nicht gerechnet. Ihr Herz ganz offensichtlich auch nicht, denn es schlägt wie von selbst einen schnelleren Rhythmus an.
Clara setzt sich auf, stellt ihre Tasse weg und zupft ihr T-Shirt zurecht. Sie wünscht sich sehnlichst, sich einfach in Luft aufzulösen. Aber vergeblich.
Unsicher beobachtet sie, wie Arran George begrüßt, ihm ebenfalls einen Espresso macht und sie sich zu ihr setzen. George wirft nur einen kurzen Blick auf Clara, er wirkt mindestens genauso verwirrt wie sie.
Während Clara auf ihrer Unterlippe kaut, rückt George unnötigerweise mehrmals seine Brille zurecht.
Arran scheint die Spannung zwischen den beiden nicht aufzufallen. »Wir sind vollzählig. Ihr kennt euch doch?«
Clara fährt sich durch die Haare und zupft an einer Strähne. »Ja.«
George nickt nur und schnappt sich seine Tasse.
»Gut!« Arran klatscht in die Hände. »Umso besser wird dann die Zusammenarbeit klappen.«
»Was?!«, prusten Clara und George gleichzeitig los.
»George ist der Manager von Mars Comes.« Natürlich, denkt Clara. Wer auch sonst?
Doch George ist nicht so schnell zufriedenzustellen. »Was hat Clara mit Mars Comes zu tun?«
»Sie wird sich um die Jungs kümmern.«
»Du willst ihnen noch eine Chance geben?«, fragt George irritiert. »Ernsthaft? Die schustern seit einem Jahr herum und dabei kommt nichts heraus, was auch nur annähernd verkaufbar ist.«
»Clara hat sie sich eben angehört«, erklärt Arran. »Und sie denkt das Gleiche wie ich: der Ofen ist noch nicht aus.«
»Wow, okay …« Georges Blick huscht zu Clara.
»Die meisten Songs sind zwar grottig, aber die Jungs haben trotzdem Potenzial«, verteidigt sie sich.
»Aha«, ist alles, was George herausbringt.
»Wir sind uns also einig«, freut sich Arran. »Wir setzen eine Deadline. Wenn sie in drei Monaten immer noch«, er sieht Clara an, »grottig sind, war es das und wir verlängern den Vertrag nicht. Das ist doch eine gute Lösung, was denkst du, George?« Bevor dieser antworten kann, klingelt eines von Arrans Handys. »Entschuldigt mich.« Mit wenigen Schritten ist er bei seinem Schreibtisch und würgt das Klingeln ab. »Ja?«
Clara sieht George an. »Ich hatte keine Ahnung, dass du …«
»Du hättest vorher mal fragen sollen.«
»Komm schon!«
»Hör mir auf mit deinem Komm schon! Die Band ist am Ende und du willst sie in drei Monaten dazu bringen, wieder Musik miteinander zu machen? Geschweige denn, dass sie sich vorher vielleicht erst mal wieder normal miteinander unterhalten sollten. Das ist Irrsinn!«
»Daniels Stimme ist der Hammer.«
»Daniel, klar, der gefällt dir.«
»Jetzt halt aber mal den Rand«, fährt Clara ihn an, kommt aber nicht weiter, weil Arran plötzlich laut ins Telefon schreit. George und Clara drehen sich erschrocken zu ihm um.
»Sie haben was?«, schnauzt er wütend und wird rot im Gesicht. »Das glaub ich nicht. Ich will genau wissen, was da passiert ist. Ja, im Büro, komm rüber!«
Mit einem Stöhnen legt Arran das iPhone weg und dreht sich zu seinen beiden Gästen um. »Tut mir leid, aber die von Stace haben Bill McVane unter Vertrag genommen.«
Stace Entertainment. Ein wunder Punkt für Arran. Seine Stieftochter Sophie leitet das Label. Nachdem er sie jahrelang in die Geheimnisse von JAM eingeweiht hatte, war sie auf und davon und gründete Stace. Ohne auch nur ein Wort mit Arran darüber zu wechseln.
George räuspert sich. »McVane? Der, der wegen Panikattacken und Depressionen nichts mehr schreiben konnte?«
»Hattest du ihn nicht genau deshalb aus dem Vertrag entlassen?«, fragt Clara.
»Ja.« Arran kommt zu ihnen zurück. »Und jetzt schreibt er putzmunter sein neues Album bei Stace. Ich muss unser Treffen leider beenden.« George und Clara nicken und stehen auf, Arran begleitet sie zur Tür. »Wir haben die Deadline festgesetzt. Und George: Ich würde Clara erst einmal freie Hand lassen.« Er zieht Clara an sich und drückt sie. »Da ist sie am produktivsten.« Ein Klopfen ertönt. »Dann mal los! Viel Spaß, Clara.«
Draußen auf dem Flur versucht Clara George, der davonstürmt, einzuholen. Erst am Fahrstuhl gelingt es ihr und sie bekommt seine Schulter zu fassen. »Hey, warte.«
Nur widerwillig bleibt er stehen. »Was gibt es denn noch?«
»Ich wusste wirklich nicht, dass du ihr Manager bist, ehrlich. Sonst hätte ich dich vorgewarnt, oder gefragt, ob es okay ist. Ehrlich.«
»Hast du aber nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, aber ich habe gerade keine Lust, weiter darüber zu reden … Über was auch?«, ruft er frustriert. »Du hast ja freie Hand. Wieso sollte ich in diese Entscheidung eingebunden werden? Ich bin ja nur der Manager! Gegen Arrans kleinen Goldschatz kann ich ja kaum was sagen, oder? Also: viel Spaß, Clara«, äfft er Arran nach und lässt sie stehen.
5
Wenn endlich der Frühling Einzug hält und die Sonne an Kraft gewinnt, drängen sich die Londoner in die Parks. Sie machen es sich auf ihren Jacketts und Cardigans in der Sonne gemütlich und essen Sandwichs und Salate aus Plastikschalen von Marks & Spencers. Auf der kleinen Bühne am Kopf des Parks am Embankment spielt sich eine Jazzkombo durch die Hits der letzten Jahrzehnte.
Clara sitzt auf einer kleinen Mauer und stopft sich eine der Kirschen, die sie beim pakistanischen Obsthändler an der U-Bahnstation geholt hat, in den Mund. Die Banker neben ihr reden über den Börsengang einer IT-Firma. Die beiden Mädchen auf der Wiese vor ihr schweigen und versuchen so britisch wie möglich auszusehen, um als Einheimische durchzugehen. Aber die dicken Steppjacken, Fellboots und Schals verraten sie. Die Inselbewohner holen Minirock und kurzarmige Hemdchen aus dem Schrank, sobald der erste Sonnenstrahl durch die Wolken bricht. Temperaturen spielen dabei keine Rolle. Sonne gleich Sommer und Frostbeulen kann man überschminken.
Die Mädchen linsen immer wieder zu Clara. In ihrer abgewetzten Lederjacke, den Chucks und ihren alten Jeans hat sie das Londoner Rock ’n’ Roll-Flair, das sich die zwei niederländischen Landeier mit Sicherheit so sehr wünschen. Gedankenverloren streicht Clara über den Flicken auf ihrer Jeans.
28. August 2011, 21:04 Uhr, Reading Festival:
Mit einem Krachen geht Clara zu Boden. Zusammen mit ihr die Gitarrenkoffer, die härter sind, als sie aussehen, vor allem, wenn sie einem ungebremst in die Nieren rauschen. Benommen bleibt sie liegen und hört die Rufe um sich. Liams besorgte Miene taucht sofort über ihr auf. Die Stirn über den eisblauen Augen des Bassisten und Sängers von ANTONIA liegt in Falten. Er wischt das wilde braune Haar, das ihm die Sicht nimmt, nach hinten. »Alles okay?« Er wirft einen der Koffer zur Seite, damit Clara sich aufsetzen kann.
»Es tut mir so leid«, beginnt er. »Ich wollte dich nicht schubsen. Also, doch, schon. Aber ich hab das Kabel nicht gesehen.«
Neben Clara und Liam kickt ein stämmiger Teddybär mit rotblondem Strubbelschopf einen Mülleimer beiseite. Chris, Drummer der Band. Der Gitarrist, ein schlaksiger Punk mit blauem Irokesenschnitt, einer Unmenge an Metall im Gesicht und dem Spießernamen Jimmy, schubst noch ein Case zu Seite und geht neben Clara in die Hocke. Zusammen mit Liam hilft er ihr auf. Clara verlagert ihr Gewicht auf das rechte Knie. »Heilige Scheiße! Das ist nicht gut«, entfährt es ihr.
Arran lässt die Sanitäter rufen.
Das Publikum beginnt laut und rhythmisch zu klatschen, sie sind bereits überfällig. Das Reading Festival ist ausverkauft und ANTONIA ist ein Grund dafür. Sie hören, wie das Publikum im Einklang den Bandnamen ruft.
Zwei Sanitäter kommen gelaufen und nach kurzer Untersuchung ist klar: nichts gebrochen, aber es könnte ein Band gerissen sein. Ein Sanitäter will sie ins Krankenhaus schicken. Clara weigert sich.
»Das können wir jetzt echt nicht bringen.« Sie sieht ihre Bandkollegen an. Die nicken. Arran runzelt die Stirn.
»Organisiert einen Barhocker, Kühlpads und Tape zum festkleben«, sagt er schließlich. Während drei Jungs der Backstage-Crew die Cases beiseite räumen, rennen zwei weitere los. Clara hinkt zur Bühnentreppe. Liam ist sofort an ihrer Seite und hilft ihr hinauf.
»Dafür flicke ich die Hose ganz persönlich. Mit meinem Tool-Shirt. Versprochen.«
Das Muster von Tools »Lateralus«-Covermotiv wird allmählich immer blasser und jedes Waschen ist wie ein kleiner Todesstoß für den ausgefransten Stoff. Einmal hat der Flicken sich gelöst, aber Clara hat ihn sofort wieder festgenäht und dabei Liams ungeübte, unregelmäßige Stiche genauestens nachgestochen. Ihre Lieblingsjeans. Weil sie eines der letzten Dinge ist, die ihr von Liam geblieben sind.
Die Kombo beendet den Song mit einem lauten Tusch und reißt Clara aus ihren Gedanken. Der schwarze Bandleader tritt ans Mikro. Mit seinem platten Hut und dem Karosakko könnte er genauso gut aus New Orleans stammen, aber sein Cockney-Akzent brüllt: »Bred in Lond’n, Baby!« Clara schiebt sich noch eine Kirsche in den Mund und die Band beginnt Sinatras »My Way« zu spielen.
»Ach, herrje«, sagt Clara laut und die Banker werfen ihr abfällige Blicke zu. Sie zieht eine Grimasse und holt ein iPad aus ihrer Tasche. Einige Momente später ist sie schon in ihr Firmenprofil eingeloggt, klickt ein paar Mal und landet da, wo sie hinwill: bei den Alben von Mars Comes. Sie steckt ihre Kopfhörer ein. Als der erste Song erklingt, legt sie sich auf die Mauer, spukt einen Kirschkern ins Gebüsch und schließt die Augen.
Mars Comes. Im Alter von zwölf Jahren von Daniel, Maximilian und Lani gegründet und innerhalb von drei Jahren ins Business gezogen worden. Das erste Album war der Renner in den Läden, dynamisch, laut, ausgeklügelt, radio- und – bei drei attraktiven Jungs – auch fantauglich. White Stripes meets Mumford & Sons meets Foo Fighters.
Erst auf dem zweiten Album ist auch ein ruhiger Song zu finden: »Euphoria«. Ein totaler Gegensatz zum Rest der Platte, denn die Drums sind vollkommen reduziert, der Bass ertönt in einer traurigen Melodie passend zu den wenigen leisen Gitarrenakkorden. Daniels Stimme klingt zum ersten Mal wie im Proberaum. Wieder rast eine Gänsehaut über ihren Körper. Sie mag, was sie da hört, trotzdem seufzt sie bei dem Gedanken an den Vormittag. Daniel könnte schwierig werden. Er ist zwar im gleichen Alter wie Clara – 20 – und ihre Karrieren ähneln sich, aber ihre Leben unterscheiden sich grundlegend. Auch die Arbeit mit George könnte schwierig werden.
Clara dreht die Lautstärke höher und verdrängt die Vorstellung, wie neben dem Berg auf ihrem Schreibtisch, den The Horizon in Form von Papierkram hinterlassen hat, ganz schnell ein zweiter wachsen könnte.
6
Seit über einem Jahr wohnt Clara zusammen mit Luzie in einem kleinen roten Reihenhaus in der nördlichen Ecke Kensingtons. Kneipen, Buchläden und sich eng an eng schmiegende Häuser, gestrichen in den unterschiedlichsten Farben, bilden ihre Nachbarschaft. Alte Schuhe werden an den Wäscheleinen, die zwischen den Häusern gespannt sind, entsorgt und baumeln im Wind. Angekettete Fahrräder machen es Autos in der engen Gasse schwer, aber von den Studenten, die hier wohnen, hat sowieso kaum einer eins.
Als Clara die blaue Haustür hinter sich zuzieht, schlägt ihr der Duft von gekochten Tomaten entgegen. Sie streift ihre Sneakers ab und kickt sie zu den Schuhen, die sich vor dem fast leeren Regal stapeln. Ihre Tasche gleitet neben den gelben Rucksack vor der Garderobe, an der nur wenig hängt und wohin Claras Lederjacke an einen Hacken wandert.
Als sie auf Socken die Küche betritt, läuft Musik. Archive, »Hatchet«. Passend zum Rhythmus hackt Luzie – Claras beste Freundin – auf eine Handvoll Basilikumblätter ein. Wie jeden Tag sind ihre schwarzen Haare zu Zöpfen geflochten, die ihr vom Kopf abstehen und im Takt auf- und ab wippen. Auf dem Herd blubbern Spaghetti vor sich hin, daneben ein Topf mit Bolognese-Sauce. Luzie kippt das Basilikum hinein, erst dann bemerkt sie Clara.
»Na? Wie war dein Tag?«
Mit verschränkten Armen lehnt sich Clara an den Türrahmen. »Du hättest erwähnen können, dass George ihr Manager ist.«
»Ich dachte, das findest du früh genug heraus«, antwortet Luzie. »Ich wollte dir nicht schon im Vorhinein die Stimmung vermiesen.«
Clara setzt sich auf einen der Stühle, die um den runden Küchentisch stehen. Ihr Blick wandert zur Pinnwand rüber. Sie ist gespickt mit Fotos aus dem letzten Jahr. Keine von früher. Clara will das nicht. Noch nicht, sagt sie immer wieder, wenn die Sprache darauf kommt. Auf den meisten Fotos sind also nur Luzie und sie, hier und da mal Arran und Niko, ein alter Schulfreund von Luzie. Dazwischen Konzerttickets und Festivalbändchen. Luzie pinnt die Fotos an die Wand, Clara die Musiksachen. Arbeitsteilung. Wie im Rest der Küche. Während Luzie eine Göttin am Herd ist – kaum zu glauben bei ihrer drahtigen Figur –, kocht Clara nie, und wenn doch, dann höchstens mal Tee. Nach etlichen, schrecklich schmeckenden Versuchen, die die Küche aussehen ließen, als hätte jemand einen Sprengsatz in russische Bohnensuppe geworfen, hat Clara das Handtuch geworfen und die Lebensmittelverschwendung beendet.
Ihr fehlt die Muse, wie Luzie es ausdrückt. Clara nennt es Talent. So ist es Luzie, die zwischen den Töpfen hin- und herspringt, während Clara den Tisch deckt, spült oder die CD wechselt.
»War es so schlimm?«, hakt Luzie nach.
»Arran hatte ihm gar nicht gesagt, dass er Mars Comes noch eine Chance gibt.«
»Uff!« Luzie zieht die Luft ein und dreht sich mit dem Salzstreuer in der Hand zu Clara um. »Das erklärt, wieso er so mies gelaunt war. Er kam nach dem Mittagessen zu mir ins Büro und hat meine Promotexte auseinandergenommen. Alle …«
»Oh Shit«, stöhnt Clara. »Das tut mir leid.«
Luzie winkt ab. »Der beruhigt sich schon wieder. Ich warte ein paar Tage und tausche ein, zwei Sätze aus, das wird reichen. Viel wichtiger: Wie findest du die Band? Süß, nee?« Eine Prise Salz landet in der Soße.
»Max und Lani, ja, die sind wirklich süß und nett«, gibt Clara zu. »Daniel … Optisch: äußerst annehmbar.«
»Ein echter Leckerbissen«, bestätigt Luzie.
»Aber er ist ein Sturkopf. An den ranzukommen, wird kompliziert.«
»Dann machst du es?«
»Ach.« Clara seufzt theatralisch. »Was soll ich sonst mit meiner Zeit anfangen?«
»Yeah.« Luzie hält ihr eine High-Five-Hand hin und Clara schlägt ein. »Das ist die richtige Einstellung, ehrlich. Sonst hängst du nur hier rum und versauerst. Die Arbeit mit The Horizon hat dir doch Spaß gemacht?«
»Mhm.« Clara zögert. »Die kannte ich aber …«
»Das wird schon.« Luzie greift nach der Rotweinflasche, die bereits geöffnet auf dem Tresen steht und schenkt zwei Gläser voll. »Vergiss die Grübelei für heute und lass uns feiern, dass wir jetzt richtige Kolleginnen sind.«
»Das ist allerdings mehr als geil«, erwidert Clara lachend. Die Gläser klirren, als sie anstoßen.
Nach dem ersten Schluck beginnt Clara mit dem Kopf im Takt der Musik zu wippen. »Danke fürs Kochen. Und für die gute Laune.«
»Solange sie überspringt, musst du dich nicht bedanken.«
»Mission completed.« Sie hält Luzie das Glas erneut hin: »Auf eine schöne Zusammenarbeit, Kollegin.«
»Prost, Kollegin.« Luzie trinkt und deutet schließlich auf die Reibe, die vor Clara steht, daneben ein Stück Parmesan. »Walten Sie Ihres Amtes und tragen Sie Ihren Teil zu den Feierlichkeiten bei.«
»Für die niederen Arbeiten bin ich gut genug, was?«
Luzie hält Clara den Kochlöffel hin. »Bitte sehr, ich erinnere dich nur an das Tomatensoßen-Desaster im Januar.«
Clara räuspert sich und zieht schnell die Reibe zu sich heran. »Der Käse wird so fein sein, wie du ihn noch nie gesehen hast.«
7
Mit einem Pappbecher voll Kaffee in der Hand steht Clara am nächsten Morgen an den Fenstern ihres Büros und sieht hinaus auf den Hyde Park. Dünne Nebelschwaden hängen auf den Wiesen, über die ein paar Morgensportjunkies joggen. Claras Lederjacke liegt auf einem der beiden Besuchersessel vor dem völlig überladenen Schreibtisch. Ein Berg von Unterlagen, darauf ein Laptop, ein überquellender Eingangsordner und ein Bild: Clara, kaum wiederzuerkennen mit dem kurzen dunkellila Pagenkopf zwischen drei fröhlichen Jungs. Keiner älter als 18. Liam überragt alle, seine eisblauen Augen leuchten an der Seite von Clara mehr, als sie es ohnehin tun. Jimmy, den Iro in einem tiefen Smaragdgrün, umarmt Clara. Auf seinem Oberarm prangt ein großer ANTONIA-Schriftzug. Chris‹ Haare leuchten, als stünde sein Kopf in Flammen. Der Künstlerausweis des Glastonbury-Festivals baumelt um seinen Hals.
Aus Claras Kopfhörern, die um ihren Hals liegen, ist leise Frank Turners Stimme zu hören. »Rock ’n’ Roll saved us all.«
Erst ein »Hallo« veranlasst sie, sich umzudrehen. George. Schon wieder. Clara wappnet sich für die nächste Runde im Spiel: George versus Clara. Sie schaltet den MP3-Player aus. »Hi.«
George wirft freundlicherweise nur einen kurzen Blick auf das Chaos und lächelt schließlich. »Ich muss mich entschuldigen. Nein, ich will mich entschuldigen. Für gestern.« WTF?! Clara wäre beinahe der Mund aufgeklappt. »Okay.«
»Ich hab mich echt blöd aufgeführt.«
Überrumpelt stottert Clara: »Ähm … schon in Ordnung …?«
»Zu meiner Verteidigung: Ich war vollkommen überfordert, dich zu sehen. Dann auch noch die Hiobsbotschaft, dass wir am gleichen Projekt arbeiten sollen … Das hat mich etwas aus der Bahn geworfen.«
»Mich auch«, gesteht Clara und stellt den Kaffeebecher ab. »Genau wie das hier jetzt.«
»Ja?«, fragt George erstaunt. »Ich dachte, die coole Clara haut nichts um.«
»Anscheinend schon.« Um ihn nicht länger ansehen zu müssen, konzentriert sie sich ganz darauf, ihre Kopfhörer aufzuwickeln.
George räuspert sich. »Wir haben kaum gesprochen, erst recht nicht nachdem –«
»Ich weiß«, schneidet sie ihm das Wort ab.
8.Mai 2009, Kensington Academy, Schülerparkplatz:
George lehnt an einem roten BMW, der auf dem Parkplatz des alten Schulgebäudes mit seinen Türmen und Erkern steht. Er zieht Clara an sich. Gerade als er sie auf den Mund küssen will, dreht sie ihren Kopf weg und windet sich aus seinen Armen.
»Ich muss mir dir reden«, sagt sie und wirft einen Blick über die Schulter. Liam, Jimmy und Chris kommen aus dem Hauptportal, alle in der gleichen rot-blauen Schuluniform wie Clara.
George lehnt sich ans Auto und verschränkt die Arme vor dem Logo des London College of Business, das auf seinem Pulli prangt. »Schieß los.«
Clara atmet tief durch. »Die Plattenfirma will deine Band nicht mit auf Tour nehmen. Sie sagen, ihr seid nicht gut genug, um als Supportact in Amerika durchzugehen.« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid.«
George versucht, seine Enttäuschung zu verbergen, es gelingt ihm aber nicht ganz. »Das ist hart.«
»Ich weiß, aber ich kann da echt nichts machen.«
»Du hast es versucht.« Er sieht hinüber zu dem Rest von ANTONIA. Chris boxt Liam gerade auf die Schulter, doch der schlägt die Faust genervt weg und sieht zu Clara und George hinüber.
»Da ist noch etwas«, erwidert Clara und tritt von einem Fuß auf den anderen. »Du und ich, das geht nicht.« Perplex starrt er sie an, schnell redet sie weiter. »Ich fand dich toll, wie alle Mädchen. Und als du mich am letzten Wochenende auf Jimmys Party geküsst hast, war ich im siebten Himmel, ehrlich, aber …« Sie sieht über ihre Schulter zu ihrer Band. Ihre Stimme klingt entschlossen, als sie sich George wieder zuwendet: »Aber das ist nicht, was ich will.«
»Und was willst du?«
»Musik machen. Eine gute Zeit mit den Jungs verbringen. Spaß haben.«
Das sitzt. George schluckt ein paar Mal, bevor er antworten kann. »Du setzt also die Musik über das, was mit uns sein könnte?«
Clara nickt. »Wir sind jetzt mindestens einen Monat in Amerika, danach Kanada. Ich will ohne schlechtes Gewissen mit den anderen Zeit verbringen und Musik machen. Du solltest jemanden haben, der dir gibt, was du brauchst.«
»Mir gibt, was ich brauche«, äfft er sie nach. »Dass ich nicht lache!« So läuft das nicht in seiner Welt: Er wird nicht abserviert, er serviert ab. »Sollen wir deshalb nicht mit auf Tour gehen? Damit du deine Ruhe hast?« Sein Blick schießt zu Liam hinüber. »Damit du Spaß mit deinen Jungs hast?« Bei dem Wort »Spaß« zeichnet er mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.
»Nein! So ist das nicht«, ruft Clara. »Das hat nichts mit«, sie betont das nächste Wort wie er zuvor, »Spaß zu tun. Auch nicht mit deiner Band, sondern nur mit mir. Ich kann nicht mit dir zusammen sein. Ich will es nicht. ANTONIA und ich, die Musik, endlich –«
»Du klingst wie ein verdammter Junkie«, unterbricht er sie. »Dir ist nichts wichtiger als deine Scheiß-Musik! Bedeute ich dir nichts?«
Traurig sieht Clara George an. Doch, aber nicht genug, denkt sie im Stillen.
»Aber was nicht ist, kann ja noch werden …«
»Wie meinst du das?«, hakt Clara nach.
»Na ja, wie soll ich das meinen? Die Vergangenheit ist vorbei, jetzt ist jetzt. Also …« Er hält ihr die Hand hin. »Freunde?«
Misstrauisch beäugt Clara seine Hand. Schließlich ergreift sie sie. »Okay.« Kaum fühlt sie seine Wärme, zieht ihr Herz das Tempo noch mehr an, als es das ohnehin in Georges Nähe tut.
Georges Augen leuchten auf. »Als Wiedergutmachung möchte ich dich zum Essen einladen.«
»Wirklich?«, fragt Clara und lässt nur langsam ihre Hand aus der seinen gleiten. Sie kann nicht glauben, was gerade passiert. »Ich sollte dich einladen. Ich schulde dir mehr als nur ein Essen.«
George schmunzelt. »Davon halte ich dich nicht ab. Aber zuerst ich, übermorgen Abend. Danach darfst du mich ausführen. So circa fünfzig Mal. Dann sollten wir quitt sein.« Hätte er nicht gezwinkert, hätte es bitter geklungen.
Clara spielt die Empörte. »Fünfzig Mal?«
»Verhandlungen gegenüber bin ich sehr offen.«
»Können wir das auf dem Weg zu Mars Comes machen? Ich bin jetzt mit ihnen verabredet.«
»Wir beide zusammen? Das wäre ja eklatant.«
Clara greift nach ihrer Tasche und steckt den MP3-Player hinein. »Eklatant? Lernt man das im Studium?«
»Für irgendetwas muss es ja gut gewesen sein.« Er hält ihr die Tür auf. »Aber auch das wird sich bei einem der zahlreichen Essen, die du bezahlen wirst, erörtern lassen.«
Im Vorbeigehen schüttelt Clara lachend den Kopf. »Auf was habe ich mich da eingelassen?«
»Das wirst du schon noch sehen.«
8
Als sie die Tür zum Proberaum öffnen, heißt sie kein fliegendes Magazin und auch kein Wortgefecht willkommen. Musik ist zu hören. Max sitzt neben Lani auf dem Sofa, ein Tablet in den Händen. Hinter ihnen steht Daniel mit verschränkten Armen und alle drei folgen dem Geschehen auf dem Display. Clara und George gesellen sich zu Daniel und werfen ebenfalls einen Blick darauf.
Dunkle Gestalten in einem schwach beleuchteten gekachelten Raum, von der Decke hängen Kabel. Die Gesichter sind nicht zu erkennen, sie sind hinter Masken versteckt. Tiermasken.
Jemand mit einer weißen Hasenmaske klettert auf einen OP-Tisch und beginnt, während er singt, mit einem Messer die Liege aufzuschlitzen. Das Ratschen des Leders ist deutlich zu hören und fügt sich perfekt in den Rhythmus der Musik ein. Neben ihm trommelt ein Fuchs auf Gasflaschen ein, ein Waschbär schrammelt auf einer E-Gitarre. Wie auf Kommando erstarren alle. Stille. Eine Gestalt mit Wolfsmaske zerschlägt die Fliesen an der Wand. Scherben rieseln zu Boden und das Klirren schließt perfekt an den vorhergehenden Rhythmus an.
Nach vier Minuten ist der Spuck vorbei. Der Bildschirm wird schwarz und in großen weißen Buchstaben erscheint:
Kamikaze-Session #14
»Übler Scheiß, Mann.« Lani grinst breit. »Das Ding hat schon über 250.000 Klicks.«
»Wie krass!«, entgegnet Max.
»Geil.« Claras Augen strahlen und sie sieht, wie auch George begeistert nickt.
»Gibt Besseres«, murmelt Daniel.
Clara dreht sich zu ihm um. »Ach ja?« Verständnislos mustert sie ihn. »Das war richtig gute Musik!«
Er wirft ihr einen skeptischen Blick zu. »Ich sage nicht, dass es schlecht war. Aber es gibt bessere Kamikaze-Sessions.«
»Ich find’s geil«, stimmt Max Clara nickend zu.
»Ich auch«, sagt George. »Musikalische Sachbeschädigung vom Feinsten.«