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Die Autorin

Svenja Hofert studierte u.a. Wirtschaftspsychologie, ist Geschäftsführerin von Teamworks GTQ GmbH und Inhaberin des Unternehmens Karriere & Entwicklung, außerdem Autorin zahlreicher Sachbücher und Ratgeber. Sie hat langjährige Erfahrung in in Führung, Coaching und Beratung. In ihrer Karriereexpertenakademie bildet sie Personalentwickler und Karrierecoachs aus, Teamworks bildet Berater und Führungskräfte aus.

Das Buch

Coaching ist heute das Mittel der Wahl, wenn es in Unternehmen oder im persönlichen Bereich um Hilfestellung für ganz konkrete Veränderungen geht. Aber in vielen Fällen erreichen Coachs mit ihren Coachingmethoden ihr Gegenüber gar nicht. Die Expertin für Persönlichkeitsentwicklung Svenja Hofert hat bei ihrer Tätigkeit immer wieder die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen auf herkömmliche Herangehensweisen nicht ansprechen oder sogar völlig Coachingresistent zu sein scheinen. Sie ist überzeugt:

Um einen Menschen wirklich weiterzubringen, sollte ein Coach dessen sogenannte Ich-Entwicklungsphase erkennen und sein Coaching darauf abstimmen. Svenja Hofert beschreibt fünf individuelle Entwicklungsphasen, denen sich die meisten Menschen zuordnen lassen. Und sie zeigt, wie man die jeweiligen Entwicklungsphasen erkennt, auf ihre individuellen Charakteristika eingeht und so besser helfen kann. Ein echter Augenöffner für jeden, der coacht und führt.

Svenja Hofert

Hört auf zu coachen!

Wie man Menschen wirklich weiterbringt

Kösel

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Copyright © 2017 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag und -motiv: Weiss Werkstatt München

ISBN 978-3-641-21163-9
V001

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort

Prolog: Eine Party-Diskussion über Coaching

Warum Menschen immerzu auf einer inneren Reise sind

Persönlich wachsen

Die Phasen der Ich-Entwicklung

Denklogik und Handlungslogik

Ein neues Coaching-Verständnis

Wie Sie als Coach Schritt für Schritt flexibler werden

Grundregeln des Flexi-Coaching

Wie Sie Menschen helfen, über Brücken zu gehen

Wollen, Dürfen, Können

LifeStory-Forming: Menschen mit Geschichten zu neuem Denken führen

Schlusswort und Dank an Sie

Anhang

Interview zum Mindset

Fragebogen zur Fremdeinschätzung

Literatur

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

hört auf zu coachen – und fangt an, wirklich zu helfen.

Coaching ist ein Geschäft geworden, an dem viele verdienen. Jeder glaubt, das »goldene« Tool oder den ultimativen Ansatz gefunden zu haben. Solche Versprechungen verkaufen sich gut. Darüber geht oft das Menschliche verloren. Wir sind so darauf fixiert, mit unserem Coaching-Hammer Nägel in die Wand zu schlagen, dass wir nicht wahrnehmen, was unser Klient aufnehmen kann – und was nicht. Wir sind so damit beschäftigt, die richtige Anwendung von neu erlernten Techniken und Tools zu üben, dass wir aus den Augen verlieren, wer uns gegenübersitzt: Menschen, die geprägt sind von ihrer Persönlichkeit, ihrer individuellen Reife und dem jeweiligen Kontext, zu dem auch Sie als Coach gehören.

Das muss sich ändern. Wir müssen uns wirklich auf die Menschen einstellen, mit denen wir zu tun haben. Und damit meine ich mehr als aktives und geduldiges Zuhören – selbst wenn bereits das eine Kunst ist, die nicht viele beherrschen.

Genau so wichtig ist ein tiefes Verstehen: Aus welchem Modus heraus denken und handeln Menschen? Das ist höchst unterschiedlich und abhängig von der persönlichen Reife, die weder mit Alter noch mit Bildung sehr viel zu tun hat.

Mit der persönlichen Reife beschäftigt sich die Entwicklungspsychologie. Sie sagt uns, wie sich das Denken und Handeln von Menschen schrittweise erweitert. Sie erklärt auch, warum einige Menschen bestimmtes Denken und Handeln noch gar nicht »produzieren« können. Die Entwicklungspsychologie ist allerdings eine recht komplexe Angelegenheit. Deshalb wird sie in Coaching-Ausbildungen und auch im Psychologiestudium gern vergessen.

Ich möchte es Ihnen einfach machen. Deshalb habe ich die vielschichtige Thematik der sogenannten Ich-Entwicklung stark vereinfacht. Ich habe sie auf die allerwichtigsten Aspekte reduziert und die von einigen Wissenschaftlern als problematisch empfundene Wertung durch das Stufenbild so weit wie möglich herausgenommen. Aus diesem Grund spreche ich von »Modus« und »Phase« statt von »Stufen«, das ist weniger absolut. Der Modus ist je nach Entwicklung des Ichs unterschiedlich. Er umfasst Denken und Handeln – nicht nur eines von beidem! Das ist wichtig, denn manche Menschen können etwas denken, aber daraus keine Handlungen ableiten. Um den jeweiligen Grad der Ich-Entwicklung zu erfassen, unterscheide ich zwischen Wir-, Richtig-, Effektiv- und Flexibel-Modus. Zu jedem Modus gibt es eine entsprechende Phase. »Phase« besagt, dass etwas von einem bestimmten Denken und Handeln geprägt ist, dass der Modus dort also vorherrscht.

Um diesen Aspekt zu veranschaulichen, habe ich Piktogramme entwickelt, die es Ihnen erleichtern, das Wesentliche der einzelnen Phasen mit einem Blick zu erfassen: Das Icon symbolisiert Entwicklungsstand und Selbstverständnis eines Menschen.

Die Modi und Phasen bestehen nicht zeitgleich, sondern folgen aufeinander. In der Regel ist bei einem Menschen ein Modus vorherrschend und handlungsleitend. Dieser Modus sagt etwas über die innere Logik aus, der eine Person folgt. Wenn ein Coach diese Logik nachvollziehen kann, versteht er besser, wie und wodurch er helfen kann. Während manche Klienten nach »objektiver Wahrheit« suchen, erwarten andere von ihrem Coach neue Perspektiven. Während die einen nach Selbstverbesserung streben, haben die anderen noch nicht erfahren, was sie als Mensch im Unterschied zu anderen überhaupt ausmacht … Unterschiedliche Logiken erfordern jeweils völlig andere Hilfsansätze – und oftmals bedeutet dies den Verzicht auf genau das, was wir gemeinhin unter Coaching verstehen.

Wir gehen im Coaching davon aus, dass alle Erwachsenen eine voll entwickelte Identität besitzen, dass sie einen gesunden inneren Kern haben. Dieser ist bei vielen Menschen jedoch nicht oder nur rudimentär vorhanden oder ist von Glaubenssätzen und Überzeugungen des Umfelds überspielt. Auch Menschen mit bester Bildung, beruflich weit gekommen, fehlt dieser Persönlichkeitskern oft. Eine ausgereifte Persönlichkeit zieht Grenzen gegenüber anderen und kann trotzdem mit ihnen in Beziehung treten. Sie kennt ihre Bedürfnisse. Sie weiß, wer und was sie ist. Sie ist aber auch jederzeit bereit, die eigene Haltung zu überdenken. Eine solche Persönlichkeit hat Seltenheitswert. Dennoch setzen wir sie im Coaching – vor allem, wenn es nicht therapienah, sondern zielorientiert ist – oftmals voraus.

Wer mit Menschen arbeitet, ob als Coach, Pädagoge oder Führungskraft, sollte unterscheiden können: Ist mein Gegenüber eine Persönlichkeit mit starkem innerem Kern oder ist es noch auf dem Weg dahin? Wenn diesbezüglich Klarheit herrscht, lassen sich Menschen wirksamer dabei unterstützen, ihren Kern zu entdecken und zu entwickeln. Dies macht es auch leichter, den Coaching-Hammer – also gängige Methoden und Tools – beiseitezulegen, um manche Dinge auch einmal nicht zu tun. Oder »verrücktere« Dinge zu wagen.

Vorher aber braucht es den Blick auf sich selbst. Entscheidend ist Ihre Haltung als Coach oder Helfender, nicht »festhaltend« an einer bestimmen Denkrichtung oder Schule, sondern frei, flexibel und am Menschen orientiert.

Mit diesem Buch möchte ich Ihnen ein komplexes Thema auf einfache Weise nahebringen. Zahlreiche Fallbeispiele aus meiner eigenen jahrzehntelangen Praxis geben Ihnen, so hoffe ich, einige Impulse und Denkanstöße. Viel Spaß beim Entdecken!

Mein besonderes Dankeschön geht an Dr. Thomas Binder, der ein unglaubliches Fachwissen zu diesem Thema angesammelt und mich ausgebildet hat. Weitere Mitdenker und Feedbackgeber würdige ich im Schlusskapitel.

Ihre

Svenja Hofert

Prolog
Eine Party-Diskussion über Coaching

Tolle Party. Das Buffet lecker, der Wein gut. Die meisten Gäste sind schon nach Hause gegangen. Theresa, Theo, Axel und Sabine diskutieren über Coaching.

Theresa: Kennt jemand einen guten Coach?

Sabine: Ich habe gerade eine schlechte Erfahrung gemacht.

Theo: Wieso?

Sabine: Nach der langen Auszeit ist mir noch deutlicher bewusst geworden, dass kleine Korrekturen an meinem Leben nicht mehr reichen. Es ist etwas Neues dran! Ich habe Ideen, aber ist es das? Eigentlich wollte ich ein Feedback zu meinen Gedanken, wollte diese einmal in ihrer Tiefe beleuchten, darüber reflektieren. Ich habe so viele Fragen! Warum gehen mir diese Dinge im Kopf herum? Warum handeln viele Menschen völlig anders als ich? Bin ich richtig so? Aber der Coach hat gar nicht verstanden, was ich wollte. Er verstehe sich als Prozessgestalter – was immer das ist. Dann wollte er mit mir eine Aufstellung machen und eine Zielvereinbarung treffen. Das fand ich richtig blöd! Ich suche nun nach einem neuen Coach. Kennt einer von euch jemanden, mit dem man einfach mal so sprechen kann, ohne dass er gleich seine ganzen Tools auspackt?

Theresa: Einfach nur sprechen kannst du auch mit mir. Wieso Coaching?

Sabine: Nein, mit dir ist es etwas anderes, du bist nicht neutral.

Theo: Ich sehe das mit dem Coaching inzwischen auch kritisch. Meine Frau hatte ebenfalls ein Coaching. Ihr wisst, sie ist Bankerin. Sie nahm zehn Stunden, das zog sich über Monate hin. Sie erarbeitete mit dem Coach, dass sie in einem Kirchenbüro beschäftigt sein wollte. Das fand sie kurze Zeit gut, aber dann … wurde sie wütend. Das Coaching war völlig am Ziel vorbei. Da verdient man doch nichts! Sie hat sich dann auch über das herausgeworfene Geld geärgert. Jetzt sucht sie seit mehr als zwei Jahren nach einem Job und alle sagen, sie sei schon zu lange arbeitslos. Das verschlechtert ihre Situation. Schuld ist der Coach.

Axel: Seid doch nicht so negativ. Mir hat es sehr geholfen, als ein Coach mit mir konkret besprochen hat, was ich meinem Chef sagen soll, wenn der mich kritisiert. Das hat viel gebracht.

Sabine: Das war doch kein Coaching! Coachs sagen dir doch nicht, was du machen sollst! Da kann ich ja gleich meine Mutter fragen …

Axel: Der hat Psychologie studiert und eine Coaching-Ausbildung. Er arbeitet schon lange in dem Job. Er hat das gelernt! Mir hat es jedenfalls geholfen. Wozu suchst du denn einen Coach, Theresa?

Theresa: Ich will wissen, ob noch mehr für mich drin ist. Das kann doch nicht alles gewesen sein.

Theo: Kann es eigentlich sein, dass jeder von euch vom Coach etwas ganz anderes erwartet?

Axel: Ich will jemand, der mir konkret zeigt, wie etwas geht.

Theresa: Ich brauche wohl einfach nur ein neues Ziel.

Sabine: Für mich ist es ein Sparring. Mir hilft es am meisten, wenn mir jemand kluge Fragen stellt. Wenn Raum für neue Gedanken entsteht, ist das toll. Ich will aber auch ein klares Feedback. Ein Coach muss doch auch einen Standpunkt haben!

Warum Menschen immerzu auf einer inneren Reise sind

Mein Großvater war ein sehr christlicher Mensch. Er wurde Dominikanermönch, dann lernte er meine Großmutter kennen. Sie verliebten sich, meine Mutter kam auf die Welt; er verließ den Orden und heiratete meine Großmutter. Das war während des Zweiten Weltkriegs. Für manche Ohren hört sich das nach einer bezaubernden Liebesgeschichte an. Doch für meine Familie war es eine große Schande. Ich kann erst jetzt darüber schreiben, da ich weiß, dass niemand mehr lebt, der unter der Veröffentlichung leiden könnte – 13 Jahre nach dem Tod meines Großvaters. Er empfand sein Tun als Sünde. Das Leben meiner Großeltern war durch das Ringen um die Anerkennung ihrer Ehe gekennzeichnet. Bis zu ihrem Tod ging es vor allem um eines: Buße. Der Tod meiner Großmutter veränderte meinen Großvater nochmals. Er begann sich von Konventionen zu lösen, mir sah er eine Schwangerschaft außerhalb der Ehe nach. Er entwickelte sich also von einem durch die Konventionen seiner Bezugsgruppe geprägten Menschen zu einem Mann, der seine eigenen Wertmaßstäbe über die der Kirche stellen konnte. Was für ein Wandel! Mich hat diese Familiengeschichte sehr geprägt. Die Veränderungen von Menschen faszinierten mich früh. So bin ich selbst jemand geworden, der sich immer wieder stark verändert hat. Und so arbeite ich heute ganz besonders gern mit Menschen, die auf einer inneren Reise sind.

Einer dieser Menschen ist Sabine, die wir gerade eben im Party-Gespräch kennengelernt haben. Sie hat sich in ihrem Leben mehrmals »transformiert«. Heute verfügt sie über ein großes Netzwerk und fühlt sich vielen Menschen verbunden. Früher spielten sich ihre Beziehungen oft an der Oberfläche ab. Sie mochte es, wenn ihre Bekannten ähnlich dachten wie sie. »Gleich und gleich gesellt sich gern«, war ihr Motto. Mittlerweile findet sie Menschen bereichernd, die vollkommen anders ticken als sie.

Alles hat sich verändert, auch ihr Kritikverhalten. Früher war es ihr peinlich, wenn jemand sie korrigierte oder Fehler aufdeckte, und sei es nur ein fehlendes Komma. In Diskussionen hat sie nicht auf andere Standpunkte gehört, sondern nur an sich gedacht, ist entweder stumm geworden oder hat sich verteidigt. Sabine kommuniziert nun viel klarer und ohne in einer permanenten Verteidigungshaltung zu sein. Sie ist beim anderen und zugleich bei sich, hört zu, ohne schon nach einer Antwort zu suchen. Sie stellt viele Fragen und muss nicht immer für alles eine Lösung finden. Privat und beruflich sorgt sie für sich selbst, aber auch für andere. Es ist noch gar nicht lange her, da konnte sie weniger Grenzen ziehen. Die kleine blonde Frau wirkt auf mich heute sehr reif.

Niemand ist von Anfang an so. Als junge Frau, in der ehemaligen DDR aufgewachsen, tat Sabine alles, um von ihren Eltern und den Lehrern anerkannt zu werden. Sie strebte danach, dem kleinen, elitären Kreis der Turner anzugehören. Die Anerkennung durch die Sportförderung war wie Liebe für sie. Ihr Vater, Lehrer und Sportfanatiker, hatte die große Karriere nicht geschafft und hoffte, seiner Tochter gelänge dies an seiner Stelle. Sie fühlte, was er wollte, als wären es ihre eigenen Wünsche.

In jener Zeit war Sabine zierlich und zart, mit 1,58 Metern hatte sie die ideale Turnergröße. Eine Lehrerin lobte ihre besondere Begabung. Sie übte noch mehr. Olympia winkte. Die damit verbundenen Regeln – Trainieren, keine Freizeit, keine Freunde – hinterfragte sie nicht. Die Teilnahme an den Olympischen Spielen wäre der größte Lohn, die maximale Anerkennung für Sabine gewesen. Doch so weit kam es nicht. Die DDR und die Bundesrepublik vereinigten sich, und alles war auf einmal anders.

Die Zeit der Wende veränderte auch sie. Sie wurde rebellischer, trainierte von einem Tag auf den anderen ab. Sie löste sich abrupt vom Sport, dem sie sich bisher so zugehörig gefühlt hatte, und stieß damit auch ihren Lebensinhalt ab. Es blieb das Gefühl, keine Identität mehr zu haben, ein Niemand zu sein. Sie fiel in ein tiefes Loch, neue Freunde richteten sie auf. So gestärkt, wollte sie etwas Eigenes finden.

»Was interessiert mich?«, war eine Frage, die sie nun sehr beschäftigte; der Mauerfall lag zwei Jahre zurück und Sabine hatte das Abitur in der Tasche. »Was kann ich gut außer Turnen?« Sabine wollte etwas finden, womit sie glänzen konnte – auch um es den anderen zu beweisen. Sie war gut in Mathe, sie war fleißig, sie konnte reden.

Der Vater bezahlte eine Studienberatung. Sie habe eine überdurchschnittliche mathematische Begabung. Außerdem sei sie extrovertierter als andere. Die Beraterin empfahl ein Wirtschaftsstudium. »Die ist ja kompetent und wird es wissen«, dachte Sabine und folgte dem Rat.

So studierte Sabine Wirtschaftswissenschaften und machte danach Karriere im Vertrieb. Sie wollte alles richtig machen. Sie war sich ihrer Stärken bewusst, etwa ihrer Verhandlungsstärke und Durchsetzungskraft. Sie kämpfte leidenschaftlich dafür, die besten Lösungen für die Kunden zu finden. Statt 100 Prozent gab sie immer 150 Prozent. Das erkannte sie damals als eine Art Lebensmuster. Schon als Turnerin war sie so gewesen: keine halben Sachen! Als sie zur Vertriebsleiterin aufstieg, erwartete sie den gleichen Einsatz auch von ihren Mitarbeitern, deren Ergebnisse sie oft kontrollierte. Und manchmal machte sie die Dinge lieber gleich selbst …

Dass andere sich weniger anstrengten als sie, bereitete ihr Magenschmerzen. Die Firma bezahlte ihr ein Coaching, damit sie ihre Führungsfähigkeiten ausbauen und Ziele besser erreichen könnte. Tatsächlich verbesserte dieses Business Coaching ihr Selbstmanagement. Doch nach einigen Jahren verstärkte sich das Gefühl, dass irgendetwas fehlte. »Im Grunde war ich nach wie vor ein von anderen beschriebenes Blatt Papier. Ich hatte keine eigene Identität. Ich glaubte, meine Stärken zu kennen, fühlte aber auch, dass man viel in mich hineinprojizierte, was gar nicht ich war. ›Wer bin ich und was macht mich aus?‹ Darüber grübelte ich ergebnislos.« So analysiert Sabine heute ihre damalige Situation.

Es folgte ein Burnout, und damit eine erzwungene Auszeit von einem Jahr. Danach war nichts mehr war wie vorher. Sabine musste sich selbst herunterfahren wie einen Computer, sich »ausmachen«, wie sie es nennt. Eine Therapie verlangte den Blick nach innen. Sie war gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, mit Mustern aus der Vergangenheit und vor allem mit den Fragen »Wer bin ich wirklich?« und »Was will ich eigentlich von diesem Leben?« Sabine bohrte tiefer: »Was ist mein Kern, meine Identität? Was bleibt, wenn ich die Prägungen meiner Familie und meines Umfeldes abschüttele wie ein Hund nassen Regen? Was, wenn ich Dinge nur mache, weil ich sie möchte, aus eigenem Antrieb – egal, was andere sagen, denken, wünschen, erwarten?« Das war für sie ein ganz neuer Gedanke. Egal, was andere sagen? Nach etwas suchen, das vor allem sie selbst wollte? Was »Sinn« ist, war für sie immer klar gewesen. Eine gute Arbeit, Freunde, Sicherheit. Plötzlich stellte sie diesen Sinn infrage. Konnte es mehr geben? Das eigene Ding? Ihr eigenes Ding.

In jener Zeit absolvierte sie ein Coaching zur beruflichen Orientierung. Erst hatte sie den Eindruck, dass es viel brachte, doch am Ende war sie verwirrt. »Ich hatte das Gefühl, der Coach wollte mich aus der schlimmen Arbeitswelt befreien«, sagt sie. »Der Coach hat gar nicht verstanden, dass ich eigentlich mich selbst suchte.« Sie nahm sich einen anderen Coach. Dieser brachte sie auf die Selbstständigkeit.

Endlich frei! Nach einigen Anlaufschwierigkeiten arbeitete sie ein paar Jahre erfolgreich als Vertriebstrainerin. Dabei konnte sie ihre Vorstellungen von nachhaltigem Verkauf einbringen. Doch auf die Anfangseuphorie folgte Ernüchterung. Irgendwann kam ihr das, was sie tat, leer und hohl vor. Es gab keine Impulse mehr. Sie nahm sich ein Jahr Auszeit und reiste mit ihrem Partner um die Welt, um den Kopf leer zu bekommen. Danach kamen die Ideen wieder. Die wollte sie sortieren, schärfen. Wieder suchte sie Unterstützung. Der erste Coach wollte sie auf Ziele festlegen, der nächste bearbeitete sie mit einer »Wink-Technik«, bei der man mit scheibenwischerartigen Bewegungen vor den Augen Blockaden lösen soll, und der dritte stellte ihr lauter Fragen, sodass sie sich wie bei einem Verhör fühlte. Und dann gab es noch einen, der sie auf verschiedene Stühle setzte. Danach hatte sie erst mal die Nase voll. Nun sitzt Sabine bei mir und weiß genau, was sie nicht will: Zielvereinbarungen, Übungen mit Stühlen, Winken, inquisitorisches Fragen. Sie will ihre Gedanken ordnen, nicht mehr und nicht weniger. Sie möchte auch meine Perspektive auf ihre Ideen kennenlernen: Ich soll mich bloß nicht »Coach-mäßig« zurückhalten.

Als Sabine über ihr Leben spricht, sagt sie, sie habe bisher »drei Leben« gelebt und suche nun das vierte: Ihr erstes Leben war die Sportkarriere, dann kam der Vertrieb und schließlich die Selbstständigkeit. Den Übergang von einem Leben ins nächste beschreibt sie wie eine dunkle Nacht, die langsam heller wird. Jetzt ist es wieder so weit: Sie spürt, dass etwas Neues kommt.

Menschen, die sich wandeln, können oft markante Ereignisse und Symbole benennen: einen Traum, eine Begegnung, ein Ereignis. Vor unserem ersten Termin hat Sabine mehrmals geträumt, sie könnte fliegen. Sie musste sich einfach nur hinstellen und sich bewusst entscheiden. Sie hatte auch viel über die Vergangenheit nachgedacht. So war das Bild mit den »drei Leben« in ihr entstanden.

Wieso Coachs zu sehr auf ihr Werkzeug und zu wenig auf den Menschen schauen

Ich war Sabines Coach, die Geschichte wird weitergehen. Sie zeigt, dass wir Coachs oft nicht verstehen, was unsere Klienten wollen. Wir holen unseren Werkzeugkoffer und dann legen wir los. So machen wir uns nicht selten zu Coaching-Sklaven und vergessen dabei die Menschen. Wir sollten ihnen helfen – und nicht bloß irgendwelche Werkzeuge einsetzen. Doch um zu helfen, müssen wir manchmal das Werkzeug beiseitelegen und uns mehr auf die Logik, die Denkweise unseres Gegenübers einstellen.

Unser kleiner Party-Dialog zeigt zum einen, dass jeder unter Coaching etwas anderes versteht. Und zum anderen, dass dahinter eine jeweils andere Denk- und Handlungslogik steht. Axel erwartet, dass der Coach konkret mit ihm übt. Er möchte lernen, was richtig ist. Theresa will wissen, was für sie »drin« ist. Für sie scheint es wichtig zu sein, etwas zu erreichen. Theos Frau hat mit ihrem Coach ein neues berufliches Ziel ausgearbeitet, das sich dann als »falsch« herausstellte. Sie wollte eine Lösung »kaufen«. Sabine schließlich wollte vor allem Ordnung in ihre Gedanken bringen. Ihr ging es um Klärung. Nur Axel hat bekommen, was er wollte. Und sein Coach wäre wahrscheinlich bei einigen Coach-Ausbildern durchgefallen, da er lediglich Ratschläge gegeben hat. Wir haben es beim Coaching mindestens mit Äpfeln und Birnen zu tun. Doch halt, dann wäre ja immerhin alles Obst. Im Grunde ist die Lage aber noch viel verwickelter, und in der Abteilung »Coaching« findet sich ein ganzer Supermarkt an Dienstleistungsangeboten. Daran sind nicht nur die Anbieter schuld, sondern auch die Konsumenten, die sich von werbewirksam ausgezeichneter Ware und Versprechungen besonders leicht reizen lassen.

Die Abteilung Coaching? Jetzt muss ich kurz erklären, was ich unter Coaching verstehe. Coaching bedeutet »Hilfe zur Selbsthilfe«. Es gibt im Wesentlichen zwei Richtungen. Die eine Richtung – nennen wir sie das Coaching-Verständnis A – interpretiert Coaching als Prozessgestaltung zur Zielerreichung und Leistungssteigerung. Das bedeutet, der Coach gibt dem Klienten einen Rahmen, der ihm hilft, seine Ziele zu erreichen. Ein wenig amerikanisch angehaucht wird das Ganze, wenn Motivation à la »Du schaffst das« dazukommt. Man trifft eine Zielvereinbarung und den weiteren Prozess gestaltet der Coach dann vor allem mit Fragen. Die andere Richtung – nennen wir sie Coaching-Verständnis B – interpretiert Coaching (auch) als therapienahe Form für leichtere »Dysfunktionalitäten« wie etwa geringes Selbstbewusstsein. Eine Variante davon nennt sich im angloamerikanischen Raum »Counseling«. Ziele sind hier nicht ganz so wichtig. Somit gibt es mindestens zwei Abteilungen in unserem Supermarkt, die wenig miteinander zu tun haben.

Coaching wirkt auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Der Neurobiologe Gerhard Roth verortet Coaching auf der oberen limbischen Ebene. Dort geht es um Anpassung an gesellschaftliche Normen und Regeln. Für Coaching ebenfalls zugänglich hält er die mittlere limbische Ebene, wo der Kern der Persönlichkeit sitzt. Auf dieser tieferen Ebene unterscheidet sich Coaching kaum von Therapie. Nur dass die Patienten Klienten oder Kunden heißen und nicht unter einer Störung leiden, sondern ein Problem haben. Das Coaching-Verständnis A bildet sich also eher auf der oberen limbischen Ebene ab, das Coaching-Verständnis B auf der mittleren limbischen Ebene. Beide verbindet der Glaube an eine – oft unwissenschaftliche – Theorie, dazu gibt es passende Tools und Methoden. Beide verbindet auch die Überzeugung, dass die Lösung eines Problems im jeweiligen Menschen selbst liegt.

Ich arbeite seit mehreren Jahrzehnten in Beratung und Coaching und habe im Laufe der Zeit viele unterschiedliche Theorien, Methoden und Tools kennengelernt. Dabei sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Ich habe immer mehr Einseitigkeit bemerkt, habe mich an blinden Flecken bei Coachs gestört, die fast verzweifelt um »ihren Ansatz« kämpften. Ich habe mich bemüht, durch viele Gespräche mit ganz unterschiedlichen Menschen meine eigenen Fenster zu öffnen. Ich habe mich mit immer neuen Aspekten beschäftigt. Mir ging ein Licht nach dem anderen auf und ich habe mein Coaching vollkommen individualisiert. Von verschiedenen Klienten habe ich gehört, wie unterschiedlich sie mich und die Art meiner Unterstützung wahrnahmen. Eine Frau sagte mir einmal, wenn sie mit anderen spreche, die bei mir waren, sei das so, als würde jeder von ihnen über einen völlig anderen Menschen sprechen, ich sei wie ein Chamäleon. Aus meiner Sicht ist die Erklärung eine andere: Ich habe gelernt, mich intuitiv auf unterschiedliche Logiken und die entsprechenden Verhaltensweisen – die zuweilen auch auf den Coach projiziert werden –, einzustellen. Einfach, weil ich spürte, dass ich auf diese Weise wirksamer sein kann. Die Entwicklungspsychologie, die im deutschsprachigen Raum so wenig beachtet wird, hat mir schließlich das passende Erklärungsmodell für dieses Phänomen geliefert.

Warum kamen zu mir so viele unterschiedliche Menschen? Sie alle sahen etwas anderes in mir. Sie alle suchten ihre eigene Form von Hilfe. Ich begann zu unterscheiden. Da waren Menschen, die aus meiner Beobachtung heraus vor allem im »Wir-Modus« agierten. Sie wollten, dass ich ihnen helfe, einen neuen Job zu finden, weil Arbeitslosigkeit für sie ein Makel war. Sie wollten unbedingt der arbeitenden Bevölkerung zugehören. Nur so hatte ihr »Ich« einen Wert. Als Teil des Wir. Ich sollte ihnen helfen, dazuzugehören. Das war für sie Coaching. Da waren Menschen, bei denen ich einen »Richtig-Modus« erkannte. Menschen im Richtig-Modus mochten Expertise. Und was ist ein größerer Kompetenzbeweis als eine eigene Buchveröffentlichung? Höchstens der Doktortitel. Diese Menschen wollten von mir Sicherheit und Bestätigung. Da waren auch Effektive. Menschen im »Effektiv-Modus« kamen oft, weil meine Publikationen für Selbstständige sie angeregt hatten oder sie an einer Neuorientierung interessiert waren. Sie wollten etwas erreichen. Und da waren Flexible. Menschen im »Flexibel-Modus« schätzten es, wenn sie Impulse und Anregungen bekamen, die gern etwas komplexer sein konnten. Diese Klientel sprach und spreche ich mit meinem Blog an. Jeder »Typ« hat also nicht nur einen eigenen Charakter, sondern auch eine eigene Eingangstür, um zu mir zu kommen. Das mag bei Coachs, die eine weniger heterogene Klientel ansprechen, anders sein.

Ich probierte vieles aus und machte entsprechend viele Erfahrungen. Vor allem aber merkte ich, was tatsächlich funktionierte – und es war oft nicht das, was man gemeinhin unter Coaching versteht. Bei Menschen im Wir- und im Richtig-Modus, aber auch bei den Flexiblen, kommt das zielorientierte, lösungsfokussierte Coaching oft gar nicht richtig an. Die Menschen im Wir-Modus brauchen viel mehr »Hands-on-Hilfe«, die im Richtig-Modus klare Ansagen, und den Effektiven hilft manchmal das Gegenteil von Zielorientierung, nämlich alles über Bord zu werfen.

Alle Menschen können Lösungen aus sich heraus generieren, natürlich. So predigen es manche Coaching-Lehrer. Aus einer bestimmten Perspektive haben sie recht. Schließlich kann jeder psychisch gesunde Mensch bewerten: gut/schlecht oder gefällt/gefällt nicht. Theos Frau beispielsweise gefiel die Arbeit in einem Kirchenbüro besser als der Job in der Bank. Doch Bewertungen, die nicht auf fundierter Erfahrung beruhen, sind oft klischeehaft und stereotyp. Es sind keine »richtigen« Bewertungen, sondern sogenannte Heuristiken, Abkürzungen und Verzerrungen des Denkens.

Ich erkannte Muster in der Art und Weise, wie meine Kunden sprachen und mit mir interagierten. Einige konnten – oft trotz Studium – auf der Gefühlsebene kaum differenzieren. Auch wenn sie sich selbst als empathisch bezeichneten – was fast alle tun –, vermochten sie nur sehr bedingt Emotionen zu erfassen, so empfand ich das jedenfalls. Man kann sich nur in etwas einfühlen und mitdenken, was man selbst annähernd kennt. Das bedeutet, dass manche Menschen die komplexeren Emotionen und Gedanken von anderen Menschen gar nicht voll erfassen können. Sie sind also für bestimmte Dinge blind. Menschen im Wir-Modus sehen beispielsweise nicht, was sie selbst wirklich wollen. Sie verhalten sich, ohne viel darüber zu reflektieren.

Diese Menschen gehen immer von sich aus und von »wir«, der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlten. Wenn sie über andere reden, sehen sie deren Handeln. Sie sagen zum Beispiel »Mein Chef gibt mir nie Feedback«, »Ich sage, was ich denke« oder »Das ist bei uns so«. Wörter wie »immer«, Verallgemeinerungen und Klischees wie »Alle sind so« kommen oft vor. Es gibt erkennbares Gut und Böse, eindeutiges Richtig und Falsch. Moralische Standpunkte werden absolut formuliert, mit »So ist das« und ohne Offenheit für andere Sichtweisen. Zumindest ohne echte Offenheit. Sie sagen zwar mitunter, dass sie als Mensch offen seien, können aber kein Klima der Offenheit in ihrem Umfeld erzeugen.

Ein weiteres Muster zeigte sich in der Visionsarbeit, wenn es also darum geht, Menschen in ihrer Vorstellungswelt abzuholen. Im Kontext beruflichen Coachings ist dies geknüpft an die Frage »Wo will ich hin?«. Visionen sind für manche Menschen wie ein Fernsehfilm. Sie sehen sich das gern an. Sie malen in Berufsfindungskursen Bilder von Biobauernhöfen oder von sich selbst als Chef eines Inneneinrichtungsunternehmens. Doch dabei bleibt es. Sie haben teilweise genug Fantasie, um Bilder zu erschaffen, aber sie vollziehen nicht den Schritt, ihre eigenen Vorhaben umzusetzen.

Der Grund dafür wurde mir bald klar: Diese Menschen denken zu kurzfristig, können den Weg zum Ziel nicht von sich aus gestalten. Das liegt auch daran, dass die Ziele bei näherer Betrachtung oft gar nicht ihre eigenen sind. Sie scheinen ihnen eher eingepflanzt zu sein, von anderen Coachs, von den Medien, von Bezugsgruppen, die dem eigenen Statusempfinden oder der Herkunft entsprechen. Es ist also eher ein »auch so sein Wollen« als ein »Das will ich«. Andere Menschen spielen eine wichtige Rolle. Im Wir- und im Richtig-Modus ist die Bindung an eine Gruppe sehr groß, wenn auch auf unterschiedliche Art. Im Wir-Modus steht das Bestreben im Vordergrund, sich so zu verhalten wie die »Lieblingsgruppe«. Im Richtig-Modus ist es wichtiger, auch in der Gruppe ein Individuum zu sein. Aber richtig »sie selbst« sind diese Menschen nirgendwo.

Wenn man Udo Lindenbergs Song »Mein Ding« mit der Zeile »Ich mach’ mein Ding, egal was die anderen sagen« hört, so singt da jemand, der seinen eigenen Grundsätzen folgt, auch gegen Widerstände. Das setzt Identität voraus, einen inneren Kern, der sich gegen das Außen abgrenzt. So weit sind Menschen in den genannten beiden Modi nicht. Auch wenn sie intellektuell in der Lage sind, sich Ziele zu stecken, können sie diese nicht selbst umsetzen; sie können die Zielerreichung zwar denken, aber sie nicht »produzieren«. Das liegt an zu wenig »Ich«. Sie sind noch zu stark an eine Gruppe gebunden. Nun muss nicht jeder ein extremer Selbstverwirklicher werden, doch eine eigene Identität und die damit einhergehende Kraft sind nötig, um eigene Vorhaben ohne allzu viel Selbstzweifel und mit entsprechender Prioritätensetzung realisieren zu können. Wer nicht für sich selbst Maßstäbe entwickelt und diesen folgt, macht das Ding der anderen, aber nicht sein eigenes. Kurzum: Wenn Menschen selbstgesetzte Ziele nicht erreichen, so liegt es häufig am Fehlen eines echten inneren Kerns.

Das Fehlen eines solchen Kerns macht es diesen Menschen so schwer, den Weg zu ihren Zielen zu gestalten. Sie lassen sich immer wieder von anderen aus dem Konzept bringen. Diese Menschen profitieren von aktivierender, handlungsorientierter, ganz konkreter Hilfe, von direkter Begleitung, An-die-Hand-Nehmen, Neu-Entdecken. Sie sind weniger empfänglich für Fragen, Denkanstöße, überhaupt für Kopfarbeit. Vieles, was ich sagte, verstanden sie rational, konnten es aber für sich nicht in Handlung übersetzen. Ich musste Aussagen vereinfachen, klar gestalten und durfte nicht mehr als eine Möglichkeit zulassen. Wenn ich das schaffte, funktionierte die Zusammenarbeit gut. Am Ende hatte ich nicht gecoacht, sondern irgendetwas anderes gemacht. Danach war ich oft nass geschwitzt. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich mag Menschen. Ich möchte helfen. Aber bei einigen war dies für mich deutlich anstrengender als in anderen Fällen. Vor allem, solange ich den Grund dafür nicht kannte.

Mit Michael war die Zielvereinbarung noch recht unkompliziert. Sie lautete »einen neuen Job finden«. Michael war immer wieder mit seinen Chefinnen angeeckt. Ich witterte ein Problem, das tiefer lag. Aber mit Fragen kam ich nicht an ihn heran. Als kaufmännische Führungskraft konnte er Eigenschaften von sich und anderen konkret benennen und beschrieb sich selbst mit den Worten: »Ich bin ein kooperativer Manager und kümmere mich um meine Mitarbeiter.« Vieles hörte sich allerdings wie auswendig gelernt an. Auf mich wirkte er gar nicht kooperativ. Er fragte nicht. Und hörte auch kaum zu.

Dafür pochte er auf die Einhaltung von Regeln. Er wollte explizit »systemisches Coaching wie in der Firma«, meinte aber, dass ich ihm Lösungen nahebringen sollte, ich sei ja vom Fach. Für das Problem mit seinen Chefinnen hatte er eine Erklärung: Er hielt sie für inkompetent und führte das auf eine – im Vergleich zu seiner eigenen – schlechtere Ausbildung und geringere Erfahrung zurück.

Aus seiner Sicht unklare Aussagen ohne »Handanweisung« verwirrten ihn. Beispiel Bewerbungsfotos: Manchmal sind sie sinnvoll, manchmal nicht. Teils empfehlen sich konservative Fotos, teils moderne; es gibt einen männlichen und weiblichen Blick auf Fotos. In männlich dominierten und konservativen Branchen ergeben deshalb andere Fotos Sinn als in weiblich dominierten und fortschrittlichen … In meinem Kopf schwirrten viele Aspekte herum, doch für Michael waren diese unterschiedlichen Perspektiven alles andere als einleuchtend. Bis ich im Laufe meiner Tätigkeit als Coach verstanden hatte, dass Menschen im Richtig-Modus nicht die Vielfalt der Welt begreifen, sondern nur eine Lösung wollen, überforderte ich meine Klienten manchmal sehr.

Bei Menschen im Richtig-Modus ist weniger aktivierende Hilfe in »Sozialarbeiter-Manier« nötig als im Wir-Modus. Im Gegenteil: Sie lieben die konkrete Empfehlung, am besten von »Frau Doktor« (ich habe keinen Doktortitel, aber meine zahlreichen Buchveröffentlichungen haben eine ähnliche Funktion). Dieser folgen sie, wenn sie ausreichend kompetent und untermauert wirkt. Ich übte mich darin, meine Sprache zu vereinfachen. Menschen im Richtig-Modus haben meist Schwierigkeiten mit verschiedenen Wahrheiten. »Man könnte so und so, aber auch so …« Das geht für sie gar nicht, es verwirrt. Eigene Bedürfnisse können sie noch wenig wahrnehmen, weshalb sie auch kaum selbst Handlungen ableiten können. Erst recht nicht auf Gebieten, für die ihnen die Kompetenz fehlt. Das Wahrnehmen von Bedürfnissen kann man sehr gut üben und diese Menschen dadurch erheblich weiterbringen. Man braucht von ihnen aber den Auftrag dafür. Michael würde später noch einmal wiederkommen, aber damals bekam ich diesen Auftrag nicht. Er brauchte von mir einen Leitfaden. Ich gab ihm, was er wollte: Tipps, die er umsetzen konnte. Das war Fachberatung, kein Coaching. Er lernte bei mir, aber entwickelte sich nicht.

Es gibt eine dritte Gruppe, die einzigen Menschen, die sich am ehesten mit Coaching-Werkzeug coachen lassen, also mit Fragen und Zielvereinbarungen. Sie erwarten keine Lösung von mir, sondern wollen diese selbst in sich finden. Das sind die Effektiven, die tough, aber natürlich auch zart besaitet sein können. Aber sie sind immer auf die eine oder andere Weise effektiv oder streben zumindest danach, es zu sein. Sie reflektieren ihre eigenen Ziele und können auch die eigenen Maßnahmen, die sie dorthin bringen sollen, hinterfragen. Sie kommen zum Coaching, um eine eigene Antwort auf ihre dringendsten Fragen zu finden. Sie suchen Klarheit – nicht Wissen oder Kompetenz. Sie fordern meine Sicht aktiv ein und können sie in die eigene integrieren. Sie denken und gestalten mit. Sie setzen sich langfristige Ziele und können auch den Prozess gestalten, sogar über längere Zeiträume. Coaching im Verständnis A ist für diese Menschen erfunden worden.

Eine vierte Gruppe, ich nenne sie die Flexiblen, ist wiederum viel weniger an Zielen orientiert, vor allem brauchen sie noch weniger Führung durch mich. Sie lieben den Dialog und »Sparring«. Sie sind meist reflektiert und offen für viele Aspekte und Möglichkeiten. Eine differenzierte Art finden sie toll. Sie verstehen Widersprüche, und Sowohl-als-auch-Denken empfinden sie als angenehm, nicht als verwirrend. Mit ihnen kann ich am ehesten sein wie ich bin. Ein Problem haben aber auch sie: Die Flexiblen können oft aus einer Vielzahl von Möglichkeiten nicht diejenige herausfiltern, die für sie passt. Sie relativieren zu sehr. Ihnen hilft ein strukturierender Dialog weiter. Zielvereinbarungen brauchen sie kaum. Wenn sie einmal die Gedanken ordnen und neu bewerten, geht der Rest von selbst. Auch das ist kein Coaching, sondern irgendeine andere Art der Hilfe. Nennen wir es Sparring?

Reisende haben oft kein Ziel

Wenn Sie Sabine nach ihrem Ziel fragen würden, so hat sie keines, das sich konkret formulieren ließe. Sie will sich austauschen. Ich habe oft Kunden beraten, »die nur mal in sich hineinschauen« wollten oder »über Ideen sprechen mit jemand, der die richtigen Fragen stellt«. Im strengen Coaching-Verständnis hätte ich sie nicht annehmen dürfen. Zu unkonkret. Doch diese Termine waren immer besonders fruchtbar. Natürlich frage ich immer, zum Beispiel: »Was wäre ein gutes Ergebnis, was würden Sie gerne mitnehmen?« Aber wenn jemand das nicht genau definieren kann, quäle ich ihn nicht weiter. Vielleicht kann man sich auf irgendetwas an der Oberfläche einigen: einen neuen Job, die berufliche Zufriedenheit steigern, was auch immer. Aber echte Ziele sind das nicht, vor allem stecken oft ganz andere Themen dahinter.

Coaching-Ausbilder erwarten eine genaue Zielklärung, wie im Management. Das ist eigentlich sonderbar, denn auch dort sind Ziele in den letzten Jahren aus der Mode gekommen, weil sie in komplexen Situationen einfach nicht funktionieren. Da muss man sich flexibel auf das einstellen, was kommt. Das nennt sich »agil«: schnell reagieren und sich laufend verändern und selbst aktualisieren.

Therapeuten waren in diesem Sinn schon immer »agiler«. Sie besprechen, worum es geht, beispielsweise um eine diffuse Angst. Und dann gibt es eine bestimmte Anzahl von Therapiestunden, in denen sich vieles fließend entwickelt. Natürlich ist das Ziel, dass der Patient gesünder wird, aber kein Therapeut vereinbart dies »smart«, also spezifisch, messbar, aktiv, realistisch und terminiert, wie ein Teil der Coachs es tut, vor allem im Coaching-Verständnis A. Der Patient muss sich normalerweise »nur« einlassen. Für Menschen, die auf ihrer inneren Reise an Grenzen stoßen, ist das oft besser. Es verlangt allerdings vonseiten des Coachs mehr Professionalität und Erfahrung. Man kann im Leben eines Menschen nicht einfach wild herumstochern. Das ist die Krux. Doch Coachs werden in der Regel zügig ausgebildet, teils in nur 150 Stunden. Kein Wunder, dass viele da sicherheitshalber ein »Tool« anwenden, mit dem möglichst wenig schiefgehen kann …

Ich frage auch danach, welche Form des Coachings gewünscht ist. Gibt es ein Bedürfnis nach Feedback? Das spreche ich offen an, wenn ich es heraushöre. Ich weiß einfach, dass viele das geheime Bedürfnis haben, Feedback zu erhalten, aber sich das nicht zu sagen trauen. Coaching ist ja Hilfe zur Selbsthilfe, und Feedback hat da nur bedingt etwas zu suchen. Ich bin aber auch hier undogmatisch. Ich weiß einfach, dass Feedback für Menschen extrem wichtig ist. Auf unterschiedliche Art und Weise: Einige brauchen es, um Sicherheit zu bekommen. Andere wollen sich selbst reflektieren. Viele Bedürfnisse sind nicht bewusst und können deshalb auch nicht ausgesprochen werden. Wer aber nicht genau sagen kann, welches Bedürfnis ihn wirklich zum Coach getrieben hat, kann kaum ein Ziel vereinbaren. Auch, weil es oft gar nicht um Ziele geht.