image

Spirituellen Materialismus durchschneiden

Chögyam Trungpa

Spirituellen
Materialismus
durchschneiden

Herausgegeben von John Baker und Marvin Casper Illustrationen von Glen Eddy Übersetzung von Sylvia Luetjohann

image

Die amerikanische Originalausgabe Cutting through spiritual materialism ist erschienen bei Shambhala Publications, Inc. 300 Massachusetts Ave.,

Copyright der deutschen Ausgabe © 1989, 2009 Theseus Verlag
in der Verlag Kreuz GmbH,
Postfach 800669, 70506 Stuttgart

Umschlaggestaltung:
Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld, www.mbedesign.de
unter Verwendung eines Fotos von © Shambhala Archives
Illustrationen © 1973 by Shambhala Publications, Inc., Boston

Chögyam Trungpa:

www.weltinnenraum.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Printausgabe: 978-3-95883-037-0

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Chokyi-lodrö „Marpa“
Vater der Kagyü Linie
gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Spiritueller Materialismus

Hingabe

Der Guru

Einweihung

Selbsttäuschung

Der harte Weg

Der offene Weg

Sinn für Humor

Die Entwicklung des Ego

Die sechs Bereiche

Die vier Edlen Wahrheiten

Der Weg des Bodhisattva

Shunyata

Prajna und Mitgefühl

Tantra

Einführung

Die in diesem Buch gesammelten Vorträge wurden im Herbst 1970 und im Frühjahr 1971 in Boulder, Colorado gehalten. Zu dieser Zeit entstand dort gerade unser Meditationszentrum Karma Dzong. Obwohl die meisten meiner Schüler den aufrichtigen Wunsch hatten, den spirituellen Weg zu gehen, brachten sie dafür doch ziemlich viel Verwirrung, Mißverständnisse und Erwartungen mit. Ich habe es daher für notwendig gehalten, ihnen eine übersichtliche Darstellung dieses Weges zu geben und vor seinen möglichen Gefahren zu warnen.

Ich habe nun den Eindruck, daß die Veröffentlichung dieser Vorträge auch für andere, die an geistigen Disziplinen interessiert sind, nützlich sein könnte. Den spirituellen Weg richtig zu gehen, ist ein sehr schwieriges Unterfangen – und keines, auf das man sich naiv einlassen kann. Er enthält zahllose Irrwege oder Sackgassen, die zu einer verzerrten, egozentrischen Auslegung von Spiritualität führen. Wir können uns selbst der Täuschung hingeben, daß wir uns geistig weiterentwickeln, während wir statt dessen nur unsere Ich-Bezogenheit durch spirituelle Techniken stärken. Dieser grundlegende Irrtum läßt sich als spiritueller Materialismus bezeichnen.

Zuerst werden die verschiedenen Möglichkeiten des spirituellen Materialismus und die vielfältigen Formen der Selbsttäuschung behandelt, in die der geistig Suchende hineingeraten kann. Nach diesem Rundgang durch die Irrwege und Sackgassen entlang des Pfades werden dann die allgemeinen Grundzüge des wahren spirituellen Weges besprochen.

Die hier angewandte Betrachtungsweise ist klassisch buddhistisch – nicht formal, sondern in dem Sinne, daß sie das Herzstück der buddhistischen Einstellung zur Spiritualität beschreibt. Der buddhistische Weg ist zwar nicht theistisch, doch er steht in keinem Widerspruch zu theistischen Lehrsystemen, sondern unterscheidet sich von ihnen vielmehr durch seine besondere Akzentsetzung und Methodik. Die Grundprobleme des spirituellen Materialismus sind allen geistigen Lehren gemeinsam. Die buddhistische Betrachtungsweise geht von unserer Verwirrung und Leidenserfahrung aus und zielt darauf hin, das Rätsel ihres Ursprungs zu lösen. Die theistische Betrachtungsweise geht von der Herrlichkeit Gottes aus und zielt darauf hin, durch eine Erhöhung des Bewußtseins die Göttliche Präsenz zu erfahren. Da unsere Verwirrung und Negativität jedoch Hindernisse für eine Verbindung mit Gott darstellen, muß sich auch die theistische Betrachtungsweise mit ihnen auseinandersetzen. Geistiger Stolz ist beispielsweise in theistischen Lehrsystemen ein ebensolches Problem wie im Buddhismus.

Nach der buddhistischen Tradition entspricht der spirituelle Weg dem Vorgang, unsere Verwirrung zu durchschneiden und gleichzeitig den erwachten Geisteszustand zu enthüllen. Wenn der erwachte Geisteszustand durch das Ego und die mit ihm verbundene Paranoia bedrängt wird, nimmt er das Wesen eines Grundinstinktes an. Es kann also nicht darum gehen, den erwachten Geisteszustand zu entwickeln, sondern vielmehr darum, die Täuschungen auszulöschen, unter denen er sich verbirgt. Während dieses Vorgangs erfahren wir Erleuchtung. Würde dieser Prozeß anders verlaufen, so wäre der erwachte Geisteszustand ein Ergebnis aus Ursache und Wirkung und von daher der Vergänglichkeit unterworfen. Alles Erschaffene muß, früher oder später, vergehen. Würde Erleuchtung auf eine solche Art und Weise entstehen, so bliebe dem Ego immer die Möglichkeit, sich wieder zu behaupten und eine Rückkehr in den verwirrten Zustand herbeizuführen. Erleuchtung ist von Dauer, weil wir sie nicht erschaffen, sondern lediglich entdeckt haben. In der buddhistischen Überlieferung wird häufig das Auftauchen der Sonne aus den Wolken hervor als Analogie verwendet, um damit das Entdecken von Erleuchtung zu erklären. In der Meditationspraxis beseitigen wir die durch das Ego hervorgerufene Verwirrung, damit wir einen kurzen Blick auf den erwachten Zustand werfen können. Das Fehlen von Unwissenheit, von innerer Bedrängnis und Paranoia eröffnet einen überwältigenden Ausblick auf das Leben. Man entdeckt eine ganz andere Art und Weise von Existenz.

Das Kernstück der Verwirrung besteht darin, das Gefühl von einem „Selbst“ zu haben, das uns als beständige und feste Größe erscheint. Wenn ein Gedanke oder eine Empfindung oder ein Ereignis auftaucht, ist das Gefühl vorhanden, daß es da jemand gibt, der sich des Geschehens bewußt ist. Danach bist du es, der diese Worte hier liest. Dieses Gefühl von einem „Selbst“ ist tatsächlich nur ein vorübergehender, zusammenhangloser Vorgang, der uns in unserer Verwirrung jedoch als ziemlich greifbar und dauerhaft erscheint. Da wir unsere verwirrte Sichtweise als Realität betrachten, sind wir mit allen Kräften darauf bedacht, dieses feststoffliche Selbst zu bewahren und weiter zu verstärken. Wir suchen es mit Lustgefühlen zu nähren und vor Schmerzen zu bewahren. Dabei droht uns ständig die Erfahrung, unsere Vergänglichkeit zu enthüllen, und so machen wir unausgesetzte Anstrengungen, alles das zu verbergen, was unsere wirkliche Situation erkennen ließe. Wir könnten aber die Frage stellen: „Warum wollen wir denn unbedingt vermeiden, wenn unser wirkliches Sein ein erwachter Zustand ist, uns darüber bewußt zu werden?“ – Deshalb, weil wir in unserer verwirrten Sichtweise der Welt derart befangen sind, daß wir diese als real und die einzig mögliche Welt betrachten. Dieser beständige Kampf, die Vorstellung von einem unverrückbaren und dauerhaften „Selbst“ aufrechtzuerhalten, ist die Wirkungsweise des Ego.

Dem Ego gelingt es jedoch nur partiell, Schmerz von uns abzuwenden. Sein Kampf wird von Unzufriedenheit begleitet, und diese veranlaßt uns dazu, unser Handeln zu überprüfen. Da in unserem Selbst-Bewußtsein immer Lücken existieren, ist eine gewisse Einsicht möglich.

Eine interessante Metapher, die im tibetischen Buddhismus zur Beschreibung der Wirkungsweise des Ego verwendet wird, ist die der „Drei Herren des Materialismus: der „Herr der Form“, der „Herr der Sprache“ und der „Herr des Geistes“. In der folgenden Erörterung dieser Drei Herren beziehen sich die Begriffe „Materialismus“ und „neurotisch“ auf die Aktivität des Ego.

Der Herr der Form steht in Zusammenhang mit der neurotischen Suche nach physischer Bequemlichkeit, Sicherheit und Vergnügungssucht. Unsere hochorganisierte und technologisierte Gesellschaft spiegelt unsere Vorliebe wider, uns durch die Manipulation unserer physischen Umwelt vor der Verunsicherung durch unsanfte, widrige und unvorhersehbare Lebensaspekte zu schützen. Automatische Fahrstühle, fertig abgepacktes Fleisch, Klimaanlage, Wasserspülung, Begräbniskulte, Altersvorsorgeprogramme, Massenproduktion, Wettersatelliten, Bulldozer, Leuchtreklame, Achtstundentag, Fernsehen – alles dies sind Versuche, sich eine beherrschbare, sichere, voraussagbare und angenehme Welt zu erschaffen.

Mit dem Herrn der Form ist nicht die in physischer Hinsicht reiche und gesicherte Lebenssituation an sich gemeint, die wir uns schaffen. Er bezieht sich vielmehr auf unseren neurotischen Hang, der uns diese hervorbringen läßt, und auf den Versuch, die Natur beherrschen zu wollen. Dies ist der Ehrgeiz des Ego, sich selbst abzusichern und zu unterhalten, um jeglicher Verunsicherung aus dem Weg zu gehen. Daher klammern wir uns an Vergnügen und Besitz, fürchten uns vor Veränderung oder zwingen diese herbei und suchen uns ein Nest oder einen Spielplatz zu schaffen.

Der Herr der Sprache verweist auf den Gebrauch des Intellekts in unserer Beziehung zur Welt. Wir machen uns Begriffsgruppen zu eigen, die uns als Handhabe und Methoden zur Beherrschung von Phänomenen dienen. Die am höchsten entwickelten Ergebnisse aus dieser Neigung sind Ideologien, gedankliche Systeme oder Weltanschauungen, die unser Leben rationalisieren, rechtfertigen und bestätigen. Nationalismus, Kommunismus, Existentialismus, Christentum, Buddhismus – sie alle versorgen uns mit Identitäten, Verhaltensregeln und Deutungen, wie und warum die Dinge so geschehen, wie es der Fall ist.

Auch hier ist wiederum der Gebrauch des Intellekts an sich nicht der Herr der Sprache. Dieser bezieht sich vielmehr auf die Tendenz des Ego, sich alles Bedrohliche oder Irritierende so auszulegen, daß die Bedrohung entweder neutralisiert oder, vom Standpunkt des Ego aus, in etwa „Positives“ verwandelt wird. Der Herr der Sprache hat zu tun mit dem Gebrauch von begrifflichen Konzepten als Filter, die uns vor einer direkten Wahrnehmung dessen, was ist, abschirmen sollen. Diese Begriffe werden allzu ernst genommen und als Werkzeuge verwendet, mit denen wir uns selbst und unsere Welt verfestigen. Wenn eine Welt von benennbaren Dingen existiert, dann existiert auch das „Ich“ als eines von diesen benennbaren Dingen. Wir wollen keinerlei Raum für bedrohliche Zweifel, Unsicherheit oder Verwirrung lassen.

Der Herr des Geistes bezieht sich auf die Anstrengung des Bewußtseins, sich seiner selbst gewahrt zu bleiben. Der Herr des Geistes herrscht dann, wenn wir spirituelle und psychologische Techniken als Mittel verwenden, unser Selbst-Bewußtsein zu bewahren, an unserem Gefühl von einem „Selbst“ festzuhalten. Drogen, Yoga, Gebet, Meditation, Trancezustände, verschiedene Formen der Psychotherapie – sie alle können zu diesem Zweck eingesetzt werden.

Das Ego ist dazu in der Lage, alles, selbst die Spiritualität, zu seinem eigenen Nutzen umzuwerten. Wenn wir beispielsweise in der spirituellen Praxis eine uns besonders zuträgliche Meditationstechnik erlernt haben, dann nimmt das Ego die Haltung ein, diese zunächst als faszinierendes Objekt zu betrachten und sie dann genauestens zu untersuchen. Da das Ego aber als etwas Feststoffliches erscheint und es nichts wirklich aufnehmen kann, bleibt ihm schließlich nur die Nachahmung. Daher versucht es, die Meditationspraxis und eine meditative Lebensweise zu ergründen und zu imitieren. Wenn wir sämtliche Tricks und Antworten im spirituellen Spiel erlernt haben, suchen wir Spiritualität unbewußt nur noch nachzuäffen. Ein echtes Engagement würde nämlich die völlige Aufgabe des Ego erfordern – und das ist wirklich das Allerletzte, was wir uns wünschen. Wir können das jedoch nicht erfahren, was wir nur zu imitieren versuchen. Wir können innerhalb der Begrenzungen des Ego nur einen Bereich finden, der damit identisch zu sein scheint. Das Ego überträgt alles in die Begrifflichkeit seines eigenen Zustandes, seiner eigenen inneren Qualitäten. Es empfindet Aufregung darüber, daß es ein solches Verhaltensmuster hat erschaffen können, denn schließlich hat es eine greifbare Leistung zustande gebracht, eine Bestätigung seiner Individualität.

Wenn es uns aber gelingt, unser Selbst-Bewußtsein mittels spiritueller Techniken aufrechtzuerhalten, dann wird eine echte spirituelle Weiterentwicklung höchst unwahrscheinlich. Unsere geistigen Gewohnheiten werden sich derart verfestigen, daß sie kaum noch zu durchdringen sind. Wir mögen es damit sogar soweit treiben, daß wir schließlich den ganz und gar dämonischen Zustand der vollkommenen „Ichheit“ erlangen.

Auch wenn der Herr des Geistes bei der Untergrabung von Spiritualität der machtvollste ist, so können die beiden anderen doch ebenfalls die spirituelle Praxis beherrschen. Rückzug in die Natur, Abkapselung, Umgang mit einfachen, ruhigen, hochstehenden Menschen – alle diese Möglichkeiten, sich vor den Widrigkeiten des Lebens zu schützen, können Ausdruck des Herrn der Form sein. Auch die Religion kann mit einer Rationalisierung dazu herhalten, daß wir uns ein sicheres Nest, ein einfaches, aber bequemes Heim schaffen, einen liebenswerten Lebensgefährten und einen festen, problemlosen Job finden.

Der Herr der Sprache hat ebenso Anteil an unserer spirituellen Praxis. Wenn wir einem geistigen Weg folgen, werden wir vielleicht unsere früheren Glaubensvorstellungen durch eine neue religiöse Ideologie ersetzen, doch mit dieser weiterhin auf die alte neurotische Art und Weise verfahren. Ungeachtet dessen, wie feinsinnig unsere Anschauungen auch sein mögen, wenn wir sie allzu ernst nehmen und mit ihnen unser Ego erhalten, werden wir immer noch vom Herrn der Sprache beherrscht.

Wenn wir unser Verhalten einmal überprüften, so würden die meisten von uns wahrscheinlich zugeben, daß wir von einem oder mehreren der Drei Herren beherrscht werden. „Aber was soll’s?“ so könnten wir fragen. „Dies ist nichts anderes als eine Beschreibung der menschlichen Situation. Ja, wir wissen, daß unsere Technologie uns nicht vor Krieg, Verbrechen, Krankheit, wirt schaftlicher Unsicherheit, mühevoller Arbeit, Alter und Tod schützen kann. Ebensowenig können unsere Ideologien uns vor Zweifel, Ungewißheit, Verwirrung und Orientierungslosigkeit bewahren. Auch unsere Therapien können uns nicht vor dem Verlust hoher Bewußtseinsformen bewahren, die wir zeitweilig erlangen mögen, und vor der darauf folgenden Desillusionierung und Angst. Aber was sollen wir denn sonst tun? Die drei Herren scheinen zu mächtig zu sein, als daß wir sie stürzen könnten, und wir wissen nicht einmal, wodurch wir sie ersetzen sollten.“

Buddha, der von diesen Fragen gequält wurde, unterzog die Vorgänge, auf denen die Herrschaft der Drei Herren beruht, einer methodischen Untersuchung. Er stellte die Frage, warum unser Geist ihnen so bereitwillig folgt und ob es keinen anderen Weg für ihn gibt. Er machte die Entdeckung, daß die Drei Herren uns durch die Erschaffung eines grundlegenden Mythos verführen: daß wir nämlich tatsächlich existierende Wesen sind. Dieser Mythos aber ist von Grund auf unwahr, ein riesiger Schwindel, ein gigantischer Betrug, und hier liegt die Wurzel zu unserem Leiden. Damit Buddha zu dieser Erkenntnis gelangte, mußte er sehr geschickt ausgeklügelte Abwehrmechanismen durchbrechen. Diese sind von den Drei Herren errichtet worden und sollen ihre Untertanen daran hindern, die grundlegende Täuschung zu durchschauen, die ihnen als Quelle ihrer Macht dient. Wir können uns nur dann aus ihrer Herrschaft befreien, wenn wir das kunstvolle Abwehrsystem dieser Drei Herren Schritt für Schritt niederreißen.

Diese Abwehrmechanismen sind aus dem Material unseres Geistes geschaffen, das von den Herren dazu benutzt wird, den grundlegenden Mythos von unserer konkreten Existenz aufrechtzuerhalten. Damit wir selbst erkennen können, wie sich dieser Prozeß vollzieht, müssen wir unsere eigene Erfahrung überprüfen. „Doch wie sollen wir dabei vorgehen?“ könnten wir fragen. „Welche Methode oder welches Hilfsmittel sollen wir dafür verwenden?“ Die Methode, die Buddha entdeckt hat, ist die Meditation. Er hat herausgefunden, daß seine angestrengten Bemühungen, Antworten zu finden, nichts bewirkten. Er gelangte erst zu Einsichten, als Lücken in seiner Anstrengung auftraten. Allmählich erkannte er, daß eine geistig völlig gesunde, eine erwachte Qualität in ihm existierte, die nur beim Fehlen von jeglichem Kampf in Erscheinung trat. Deshalb gehört zu der Meditationspraxis ein völliges „Loslassen“, ein „Sichhingeben“.

Es gibt eine Reihe von Mißverständnissen und falschen Vorstellungen hinsichtlich der Meditation. Manche betrachten sie als einen tranceähnlichen Geisteszustand, andere halten sie für eine Art von Training im Sinne einer Gedanken-Gymnastik. Doch Meditation ist nichts von beidem, wenn sie auch damit zu tun hat, sich mit neurotischen Formen des Geistes auseinanderzusetzen. Die Beschäftigung mit der neurotischen Geistesverfassung ist weder schwierig noch unmöglich. Sie weist Energie und Geschwindigkeit auf, die einem bestimmten Strukturmuster folgen. Die Meditationspraxis bedeutet, dabei loszulassen, sie kommt dem Versuch gleich, eins mit diesem Strukturmuster, eins mit der Energie und Geschwindigkeit zu werden. Auf diese Art und Weise lernen wir, uns mit diesen Faktoren zu befassen und eine Beziehung zu ihnen herzustellen. Dies hat nicht den Sinn, daß sie sich unseren Vorstellungen entsprechend entwickeln, sondern damit wir sie als das erkennen, was sie sind, und mit ihrem Muster umgehen können.

In einer Geschichte über Buddha wird erzählt, wie er einmal einen berühmten Sitarspieler belehrte, der Meditation erlernen wollte. Der Musiker fragte: „Soll ich meinen Geist unter Kontrolle halten oder ihn völlig loslassen?“ Buddha antwortete: „Sag mir, da du ein großer Musiker bist, wie würdest du die Saiten deines Instrumentes stimmen?“ Der Musiker sagte: „Ich würde sie weder zu fest noch zu locker spannen.“ „Genauso“, entgegnete Buddha, „sollst du in deiner Meditationsübung deinem Geist weder gewaltsam etwas aufzuzwingen noch ihn umherwandern lassen.“ Das ist die Lehre, den Geist auf eine ganz offene Art und Weise einfach sein zu lassen, den Energiestrom zu spüren, ohne ihn unterdrükken oder völlig aus der Kontrolle verlieren zu wollen, und so dem Energiemuster des Geistes zu folgen. Das bedeutet Meditationspraxis.

Eine solche Übung ist notwendigerweise allgemein gehalten, denn unsere Denkstruktur, unsere begrifflich vorgeprägte Auffassung von unserem Leben in der Welt, manipuliert entweder zu sehr und will sich selbst der Welt aufdrängen, oder aber sie schießt völlig wild und unkontrolliert umher. Daher muß unsere Meditationspraxis bei der äußersten Schicht des Ego ansetzen, bei den diskursiven Gedanken, die uns ständig durch den Kopf gehen, bei unserem geistigen Geschwätz. Die Drei Herren verwenden das diskursive Denken als erste Abwehrlinie, als Schachfiguren in ihrem Bemühen, uns zu täuschen. Je mehr Gedanken wir erzeugen, desto mehr ist unser Geist beschäftigt und desto überzeugter sind wir von unserer Existenz. Also wollen Die Herren diese Gedanken ständig aktivieren und ineinandergreifen lassen, so daß sonst nichts wahrgenommen werden kann. Echte Meditation ist dagegen bestrebt, Gedanken weder aufzurühren noch sie zu unterdrücken. Sie dürfen lediglich spontan auftauchen und werden zu einem Ausdruck von grundlegender geistiger Gesundheit: eine Äußerung der Genauigkeit und Klarheit des erwachten Geisteszustandes.

Wenn diese Strategie, ständig sich überschneidende Gedanken zu erschaffen, durchschaut wird, wollen Die Herren uns mit dem Aufwühlen von Emotionen ablenken. Die erregende, farbenreiche und dramatische Qualität der Gefühle nimmt unsere Aufmerksamkeit so gefangen, als würden wir uns einen fesselnden Film ansehen. In der Meditationspraxis werden die Emotionen weder bestärkt noch zurückgehalten. Wir nehmen sie deutlich als das wahr, was sie sind, und lassen es nicht länger zu, daß sie uns als Mittel der Unterhaltung und Zerstreuung dienen. Auf diese Weise werden sie zu einer unerschöpflichen Energiequelle des ichlosen Handelns.

Wenn Gedanken und Emotionen ausgeschaltet sind, setzen Die Herren eine noch machtvollere Waffe ein: begriffliche Vorstellungen. Die Benennung und Einordnung von Phänomenen erschafft das Gefühl einer konkreten und klar umgrenzten Welt von „Dingen“. Eine derart festgefügte Welt gibt uns die Beruhigung, daß auch wir ein konkretes und dauerhaftes Ding sind. Die Welt existiert, darum existiere ich, der die Welt wahrnimmt, ebenfalls. Meditation schließt ein, die Transparenz von Begriffen zu durchschauen, so daß sie uns nicht mehr zur Verfestigung unserer Welt und unseres eigenen Selbstbildes dienen.

Buddha hat bei der Erforschung seiner eigenen Gedanken, Emotionen, begrifflichen Vorstellungen und sonstigen geistigen Aktivitäten entdeckt, daß wir nicht um den Beweis unserer Existenz zu kämpfen brauchen und den Drei Herren des Materialismus nicht unterworfen sein müssen. Wir müssen nicht dafür kämpfen, um frei zu sein – schon das Fehlen dieses Bemühens bedeutet in sich selbst Freiheit. Dieser egolose Zustand kommt dem Erreichen von Buddhaschaft gleich. Der Umwandlungsprozeß des geistigen Materials von Äußerungen des ehrgeizigen ichbezogenen Strebens zu Äußerungen von grundlegender geistiger Gesundheit und Erleuchtung durch die Meditationspraxis könnte als wahrer spiritueller Weg bezeichnet werden.

Spiritueller Materialismus

Wir sind hier zusammengekommen, um etwas über Spiritualität zu erfahren. Ich habe Vertrauen zu der echten Qualität dieser Suche, doch wir müssen ihren Charakter in Frage stellen, denn das Ego kann alles zu seinem eigenen Nutzen verdrehen – selbst Spiritualität. Es unternimmt ständig den Versuch, sich die geistigen Lehren zu seinem eigenen Vorteil anzueignen. Diese Lehren werden als eine Sache behandelt, die von außen zu uns kommt, als eine Philosophie, die wir nachzuahmen suchen. Tatsächlich wollen wir uns gar nicht damit identifizieren oder eins werden. Wenn unser Lehrer daher vom Verzicht auf das Ego spricht, unternehmen wir einen Täuschungsversuch, unternehmen die entsprechenden Schritte, machen die passenden Gebärden, doch in Wirklichkeit wollen wir überhaupt nichts von unserer Lebensweise aufgeben. Wir werden zu versierten Schauspielern, und während wir dem wahren Sinn der Lehren gegenüber den Taubstummen spielen, empfinden wir eine gewisse Zufriedenheit unter dem Vorwand, auf dem Weg zu sein.

Wenn immer wir eine Unstimmigkeit oder einen Widerspruch zwischen unserem Verhalten und den Lehren merken, deuten wir die Situation unverzüglich in der Weise, den Konflikt zu beschönigen. Diese Deutung gibt das Ego in der Rolle des spirituellen Ratgebers. Die Situation läßt sich mit einem Land vergleichen, wo Kirche und Staat getrennt sind. Wenn die Staatspolitik den Lehren der Kirche nicht entspricht, dann wendet sich der weltliche Herrscher automatisch an das Oberhaupt der Kirche, seinen spirituellen Ratgeber, und bittet um seinen Segen. Das kirchliche Oberhaupt ersinnt dann irgendeine Rechtfertigung und gibt der Politik seinen Segen unter dem Vorwand, daß der weltliche Herrscher der Beschützer des Glaubens sei. Im menschlichen Geist läßt sich dies ganz geschickt bewerkstelligen, da das Ego sowohl weltlicher Herrscher als auch kirchliches Oberhaupt ist.

Diese Art und Weise, den geistigen Weg und das eigene Verhalten zu rationalisieren, muß durchschnitten werden, wenn wirkliche Spiritualität in die Praxis umgesetzt werden soll. Es ist jedoch nicht einfach, mit dieser Rationalisierung umzugehen, weil alles durch den Filter der Philosophie und Logik des Ego gesehen wird, der alles klar und deutlich, vollkommen logisch erscheinen läßt. Wir versuchen, auf jede Frage eine uns selbst rechtfertigende Antwort zu finden. Zu unserer eigenen Beruhigung sind wir bestrebt, jeden Aspekt unseres Lebens, der Verwirrung bringen könnte, in unser intellektuelles Schema einzupassen. Dabei ist unser Bemühen derart ernst und feierlich, derart geradlinig und aufrichtig, daß ihm nur schwer zu mißtrauen ist. Wir verlassen uns stets auf die „Integrität“ unseres spirituellen Ratgebers.

Dabei spielt es keine Rolle, was wir zu unserer Selbstrechtfertigung heranziehen: die Weisheit heiliger Schriften, Diagramme oder Tabellen, mathematische Berechnungen, esoterische Formeln, buchstabengläubige Religion, Tiefenpsychologie oder irgendeinen sonstigen Mechanismus. Wenn immer wir zu werten beginnen und entscheiden, dieses oder jenes zu tun oder zu lassen, haben wir unsere Praxis oder unser Wissen bereits mit Kategorien in Verbindung gebracht und eines gegen das andere ausgespielt. Das ist spiritueller Materialismus, die unechte geistige Haltung unseres spirituellen Ratgebers. Wenn immer wir eine dualistische Vorstellung haben, wie beispielsweise: „Ich tue dies, weil ich einen besonderen Bewußtseinszustand oder eine bestimmte Existenzform erreichen möchte“, dann trennen wir uns automatisch selbst von der Realität dessen ab, was wir sind.

Die Antwort auf die Frage: „Was ist denn falsch daran, etwas zu bewerten und sich für eine Seite zu entscheiden?“ lautet, daß wir mit dem nachfolgenden Urteil: „Ich sollte dieses tun und jenes meiden“ eine derart komplizierte Ebene erreicht haben, daß wir von der grundlegenden Einfachheit unsers Wesens meilenweit entfernt sind. Die Einfachheit der Meditation beabsichtigt nichts anderes, als den „Affeninstinkt“ des Ego erfahrbar zu machen. Wird unsere Psychologie noch von irgend etwas anderem überdeckt, so erstarrt sie zu einer sehr schweren, dicken Maske und wird zu einer Rüstung.

Es ist wichtig zu erkennen, daß das Hauptziel jeder spirituellen Praxis darin besteht, sich der Bürokratie des Ego zu entziehen. Das heißt, das ständige Verlangen des Ego nach einer höheren, spirituelleren, transzendenteren Version von Wissen, Religion, Tugend, Einsicht, Trost oder was immer dieses besondere Ego auch suchen mag, nicht mehr zu unterstützen. Wir müssen aus dem spirituellen Materialismus aussteigen. Wenn wir dies nicht tun, sondern diesen sogar noch praktizieren, werden wir uns schließlich möglicherweise im Besitz einer riesigen Kollektion von spirituellen Wegen wiederfinden. Wir werden diese spirituelle Sammlung vielleicht sogar noch für sehr kostbar halten. Wir haben uns mit so vielen Dingen beschäftigt, abendländische oder östliche Philosophie studiert, Yoga praktiziert oder vielleicht unter Dutzenden von großen Meistern Forschungen betrieben. Wir haben gelernt und es zu etwas gebracht. Wir glauben, einen Wissensschatz angesammelt zu haben. Und doch bleibt nach alledem immer noch etwas aufzugeben. Das ist höchst mysteriös! Wie könnte das sein? Unmöglich! Doch leider ist es so. Unsere riesige Sammlung von Wissen und Erfahrung ist nur Teil der größenwahnsinnigen Eigenschaft des Ego, das sie zur Schau stellt. Wir zeigen sie vor der Welt und wir geben uns damit das beruhigende Gefühl, als „spirituelle“ Menschen heil und sicher zu existieren.

Doch wir haben lediglich einen Laden für Antiquitäten eröffnet. Wir könnten uns auf östliche oder mittelalterlich-christliche Antiquitäten oder Kunstschätze aus einer anderen Epoche oder Kultur spezialisiert haben, doch trotzdem führen wir nur einen Laden. Bevor wir diesen mit so vielen Dingen vollgestopft haben, war es ein schöner Raum: weißgetünchte Wände, ein ganz schlichter Fußboden mit einer hellbrennenden Lampe an der Decke. Mitten im Raum stand ein einziges Kunstwerk. Jeder, der eintrat, bewunderte seine Schönheit, auch wir selbst.

Doch wir gaben uns damit nicht zufrieden und dachten: „Wenn dieser eine Gegenstand meinen Raum so schön macht, wird er sicher noch schöner wirken, wenn ich mehr Antiquitäten besorge.“ So begannen wir zu sammeln, und das Endergebnis war ein Chaos.

Wir durchforschten die ganze Welt nach schönen Objekten – Indien, Japan, viele verschiedene Länder. Jedesmal, wenn wir ein antikes Stück fanden, hielten wir es für beeindruckend und glaubten, daß seine Schönheit auch in unserem Laden voll zur Geltung kommen werde, denn wir beschäftigten uns zur gleichen Zeit ja immer nur mit einem einzigen Objekt. Doch als wir dieses dann nach Hause brachten und dort aufstellten, wurde es nur ein weiterer Zuwachs unserer Trödelsammlung. Es strahlte keine Schönheit mehr aus, weil es von so vielen anderen herrlichen Dingen umgeben war. Es hatte jegliche Bedeutung verloren. Anstelle eines Raumes voll erlesener Antiquitäten hatten wir einen Ramschladen geschaffen!

Richtiges Einkaufen heißt nicht, eine Menge von schönen oder informativen Dingen anzusammeln, sondern es schließt ein, jedes einzelne Objekt voll und ganz zu würdigen. Das ist sehr wichtig. Wenn wir einen schönen Gegenstand wirklich schätzen, dann identifizieren wir uns völlig damit und vergessen darüber uns selbst. Das ist wie bei einem sehr faszinierenden Film, wenn wir vergessen, daß wir nur Zuschauer sind. In einem solchen Augenblick existiert die Welt nicht mehr, und unser ganzes Sein ist eins mit jener Filmszene. Diese Art von Identifikation bedeutet die vollkommene Versenkung in eine Sache. Haben wir dieses eine Kunstwerk, diese eine spirituelle Lehre tatsächlich in ihrem Geschmack erlebt, sie gründlich gekaut und richtig in uns aufgenommen? Oder haben wir sie lediglich als Teil unserer großen und ständig wachsenden Sammlung betrachtet?

Ich hebe diesen Punkt deshalb so besonders hervor, weil ich weiß, daß wir alle nicht aus dem Grund von den Lehren und der Meditationspraxis angezogen worden sind, um damit viel Geld zu verdienen, sondern weil wir wirklich lernen und uns weiterentwikkeln möchten. Wenn wir Wissen jedoch als eine Antiquität, als „alte Weisheit“ betrachten, die wir sammeln können, dann sind wir auf dem falschen Weg.

Was nun die geistige Übermittlungslinie der Lehrer angeht, so wird das Wissen darin nicht wie ein altes Erbstück weitergereicht. Vielmehr ist es so, daß ein Lehrer die Wahrheit der Lehren selbst erfährt und als Inspiration an seinen Schüler weitergibt. Diese Inspiration bringt den Schüler ebenso zum Erwachen, wie vor ihm sein Lehrer erwacht ist. Der Schüler übermittelt die Lehren einem weiteren Schüler, und so setzt sich dieser Prozeß durch die Zeiten fort. Die Lehren selbst aber sind immer zeitgemäß und keine antiquierte Weisheit oder Legenden aus alter Zeit. Sie werden auch nicht als Informationen weitergegeben, wie Großeltern sie ihren Enkeln in Form von Volkssagen erzählen, sondern es handelt sich dabei immer um eine authentische Erfahrung.

In den tibetischen Schriften steht der folgende Satz: „Wissen muß im Feuer gebrannt, gehämmert und geschmiedet werden wie reines Gold. Dann kann man es als Schmuckstück tragen.“ Wenn wir spirituelle Unterweisung aus den Händen eines anderen empfangen, nehmen wir sie nicht unkritisch entgegen, sondern halten sie ins Feuer, hämmern und schmieden sie, bis die leuchtende, veredelte Farbe des Goldes zum Vorschein kommt. Dann verarbeiten wir es zu einem Schmuckstück nach einem Entwurf, der uns gefällt, und legen es an. Daher ist der Dharma für jedes Alter und jeden Menschen geeignet, denn er trägt eine lebendige Qualität in sich. Es reicht nicht aus, unseren Meister oder Guru nur nachzuahmen; wir sollen nicht versuchen, zu einer Kopie unseres Lehrers zu werden. Die Lehren stellen eine individuelle persönliche Erfahrung dar, die bis zum gegenwärtigen Träger der Übermittlungslinie hinabreicht.

Vielleicht sind viele meiner Leser mit den Geschichten von Naropa und Tilopa, Gampopa und den anderen Lehrern der Kagyü-Übermittlungslinie vertraut. Die Lehren waren eine lebendige Erfahrung für sie, und so verhält es sich auch bei den gegenwärtigen Trägern der Übermittlungslinie. Nur die Einzelheiten ihrer Lebenssituation unterscheiden sich voneinander. Die Lehren haben die Qualität von frisch gebackenem Brot, das noch warm ist. Jeder Bäcker muß das allgemeine Wissen, das er vom Brotbacken besitzt, auf seinen besonderen Teig und Ofen anwenden. Dann muß er selbst die Erfahrung von der Frische dieses Brotes machen, muß es gleich anschneiden und noch warm essen. Er muß sich die Lehre aneignen und sie dann in die Praxis umsetzen. Dies ist ein sehr lebendiger Vorgang, der die Selbsttäuschung ausschließt, einfach nur Wissen ansammeln zu wollen. Wir müssen unsere eigenen individuellen Erfahrungen machen. Wenn wir in Verwirrung geraten, können wir nicht auf unser angehäuftes Wissen zurückgreifen und versuchen, darin Bestätigung oder Trost zu finden, wie etwa: „Der Lehrer und die gesamte Lehre sind auf meiner Seite.“ Der spirituelle Weg verläuft nicht in dieser Richtung. Er ist einsam und ganz und gar individuell.

F: Glauben Sie, daß spiritueller Materialismus in besonderem Maße ein amerikanisches Problem darstellt?

A: Wenn immer Lehren von irgendwoher in ein fremdes Land kommen, verstärkt sich das Problem des spirituellen Materialismus. Ohne Zweifel ist Amerika augenblicklich ein fruchtbarer Boden, der für die Lehren bereit ist. Und weil Amerika so fruchtbar ist und offen für Spiritualität, mögen sich auch Scharlatane davon inspiriert fühlen. Ohne diese Art von Inspiration würden Scharlatane vielleicht eher Bankräuber werden, da es ihnen darum geht, zu Geld zu kommen und berühmt zu werden. Doch weil Amerika so sehr auf der Suche nach Spiritualität ist, wird Religion zu einer bequemen Möglichkeit, Geld zu verdienen und Ansehen zu erlangen. Daher finden wir Scharlatane sowohl in der Rolle des Schüler, Chela, als auch in der Rolle des Guru. Ich halte Amerika zu diesem Zeitpunkt für einen sehr interessanten Boden.

F: Haben Sie einen bestimmten spirituellen Meister als Guru, der heute lebt?

A: Zur Zeit habe ich keinen. Ich habe meine Gurus und Lehrer physisch in Tibet zurückgelassen, doch die Lehren sind mir weiter erhalten geblieben.

F: An wen halten Sie sich denn nun mehr oder weniger?

A: Die Lebenssituationen sind die Stimme, die Präsenz meines Guru.

F: Nachdem Shakyamuni Buddha Erleuchtung fand, blieb da noch irgendein Rest von Ego in ihm zurück, so daß er seine Lehren weitergeben konnte?

A: Das Lehren geschah einfach. Er hatte weder das Verlangen zu lehren noch nicht zu lehren. Er verbrachte sieben Wochen damit, im Schatten eines Baumes zu sitzen und entlang eines Flußufers zu gehen. Dann kam jemand ganz zufällig vorbei, und er begann zu sprechen. Da hat man keine Wahl: Man ist einfach da, ein offener Mensch. Dann bietet sich die Gelegenheit von selbst, und das Lehren geschieht sozusagen. Dies wird als „Buddha-Aktivität“ bezeichnet.

F: Es ist schwierig, im Hinblick auf Spiritualität nicht an Erwerb zu denken. Wird dieser Wunsch, sich in den Besitz von etwas zu bringen, im Laufe des Weges abgelegt werden können?

A: Man sollte den ersten Impuls nicht stark werden lassen. Die erste spontane Regung gegenüber der Spiritualität könnte uns leicht in irgendeine bestimmte spirituelle Szene versetzen. Wenn wir jedoch damit arbeiten, wird dieser Impuls langsam abklingen und in einem gewissen Stadium langweilig und monoton werden. Das ist eine nützliche Botschaft. Das Wesentliche dabei ist nämlich, eine wirkliche Beziehung zu sich selbst, zu der eigenen Erfahrung herzustellen. Wenn das unterbleibt, wird der spirituelle Weg gefährlich und zu einer rein äußerlichen Unterhaltung anstatt zu einem organischen, ganz persönlichen Erleben.

F: Wenn man sich dazu entschließt, einen Weg aus der Unwissenheit heraus zu suchen, läßt sich fast schon mit Sicherheit voraussagen, daß alles, was man dabei als gut empfindet, dem Ego zuträglich sein wird und damit tatsächlich ein Hindernis für den Weg darstellt. Alles, was uns richtig erscheint, wird falsch sein, alles, was uns nicht völlig auf den Kopf stellt, wird uns unter sich begraben. Gibt es denn da irgendeinen Ausweg?

A: Wenn man irgendeine Handlung begeht, die scheinbar richtig ist, so heißt das noch lange nicht, daß sie falsch ist, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die Begriffe von „falsch“ und „richtig“ insgesamt nicht von Belang sind. Man hat weder mit der „guten“ noch mit der „schlechten“ Seite zu tun, sondern mit dem umfassenden Ganzen, jenseits der Gegensätze von „diesem“ und „jenem“. Ich würde dies als vollständiges Handeln, nicht als Teilhandlung bezeichnen, während alles das, was wir in Zusammenhang mit Gut und Böse tun, als eine Teilhandlung erscheint.

F: Wenn man versucht, einen Ausweg aus einer sehr großen Verwirrung zu finden, wird man wahrscheinlich allzu angestrengt dabei vorgehen. Muß man aber nicht annehmen, wenn man es überhaupt nicht versucht, daß man sich selbst zum Narren hält?

A: Ja, doch das heißt nicht, daß man mit den Extremen leben muß, es allzu heftig oder überhaupt nicht zu versuchen. Man muß so etwas wie einen „mittleren Weg“ finden, der völlig dem Zustand entspricht, so zu sein, wie man ist. Wir könnten viele Worte darüber verlieren, doch im Grunde genommen muß man nur handeln. Wenn man wirklich damit zu leben beginnt, wird man diesen Mittelweg auch erkennen und finden. Man muß sich selbst und seiner eigenen Intelligenz vertrauen lernen. Wir haben außergewöhnliche Kräfte und Möglichkeiten, doch wir müssen nur wir selbst sein. Eine Unterstützung von außen hilft uns nicht. Wenn wir nicht dazu bereit sind, innerlich zu wachsen, werden wir in einen selbstzerstörerischen Prozeß geraten. Kein anderer ist daran beteiligt, und weil es sich um Selbst-Zerstörung handelt, ist sie äußerlich wirksam.

F: Was ist Glauben? Ist er von Nutzen?

A: Es gibt einen einfältigen, vertrauensvoll blinden Glauben und ein tiefes, unzerstörbares Vertrauen. Blindem Glauben mangelt es an Inspiration. Er ist sehr naiv und unschöpfersich, wenn auch nicht unbedingt zerstörerisch. Er kann deshalb nicht schöpferisch sein, weil niemals eine wirkliche Kommunikation zu ihm hergestellt worden ist, sondern die ganzen Glaubensinhalte einfach nur ganz naiv und unbesehen hingenommen worden sind.

Glauben, der sich auf Vertrauen gründet, hat jedoch seine Ursache in lebendiger Erfahrung. Man erwartet keine vorgefertigte Problemlösung, die sich auf mysteriöse Weise von selbst einstellt. Man geht mit bestehenden Situationen furchtlos um und zögert nicht, sich darauf einzulassen. Diese Haltung ist äußerst schöpferisch und positiv. Wenn man zweifelsfreies Vertrauen besitzt, ist man seiner selbst so sicher, daß man sich nicht dauernd selbst überwachen muß. Man ist absolutes Vertrauen und damit ein echtes Verständnis für das Geschehen. Man zögert daher auch nicht, andere Wege einzuschlagen oder mit allem umzugehen, was sich jeweils in einer neuen Situation als notwendig erweist.

F: Was leitet uns auf diesem Weg?

A: Eigentlich scheint es dabei keine besondere Führung zu geben. Es wäre sogar verdächtig, wenn uns jemand leiten würde, weil wir uns dann auf eine von außen kommende Kraft verließen. Wenn wir voll und ganz das sind, was unserem eigenen Wesen entspricht, so wird dies uns leiten, doch nicht im Sinne eines Führers, der uns vorangeht und dem wir auf den Fersen folgen müßten. Mit anderen Worten, der Führer geht nicht vor uns her, sondern mit uns zusammen.

F: Könnten Sie etwas mehr darüber sagen, wie Meditation die Schutzmechanismen des Ego kurzschließt und unterbricht?

A: Der Schutzmechanismus des Ego bedeutet eine Kontrolle, die eine überflüssige Form der Selbstbeobachtung darstellt. Meditation beruht nicht darauf, mittels Selbstkontrolle über einen bestimmten Gegenstand zu meditieren, sondern sie bedeutet die völlige Identifikation mit jeglicher Methode, die man anwenden mag. Daher ist es nicht notwendig, sich in der Meditationspraxis um Selbstabsicherung zu bemühen.

F: Ich scheine in einer spirituellen Rumpelkammer zu leben. Wie kann ich daraus einen schlichten Raum mit einem einzigen Kunstwerk machen?

A: Wenn man eine richtige Einschätzung der eigenen Kollektion entwickeln will, muß man bei einem Einzelstück beginnen. Man muß dazu ein Sprungbrett finden, eine Quelle der Inspiration. Vielleicht braucht man die übrigen Gegenstände der Sammlung dann gar nicht mehr durchzugehen, wenn man sich eingehend mit einem von ihnen beschäftigt hat. Es könnte sich dabei um so etwas Belangloses wie um einen Wegweiser handeln, den man irgendwo aufgetrieben hat. Man muß mit einer Sache den Anfang machen, ihre Einfachheit wahrnehmen, die grobe Qualität dieses Plunders oder die Schönheit jener Antiquität. Wenn uns dies mit nur einem einzigen Gegenstand gelingt, dann wäre dies gleichbedeutend mit dem einen Objekt in dem ansonsten leeren Raum. Ich meine, daß es darum geht, ein solches Sprungbrett zu finden. Da wir so viele Besitzstücke angesammelt haben, wissen wir nicht, wo wir anfangen sollen. Wir müssen unseren Instinkt darüber entscheiden lassen, welches Stück wir zuerst aufgreifen sollen.

F: Warum, glauben Sie, wollen die Menschen ihr Ego um jeden Preis schützen? Warum ist es so schwer, das Ego loszulassen?

A: Sie fürchten sich vor der Leerheit des offenen Raumes oder fehlender Gesellschaft, der Abwesenheit eines Schattens. Es könnte eine schreckliche Erfahrung sein, mit nichts und niemanden verbunden zu sein. Allein schon der Gedanke daran kann äußerst beängstigend sein, obwohl er noch nicht einmal das wirkliche Erleben ist. Ganz allgemein ist es eine Furcht vor dem offenen Raum, eine Angst, daß wir keinen festen Boden finden, wenn wir unseren Anker auswerfen, daß wir unsere feste und eindeutige Identität verlieren. Dies könnte sich als sehr bedrohlich erweisen.

Hingabe

An diesem Punkt könnten wir zu dem Schluß gelangt sein, das ganze Spiel des spirituellen Materialismus aufzugeben, das heißt, nicht mehr zu versuchen, uns zu verteidigen und immer besser werden zu wollen. Wir haben vielleicht eine Ahnung von der Nichtigkeit unseres Kampfes bekommen und möchten unsere Anstrengungen der Selbstbewahrung unterlassen, möchten uns hingeben. Doch wie viele von uns sind wirklich in der Lage dazu? Das ist nicht so einfach und leicht, wie wir annehmen könnten. In welchem Maße können wir wirklich loslassen und uns öffnen? An welchem Punkt würden wir wieder zur Verteidigung übergehen?

In diesem Vortrag werden wir uns mit Hingabe beschäftigen, vor allem mit der Verbindung zwischen der Arbeit an unserem neurotischen Geisteszustand und der Arbeit mit einem persönlichen Guru oder Lehrer. Mit der Hingabe an den „Guru“ könnte sowohl die geistige Öffnung für Lebenssituationen als auch gegenüber einem individuellen Lehrer gemeint sein. Wir werden jedoch mit ziemlicher Gewißheit auch einen persönlichen Guru finden, wenn unser äußerer Lebensstil und innere Inspiration auf eine Entfaltung unseres Geistes hinwirken. Deshalb werden wir im folgenden die Beziehung zu einem persönlichen Lehrer besonders hervorheben.

Eine Schwierigkeit bei der Hingabe an den Guru sind unsere vorgefaßten Meinungen ihm gegenüber und die Erwartungen, die wir an ihn stellen. Wir sind vollgestopft mit Ideen darüber, welche Erfahrungen wir am liebsten mit unserem Lehrer machen möchten: „Ich würde gern dieses sehen oder jenes erschiene mir am besten. Ich würde gern diese oder jene bestimmte Situation erleben, denn das fasziniert mich und entspricht genau meinen Erwartungen.“

Wir versuchen also, die Dinge in Schubladen zu stecken und die Situation unseren Erwartungen anzupassen, denn wir wollen von diesem Vorgefühl keinerlei Abstriche machen. Wenn wir auf der Suche nach einem Guru oder Lehrer sind, hoffen wir, einen Heiligen zu finden, der friedlich und still, einfach und doch weise ist. Wenn wir feststellen, daß er unseren Erwartungen nicht entspricht, sind wir enttäuscht und beginnen zu zweifeln.

Damit eine wirkliche Lehrer/Schüler-Beziehung entstehen kann, müssen wir sämtliche vorgefaßten Meinungen darüber aufgeben. Hingabe bedeutet, sich selbst völlig zu öffnen und jegliche Erwartung und Faszination zu überwinden.

Hingabe heißt auch, die groben, schwerfälligen oder schockierenden Eigenschaften des Ego einzugestehen und sie ebenfalls aufzugeben. Im allgemeinen fällt uns das sehr schwer, und obwohl wir uns selbst vielleicht hassen, empfinden wir unseren Selbsthaß zugleich auch als eine Art von Beschäftigung. Trotz dieser Tatsache, daß wir uns selbst nicht so mögen, wie wir sind, und daß wir diese Selbstverurteilung als schmerzhaft erfahren, können wir doch nicht völlig damit Schluß machen. Wenn wir auf unsere Selbstkritik verzichten, könnten wir vielleicht das Gefühl bekommen, keine Aufgabe mehr zu haben, so als würde uns jemand den Job wegnehmen. Wollten wir alles aufgeben, hätten wir keine weitere Beschäftigung mehr und könnten uns an nichts mehr klammern. Selbsteinschätzung und Selbstkritik sind im Grunde genommen neurotische Tendenzen, die aus mangelndem Selbstvertrauen entstehen. „Selbstvertrauen“ ist hier in dem Sinne gemeint, daß wir wissen, was wir sind, und es uns leisten können, uns zu öffnen. Wir können es uns tatsächlich erlauben, auf jene grobe und ungehobelte neurotische Eigenschaft des Ich zu verzichten und uns von Faszination ebenso wie von vorgefaßten Ideen zu befreien.