Dieses Buch berichtet von einer Herrscherfamilie, deren Weg sich rund 400 Jahre lang verfolgen läßt. Im 7. Jahrhundert gelang es den frühesten bekannten Vorfahren Karls des Großen, sich über die gesamte fränkische Führungsschicht zu erheben. Dieser Vormacht verschafften im 8. Jahrhundert Karl Martell, Pippin der Jüngere und Karl selber bis an die Grenzen des merowingischen Frankenreiches und noch weit darüber hinaus Geltung, was 751 zur endgültigen Verdrängung der bisherigen Königsdynastie führte und 800 in der Erneuerung des (westlichen) Kaisertums gipfelte. Das 9. Jahrhundert war bestimmt vom immer mühsameren Bestreben, den Bestand des Großreiches und die Prärogative seines regierenden Hauses trotz der Herrschaftsteilungen, die seit Ludwig dem Frommen unumgänglich wurden, und gegen wachsende äußere Bedrohung zu wahren. Selbst nach Aufgabe dieses Anspruchs, die bei Absetzung und Tod Karls III. (887/88) zutage trat, vermochte sich ein Königtum der Karolinger, nun wieder in Konkurrenz zu anderen Geschlechtern, noch bis ins ausgehende 10. Jahrhundert zunächst im Osten, dann vor allem im Westen des zerbrochenen Reiches zu behaupten.
In allen Phasen erscheint die wechselvolle Entwicklung des regnum Francorum während jener Jahrhunderte engstens verknüpft mit dem Geschick, das der karolingischen Familie widerfuhr. Nicht nur die Gesamtdauer ihrer Herrschaft ergab sich ganz elementar daraus, daß zehnmal beim Tode eines Hausmeiers, Königs oder Kaisers mindestens ein männlicher Erbe bereit stand, der seine Nachfolge durchsetzen konnte; auch alle wichtigen Weichenstellungen zur Konzentration und zur Aufgliederung der Macht hingen davon ab, ob ein einziger Sohn, ob mehrere oder keiner vorhanden waren, ob sich die Sprößlinge verschiedener Eheverbindungen gegeneinander ausspielen ließen, ob Brüder den Vorrang vor ihren Neffen gewannen. Gewiß gab das Gewicht einflußreicher Adelskreise oft genug in solchen Auseinandersetzungen den Ausschlag, doch ändert das nichts an der Grundgegebenheit, denn den Großen bot sich für ihre »Aufstände« und Positionskämpfe stets nur so viel an erfolgversprechenden Optionen, wie der jeweilige Personalbestand des Herrscherhauses an unausgetragenen Divergenzen in sich barg. Zumindest im 8. und im 9. Jahrhundert einte alle Beteiligten der Gedanke des dynastischen Erbrechts, der die Königswürde ausschließlich an einen Mannesstamm band und damit ihre Weitergabe den Wechselfällen des Lebens überließ. Dies war einem Zeitalter gemäß, das sich weit mehr an persönlichen Bindungen als an abstrakten Institutionen zu orientieren pflegte, also eher im jeweiligen König als im Königtum den Angelpunkt der politischen Ordnung erblickte. Kinderlosigkeit oder Kinderreichtum des Monarchen, seine Heiraten oder auch vorzeitige Todesfälle in der nachrückenden Generation wurden folgerichtig zu maßgebenden Determinanten für herrscherliches Handeln, für adlige Loyalität und für die politische Zukunft überhaupt.
Es bietet sich an, diese Zusammenhänge in den Mittelpunkt einer historischen Darstellung zu rücken und unter dem Titel »Die Karolinger« die Geschichte des Frankenreiches in ihrer Abhängigkeit von der Entwicklung seines zweiten Herrscherhauses zu behandeln. Dabei wird sich zeigen, daß diese Familie zwar nicht gerade, wie der französische Historiker Pierre Riché formulierte, »Europa gemacht hat«, aber doch durch ihr ganz privates Auf und Ab den weltgeschichtlichen Vorgang gestaltete, der am Beginn des Mittelalters die christlich gewordenen germanischen und romanischen Völker des Kontinents zu zeitweiliger politischer Einheit geführt und in gewandeltem Profil daraus wieder entlassen hat. Da sich in den Nachfolgereichen bald der Grundsatz der Unteilbarkeit Bahn brach, gibt es kein anschaulicheres historisches Beispiel als die Karolinger, um die ereignisgeschichtliche Dynamik und die verfassungsrechtliche Tragweite des dynastischen Prinzips zu verdeutlichen. Gegenüber dieser vorherrschenden Perspektive werden andere kennzeichnende Züge des Zeitalters in Wirtschaft und Gesellschaft, Kirche und Kultur, Rechts- und Alltagsleben geringere Beachtung finden. Ihre Entwicklung war ohnehin nicht dem Rhythmus der karolingischen Generationenfolge unterworfen und ist zudem in mancherlei Überblicks- und Studienwerken der letzten Zeit nachgezeichnet worden, mit denen das vorliegende Buch von vornherein nicht in Wettstreit treten möchte.
Die Konzentration auf die Dynastie sowie deren Gepflogenheit, ihren Söhnen, teilweise auch ihren Töchtern, immer wieder dieselben exklusiven Namen weiterzugeben, bringen es mit sich, daß der Leser nicht wenige gleichbenannte Personen auseinanderzuhalten hat. Um dies zu erleichtern, sind in der Darstellung die spätestens seit dem 19. Jahrhundert der deutschen Mediävistik geläufigen Beinamen vieler Karolinger beibehalten worden, unabhängig davon, ob die einzelnen Epitheta quellenmäßig hinreichend verbürgt sind oder auch nur dem heutigen Stand wissenschaftlicher Reflexion genügen. Karl »Martell«, Ludwig »der Fromme«, Ludwig »der Deutsche« oder Karl »der Einfältige« sind in ihrer Herkunft geklärte, nachträgliche Bezeichnungen, inzwischen aber auch traditionsbehaftete Verständigungsbegriffe, die eine rasche und zweifelsfreie Identifizierung erlauben. Das ist ihr Vorteil gegenüber der bisweilen vorgeschlagenen Numerierung namensgleicher Herrscher, wofür vor dem Einsetzen regelmäßiger Individualsukzession der eindeutige Bezugsmaßstab fehlt.
Bonn, im Januar 1992 |
Rudolf Schieffer |
Mehr als zwanzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen des Buches habe ich die Gelegenheit der Neuauflage zu etlichen kleineren Veränderungen des Textes genutzt. Sie erstrecken sich auf alle Kapitel und sollen, bei Wahrung der Konzeption im ganzen, Erkenntnissen und Präzisierungen der jüngsten Forschung Rechnung tragen. Die dafür maßgeblichen Arbeiten sind in das Quellen- und Literaturverzeichnis aufgenommen worden, dessen Wachstum gegenüber der 1. Auflage auch ganz allgemein die Regsamkeit der internationalen Beschäftigung mit den Karolingern verdeutlichen mag.
Bonn, im Oktober 2013 |
Rudolf Schieffer |
Die Frage nach der Herkunft der Karolinger ist schon früh aufgetaucht. Bald nach 800, in den Glanzjahren Karls des Großen, entstand vermutlich in Metz eine knappe Aufzeichnung über die Vorfahren des Kaisers, die als »die erste Herrschergenealogie des christlichen Mittelalters überhaupt« gelten darf (O.G. Oexle). Nach dem sprachlichen Muster des Stammbaums Jesu Christi zu Beginn des Neuen Testaments verfolgt der unbekannte Verfasser die männliche Ahnenreihe Karls über mehr als 200 Jahre zurück bis zu einem Anspert »aus dem Geschlecht von Senatoren«, der Blithilt, die Tochter des Frankenkönigs Chlothar, zur Frau genommen und mit ihr vier Kinder gehabt habe: vor den späteren Heiligen Feriolus, Modericus und Tarsicia als Erstgeborenen einen gewissen Arnold (Arnoald), den Vater des Bischofs Arnulf von Metz, von dem dann eine gerade Linie über fünf Generationen bis zu Karl, dem Kaiser, führe.
So oder ähnlich hat man es im weiteren Mittelalter noch häufig wiederholt und ausgeschmückt, doch ist sich die Geschichtsforschung seit langem einig, daß dieser Stammbaum – bis auf den Namen des letztgenannten Arnulf – eine phantasievolle Konstruktion ist, die zur höheren Ehre des regierenden Hauses Versatzstücke aus älteren Schriftquellen nach Belieben verknüpft. Gleichwohl verdient die fiktive Ahnengalerie unser Interesse, denn es ist offenkundig, daß hier die tragenden Fundamente der karolingischen Herrschaft über das Frankenreich beschrieben werden sollen. Schon ein Dichter des mittleren 9. Jahrhunderts hat eigens ausgesprochen, daß in der Ehe des Senators Anspert mit der Königstochter Blithilt der Bund zwischen Roma und Francia sichtbar geworden sei und daß in der Hervorbringung dreier Heiliger die göttliche Begnadung des in Arnold und seinen Kindeskindern fortlebenden Geschlechts zum Ausdruck komme. Vor allem aber bahnt die Metzer Genealogie mit der Kennzeichnung der angeblichen Stammutter Blithilt als Tochter König Chlothars (I., 511–561) eine Vorstellung an, die dann im Verlauf des 9. Jahrhunderts rasch Boden gewann, obwohl sie den historischen Weg der Dynastie gerade nicht geprägt hatte: daß nämlich die Karolinger nicht bloß (seit 751) die Nachfolger der Merowinger im fränkischen Königtum, sondern auch – in weiblicher Linie wenigstens – ihre blutsmäßigen Erben seien. Es war der gelehrte Erzbischof Hinkmar von Reims, der bereits 869 in Metz bei der Krönung Karls des Kahlen diesen Enkel des großen Karl ganz offiziell als »Nachfahren« des Reichsgründers Chlodwig, des ersten getauften Frankenkönigs aus Merowechs Stamm, ausgab, und noch vor dem Ende des Jahrhunderts kündet eine sächsische Dichtung zum Ruhme Kaiser Karls von der Vermischung beider Herrschergeschlechter in verbreiteten »volkstümlichen Liedern« über »die Pippin, Karl, Chlodwig, Theuderich, Karlmann und Chlothar...«
Tatsächlich waren die frühen Ahnen Karls des Großen, soweit wir sehen, keineswegs von königlichem Geblüt, und ihr politischer Aufstieg hat sich auch nicht mit jener Folgerichtigkeit abgespielt, die Beobachter späterer Zeit ohne weiteres darin erblickten. Über die Abkunft Arnulfs von Metz, der das Bindeglied zwischen gesicherter Quellenüberlieferung und nachträglichem Familienmythos darstellt, ist zuverlässig nicht mehr in Erfahrung zu bringen, als was der zeitgenössische Verfasser der Vita sancti Arnulfivermerkt hat, der ihn als »Franke und von genügend erhabenen und edlen Eltern geboren, dazu sehr reich an irdischen Gütern« vorstellt. Sein erstes Auftreten in der fränkischen Reichsgeschichte hat die um 660 abgeschlossene Chronik des sog. Fredegar bei der Schilderung der merowingischen Thronwirren des Jahres 613 mit den Worten festgehalten: »Als Brunichild, die mit den vier Söhnen Theuderichs (ihres verstorbenen Enkels) namens Sigibert, Childebert, Corbus und Merowech in Metz Hof hielt, den Sigibert in das Königtum seines Vaters einsetzen wollte, fiel Chlothar auf Betreiben Arnulfs, Pippins und der übrigen Großen in Auster ein«. Diese eher dürren Auskünfte in Quellen, die noch kaum die spätere Bedeutung der Familie im Blick hatten, erlauben gleichwohl einige wesentliche Schlußfolgerungen.
Zunächst einmal ist deutlich, daß Arnulf, der 613 an führender Stelle den neustrischen Merowinger Chlothar II. (584–629) auf den Plan rief, sein Wirkungsfeld in Austrien hatte, d. h. dem nordöstlichen der drei Teilreiche, in die das regnum Francorum – und zumal der engere fränkische Siedlungsraum zwischen Rhein und Loire, die später sogenannte Francia – im Zuge der Erbauseinandersetzungen unter den Nachfahren Chlodwigs I. († 511) zerfallen war. Im haßerfüllten Streit zwischen der alten Königin Brunichild, der Witwe Sigiberts I. (561–575), die mit ihren Enkeln neben Austrien seit langem auch das südlich gelegene Burgund beherrschte, und ihrem Neffen Chlothar II., dessen Königtum sich bis dahin auf das küstennahe Neustrien im Nordwesten der Francia beschränkt hatte, war es offenbar gerade die Parteinahme Arnulfs, die wesentlich zum Sturz des bestehenden austroburgundischen Regiments und zum Erfolg des neustrischen Rivalen beitrug.
Als Voraussetzung eines derartigen politischen Gewichts betonen die genannten Quellen die vornehme fränkische Abkunft Arnulfs – das in der Vita gebrauchte Wort nobilis war im 6. Jahrhundert noch den römischen Senatorenfamilien Galliens vorbehalten geblieben – und seinen beträchtlichen Reichtum. Aus wenig jüngeren Urkunden ist zu entnehmen, daß die ausgedehnten Besitzungen Arnulfs ihren räumlichen Schwerpunkt zwischen der oberen Mosel und der oberen Maas, also in der Gegend von Metz und Verdun, gehabt haben dürften, sich aber ähnlich wie bei anderen damals führenden Familien nicht allein auf diese eine Landschaft beschränkten. Ererbtes gesellschaftliches Ansehen und handfeste Machtmittel verfehlten nicht ihre Wirkung auf eine Vielzahl anderer Menschen: auf unfreie Dienstleute und abgabenpflichtige Bauern ohnehin, aber auch auf waffenfähige freie Männer, auf weniger begüterte Grundherren, auf Schutzsuchende aller Art in einer gewalttätigen Umwelt. Wer mit einer solchen Klientel im Rücken in der Lage war, sich gegen seinesgleichen, notfalls auch gegen den König und dessen Beauftragte zu behaupten, gehörte zur Spitzenschicht der »Großen« des Merowingerreiches, und sofern dieser Vorrang bereits so gefestigt war, daß er vom Vater auf den Sohn übergehen konnte – was im 7. Jahrhundert klarer zu erkennen ist als im 6. Jahrhundert –, sind wir auch berechtigt, von Adel zu sprechen. Die Monarchie, der als römisches Erbe nur ein spärlicher »Staatsapparat« von eher abnehmender Wirksamkeit zu Gebote stand, war darauf angewiesen, solche regionalen Machthaber für sich einzunehmen, sie mit öffentlichen Ämtern auszustatten und dabei zugleich die Rangfolge unter ihnen durch bedachtsame Gunsterweise zu steuern. Wohl in diesem Sinne ist es aufzufassen, wenn Arnulf seiner Vita zufolge schon früh in der Umgebung des austrischen Königs Theudebert II. (596–612) eine wichtige Rolle spielte und als dessen »Ökonom« (domesticus) die Aufsicht über sechs Amtssprengel (provinciae) geführt haben soll.
Schließlich ist zu vermerken, daß Arnulf 613 die Hinwendung zum neustrischen Herrscher nicht als Einzelner vollzog, sondern an der Spitze einer ganzen Gruppe von anscheinend ähnlich gestellten Großen (proceres), unter denen nur einer namentlich hervorgehoben wird: Pippin. Es ist nicht bezeugt, aber keineswegs auszuschließen, daß auch er mit königlicher Amtsgewalt versehen war; jedenfalls aber verfügte Pippin der Ältere genau wie Arnulf über beträchtlichen Familienbesitz, den die spätere karolingische Hausüberlieferung vornehmlich zwischen dem »Kohlenwald« (südlich und östlich des heutigen Brüssel) und der mittleren Maas lokalisiert. Der erst im Hochmittelalter ausdrücklich mit dem frühesten Pippin in Verbindung gebrachte alte Ort Landen (etwa halbwegs zwischen Brüssel und Lüttich) könnte durchaus zu seinen Gütern gehört haben. Jedenfalls wird unschwer begreiflich, daß ein politisches Zusammengehen beider Männer, gewissermaßen eine Koalition über die Ardennen hinweg, noch dazu verstärkt durch weitere Große, die austrischen Kräfte in bedeutendem Umfang bündelte und im Ringen der verfeindeten Merowinger den Ausschlag zu geben vermochte, wodurch Brunichild und ihre Urenkel binnen kurzem ein schreckliches Ende fanden. Es ist für die folgende Entwicklung wichtig, daß sich Arnulf, Pippin und ihr Anhang 613 als Repräsentanten Austriens und seines Adels empfunden und durchgesetzt hatten.
Umgekehrt formuliert, waren sie gewiß nicht gegen Brunichilds Dauerherrschaft aufgestanden, um einer neuen starken Zentralgewalt des Neustriers Chlothar II. den Weg zu bereiten. Vielmehr dürften sie sich auch weiterhin bestimmenden Einfluß auf den Gang der Dinge zumindest in ihrem Teilreich ausbedungen haben. Das viel erörterte Edikt, das der König 614 von seiner Residenz Paris aus erließ, ist demgemäß in wesentlichen Bestimmungen als »Garantie gegen eine Überfremdung durch neustrische Gefolgsleute Chlothars« (E. Ewig) gedeutet worden. Eine grundsätzliche Entscheidung lag ferner darin, daß allen drei Teilreichen ein gesonderter Hausmeier (maior domus) belassen wurde; dieses Amt, das als eine Art von »Haushaltungsvorstand« mit umfassenden administrativen Kompetenzen an den merowingischen Königshöfen des 6. Jahrhunderts in den Vordergrund gerückt war, bezeichnete ursprünglich eine persönliche Vertrauensstellung beim jeweiligen Herrscher und wurde nun zum Ausweis der politischen Vormacht innerhalb der Teilreiche, auch gegenüber der Monarchie.
Insofern verdient es Beachtung, daß die austrische Hausmeierwürde in den ersten Jahren nach 613 weder Arnulf noch Pippin zufiel, sondern zunächst im Besitz eines Rado und später (617/18) eines Chucus (Hugo) gewesen ist. Dies allein macht bereits deutlich, daß Chlothar II. auch auf andere Adelskreise in Auster Rücksicht zu nehmen hatte und daß die Rivalität untereinander bei den Großen nicht weniger Energien geweckt haben wird als das Streben nach Mitsprache beim König. Wenn Arnulf dabei seit 614 als Bischof von Metz in Erscheinung trat, so ist dies allerdings kaum als Zurücksetzung zu werten, denn das Bischofsamt war im Merowingerreich mit vielerlei hoheitlichen Funktionen und großem öffentlichen Ansehen verbunden; es war – zumal an den Residenzorten des Hofes – nicht ohne das Zutun der Könige zu erlangen und verschaffte fühlbaren politischen Einfluß. Die erwähnte Vita Arnulfiberichtet denn auch unumwunden von der »häufigen Anwesenheit am Hof«, durch die sich der Metzer Bischof bei Chlothar II. schier unentbehrlich gemacht habe. Im Unterschied dazu vernehmen wir über Pippin den Älteren zehn Jahre lang nichts, bis es 623 zu einer Umgestaltung der Herrschaftsverhältnisse in Auster kam. Damals erhob nämlich Chlothar seinen etwa 15jährigen Sohn Dagobert (I.) zum (Unter-)König und wies ihm ein Gebiet zwischen Vogesen, Ardennen, Kohlenwald und Rhein als Machtbereich zu. Die Beweggründe für diese (bis dahin unübliche) Regelung sind nicht überliefert, doch mögen die praktischen Schwierigkeiten, das ganze Frankenreich von einer Zentrale aus zu beherrschen, ebenso eine Rolle gespielt haben wie der Wunsch der Austrier, ihre Eigenart durch die ständige Präsenz eines Königs im Lande betont zu sehen. Manches spricht dafür, daß Arnulf und Pippin maßgeblich – und vielleicht in Auseinandersetzung mit anderen politischen Konzepten – auf eine solche räumliche Verselbständigung Dagoberts hingewirkt haben, denn sie selber waren fürs erste die eigentlichen Nutznießer der neuen Ordnung. Der Metzer Bischof fungierte fortan als »Erzieher« des jungen Königs und Pippin als sein erster »Berater«, spätestens ab 624/25 auch förmlich mit dem Titel eines Hausmeiers.
Erst damit waren die beiden unzweifelhaft an die Spitze des selbstbewußten austrischen Adels gerückt, doch wird man gut daran tun, die Stärke ihrer Stellung auch weiterhin nicht zu überschätzen. Schon das folgende Jahr (624/25) brachte eine blutige Abrechnung mit einem anderen, vielleicht gar den Merowingern verschwägerten Großen namens Chrodoald, der als »überaus reich ... und voller Hochmut« geschildert wird und »auf Betreiben Arnulfs, Pippins und anderer« in Trier umgebracht wurde; daß er in der Fredegar-Chronik ausdrücklich »dem edlen Geschlecht der Agilolfinger« zugerechnet wird, kann als wertvolles Indiz dafür genommen werden, wie weit eine Aversion zwischen der schon im 6. Jahrhundert königsgleichen bayerischen Herzogsdynastie und den nun erst in den Vordergrund tretenden Arnulfingern/Pippiniden zeitlich zurückreicht. Der Metzer Bischof, wiederum im Verband mit weiteren Großen, tat noch ein übriges, indem er 625 die Heirat des jungen Dagobert zum Anlaß nahm, um dem königlichen Vater Chlothar eine Ausweitung von Dagoberts Unterherrschaft – und damit zugleich des Einflußbereichs seiner führenden Berater – auf das gesamte Austrien (zwischen Champagne und Rhein) abzunötigen.
Dabei blieb es indes nicht lange, denn wenige Jahre später, noch vor Chlothars II. Tod, faßte Arnulf den Entschluß, sich aus der Politik zurückzuziehen. Womöglich nicht ganz freiwillig und jedenfalls nicht ohne seine beiden Söhne (aus vorbischöflicher Zeit) namens Chlodulf und Ansegisel am austrischen Hof eingeführt zu haben, legte er die Leitung der Kirche von Metz nieder und folgte seinem Freund Romarich in die Einöde der Vogesen, wo dieser den Aufbau des später nach ihm benannten Klosters Remiremont betrieb. Unverkennbar ging eben damals vom monastischen Leben, zumal in seiner durch den Iren Columban († 615) erneuerten Form, eine eigentümliche Faszination auf die Adelsgesellschaft des Frankenreiches und nicht zuletzt auf die Vorfahren der Karolinger aus, unter denen auch Arnulfs »Blutsverwandter« (Halbbruder?) Bertulf als gleichzeitiger Abt in Columbans norditalischem Grabkloster Bobbio zu erwähnen ist. Die fromme Verehrung, die solchen wundertätigen Asketen und Einsiedlern schon zu Lebzeiten entgegengebracht wurde, und die machtvolle Fürsprache am Throne Gottes, die man nach dem Tode von ihnen erwartete, waren nach den Begriffen der Zeit sehr dazu angetan, auch das Ansehen der in der Welt verbliebenen Familienangehörigen und Nachfahren zu mehren. So konnte es nicht ausbleiben, daß der Glanz des »Hausheiligen« Arnulf, der um 640 in Remiremont starb und bald danach in die Metzer Apostelkirche (später St. Arnulf) überführt wurde, auf alle nachfolgenden Generationen der Karolinger ausstrahlte.
Auch der Hausmeier Pippin vermochte seinen bestimmenden Einfluß nicht auf Dauer zu behaupten. Nachdem ihm zunächst an Arnulfs Statt der Bischof Kunibert von Köln als geistlicher Ratgeber König Dagoberts zur Seite getreten war, entfiel 629 durch den Tod Chlothars II. überhaupt das austrische Sonderkönigtum, auf das sich Pippin gestützt hatte. Dagobert I., der das Erbe des Vaters im Gesamtreich antrat und nach Neustrien ging, wandte sich dort anderen Kreisen zu, verstieß die angetraute Gattin zugunsten seiner Magd Nanthild und hörte dem sog. Fredegar zufolge auf, den Rat Pippins zu befolgen, dem er zeitweise einen Aufenthalt in Orléans anwies. Dessen »politische Kaltstellung« (M. Werner) wird daran sichtbar, daß in den 630er Jahren die großen Entscheidungen ohne Pippins Beteiligung fielen, als es darum ging, vornehmlich mit Blick auf militärische Gefahren rechts des Rheins die austrische Unterherrschaft zu erneuern, diesmal für Dagoberts minderjährigen Sohn Sigibert (III.), und zu faktischen Regenten neben Bischof Kunibert den Herzog (dux) Adalgisel aus einer weiteren, gewiß vornehmen Familie Austriens zu bestellen, schließlich, nach der Geburt eines zweiten Königssohnes namens Chlodwig (II.), auch über Dagoberts Tod hinaus ein Nebeneinander von austrischer und neustrischer Monarchie ins Auge zu fassen.
Allerdings fällt auf, daß während all dieser Jahre kein neuer Hausmeier für Austrien in den Quellen auftaucht, also Pippins Anspruch auf eine führende politische Rolle zumindest theoretisch gewahrt blieb. Auch die Verheiratung seiner Tochter Begga mit Arnulfs Sohn Ansegisel, die in jene Zeit fallen muß und die beiden Familien der Arnulfinger und der Pippiniden dauerhaft miteinander verband, spricht gegen die Vorstellung, der Hausmeier könnte den Kampf um die Macht bereits verloren gegeben haben. Seine Stunde schlug erneut, als König Dagobert Anfang 638 oder 639 mit rund 30 Jahren starb, lange bevor seine beiden Söhne zu regierungsfähigem Alter herangewachsen waren. Anschaulich wird in der Fredegar-Chronik geschildert, wie Pippin sogleich den Umschwung zu seinen Gunsten in Auster herbeiführte: »... mit Kunibert beschloß er, wie es einst gewesen, so für immer das Band der gegenseitigen Freundschaft fest zu bewahren und dazu die Freundschaft aller gemeinsamen Anhänger unter den Austriern auf ewig an sich zu binden, indem er ihnen klug und freundlich entgegentrat und sie milde regierte. Durch Gesandte wurde der gebührende Anteil Sigiberts an den Schätzen des Dagobert von der Königin Nanthild und dem König Chlodwig (von Neuster) abverlangt und zur Übergabe ein Gerichtstag anberaumt«. Man sieht, daß Pippins politisches Gewicht wesentlich von der Unterstützung durch eine Vielzahl maßgeblicher Standesgenossen in Auster getragen war und nun eingesetzt wurde, um im Namen des etwa zehnjährigen Königs Sigibert die Belange der Austrier gegenüber dem neustrischen Hof von dessen vielleicht fünfjährigem Bruder Chlodwig zu reklamieren. Die Könige kamen dabei gar nicht selbst zu Wort, sie erscheinen eher in der Rolle eines Aushängeschilds oder Faustpfands, dessen sich die rivalisierenden Großen im Machtkampf bedienten, und dies sollte fortan auch so bleiben, denn nach Dagoberts I. Tod ist kein Merowinger mehr auf längere Frist zu eigenständiger Regierung gelangt.
Der Hausmeier Pippin der Ältere hat freilich die Früchte der so angebahnten Entwicklung nicht mehr ernten können, denn er starb bald nach seinem letzten Triumph, wohl im Jahre 640 und angeblich von allen Austriern betrauert »wegen seiner Liebe zur Gerechtigkeit und seiner Güte«. Seine Witwe Itta (Iduberga), aus nicht näher bestimmbarem Adelsgeschlecht, tritt erst nach Pippins Tod deutlicher in den Quellen in Erscheinung, und zwar als Klostergründerin. Nach Art mancher vornehmer Damen der Zeit schuf sie sich gemeinsam mit ihrer jüngeren Tochter Gertrud einen geistlichen Alterssitz in Nivelles am Kohlenwald (südlich von Brüssel) und stattete ihn reich mit Familiengut aus. Bei der Einrichtung des Nonnenkonvents beriet sie der aus Aquitanien stammende Missionsbischof Amandus, der (ganz ähnlich wie Arnulfs Gefährte Romarich) enge Beziehungen zum columbanischen, also iro-fränkischen Mönchtum hatte. Wenig später rief Itta sogar noch ein zweites Kloster weiter südlich in Fosses (bei Namur) ins Leben, das ausschließlich von Iren besiedelt wurde. Hier wie vor allem in Nivelles, wo sie 652 starb und beigesetzt wurde, wird die Gründung von dem Wunsch bestimmt gewesen sein, einen Ort beständigen Gebets für sich und ihre Angehörigen zu gewinnen, dazu ein allseits respektiertes Zentrum pippinidischer Macht und Größe, womöglich auch ein Refugium in Tagen des Unglücks. Wie sehr ein solches Kloster in den Rahmen adliger Familienherrschaft eingebettet war, ist schon daran abzulesen, daß Gertrud der Mutter nahtlos in der Leitung von Nivelles nachfolgte – sie sollte eine im Mittelalter weithin verehrte Heilige werden – und daß auch nach ihrem Tode (659) die Würde der Äbtissin gleichsam im Erbgang auf Gertruds Nichte Wulfetrud, die Tochter ihres Bruders Grimoald, überging.
Auf dem zuletzt genannten Grimoald dem Älteren, dem einzigen Sohn des Hausmeiers Pippin und seiner Gemahlin Itta, ruhten ab 639 die politischen Hoffnungen des Hauses. Daß er sogleich den Anspruch auf die eben erst zurückgewonnene austrische Machtstellung seines Vaters erheben und schließlich auch durchsetzen konnte, zeigt deutlich den Sog des dynastischen Denkens, in den das Hausmeieramt inzwischen geraten war. Zwar hatte Grimoald 641 zunächst noch als dux und gemeinsam mit dem seit den 630er Jahren führenden dux Adalgisel einen Feldzug des halbwüchsigen Königs Sigibert gegen den Thüringer-Herzog (dux) Radulf zu bestehen, an dessen Seite der Agilolfinger Fara, Sohn des früher umgebrachten Chrodoald, fiel, ohne daß Radulf unter die Botmäßigkeit der Austrier gebracht werden konnte, doch als dann 642/43 Grimoalds schärfster Konkurrent am austrischen Hof, der »übermütige und ehrgeizige« Königserzieher Otto, durch den Alemannen-Herzog Leuthar getötet worden war, gab es kein Hindernis mehr: Der Sohn Pippins wurde »Hausmeier im Palast Sigiberts und im ganzen Reich der Austrier«. Zwei Urkunden der folgenden Jahre, wiederum eine Klostergründung betreffend, geben Aufschluß über die seitherige Kräfteverteilung. 647/48 wurde die Güterausstattung von Cugnon am Südrand der Ardennen von Sigibert III. »auf den Rat der Bischöfe von Köln, Trier und Metz sowie der Großen Grimoald, Bobo und Adalgisel« vorgenommen, und ebenso standen Kunibert von Köln und der Hausmeier Grimoald 648/50 bei der Verlagerung dieser Neugründung an ihren endgültigen Standort Stablo-Malmedy (in den nördlichen Ardennen) an der Spitze einer urkundlichen Namensliste von vier Bischöfen und neun weltlichen Großen, unter denen wir auch Grimoalds Schwager Ansegisel und dessen Bruder Chlodulf, also die Söhne Arnulfs von Metz, als königliche domestici wiederfinden. Noch weitere Indizien sprechen dafür, in dem Hausmeier »die eigentlich treibende Kraft« (Th. Kölzer) bei der Gründung zu sehen, die Grimoald überdies durch Übertragung an den Abt Remaklus aus Solignac (bei Limoges) an das irofränkische Mönchtum Innergalliens anzuschließen suchte. Wie sehr seine Kirchenpolitik zugleich die Familieninteressen im Auge hatte, zeigt sich auch daran, daß 648/49 der Aquitanier Amandus, mit Pippins Witwe Itta durch die Gründung von Nivelles verbunden, als Landfremder zum Diözesanbischof in Maastricht gemacht werden konnte und daß um 654/55 der domesticus Chlodulf den einstigen bischöflichen Stuhl seines Vaters Arnulf in der austrischen Residenzstadt Metz bestieg.
Offensichtlich verstand es Grimoald, die Regierung Austriens ganz mit eigener Hand zu führen, selbst nachdem König Sigibert III. um 645 das Mündigkeitsalter von 15 Jahren erreicht hatte. Dieser Zustand scheint den Hausmeier allmählich zu dem kühnen Plan beflügelt zu haben, seiner Familie auch in aller Form die königliche Würde zu verschaffen. Dabei dachte er keineswegs daran, das Geschlecht der Merowinger vom fränkischen Thron zu stoßen, den es seit Chlodwigs Zeiten inzwischen in sechster Generation exklusiv innehatte, sondern er wollte die herrschende Dynastie ganz friedlich beerben. Da das Unterfangen Jahre später in einem Fiasko geendet ist, hat die karolingerzeitliche Quellenüberlieferung einen dichten Schleier des Geheimnisses darüber gebreitet und mitunter glatt bestritten, daß Grimoald der Ältere überhaupt einen Sohn gehabt hat. Tatsächlich trug der junge Mann den Königsnamen Childebert, anscheinend weil er über die Mutter merowingische Vorfahren hatte, und wurde von Sigibert III. adoptiert, bevor dieser wider Erwarten einen eigenen Sohn namens Dagobert (II.) bekam. Nach Sigiberts Tod (653) nahm der Hausmeier die Nachfolge des etwa zweijährigen Dagobert zunächst hin, nutzte aber 657 seinen Rückhalt bei den Austriern, um den Jungen durch Bischof Dido (Desiderius) von Poitiers nach Irland in ein Kloster entführen zu lassen und den eigenen Sohn als König Childebert III. an dessen Stelle zu setzen.
Das »Buch der Frankengeschichte«, eine neustrische Quelle der Zeit um 727 wohl aus Soissons, die als einzige über den Staatsstreich berichtet, fügt sogleich an, »die Franken« seien darüber sehr entrüstet gewesen. Jedenfalls gedachte Sigiberts Bruder, der neustrische Merowinger Chlodwig II., der mit der früheren Sklavin Balthild verheiratet war und immerhin drei kleine Söhne hatte, Grimoalds ehrgeiziges Vorgehen nicht hinzunehmen und benannte seinen Ältesten, Chlothar III., zum (Gegen-)König, der jedoch höchstens in Teilen Austriens Anerkennung fand. Erst 659 trat eine Wende ein, als es den Neustriern gelang, Grimoald in einen Hinterhalt zu locken und zu ergreifen; in Paris wurde er zur Strafe für den Frevel an seinem Herrn getötet. Aber auch ohne den mächtigen Vater behauptete sich Childebert noch eine Weile, denn gemäß einer zufällig überkommenen Urkunde, die eine Datierung nach seinem 6. Königsjahr aufweist, scheint seine Herrschaft in Austrien zumindest bis ins Jahr 661 gedauert zu haben. Ob er eines natürlichen Todes gestorben oder gegnerischer Gewalt zum Opfer gefallen ist, wissen wir nicht.
Sein Tod ohne Erben bedeutete, daß der Mannesstamm der Pippiniden bereits in der dritten Generation aus der fränkischen Geschichte verschwand. Die Neustrier unter der Führung ihres Hausmeiers Ebroin und der Königin Balthild, der Witwe des 659 verstorbenen Chlodwig II., die im Namen des heranwachsenden Chlothar III. regierten, ignorierten die Rechte des nach Irland verbrachten Dagobert und schickten 662 Childerich II., den jüngsten Bruder des eigenen Königs nach Austrien, wo inzwischen die mit Grimoald verfeindeten Adelskreise den Ton angaben. An der Seite von Sigiberts Witwe Chimnechild wurde der dux Wulfoald mit Rückhalt an den Neustriern zur bestimmenden Figur dieser Jahre; auf seine Wirksamkeit dürfte es sich beziehen, wenn die Klosterüberlieferung von Nivelles zu vermelden weiß, »Könige, Königinnen und selbst Bischöfe« hätten die Äbtissin Wulfetrud († 669), Grimoalds Tochter, »aus Haß gegen ihren Vater von ihrem Amt durch Überredung und schließlich mit Gewalt entfernen wollen«. Auch auf dem Bischofsstuhl in Maastricht kam um 670 mit dem einheimischen Lambert offenbar ein Gegner der Pippiniden zum Zuge, und die Doppelabtei Stablo-Malmedy mußte damals eine Königsurkunde entgegennehmen, in der Grimoalds Gründungsinitiative völlig außer acht gelassen und die Ausstattung mit Waldungen in den Ardennen ausdrücklich um die Hälfte vermindert wurde. Maßgeblich beteiligt war dabei ein dux Gundoin, der sehr wahrscheinlich gleichzusetzen ist mit jenem Gundewin, der einige Zeit nach 662 Grimoalds Schwager, den domesticus Ansegisel, erschlug. Da auch Bischof Chlodulf von Metz, der andere Sohn Arnulfs, bald nach 670 gestorben sein dürfte und anscheinend von seinem Sohn Aunulf nicht lange überlebt wurde, verblieben aus Arnulfs und Pippins Geschlecht allein Begga, die Witwe Ansegisels, und ihr Sohn, der um 640/50 geborene Pippin der Mittlere.
Wie es beiden gelungen ist, sich während der kritischen 660er und 670er Jahre ihrer zahlreichen Widersacher zu erwehren, Besitzungen und bewaffnete Anhängerschaft trotz aller Einbußen als entscheidendes politisches Kapital im Kern zu behaupten und obendrein die Erinnerung an machtvolle Taten der Vorväter an der Spitze der Austrier wach zu halten, ist nirgends überliefert. Bezeichnenderweise ließ Begga nach dem Tode ihres Gemahls mehrere Jahrzehnte verstreichen, bevor sie um 691 (d.h. erst nach dem Sieg ihres Sohnes) die für eine hochadlige Matrone geradezu standesgemäße Klostergründung in Andenne an der Maas vornahm, die ihr in späterer Zeit den Rang einer Heiligen eintrug. Vorerst jedoch mußten Pippin und sie ziemlich ohnmächtig mitansehen, wie die Entwicklung des Frankenreiches über ihr Haus hinwegzugehen schien. Im Zentrum des wechselvollen Geschehens stand der neustrische Hausmeier Ebroin, der sein Machtwort in allen drei Teilreichen zur Geltung brachte und auch von den jugendlichen Merowingerkönigen allenfalls zeitweilig beiseite zu schieben war. Immerhin scheint der bisweilen blutig unterdrückte Widerstand geistlicher und weltlicher Großer am heftigsten in Auster gewesen zu sein, und dort begann sich auch das Blatt zu wenden, als Childerich II., mittlerweile König des Gesamtreiches, 675 ermordet wurde und sein Hausmeier Wulfoald wenig später starb. Gegen den Versuch des daraufhin aus Klosterhaft entwichenen Ebroin, im Namen des verbliebenen Merowingers Theuderich III. (673/75–690/91) von Neustrien her sein Regiment zu erneuern, trat nun der halbvergessene Vetter Dagobert II. auf, aus seinem langjährigen irischen Exil hervorgeholt von austrischen Kreisen, unter denen auch Pippin zu vermuten ist. Jedenfalls gilt im »Buch der Frankengeschichte« Wulfoalds und »der Könige« Tod als Voraussetzung dafür, daß ein gewisser dux Martin und eben Pippin, der Sohn Ansegisels, bei den Austriern die Oberhand gewannen und mit einem großen Heer gegen Theuderich und seinen Hausmeier Ebroin zogen.
Anderthalb Jahrzehnte nach dem schmählichen Scheitern Grimoalds und seines Königsplans stand also der Neffe Pippin wieder in vorderster Linie. Das völlige Schweigen der Quellen über die Hintergründe dieser erstaunlichen und höchst folgenreichen Entwicklung hat unter den Historikern manche Bemühungen ausgelöst, wenigstens indirekt näheren Aufschluß zu gewinnen. Dabei richtet sich das Augenmerk vor allem auf die Tatsache, daß gerade in die dunkelsten Jahre um 670 Pippins Heirat mit Plektrud, der Tochter Hugoberts, fallen muß, die in den folgenden Jahrzehnten eine recht bedeutende Rolle im Frankenreich spielen sollte. Daß sie einer vornehmen austrischen Familie entstammte, darf man ohne weiteres unterstellen, doch scheint es, daß sich dieser Eindruck, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit, genealogisch präzisieren läßt. Demnach wäre Plektruds Mutter Irmina gewesen, die als Witwe Äbtissin des Nonnenklosters Oeren bei Trier und Stifterin des Mönchsklosters Echternach an der Sauer wurde und außer Plektrud eine weitere Tochter namens Adela hatte, die Gründerin und erste Äbtissin des Klosters Pfalzel bei Trier. Zusammen mit einigen weiteren Verwandten, die auf diesem Wege erschlossen werden können, zeichnet sich hier das Bild eines hochbedeutenden Adelsgeschlechts ab, dessen Macht sich von der mittleren Mosel über die Eifel bis an den Niederrhein nördlich von Köln erstreckte und in dieser Weiträumigkeit den Arnulfingern/Pippiniden kaum nachstand. Wenn sich Pippin, der Erbe der vorerst ausgeschalteten Hausmeierdynastie, um 670 mit einer derartigen Familie verschwägert haben sollte, die zudem in Plektruds Generation keinen eigenen Stammhalter mehr hervorgebracht zu haben scheint, dürfte ihm ein Potential zugewachsen sein, das die Verluste an der Hinterlassenschaft der beiden Großväter mehr als aufwog und ihm gestattete, im Kreise der austrischen Führungsschicht wieder einen vorrangigen Platz zu beanspruchen. Zugleich würde diese Kombination Plektruds besonderen Rang an der Seite Pippins verständlich machen. Wie dem auch sei: Sicher ist, daß die späteren Karolinger an den Wiederaufstieg unter Pippin dem Mittleren eine konkretere Erinnerung hatten als an die Ursprünge ihrer Dynastie um die Wende zum 7. Jahrhundert. Als Pippins »normensetzende Tat« (K. Hauck) galt nicht seine einträgliche Heirat, sondern der rächende Totschlag an Gundewin, dem Mörder seines Vaters Ansegisel. Um 800 wurde dies ausdrücklich mit Davids Sieg über den Riesen Goliath verglichen – für jenen der Anfang seines Weges zum Königtum – und zeitlich an die Spitze der gesamten Familienüberlieferung gerückt. Pippin sollte demnach bereits als ganz junger Mann den übermächtigen Gegner niedergestreckt und sogleich dessen Schätze unter seine Getreuen verteilt haben; daraufhin hätten sich »Stärke und Erfolg« (virtus atque victoria) Pippins weit herumgesprochen, und die Vornehmsten der Franken, die durch Pippins Vater Ansegisel zu ihren Ämtern gekommen waren, hätten sich mit ihrem Gefolge ihm angeschlossen. So sei Pippin zur »Führung bei den östlichen Franken« (orientalium Francorum principatus) gelangt, heißt es zugespitzt in den sog. Metzer Annalen, die damit immerhin den Mechanismus der Gefolgschaftsbildung treffend wiedergeben.
Das rühmende Andenken an eine geglückte Blutrache, die tatsächlich wohl nicht mehr war als eine Episode in den austrischen Adelsfehden jener Jahrzehnte, überdeckte später die wichtigere Tatsache, daß Pippin bei seinem Aufstieg ab 675 keineswegs vom Erfolg verwöhnt war und sehr leicht vom Strudel der Machtkämpfe hätte hinweggespült werden können. Der Feldzug, den er noch gemeinsam mit dem Gefährten Martin (trotz mancher Mutmaßung wohl keinem seiner Verwandten) zwischen 675 und 679 gegen den Hausmeier Ebroin anführte, endete nämlich nach schwerem Ringen bei Lucofao (in der Nähe von Laon) mit einem Sieg der Neustrier, der Martins Tod zur Folge hatte, während Pippin sein Heil in der Flucht suchte. Einen weiteren argen Rückschlag muß für ihn die Ermordung »seines« Königs Dagobert II. Ende 679 bedeutet haben. In dieser prekären Lage rettete ihn zunächst nur, daß auch Ebroin kurz danach (680) der Bluttat eines Neustriers anheimfiel und der neue Hausmeier Waratto bereit war, gegen die Stellung von Geiseln Pippins Vormacht in Auster hinzunehmen. Doch schon bald wurde Waratto von seinem aggressiveren Sohn Gislemar verdrängt, der mit Waffengewalt 681/83 gegen Pippin vorging; Namur und Köln werden dabei als dessen Stützpunkte genannt, die jedoch nicht verhindern konnten, daß er abermals den kürzeren zog. Gislemar vermochte den Erfolg indes nicht zu nutzen, weil er plötzlich starb, worauf sein Vater Waratto wieder ins Hausmeieramt zurückkehrte und seine ausgleichende Politik fortsetzte. Eine Verschiebung der Gewichte trat erst ein, als nach Warattos Tod (686) dessen Schwiegersohn Berchar Hausmeier wurde, denn dieser Mann hatte offenbar von vornherein mächtige Gegner im neustrischen Adel, die sich nun mit Pippin verschworen und ihn zum Eingreifen ermunterten. Bei Tertry (an der Somme) errang er im Jahre 687 den entscheidenden Sieg über die Neustrier unter Berchar und König Theuderich III. Damit konnte Pippin seine politische Vormacht in Auster endgültig festigen und zugleich den Weg zu deren formaler Legalisierung ebnen. Denn nach dem baldigen Ende Berchars hinderte ihn nichts mehr, seine Autorität vollends auch auf Neustrien auszudehnen, und er »nahm König Theuderich samt seinen Schätzen bei sich auf«, wie der Fortsetzer der Fredegar-Chronik Jahrzehnte später in stolzer Pointierung die Tatsache umschrieb, daß Pippin fortan den bestimmenden Einfluß auf den Merowinger und das gesamte Frankenreich besaß.
Der blutige Tag von Tertry (687) sah an sich nur einen der zahlreichen Zusammenstöße unter den verfeindeten Großen des späten Merowingerreiches. Erst in der Rückschau wurde er für frühkarolingische Annalisten ebenso wie für moderne Historiker zur geschichtlichen Wendemarke, weil von da an Pippins Geschlecht genau 200 Jahre lang allein die politische Führung des Frankenreiches innehatte und noch ein weiteres Jahrhundert verging, bis die Karolinger ganz von der historischen Bühne verschwanden.
Vor 687 war das austrische Teilreich der Rahmen gewesen, in dem sich Arnulf, Pippin, Grimoald, Ansegisel und abermals Pippin zunächst an der Zurückdrängung der Königsgewalt und später am Machtkampf mit ihresgleichen beteiligt hatten. Die Frage ist kaum bündig zu beantworten, was letztlich für ihren Erfolg den Ausschlag gab. Sicher war wichtig, daß in der Hand Pippins des Mittleren endgültig das Potential zweier mächtiger Familien zusammenkam: Die späteren Karolinger waren im Mannesstamm Arnulfinger, ihrem Selbstbewußtsein nach (das sich etwa an der Namengebung ablesen läßt) aber mehr noch Nachfahren der Pippiniden, die im 7. Jahrhundert die insgesamt bedeutendere politische Rolle gespielt hatten. Die Zusammenballung von Besitzungen und Anhängern in den zentralen Bereichen Austriens zwischen Maas, Mosel und Rhein begünstigte gewiß den wiederholten Anspruch der Familie, innerhalb des Merowingerreiches mit traditionellem Schwerpunkt an Seine, Oise und Schelde als Sachwalter von ganz Austrien aufzutreten. Ohne eine bereits eingewurzelte Loyalität vieler austrischer Großer gegenüber seinem Hause ist der Aufstieg Pippins des Mittleren seit etwa 675 nicht zu erklären. Dennoch muß durchaus angenommen werden, daß auch andere Familien mit vergleichbarer Ausgangsposition beim Niedergang der merowingischen Monarchie im 7. Jahrhundert in das Ringen um die Macht eintraten. An den Gefährdungen und Rückschlägen Pippins und seiner Vorfahren kann man ablesen, daß außer politischem Instinkt und persönlicher Verschlagenheit auch die Kontinuität der Sohnesfolge und schließlich blanke Zufälle über Sein oder Nichtsein entschieden. Jedenfalls spricht nichts für die Vorstellung, die frühen Ahnen Karls des Großen hätten ihre Überlegenheit spezifischen politischen Konzepten zu verdanken gehabt.
Daher ist vielleicht mehr darauf zu achten, wie es Pippin gelang, das Glücksrad, das sich zuletzt immer schneller gedreht hatte, in dem Moment anzuhalten, da er selbst ganz oben stand. Zu den Lektionen, die er aus der Vergangenheit gelernt hatte, gehörte offensichtlich, mit welchen unwägbaren Risiken der Griff nach dem Königtum verbunden war. Indem er sich dafür entschied, zwar die ausschlaggebende Machtstellung im Gesamtreich sich und seiner Familie zu reservieren, aber das merowingische Königtum als ehrwürdige Institution und legitimierenden Rückhalt nicht anzutasten, zeichnete er die staatsrechtliche Linie der nächsten Jahrzehnte vor. Daß er die Regierung wenigstens theoretisch nur im Namen des Königs führte, erleichterte sicherlich seinen Umgang mit den anderen Familien von höchstem Adel und – eng damit verknüpft – sein Bemühen um die allmähliche Stärkung der Zentralgewalt. Wie behutsam hier vorzugehen war, mochte ihn das Beispiel Ebroins lehren, der trotz langjähriger Vorherrschaft schließlich der Vielzahl seiner Feinde unter den Großen erlegen war (680). Dem suchte Pippin anfangs offenbar dadurch zu entgehen, daß er den bezwungenen neustrischen Rivalen Berchar im Amt des Hausmeiers beließ, also eine Art von Herrschaftsteilung ins Auge faßte. Erst als dieser Ende 688 einem Anschlag seiner Schwiegermutter Ansfled zum Opfer gefallen war, verschaffte sich Pippin auch förmlich den höchsten Rang nach dem König und verheiratete seinen Sohn Drogo mit Berchars Tochter Adaltrud, der Enkelin Ansfleds. Auf diese Weise verband er sein Haus mit einer mächtigen Adelssippe von der unteren Seine, die schon vor 687 in Neustrien erkennbar der pippinidischen Herrschaft vorgearbeitet hatte. Selbst zog er es jedoch vor, sein Regiment vom heimischen Austrien her zu führen, ohne dort das frühere Sonderkönigtum wiedererstehen zu lassen. Bei den in ihren neustrischen Pfalzen (nördlich von Paris) residierenden Merowingern ließ er sich durch einen loyalen »Verbindungsmann« namens Nordebert vertreten, der wahrscheinlich burgundischer Herkunft war und um 700 Bischof von Clermont geworden sein dürfte, während bereits seit 690 ein gewisser Gripo als Bischof in Rouen erscheint, den seine Namensgleichheit mit einem Karolinger der übernächsten Generation als vermutlichen Verwandten des Hausmeiers verrät.
Was man die »Aufrichtung der austrischen Reichsgewalt« (Th. Schieffer) genannt hat, begann also mit kleinen Schritten, die eher improvisiert wirken, und vollzog sich ganz im Rahmen persönlicher Bindungen, wie sie den Aufstieg der Karolinger von Anfang an gekennzeichnet hatten. Es galt ja seit jeher, sich und der Familie so viele Große wie nur möglich zu verpflichten, weiträumig Schlüsselpositionen in Königsdienst und Kirche zu gewinnen, den Anhängern am eigenen Erfolg Anteil zu geben und gegnerischen Koalitionen vorzubeugen. Nachweislich sind denn auch durch Pippins Sieg die Möglichkeiten seiner austrischen Gefolgsleute gewachsen, über das angestammte Teilreich hinaus herrschaftlich Fuß zu fassen, was auf die Dauer eine folgenreiche Gewichtsverlagerung zugunsten des kaum romanisierten Ostens der Francia mit sich brachte; doch gebot zugleich die politische Klugheit, durch gezielte Gunsterweise auf die Führungsschichten Neustriens und Burgunds einzuwirken und wenigstens zu verhindern, daß sich dort eine breite Opposition gegen den austrischen Hausmeier zusammenfand. Die Reichseinheit im Sinne einer Integration der so lange verfeindet gewesenen merowingischen Regna mußte vornehmlich auf der Ebene der regionalen Machthaber erreicht werden und sollte eine Aufgabe für Generationen sein, die auch nicht ohne Rückschläge gemeistert worden ist. Ein Weg zu diesem Ziel, den bereits Pippin der Mittlere beschritt, war die Dezentralisierung der Familienherrschaft, sobald dazu die personellen Voraussetzungen bestanden. Sein ältester, nach Neustrien verheirateter Sohn Drogo wurde kurz vor 700 als dux mit der Hoheit über Burgund und die Champagne betraut, während der jüngere Grimoald um dieselbe Zeit sogar das Hausmeieramt des Vaters übernahm und nach Neustrien ging, was dort den Spielraum der merowingischen Könige weiter einengte und ihre unmittelbaren Kontakte mit anderen Großen erlöschen ließ. Pippin selber konnte sich daher nach 700 darauf beschränken, in der ganz informellen Stellung eines princeps Francorum seine persönlich errungene Autorität einzusetzen, die eben auch den dynastischen Anspruch einschloß, die Macht unter seinen Nachkommen aufzuteilen (und eines Tages zu vererben).
Zu den deutlichen Erinnerungen an Pippin, die noch nach 100 Jahren in den Metzer Annalen zutage treten, gehört, daß er nicht nur die Vorherrschaft (principatus) bei den Franken errang, sondern auch »um den Gewinn verschiedener Stämme, die einst den Franken untertan gewesen waren, den Kampf aufnahm, nämlich gegen die Sachsen, Friesen, Alemannen, Bayern, Aquitanier, Waskonen und Bretonen«. Damit ist auf die Tatsache angespielt, daß das Merowingerreich einst in seiner expansiven Phase unter Chlodwig I. († 511) und dessen Söhnen weit über den engeren Bereich fränkischer Siedlung zwischen Rhein und Loire ausgegriffen und nicht wenige Völkerschaften fremder Sprache und fremden Rechts in seine Abhängigkeit gebracht hatte. Die Herrschaft lag dort durchweg in den Händen von Herzögen (duces), die aus der fränkischen Führungsschicht hervorgegangen oder zumindest mit ihr versippt waren, sich aber im Laufe der Zeit immer mehr an die Vorstellung gewöhnt hatten, eigenständige Repräsentanten ihrer Stämme und Gebieter über ein abgegrenztes regnum