Shirley Waters (1965-2017) hat unter anderem Namen diverse Bücher veröffentlicht, ihre wahre Liebe galt aber dem historischen Liebesroman. Bei beHEARTBEAT sind ihre drei leidenschaftlichen Wikinger-Romane »Der schwarze Wikinger«, »Wikingerfeuer« und »Der Fluch des Wikingers« erschienen.
DER FLUCH
DES
WIKINGERS
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
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eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7095-9
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Da sah an der Bergwand der tapfer Erprobte,
Der so viele Gefahren zuvor bestanden,
Viele Schlachten geschlagen, wo die Scharen tobten,
Einen Steinbogen stehen und einen Strom darunter
Aus dem Berge brechen. Die Brunnenquelle wallte
Von heißem Feuer. Zum Hort konnte
Keinen Augenblick, wer nicht verbrennen wollte,
In die Tiefe kommen vor des Drachen Feuer.
Aus dem Beowulf-Epos
Wo sind denn da die Hörner? Stattdessen trägt der Kerl eine Brille.« Jenny deutete auf die lebensgroße Figur eines Wikingers in Lederkluft, mit buntbemaltem Schild, Speer, einem Schwert und der Nachbildung eines Helms. Das Original in der Vitrine daneben war aus Silber, mit goldenen Verzierungen und einem eisernen Nackenschutz, von dem nur noch einige rostige Ringe geblieben waren. Und der Augen- und Nasenschutz erinnerte eindeutig an ein dickes Brillengestell.
Angie rümpfte die Nase. »Wikingerhelme hatten keine Hörner. Du gehst so oft ins Kino, da solltest du das wissen. Die wären im Kampf ja auch ziemlich unpraktisch gewesen.«
»War doch nur Spaß!«
»Die Mykener hatten aber welche«, warf Matthew ein. Auch er fing sich einen genervten Blick der selbsternannten Expertin ein. »Hab ich neulich zufällig im National Geographic gesehen.«
»Seit wann liest denn ein Versicherungsmensch?«
Er zuckte mit den breiten Schultern, und seine Rastalocken, die Jenny so unglaublich hinreißend fand, schaukelten. Um dieser Frisur willen war er ihr einst aufgefallen – wahrscheinlich war er der einzige Mensch in ganz London, der zum geschniegelten Geschäftsanzug zehn Zoll lange Dreadlocks trug. »Ein Kunde hat das Magazin in meinem Büro liegen lassen. Jetzt tu doch nicht so, Angie, als hättest du Geschichte studiert.«
»Ich interessiere mich aber für alles Mögliche und nicht bloß, ob ich jemandem fünf sinnlose Versicherungsverträge aus dem Kreuz leiern kann.«
»Angie!«, mahnte Jenny.
Angie rollte mit den Augen. Der Blick, den sie ihr zuwarf, sagte: Wieso hast du deinen Kerl mitgeschleppt, der stört doch bloß?
Jenny stieß ein unhörbares Seufzen aus. Mattie war dabei, weil er selbst den Vorschlag gemacht hatte, mitzukommen, da er schon ewig nicht mehr in Southwark im National Maritime Museum gewesen sei. Seinen Vorschlag, die Damen herzukutschieren, hatte Angie noch freundlich begrüßt.
Er war auch kein windiger Versicherungsvertreter, sondern absolut seriös. Jenny hatte ihn vor ein paar Monaten kennengelernt, als sie in seinem Büro vorstellig geworden war, um eine Haftpflichtversicherung abzuschließen, wozu ihr jedermann, sogar Angie, dringend geraten hatte. Natürlich hatte er sie zunächst von der Wichtigkeit einer ganzen Palette von Versicherungen zu überzeugen versucht. Jedoch nicht mit Nachdruck, sondern einem lustigen Heben der Brauen, einem hinreißenden Lächeln und der Bemerkung Nehmen Sie mich nicht so ernst. Auf seinem Schreibtisch war ihr ein kleiner Zinnritter aufgefallen. Keine Erinnerung an alte Kinderzeiten, wie er ihr auf ihre neugierige Frage erklärt hatte: Er war in seiner Freizeit Reenactment-Spieler. Bevorzugte Zeit die von Robin Hood. Das Interesse kam daher, dass er vom Sherriff von Nottingham abzustammen glaubte – irgendeine obskure Stammbaumforschungsgesellschaft hatte das herausgefunden. Jenny hatte ihm mit offenem Mund zugehört. Wie es dazu gekommen war, dass sie zusätzlich zur Versicherungspolice mit einer Einladung zum Dinner aus dem Bürogebäude gegangen war, konnte sie im Nachhinein gar nicht mehr genau sagen.
Jenny hakte sich bei beiden unter. »Friede! Da drüben geht’s zu dem alten Wikingerschiff, kommt, das müssen wir sehen!«
Sie betraten eine große Halle, das Herzstück der Ausstellung. Auf einem Podest erhob sich majestätisch das alte Wikingerschiff, und mit den Kriegerfiguren an den Wänden hatte man den Eindruck, lebendig gewordene Geschichte zu betreten, als wäre das Schiff in der Zeit gereist.
»Wahnsinn«, hörte sie Angie murmeln. Auch Mattie machte große Augen, während er um das sicherlich zwanzig Yards lange Schiff herumwanderte.
Jenny stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Schultern der vor ihr stehenden Museumsbesucher die Schautafel lesen zu können. Das Schiff hieß Haemir, Meereskönig, und es hatte einem Olav Wolfskralle gehört. Wolfskralle? Das warf ja ein schönes Licht auf den einstigen Eigner. Sie stellte sich einen mordenden Gesellen mit einer Eisenharke statt einer Hand vor, wie er an Deck stand und sich, von Sturm und Wogen gepeitscht, an diesem Mast festkrallte, während er den Befehl zum Angriff brüllte. Gerne hätte sie eine der tiefschwarzen Planken berührt. Sie glänzten, vermutlich von irgendeiner Chemikalie. Der Bugsteven war wie ein Drachenkopf geformt, der Hals mit Runen übersät. Auf einer weiteren Tafel stand zu lesen, dass die Wikinger diesen Kopf erst auf den Steven gesetzt hatten, wenn sie eine Küste angriffen, und dass er bunt bemalt gewesen war. Eine Zeichnung zeigte das Schiff auf hohen Wellen reitend und mit geblähtem Rahsegel aus roten und blauen Bahnen.
Mattie tauchte an ihrer Seite auf. »Da drüben steht, dass das Schiff in seinem Heimatmuseum täglich mit Wasser besprüht wird.«
»Wie die Mary Rose, das Lieblingsschiff von Heinrich VIII. Auf ewig mit dem Meer vereint – auf eine gewisse Art«, murmelte sie.
»Die Mary Rose wird doch derzeit getrocknet.«
Sie seufzte. »Du könntest ein wenig romantischer sein.«
Er wies mit der Hand auf das Schiff. »Ach, Baby. Das findest du romantisch?«
»Ich finde es schön. Irgendwie.«
»Ich frage mich, wie hoch die Versicherungssumme ist.«
»Ich würde gerne wissen, wo es schon überall war. Vielleicht sogar in Grönland oder Amerika.«
»Möglich. Das waren schon findige Kerle damals.« Er zog sie heran und küsste sie aufs Ohr. »Kommst du mit hinüber in den Richard-Löwenherz-Saal?«
Sie entwand sich ihm. »Ach nein, heute bin ich auf Wikinger eingestellt. Geh nur.«
»In einer Viertelstunde bin ich wieder da.«
»Du findest mich in der Cafeteria«, sie nickte hinüber zu einem Durchgang, über dem Coffee & more stand. »Ich brauche jetzt einen guten Tee.«
»Den bezahle ich dann. Alles klar, Baby?«
Sie nickte, empfing einen weiteren Kuss und blickte seinen wippenden Dreadlocks nach, die in Richtung Lionheart verschwanden.
Kurz darauf saß sie Angie gegenüber auf einem Plastikstuhl an einem Plastiktisch, und die Scones mit Orangenmarmelade, die sie sich bestellt hatten, sahen auch nicht so ganz echt aus. Sie plauderten über die Ausstellung. Angies füllige Wangen röteten sich, während sie über all die Wikingerfiguren sprach, als handele es sich um leibhaftige Kerle, die ihr den Kopf verdreht hatten. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt mit dem Malen von Covern historischer Liebesromane. Muskelstrotzende Wikinger, die von hinten eine schmachtende Dame umarmten und ihren Nacken liebkosten, während im Hintergrund ein Schiff gegen Wind und Wellen ankämpfte, hatten es ihr besonders angetan. In einen Malblock kritzelte sie ihre Eindrücke nieder.
»Es gibt noch einen Saal mit Waffen«, sagte sie, »da müssen wir gleich hin.«
»Okay.«
Angie legte den Block beiseite. »Matthew passt nicht zu dir.«
Fast hätte sich Jenny an ihrem Earl Grey verschluckt. »Bitte? Wie kommst du jetzt darauf?«
Angie nahm einen tiefen Schluck ihres Latte, der ihr einen weißen Oberlippenbart zauberte. »Ich wollt’s dir schon länger mal sagen. Und jetzt brannte es mir auf der Zunge. Lässt er dich einfach hier allein!«
»Was ist daran so schlimm?«
»An der Sache allein wenig.«
»Jetzt fang nicht an, um den heißen Brei herumzureden. Was stört dich an ihm?«
»Er ist ein Versicherungsmensch. Ein Versicherungsmensch!« Fast genüsslich rollte Angie das Wort auf der Zunge, als handele es sich um ein pikantes Schimpfwort.
»Falls du damit sagen willst, er sei langweilig – erst vorgestern hab ich ihn im Wald kämpfen sehen: Da hat seine Gruppe eine Schlacht gegen schottische Highlander nachgestellt.«
»Ja, ist doch merkwürdig.« Gewichtig klapperte Angie mit dem Löffel in ihrem Glas herum. »Dass gerade die Kerle mit den langweiligsten Berufen in ihrer Freizeit die risikoreichsten Dinge tun.«
»Das finde ich gar nicht merkwürdig. Wer’s auf der Arbeit trocken hat, will sich in seiner Freizeit austoben. Und riskant sieht es gar nicht aus.«
»Na schön. Trotzdem passt er nicht zu dir. Ich spüre das. Ich sehe das.«
»Was siehst du denn?«
»Dass deine Augen nicht leuchten, wenn du deinem Versicherungsmenschen hinterherblickst. Wie eben, als er sich abgeseilt hat.«
»Das ist alles?«
»Ja, das zeigt alles.«
»Ist doch Blödsinn.« Jenny suchte Zuflucht hinter ihrer Teetasse, mit der sie wenigstens die untere Hälfte ihres vermutlich hochroten Gesichts verbergen konnte. Warum nur fühlten sich Angies Worte wie brennende Stacheln an, als besäßen sie tatsächlich die Macht, ihre Haut, in der sie sich gerade sehr unwohl fühlte, zu verletzen? »Du solltest dich nicht so an seiner Versicherungstätigkeit festbeißen«, erwiderte sie mit nicht ganz fester Stimme. »Stell dir einfach vor, er wäre … hm, Sportler? Oder Wissenschaftler? Was würdest du dann denken?«
Angie lachte über das ganze strahlende Gesicht. Trotz – oder wegen? – ihrer paar Pfunde zu viel war sie eine überwältigende Schönheit. Einen Freund hatte sie derzeit nicht. Aber sie war so selbstbewusst, dass Jenny niemals auf den Gedanken kommen würde, sie könne auf sie und Mattie neidisch sein. »Dann würde ich auch denken, dass er nicht zu dir passt.«
»Aber Liebe fragt nicht danach, ob’s passt, das solltest du wissen«, konterte Jenny. »Du bist doch Künstlerin!«
»Liebe!« Angie rollte mit den Augen. »Jetzt redet sie auch noch von Liebe! Liebe lässt das Herz klopfen, dass es schmerzt; Liebe lässt …«
»Du hast eindeutig zu viele dieser Kitschbücher gelesen.«
»Träumst du denn von ihm?«
»Meistens erinnere ich mich nicht an meine Träume, wenn ich morgens aufwache.«
»Ich meine doch Tagträume. Den Traum deines Lebens.«
»Ach so, den«, sagte Jenny lahm. »Bitte entschuldige mich, mir drückt ganz fürchterlich die Blase.«
Im Aufstehen schnappte sie ihre Handtasche und machte, dass sie fortkam. In fünf Minuten würde Angie dieses Thema hoffentlich fallen gelassen haben. Dass sie immer an Mattie herumkritteln musste! Sie kannte ihn doch gar nicht richtig? Mattie war nett, zuvorkommend, sah gut aus – diese Frisur! –, hatte Manieren, hatte … Na ja, er hatte alles! Zumindest alles, was man, realistisch betrachtet, von einem Mann erwarten konnte. An den Märchenprinzen glaubte man schließlich nur als Fünfjährige.
Wo war das verflixte Klo? Sie fand es, erledigte, was erledigt werden musste, und wusch sich die Hände über dem Waschbecken. Dabei fiel ihr Blick unweigerlich in den Spiegel. Eine Schönheit wie Angie war sie nicht. Auch ihre Hüften waren eher üppig, aber da sie kleine Brüste hatte, passte das nicht recht zusammen. Ihr Gesicht war – nun ja. Alles darin war ein wenig zu groß geraten. Die Brauen, der Mund. Der vor allem. Mit den dunkelbraunen, fast bis zu den Ellbogen reichenden Haaren konnte sie punkten. Und ihre Augen mochte sie, denn die waren fast schwarz. Aber das war’s. Sie trocknete die Hände und fuhr sich durch die unordentlichen Strähnen. Das Dunkle an ihr war das Erbe einer griechischen Urgroßmutter, die in eine alte Londoner Familie eingeheiratet hatte. Auch die ausgeprägten Züge. Dass das alles ausgerechnet bei ihr noch einmal durchgeschlagen hatte!
Sie verließ die Toilette und beschloss, auf einem Umweg zu Angie zurückzukehren, um noch ein bisschen Zeit zu schinden. Vielleicht war Mattie inzwischen bei ihr und erzählte mit glänzenden Augen von einem mittelalterlichen Plattenpanzer mitsamt Armbrustbolzeneinschussloch, während Angie ein Zitronengesicht machte, eine Vorstellung, die Jenny kichern ließ.
Träumst du von ihm? Angies Frage wollte ihr nicht aus dem Kopf. Inzwischen tat sie es nicht mehr. Aber am Anfang ihrer Beziehung? Da hatte sie von Mattie geträumt. War auf Wolken gelaufen, als er ihr gestanden hatte, von ihr zu träumen. Diese Aufregung in der Brust, dieses Ziehen in der Magengegend – ganz deutlich hatte sie es gespürt. Sie horchte in sich hinein. Nur wo war es jetzt, wo?
Ach, morgen würde sie es wieder spüren. Oder übermorgen. Meine Güte, der Alltag kehrt eben irgendwann ein, und manchmal geschieht es eben schneller, als man denkt, schimpfte sie Angie in Gedanken aus. Wenn da jeder gleich Schluss machen würde! Sie gelangte in eine schmale Halle; hier standen die Vitrinen mit den Waffen: Speere, Holzschilde oder die Reste davon, jede Menge Messer und Dolche und hölzerne Knüppel.
Wovon träumte sie eigentlich? Darüber musste sie erst einmal gründlich nachdenken.
Davon, eines Tages ihr künstlerisches Hobby zu ihrem Beruf zu machen. Ein reichlich unwahrscheinlicher Traum, vernünftig betrachtet, aber das Herz, das dumme, träumte einfach weiter. Die Wahrheit sah so aus, dass sie als Zahnarzthelferin ihren Lebensunterhalt verdiente. Ihr gestrenger Herr Vater hatte von ihrem Wunsch, auf der Royal Academy Kunst zu studieren, rein gar nichts gehalten. Nun, viele Wege führten nach Rom – irgendwann wollte sie eine private Kunstschule besuchen. Leider mangelte es ihr an Talent, mit Geld umzugehen, und allein die Miete ihres Zimmers fraß die Hälfte ihres Gehalts, sodass sie nebenher noch jobben ging. So war es bisher dabei geblieben, die heimischen Regale mit Schnitzereien aus Wurzeln oder Speckstein und die Wände mit Zeichnungen zu verschönern. Zu Anfang ihrer Beziehung hatte Matthew sie bedrängt, zu ihm zu ziehen, schließlich habe er Platz für all ihre Dinge. Doch sich bei ihm ins gemachte Nest zu setzen war nicht das, was sie mit ihren zwanzig Jahren unter ›flügge werden‹ verstand. So blieb nur, auf jene Zukunft zu warten, die wie ein diffuses Luftschloss irgendwo in der Ferne schwebte: Eine glänzende Karriere als Künstlerin. Hochgelobte Ausstellungen in bedeutenden Galerien. Und irgendwann ein Haus oder noch besser ein Bauernhof mit einem großen Atelier, viel Grün und gesunde Luft und ein paar Tiere zum Verhätscheln.
Das also ist mein Traum, Angie, dachte sie, während sie an den Vitrinen vorüberschlenderte. Komplett unrealistisch, aber träumen darf man ja. Den Jackpot im Lotto zu knacken, war schließlich genauso unrealistisch. Und trotzdem gaben zig Leute Woche für Woche ein Heidengeld aus, um ein paar Kreuzchen auf einem Zettel zu machen.
Vor Jahren hatte Jenny immerhin einen Malkurs besucht, um ihre Technik zu verbessern – und Angie kennengelernt, die ihn geleitet hatte. Drei Monate später war ihr mageres Konto ein starkes Argument gewesen, die Zeit besser wieder in ihre Nebenjobs zu investieren.
Irgendwann würde sie einen neuen Anlauf nehmen.
Sie kam an einer Vitrine vorüber, in der ein kleiner Steinmann hinter seinem Schild kauerte. Die Augen waren vor Wut geweitet, und er biss in den Rand des Schildes, so zornig war er. Irgendwie sah er witzig aus. In der nächsten Vitrine stand auf einer Folie zu lesen: Artefakte aus der Zeit des Beowulf-Epos.
Die Sache mit dem Zusammenziehen hat Mattie erstaunlich schnell fallen lassen, dachte sie. Und wie ein frisch Verliebter verhält er sich ja wirklich nicht. Zweifelte er womöglich ebenso wie sie an der Richtigkeit ihrer Beziehung?
»Nein!«, entfuhr es ihr so laut, dass eine Frau in zwei Schritten Entfernung sich fragend zu ihr umblickte. Eine Entschuldigung murmelnd drückte sich Jenny so nah wie möglich an die Vitrine. Ich zweifle doch gar nicht!
Oder doch?
Mist! Das alles war nur Angies Schuld. Sie mit ihrem Gerede derart in den Schwitzkasten zu nehmen!
Gleich heute Abend würde sie mit Mattie über ihre Beziehung sprechen. Ganz ruhig und sachlich. Ohne Emotionen, ohne Vorwürfe und den ganzen Kram, der eine brüchige Beziehung gleich ganz zur Implosion brachte. Ja, das war eine gute Idee. Die perfekte Idee, um die Grübelei fürs Erste abzuhaken.
Eine Eisenstatuette zeigte einen Krieger. Die Reste eines Kammhelms. Auf einem Ständer ruhte ein Dolch. Die erstaunlich gut erhaltene Eisenklinge war fünf Zoll lang; der Griff aus Walrosselfenbein zeigte Runenschnitzereien und endete in einem Drachenkopf. Unter einer Pergamentseite stand Fragment des Beowulf-Epos und die Übersetzung.
… ruht kalt auf dem Totenbett der König der Gauten.
Doch neben ihm liegt auch vernichtet das Untier,
Zerschnitten vom Dolch – mit dem Schwert konnte
Der Held nicht verletzen den hörnernen Drachen.
Wiglaf sitzt nun, Weohstans Sohn
An Beowulfs Leichnam.
Au! Sie fühlte plötzlich ein eigenartiges Ziehen in sich. Ähnlich wie Schmetterlinge im Magen. Nur schienen sie eiserne Flügel zu besitzen, denn es tat weh. Was war das? Menstruationsbeschwerden fühlten sich anders an. War die Clotted Cream, die sie zu den Scones gegessen hatte, verdorben gewesen? Dann spürte sie dieses Ziehen auch in ihrem Kopf. Es breitete sich über ihren ganzen Körper aus.
Atmen! Ruhig atmen. Und dann langsam zu Angie zurückgehen; dort würde das Gefühl bestimmt verfliegen.
Doch sie konnte nur den Dolch anstarren, spürte das Ziehen zu Hitze werden, zu dem glühenden Wunsch, ihn in die Hand zu nehmen.
Ob Mattie ähnlich empfand, wenn er eine Armbrust aus dem zwölften Jahrhundert sah?
Nein, das hier war viel drängender. Geradezu elementar wichtig. Und vor allem …
Verrückt.
Ja, das war es.
Zu all dem Herzklopfen, dem Schmerz und dem Sehnen kam Angst. Was geschah mit ihr? Wurde sie krank? Sie wollte kehrtmachen, endlich zu Angie zurückkehren.
Stattdessen gab sie der Vitrine einen kräftigen Stoß.
Mit einem Höllenlärm kippte das Glashäuschen nach hinten, prallte mit der oberen Kante gegen die Wand und brach klirrend in einige große Stücke und etliche winzige Splitter.
»Was machen Sie denn da?«, rief eine männliche Stimme. Eine andere schrie: »Sicherheitsdienst!«
Das wird teuer, dachte Jenny. Es war ihr letzter klarer Gedanke, hinfortgewischt von dem alles verzehrenden Drang, diesen Dolch in die Hand zu nehmen. Mit dem Fuß fegte sie einige störende Glasstücke beiseite und bückte sich danach.
»Jenny!«
Jemand packte sie an der Schulter und zerrte sie hoch; sie schaffte es gerade noch, den elfenbeinernen Griff zu umschließen. Es war Matthew, der sie herumwirbelte und, sie an den Schultern schüttelnd, anschrie: »Bist du irre?«
Ganz offensichtlich. Aber das war jetzt nicht wichtig. Sie lachte triumphierend, denn sie hatte es geschafft: Sie hatte den Dolch.
»Tut mir leid, Mattie«, sagte sie. Dabei tat es ihr gar nicht leid. Während sie in ihrem wirren Kopf nach Worten suchte, es ihm zu erklären, verschwammen seine Konturen und lösten sich in einem Nebel aus Nichts auf. Was war das? Was geschah mit ihr? Es schien die Schwärze einer Ohnmacht zu sein, doch ahnte sie, dass es etwas anderes, etwas Großes war. Etwas Schlimmes.
Jenny hatte von sich immer geglaubt, selten zu träumen. Selten und farblos. Und schon gar nicht von solchen Barbarenkriegern. Dieser Traum gehörte eindeutig der fantasievollen Angie mit ihren quietschbunten Liebesromancovern. Gut, wirklich bunt war die Szenerie nicht – die Männer trugen graue und braune Kleidung, und ihre Schilde zierten kräftiges Weiß und Schwarz. Es war Nacht, und nur dank des hellen Mondlichts konnte man überhaupt Farben erkennen. Wie das Haar des größten Kriegers, das in einem hellen Gelb leuchtete, und seine zornigen Augen, die von einem beinahe unnatürlich kräftigen Grün waren. Überhaupt dieses Haar. Lang und prächtig schwang es um seine breiten Schultern, und er hatte einige dünne Zöpfe eingeflochten. Um den Hals trug er einen silbernen Reif mit Bernstein darin. Und dann war da noch das grelle Rot des …
Blut!
Es quoll aus dem Brustkorb eines Mannes, der es gewagt hatte, sich dem Riesen in den Weg zu stellen. Sie schrie, als er nur ein paar Yards von ihr entfernt in matschigen Schnee fiel. Der Blonde reckte sein bluttriefendes Schwert dem vollen Mond entgegen. Hinter ihm kämpften vier weitere Männer miteinander; die Luft war erfüllt vom Klirren ihrer Waffen, von ihren Flüchen und dem Stöhnen, als der Nächste starb. Jenny zählte sieben, acht Tote. Ihr Atem kam in wirren Stößen; sie spürte das Adrenalin als pures Entsetzen durch ihre Adern pumpen.
»Das ist alles nicht echt«, japste sie. »Das träume ich nur, weil ich in der Wikingerausstellung war.« Gleich würde sie aufwachen. Jeden Augenblick. Jetzt. Und wenn sie es selbst nicht schaffte, würde jemand sie wecken. Matthew zum Beispiel. Jeden Augenblick.
»Jetzt!«, schrie sie. »Bitte!«
Noch ein Sterbender fiel ihr vor die Füße. Sein Blick brach. Aus seinen Mundwinkeln quoll blasiges Blut.
Plötzlich war es still.
»Ja, jetzt.« Der Mann mit den Smaragdaugen warf das Schwert von sich. Dann zog er eine brennende Fackel aus dem Boden am Rande des Schlachtfeldes und stapfte auf sie zu. Schneematsch spritzte von seinen Stiefeln auf. Wach auf, rief sich Jenny zu, oder lauf wenigstens weg. Doch sie war wie gelähmt vor Furcht und vor Kälte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie im Schnee hockte. Als ihr verwirrter Blick wieder nach oben glitt, stand der Krieger über ihr – er war deutlich größer als Mattie, bestimmt über zwei Yards. Er trug ein Kettenhemd, das über und über mit Blut und Dreck besudelt war. »Jetzt ist Boas endlich besiegt«, sagte er mit einer tiefen, heiseren Stimme, aus der Erschöpfung und Hass sprachen. »Vier Jahre lief er mir davon. Vier Jahre, in denen ich ihn über Länder und das Meer jagte, über Flüsse, Felsen und Eis hinweg. Endlich ist es vorbei …«
Einen so tiefen, langen Atemzug hatte Jenny noch nie gehört.
»Ich würde jetzt gerne aufwachen«, murmelte sie. All das war ihr entschieden zu wirklich. Allein diese Kälte war kaum auszuhalten. Bestimmt hatte sie sich im Schlaf freigestrampelt. Allerdings herrschte derzeit schönster Spätsommer, und da pflegte sie nackt zu schlafen. Sie trug auch nicht wie im Winter ihr dickes kuscheliges Frotteenachthemd, sondern dieselben Sachen, mit denen sie ins National Maritime Museum gegangen war: einen knöchellangen Rock mit Paisleymuster, der ihr bis über die Knie gerutscht war, und ihr Top. Der riesenhafte Kerl konnte ihr genau in den Ausschnitt schauen.
Was er auch tat.
Sie wollte aufspringen und weglaufen, als er sich aus großen Höhen herabbückte und nach ihr griff. Doch ihre Bewegungen waren schwerfällig. Nicht unüblich für einen Traum. Es mochte aber auch am Schnee liegen oder daran, dass der Mann, so wuchtig er war, sich äußerst schnell und geschmeidig bewegte. Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in ihren Arm und zogen sie mühelos auf die Füße.
Das Blut in seinem Gesicht hatte zu trocknen begonnen; es war bereits dunkel und bröselte an den Rändern. Ein paar Krümel blieben in seinem kurzen Bart hängen. Die Fackel in seiner anderen Hand offenbarte Details, die man gewöhnlich nicht träumte. Jenny konnte sogar dunkelblaue Flecken in seiner grünen Iris ausmachen. Eine faszinierende Augenfarbe. Und faszinierend helle, gute Zähne, als er den vollen Mund zu einem Lächeln öffnete. Einem höhnischen.
»Was haben wir denn hier?«
»Vorsicht!« Hinter ihm näherten sich die beiden anderen Überlebenden. »Nicht dass sie eine Walküre ist, die die Gefallenen holt?«
»Wohl kaum. Ich glaube, sie ist eine entflohene Sklavin.«
Das Wort ›Sklavin‹ musste sie erst verdauen. Es klang so … antik. Nach altem Rom, nach Gladiatoren und Galeerensträflingen, Ben Hur und Haremsfrauen – ihr kamen alle möglichen Assoziationen in den Sinn, die nichts, absolut nichts mit ihr zu tun hatten.
»Wem gehört sie?«
Er starrte wieder auf diese impertinente Art an ihr herab.
»Einem … Atticus«, sagte er langsam. »Sein Clanszeichen ist ein toter Vogel. Habt ihr je von ihm gehört?«
Die Männer sahen sich an und zuckten die Achseln. »Vogelbalge als Standartenzeichen gibt’s ja reichlich. Was für ein Vogel ist es denn?«
Auch der Anführer hob die Schultern, was ein wenig an bebende Berge erinnerte. »Sieht völlig gewöhnlich aus …«
Jenny starrte an sich hinab. Das Atticus-Top hatte Mattie ihr Anfang des Sommers gekauft, weil er ein Fan dieses Labels war. Und jetzt dachten diese Männer, dass das Firmenlogo, das einen auf dem Rücken liegenden Vogel zeigte, eine Art Wappen war? Nicht zu fassen!
Sie holte tief Luft und trat dem Kerl gegen das Schienbein. Er schien es nicht weiter zu bemerken, doch sein Griff lockerte sich. Mit aller Kraft riss sie sich los und rannte.
»Verdammt, bleib stehen, bei Thor!«
Er sah nicht nur seltsam aus, er fluchte auch seltsam. Sie rannte in die Nacht. Dank der dünnen Schneedecke herrschte ein seltsam helles Licht, wie sie es aus Winternächten kannte. Aber es war doch Sommer! September! Ein unförmiger dunkler Fleck entpuppte sich beim Näherkommen als eine Gruppe von Felsen und verkrüppelten Kiefern. Jenny umrundete sie und schob sich zwischen einen Stamm und einen Felsblock. Es war nicht das beste Versteck, aber mit ein bisschen Glück würde sie hier niemand entdecken. Gott, diese Kälte! Sie würde sterben, wenn sie nicht bald aufwachte.
»Wo ist die verfluchte Hure hin?«, rief jemand.
»Das ist keine Hure. Eine Sklavin, sagte ich.« Diese Stimme gehörte ihm, und er klang sehr verärgert.
»Lass sie laufen. Soll dieser Atticus doch zusehen, wie er sie wiederkriegt.«
»Ja«, grollte der Riese. »Wenn wir sie nicht gleich gefunden haben, verschwinden wir. Dann ist sie eh tot.«
Er hatte recht: In ein paar Minuten wäre sie zu einem Eisklotz erstarrt. Sie hatte die Wahl: sterben oder sich diesem, nun, wem auch immer – Conan, dem Barbaren? – ergeben. Unter diesen Umständen fühlte sich der Gedanke ans Sterben gar nicht so schrecklich an. Zumal sie von der Möglichkeit, besonders intensiv zu träumen, noch längst nicht lassen wollte.
»Los, verschwinden wir«, sagte er schließlich. »Mir ist kalt.«
»Vielleicht ist sie ja doch eine Göttin. Oder eine Elbenfrau.«
»Eine Elbin, die sich vor Angst in den Rock macht?«
»Vielleicht ist sie der Gott Loki? Er hat sich in eine Stute verwandelt, um den Hengst Svadilfari zu verführen, und gebar – wie auch immer man sich das vorstellen soll – das achtbeinige Himmelspferd Sleipnir, auf dem Allvater Odin über die Welt reitet. Da könnte Loki doch auch …«
Er stieß einen spöttischen Laut aus. »Wenn es Loki ist, sollten wir erst recht verschwinden.«
»Sie könnte auch der verwandelte Odin selbst sein. Er ist gern in Menschengestalt unterwegs und …«
»Ihr Götter, Ralli! Willst du mit dem Geschichtenerzählen nicht warten, bis wir gemütlich am Lagerfeuer sitzen?«
»Wenn es Odin ist«, meldete sich der dritte Mann zu Wort, »könnte er uns in eine Falle locken, um uns zu Einherjern zu machen.«
»Denkt doch nach!«, donnerte der Riese ungeduldig. »Das hätte er früher haben können, und zwar einfacher: eben, als wir gegen Boas und seine Söhne und Hauskerle kämpften. Wir drei gegen zehn Gegner – das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, im Kampf zu sterben, um danach als Einherjer ruhmvoll in die Hallen Walhalls einzuziehen. Aber wir leben, und es sind die anderen, die jetzt an den Tischen der Götter sitzen und feiern. Ich gehe zum Lager. Ihr beiden könnt euch ja meinetwegen noch eine Weile die Ärsche zu Eis gefrieren lassen. Aber bleibt nicht zu lange fort!«
Seine Stimme entfernte sich. Gott, was für ein Mensch. War das überhaupt ein Mensch? Sie musste an das Figürchen im Museum denken, das in seinen Schildrand gebissen hatte. Dessen wütende Hässlichkeit hätte besser zu ihm gepasst.
»Warte noch. Einen Augenblick …« Die Stimme des Mannes namens Ralli näherte sich. Ebenso das Knirschen des Schnees unter seinen Schritten. Jenny presste in ihrem Versteck die Augen zusammen. Inzwischen war ihr so kalt, dass sie fast hoffte, man werde sie finden. Alles war besser als dieses grauenhafte Versinken in Kälte, die der Tod selbst auszustrahlen schien. Nein, ich will schlafen, dachte sie, und danach endlich und wirklich aufwachen … Sie duckte sich noch tiefer; vielmehr sank sie in sich zusammen, weil sie keine Kraft mehr besaß.
»Ich hab sie!«
Zwei Hände packten sie und zerrten sie aus ihrem Versteck. Das Licht einer Fackel, die der dritte Kerl hielt, blendete sie. Sie kniff die Augen zusammen und ließ die Hoffnung fahren, in ihrem warmen Bett aufzuwachen. Es lag nicht an den allzu deutlichen Geräuschen und den Farben. Was sie in Erwägung ziehen ließ, in der Wirklichkeit – wenngleich einer anderen – zu sein, war die plötzliche Erkenntnis, dass die beiden Männer ziemlich durchdringend nach Schweiß und Blut rochen. Dass man von Gerüchen träumte, hatte sie noch nie gehört.
Unsanft klatschte eine Hand in ihr Gesicht. »Mach die Augen auf, Mädchen! Nicht dass du uns wegstirbst!«
Zu spät.
Ihr wurde schwarz vor Augen.
Matthew beugte sich über sie. Er lächelte sie hilflos an. Seine Lippen bewegten sich. Wach auf, Baby, wach auf. Neben ihm meinte sie Angies füllig-schönes Gesicht zu sehen. Aber alles war verschwommen, zäh, wie mit Gel überzogen. Sie erkannte die Rosentapete ihres Zimmers, vom Zigarettenqualm des Vormieters vergilbt; ihr Regal mit den Büchern und den DVDs, ihren überquellenden Schreibtisch, ihre Zeichnungen über dem Bett … und den Wikingerkrieger, der danebenstand. Was hatte der hier zu suchen? Unter finster zusammengezogenen Brauen starrte er herüber.
»Wach schon auf«, sagte Matthew, lauter diesmal. Seine Konturen lösten sich auf. Er war fort. Das Zimmer verschwand. Bye, Mattie, dachte Jenny, dann waren auch von ihm nur noch Nebelfetzen zu sehen. Nur seine Hand blieb da, und rüttelte sie an der Schulter.
Sie schlug die Augen auf.
»Sie ist wach, Herr.«
Das hässlichste Gesicht, das sie je gesehen hatte, schwebte dicht über ihr. Ein Glatzkopf mit einer breiten, offenbar plattgehauenen Nase und einem fast lippenlosen Mund. Die Schneidezähne fehlten, und der Rest der Zähne, soweit sie erkennen konnte, war in üblem Zustand. 4 oben links wird bald rausmüssen, schoss es ihr durch den Kopf, bevor ihr wieder einfiel, wo sie war: nicht in ihrem warmen Bett, sondern … sondern irgendwo anders. Oder irgendwann anders? Der Gedanke war ihr schon vorher gekommen, aber sie kam sich verrückt dabei vor, so etwas auch nur zu denken. War sie in einer Epoche, in der schlechte Zähne und Mundgeruch zum Alltag gehörten? Aber das war völlig unmöglich. Das hieße ja, in der Zeit gereist zu sein.
Sie wollte sich aufsetzen. Doch der Pelz, den man über sie gebreitet hatte, umschmeichelte ihre nackte Haut. Ganz deutlich spürte sie ihn auf den Brustspitzen, dem Bauch, den Schenkeln … Vorsichtig tastete sie an sich hinunter. Tatsächlich, sie war nackt. Vollkommen nackt. Sie konnte sich nicht erinnern, sich ausgezogen zu haben. Freiwillig hätte sie es sowieso nicht getan. Doch da sich in der schneeverhangenen Wildnis nur diese drei Männer befanden, mussten sie … O Gott. Hatten sie ihr … hatten sie …
»Wir haben dich nicht angefasst, Mädchen«, sagte der Hässliche. Sein lüsternes Grinsen schien zu sagen: Wir hätten es aber gerne getan. Jenny zog die Pelzdecke bis unter die Nase. »Aber du musstest aus den nassen Sachen heraus, sonst hättest du dir den Tod geholt.«
Ein zweiter Kopf erschien auf ihrer anderen Seite. Dieser Mann war schmal und sehnig. Seine zotteligen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen, ebenso der dichte Bart. Tiefe Furchen zierten sein hageres Gesicht. Sein Wams war aus schwarzem Leder, und sie musste unwillkürlich an einen alternden Rocker denken. Seine Zähne waren in einem ordentlicheren Zustand; 2OR war abgebrochen, 3UL saß schief.
Er war derjenige gewesen, der sie aus ihrem Versteck gezerrt und sie geohrfeigt hatte. Sie wünschte sich, den Schlag zu vergelten. Aber das hieße, sich zu entblößen, also hielt sie still und den Rand des Pelzes fest umkrampft.
»Wir tun dir nichts«, sagte er. »Bist du eine Elbin?«
»Wie bitte?«
»Ob du ein Elbenwesen bist. Eine Dunkelelbin.« Er setzte einen schäbig aussehenden Becher an die Lippen und trank. »Hier, nimm auch einen Schluck Ale, der wird dir guttun.«
Ehe sie sichs versah, hatte er ihr den Becherrand an den Mund gedrückt. Ein ekelhaftes Gebräu schwappte in ihre Kehle. Sie warf sich zur Seite und spuckte das Zeug aus, aber sie hatte sich bereits daran verschluckt.
Unbeholfen klopfte er ihr auf den nackten Rücken. »Bist wohl doch keine Elbin.«
»Fassen Sie mich nicht an! Sie … Sie …« Ihr Geschrei ging in einem Hustenanfall unter.
»Lasst sie doch in Ruhe.«
Diese Stimme gehörte dem Dritten im Bunde, dem muskulösen Zwei-Yard-Mann, der sie lieber ihrem Schicksal überlassen hätte. Er klang durchaus nicht mitleidig. Eher, als wolle er nur, dass sie still war, damit sie ihn nicht störte.
»Schlaf noch ein bisschen«, sagte der hagere Rocker, zwinkerte ihr zu und verzog sich mit dem Glatzkopf zu dem Blonden, der vor einem kleinen Lagerfeuer saß. Die drei Männer steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise. Dabei kauten sie auf Stockbrot und Fleischstücken, die wie Kaustreifen für Hunde aussahen und vermutlich auch so schmeckten. Hinter ihnen waren drei Pferde angebunden. Wie die Landschaft beschaffen war, ließ sich kaum sagen, denn der Mond war hinter Wolken verschwunden.
Jenny sank auf ihre weiche Fellunterlage zurück und verkroch sich im Pelz. Zeit, um über diese ganze seltsame Situation gründlich nachzudenken. Wie, Herrgott, war sie hierhergekommen?
Es gab keine Zeitreisen. Irgendein schlauer Kopf, vielleicht Stephen Hawking, hatte gesagt, der Beweis, dass Reisen in die Vergangenheit niemals erfunden werden, sei das Ausbleiben der Zeitreisenden aus der Zukunft. Wäre es anders, hätten Menschen aus der Zukunft das World Trade Center evakuieren lassen oder wären zu Hunderttausenden zur Berliner Mauer geströmt, als sie fiel.
Aber wenn das stimmte, weshalb sah die Gegenwart dann plötzlich tausend Jahre jünger aus?
Mit Angie hatte sie sich einmal über das Thema unterhalten. Nämlich als Angie das Cover eines Zeitreiseromans gemalt hatte, in dem der Held in der Zeit reiste. Erst hat er überlegt, ob ihm jemand einen Streich spielt, hatte sie erzählt. Ob jemand die ganze Sache inszeniert hat.
Gut. Jenny rieb sich über das Gesicht, in der Hoffnung, dass es half, ihre Gedanken zu ordnen. Also waren die drei Kerle da draußen auf der anderen Seite des Feuers ein Schauspielertrüppchen. Von wem engagiert? Und wozu? Wer könnte Interesse daran haben, einen solchen Aufwand zu betreiben, um sie zu foppen? Sie kannte niemanden. Und dann: Wie sollte man mitten im Sommer Winterwetter inszenieren? Und die Landschaft komplett verändern? Hatte man sie in einen monatelangen Tiefschlaf versetzt? Oder sie in eine unwirtliche Gegend verschleppt, wo es auch im Sommer schneite? Alles Blödsinn. Sie … sie … sie war an einem Filmset und hatte bloß vergessen, dass man sie engagiert hatte – frei nach Sherlock Holmes, dass die dämlichste Lösung die richtige sein musste, wenn sie als einzige übrig blieb.
Aber da gab es ein Detail, das auch hierzu nicht passte. Was war das nur? Sie knabberte an ihrem Zeigefinger herum, als könne ihr das auf die Sprünge helfen. Was nur, was? Es lag ihr auf der Zunge … Natürlich – Zunge, Sprache! Die Männer sprachen kein Englisch, aber sie verstand sie trotzdem. Ja, wirklich, das leise Gespräch am Lagerfeuer war definitiv eine andere Sprache, aber Jenny verstand diese Männer. Mehr noch, es schien ihr, als beherrsche sie deren Sprache ganz mühelos, als sei es ihre eigene.
Einen besseren Beweis, dass all das hier keine Inszenierung war, sondern schreckliche, fantastische Wahrheit, gab es nicht.
Aber wie war es passiert? Sie musste noch einmal alles in Ruhe durchgehen …
Jenny schlang die Arme um sich. Wie sollte man in dieser Situation vernünftig nachdenken? In einer völlig fremden Umgebung, bei dieser Kälte, ohne Gewissheit, sicher nach Hause zurückzukehren? Astronauten, die bei Weltraumspaziergängen Maschinen reparieren konnten, hatten plötzlich ihre tiefste Bewunderung. Denk nach … Kräftig rieb sie sich über den Kopf. Sie war mit Mattie und Angie in der Wikingerausstellung gewesen. Hatte mit Angie in der Cafeteria gegessen und sich von ihr ins Gebet nehmen lassen. Dann war sie aufs Klo gegangen. Und dann … O ja, das war es. Das war die Antwort. Dieses ziehende Gefühl, das sie sich nicht hatte erklären können. Die Vitrine mit dem Dolch. Der Wunsch, ihn zu berühren. Als sei sie Alice im Wunderland und er spräche zu ihr: Nimm mich. Iss mich. Sie hatte die Vitrine umgestoßen, um dieser drängenden Sehnsucht nachgeben zu können. Mattie hatte sie noch festhalten wollen, doch vergebens. Der Dolch hatte sie in die Vergangenheit geschleudert.
Und sie war im Schnee aufgewacht.
So war es gewesen. So und nicht anders. Nein, Zeitreisemaschinen gab es nicht und würde es wohl auch nie geben, aber dieser Dolch war ein magisches Artefakt. Wer ihn berührte, wurde durch Zeit und Raum geschleudert. Aber, halt, an dieser Theorie stimmte etwas nicht. Er war schon von etlichen Leuten angefasst worden, angefangen bei demjenigen, der ihn irgendwo aus der Erde gezogen hatte. Dieser Dolch hätte eine Kette von Vermissten hinter sich hergezogen und seinen Weg ins Labor einer obskuren Organisation gefunden oder in einen Safe der British Army. Meinetwegen auch in James Bonds Sockenschublade, dachte sie. Aber gewiss nicht in eine Ausstellung.
Die Magie hatte nur bei ihr gewirkt, und dafür gab es vielleicht einen Grund, der ihr jetzt aber herzlich egal war. Hauptsache, sie bekam den Dolch schnell wieder in die Finger. Er war der Schlüssel, um nach Hause zurückkehren zu können. Und der Dolch war in …
»Meine Tasche!«
Sie hatte ihn in jenem Augenblick, da sich alle Konturen ihrer Welt aufgelöst hatten, in die Handtasche gesteckt.
Der Zwei-Yard-Mann hob den Kopf und runzelte die Stirn. Der hagere Rocker blickte über die Schulter. »Was hat sie denn?«, fragte der Glatzkopf, der sich nach hinten beugte, um sie sehen zu können. Jenny hatte sich aufgesetzt, den Pelz fest um sich geschlungen.
»Irgendwo da draußen muss meine Handtasche sein. Ich brauche sie! Unbedingt!«
»Wovon redet sie?«
»Davon, dass einer von uns eine Tasche suchen soll«, brummte Mr. Zwei-Yard.
Der Rocker stand auf und ging vor ihr in die Knie. Gott, wie er stank! Sie musste sich zwingen, nicht das Gesicht abzuwenden. »Was ist denn in dieser Tasche?«, fragte er neugierig. »Geld?«
»Allerdings.« Wenn es half, ihn dazu zu bringen, die Tasche zu suchen, bitte! Am Morgen war sie am Geldautomaten gewesen, um ihr monatliches Haushaltsbudget abzuheben. Sie wollte nämlich möglichst nichts mit Karte bezahlen, um ihre Ausgaben besser im Auge zu haben. Meistens führte die gute Absicht dazu, dass sie eine Woche vor Monatsende einen kleinen Nachschlag holte. »Ziemlich viel sogar«, fügte sie hinzu, da der Kerl zögerte.
»Sie lügt dich an«, warf der Blonde ein.
»Sie ist doch eine Elbin und will dich in den Tod schicken«, ergänzte der Glatzkopf.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit hatte der Rocker ein Messer gezückt; die Spitze schwebte dicht vor ihrer Nase. »Ich werde mich an den Felsen umschauen, wo ich dich aufgelesen habe. Sollte ich deine Tasche finden und feststellen, dass du mich angelogen hast, mache ich dich kalt.«
Jenny schluckte. »Mir ist doch schon kalt«, murmelte sie. Er grinste, verstaute die Waffe wieder irgendwo an seinem Körper, schnappte sich einen Umhang und eine Fackel, die er am Lagerfeuer entzündete, und marschierte los.
Bevor er sie aus Enttäuschung abstechen würde, musste es ihr gelingen, an den Dolch zu kommen. Die Sorge, dass es vielleicht nicht genügte, ihn zu berühren, um in die Zukunft zu reisen, sollte sie dringend ausblenden, sonst würde sie verrückt vor Angst. Zunächst musste sie in ihre Kleider zurück – nackt war sie nicht imstande zu handeln. Da die beiden verbliebenen Männer sie wieder mit Missachtung straften, konnte sie unbemerkt die nächste Umgebung abtasten. Sie fand weitere Felle, eine Satteltasche mit einer Art Feldflasche darin, eine zusammengerollte Pferdedecke. Dahinter lagen noch ein paar Taschen, Decken und etwas, das ein Umhang sein mochte. Wenigstens den wollte sie, den vermuteten Flöhen darin zum Trotz, an sich bringen.
Langsam schob sie sich näher heran. Sie musste halb unter dem Pelz hervorschlüpfen, um sich danach zu recken. Wenn die Kerle jetzt bloß nicht …
»Ich hab sie!«
Der Blonde warf den Kopf herum, sah sie – seine Augen wurden gefährlich schmal –, und sie verbarg sich hastig unter dem Pelz. Ihr Gesicht glühte vor Scham, da er ihren nackten Busen gesehen haben musste. Mist!
Der Pelz wurde ein Stück heruntergezerrt. Dicht vor ihren Augen baumelte ihre Tasche. Sie wollte danach greifen, doch der Rocker riss sie zurück.
»So, dann wollen wir mal nachsehen.« Seine riesige, behaarte Pfote langte hinein, und ihr war, als befingere er sie selbst, einfach schrecklich! »Klimpern tut schon mal nichts. Was ist das? Komisches Zeug.«
Auf der Handfläche rollte er einen Tampon, ein uraltes Minzbonbon und einen Lippenpflegestift. Achtlos warf er alles beiseite und griff noch einmal hinein. Diesmal förderte er ihr Portemonnaie zutage. Tausend Jahre konnten nicht verhindern, dass er das Behältnis sofort als Geldbörse erkannte. Er zog ihre Karten und die Banknoten im Wert von vierhundertachtzig Pfund heraus und schrie: »Kein Geld, wusste ich’s doch, dass du uns betrügen willst!« Er hob die Hand, um sie zu schlagen.
Jenny duckte sich und rief: »Da, wo ich herkomme, ist das Geld.« Verdammt viel sogar – ihr Budget für einen ganzen Monat!
»Zeig mal her, Ralli.«
Der Typ namens Ralli raffte die Scheine auf und gab sie seinem Anführer; der betrachtete interessiert die bunten Porträts bedeutender britischer Persönlichkeiten.
»Wer sind die und wo ist das her?«
Jenny schwieg, da sie nicht wusste, wie sie all das in ein paar Sätzen beantworten sollte.
Er gab sich selbst eine Erklärung: »Bestimmt sind es christliche Heilige, und Mönche haben diese Bilder gefertigt.« Hin und her drehte er sie, als überlege er, ob es sich lohnte, sie ins heimische Sammelalbum zu stecken. Dann zerknüllte er alles und warf es ins Feuer. Jenny stockte der Atem. Dass sie nicht in Ohnmacht fiel, verdankte sie einzig der Erkenntnis, dass sie ein Ticket ins Jahr 2015 dafür ohnehin nicht hätte kaufen können.
»Keine Münzen?«
»Nein, Herr.«
Nein. Jenny warf die kleinen Münzen ganz altmodisch in eine Sparbüchse, und die letzte größere hatte sie in der Museumscafeteria ausgegeben.
»Hier ist noch mehr Zeug drin«, sagte Ralli, und als sein Anführer nach der Tasche winkte, warf er sie ihm zielsicher in die Arme. Mr. Zwei-Yard fand noch ihren Schlüsselbund, ein Taschentuchpäckchen, einen Mascara, jede Menge Krümel – und den Dolch.
Er hielt ihn ans Licht. »Die Klinge hat etwas Rost angesetzt. Aber der Griff ist eine schöne alte Arbeit. Ich denke, ich behalte ihn.« Bevor sie ihn daran hindern konnte, hatte er ihn sich in den Gürtel gesteckt und langte wieder in die Tiefen ihrer Tasche. »Und was ist das?« Er hielt ihr Mobiltelefon in die Höhe.
»Geben Sie mir den Dolch!«
Seine hochgezogene Braue schien zu sagen, dass sie sich gefälligst eines anderen Tons zu befleißigen habe. »Und – was – ist – das?«
»Ein Smartphone. Darf ich wenigstens das bitte haben?« Statt ihre Stimme freundlich flöten zu lassen, zitterte sie vor Wut.
»Ein Sma … Nie gehört.« Aber tatsächlich, er kam zu ihr und gab es ihr. »Ist das ein Kultgegenstand?«
»Äh …« Einer Statistik zufolge guckte jeder Mensch alle zehn Minuten auf sein Mobiltelefon. Jenny nutzte es viel seltener, doch ein Ja wäre wohl die richtige Antwort.
»Ein Zauberartefakt?«, hakte er nach.
»Nein.«
Die Kerle in den Romanen fragen immer, ob das Zauberei ist, hatte Angie erklärt. Und weißt du, was passiert, wenn die Heldin ihr Mobiltelefon einschaltet? Kein Netz!
Das war auch hier zu befürchten, trotzdem berührte sie den dunklen Bildschirm.
Mit einem gekeuchten Aufschrei schlug der Kerl ihr das Smartphone aus der Hand. »Das soll kein Zauber sein? Es leuchtet!«
O nein! Sie raffte das kostbare Stück auf. Kaputt war es nicht – aber was für ein dicker Kratzer auf der Oberfläche! Idiot! Doch seine beeindruckende Gestalt und sein finsterer Blick ließen sie ihre Beschwerde hinunterschlucken. Irgendwo in ihrem Kopf meldete sich eine Stimme, die der Meinung war, dass sie die Sache mit der Zeitreise offenbar noch nicht ganz begriffen hatte, da sie sich über einen Kratzer ärgerte.
»Gib das wieder her.« Er streckte die Hand aus.
»Ich denke nicht daran. Es gehört mir.«
»Gib – es – her! Sonst lege ich dich übers Knie.«
Ihr Herz pochte wie wild vor Furcht. Also gut. Rasch schaltete sie es ab, bevor sie es aushändigte. Hoffentlich warf er es nicht wie das Geld ins Feuer.
Er drehte es hin und her. »Wieso ist das Ding jetzt schwarz? Wo ist das Licht?«
»Da hat wohl einer die Kerze ausgeblasen«, sagte sie spitz. »So, darf ich es jetzt bitte wiederhaben?«
Stirnrunzelnd betrachtete er die Rückseite. Die war ihr etwas peinlich, sogar in dieser Situation. Angies jüngere Schwester Mary hatte ihr die mit Swarovski-Steinen verzierte Hello-Kitty-Hülle zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt. Da musst du jetzt durch, hatte Angie grinsend gesagt, sonst ist sie traurig.
»Ich behalte das erst einmal.« Auch das Smartphone schob er in den Gürtel. »Gefährlich scheint es ja jetzt nicht mehr zu sein.«
Eine Elster, die auf Glitzerkram stand, war er also auch noch. Sehnsüchtig starrte sie auf das Smartphone. Hoffentlich verlor er es nicht! Ist doch egal, dachte sie dann, es nützt mir ja nichts.
Er kehrte ans Feuer zu seinen Freunden zurück, ließ sich im Schneidersitz nieder und trank sein Bier. Und sie verstaute wieder ihren Arm unter dem Pelz und kauerte sich zusammen.
»Wie heißen Sie?«, fragte Jenny. Vielleicht fand sie ihn nicht mehr gar so grässlich, wenn sie sich vergegenwärtigte, dass sogar er einmal ein kleiner Junge auf dem Arm einer Mutter gewesen war. Allerdings hatte er bestimmt einen anschaulich klingenden Beinamen. Blutaxt oder ähnlich martialisch.
»Ich bin Fannar Fangrisson. Man nennt mich Fannar Schönhaar.«
»Oh, wie … nett.«
»Nett?«, fauchte er. »Was ist daran nett?«
»Nichts«, beeilte sie sich zu versichern. Ganz bestimmt benannte man nur die allerschlimmsten Krieger nach ihrem Haar.
Stirnrunzelnd fuhr er fort, ins Feuer zu starren. So konnte sie unauffällig und ausgiebig seine Haare betrachten. Nun, bewundern traf es eher. Gegen diese Pracht nahmen sich Matties Rastalocken geradezu bescheiden aus. Sie waren lang, dicht, glänzend, von kräftigem Blond und mit einem rötlichen Schimmer, den das Feuer zum Leuchten brachte. Wundervoll. Von jeder Schläfe hingen zwei schmale Zöpfe, die mit silbernen Perlen und Hülsen geschmückt waren. Eine ungewöhnliche Frisur für einen Mann seiner Statur, und doch unterstrich sie seine Männlichkeit ganz außerordentlich.
Schönhaar, dieser Name kam ihr bekannt vor. Angie hatte ja einige dieser Wikingerromane gelesen und ihr im Lauf der Zeit ein bisschen daraus erzählt. Sicherlich waren das keine allzu verlässlichen Quellen. Aber Harald Schönhaar, war das nicht ein norwegischer König gewesen? Sie hätte besser zuhören sollen. Oder diese Romane lesen. Oder gleich Wikipedia rauf und runter, wenn ich gewusst hätte, was mit mir passiert, dachte sie säuerlich.
»Sind Sie zufällig mit Harald Schönhaar verwandt?«
»Wer soll das sein?«
»Ein norwegischer König.«
Er lachte. Genau so, wie man sich vorstellte, dass ein Wikinger lachte. Rau und laut. »Was hab ich mit dem Pack in Norwegen zu schaffen?«
»Ihr seid keine Norweger?« In ihrer Vorstellung waren sämtliche Wikinger Norweger. Wieso eigentlich? Angie hatte einmal erwähnt, dass die Helden sämtlicher Wikingerromane Norweger seien. Die sind anscheinend irgendwie sympathischer, hatte sie gemeint. Wegen Morten Harket, nehm ich an. Du weißt schon, der Schöne von A-ha.
»Wir sind Dänen«, sagte er.
Dänen.
Das sind in den Romanen immer die Bösen, hatte Angie gesagt.
Was machen wir mit ihr, Herr? Als Lagergefährtin taugt sie sicher, aber wie wollen wir das regeln? Du als unser Anführer nimmst sie zuerst, und dann sind wir an der Reihe?«
»Ich wäre damit einverstanden«, sagte der Glatzkopf schnell. Der hieß Hauknefr, wie Jenny inzwischen herausgehört hatte.
»Was meinst du, Herr?«
»Sag schon, Herr.«
Ihr klingelten die Ohren. Sie hatte sich nicht verhört, nein. Vielleicht sollte sie die Sache mit dem Traum noch einmal überdenken. Daheim im gemütlichen Bett aufzuwachen, klang einfach zu verheißungsvoll.