Erstes Kapitel
Am Rand der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, und in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf. Sie war neun Jahre alt, und sie wohnte ganz allein dort. Sie hatte keine Mama und keinen Papa, und eigentlich war das sehr schön, denn so gab es niemanden, der ihr sagen konnte, dass sie schlafen gehen sollte, wenn sie gerade mitten im schönsten Spiel war, und niemanden, der sie zwingen konnte, Lebertran zu nehmen, wenn sie lieber Bonbons essen wollte.
Früher hatte Pippi mal einen Papa gehabt, den sie schrecklich lieb hatte. Ja, sie hatte natürlich auch eine Mama gehabt, aber das war so lange her, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Die Mama war gestorben, als Pippi noch ein ganz kleines Ding war, das in der Wiege lag und so furchtbar schrie, dass es niemand in ihrer Nähe aushalten konnte. Pippi glaubte, dass ihre Mama nun oben im Himmel war und durch ein kleines Loch auf ihr Mädchen runterguckte, und Pippi winkte oft zu ihr hinauf und sagte:
»Hab keine Angst! Ich komm immer zurecht!«
Ihren Papa hatte Pippi nicht vergessen. Er war Kapitän und segelte über die großen Meere, und Pippi war mit ihm auf seinem Schiff gesegelt, bis er einmal bei einem Sturm ins Meer geweht worden und verschwunden war. Aber Pippi war ganz sicher, dass er eines Tages zurückkommen würde. Sie glaubte überhaupt nicht, dass er ertrunken sein könnte. Sie glaubte, dass er auf einer Insel an Land geschwemmt worden war, wo viele Eingeborene wohnten, und dass ihr Papa König über alle Eingeborenen geworden war und jeden Tag eine goldene Krone auf dem Kopf trug.
»Meine Mama ist ein Engel, und mein Papa ist ein Südseekönig. Es gibt wahrhaftig nicht viele Kinder, die so feine Eltern haben!«, pflegte Pippi sehr stolz zu sagen. »Und wenn mein Papa sich nur ein Schiff bauen kann, dann kommt er und holt mich, und dann werde ich eine Südseeprinzessin. Hei hopp, was wird das für ein Leben!«
Ihr Papa hatte dieses alte Haus, das in dem Garten stand, vor vielen Jahren gekauft. Er hatte gedacht, dass er dort mit Pippi wohnen würde, wenn er alt war und nicht mehr über die Meere segeln konnte. Aber dann passierte ja das Schreckliche, dass er ins Meer geweht wurde, und während Pippi darauf wartete, dass er zurückkam, begab sie sich geradewegs nach Hause in die Villa Kunterbunt. So hieß dieses Haus. Es stand möbliert und fertig da und wartete auf sie. An einem schönen Sommerabend hatte sie allen Matrosen auf dem Schiff ihres Papas Lebewohl gesagt. Sie hatten Pippi sehr gern, und Pippi hatte sie auch gern.
»Lebt wohl, Jungs«, sagte Pippi und gab allen der Reihe nach einen Kuss auf die Stirn. »Habt keine Angst um mich. Ich komm immer zurecht.«
Zwei Dinge nahm sie vom Schiff mit. Einen kleinen Affen, der Herr Nilsson hieß, und einen großen Handkoffer, voll mit Goldstücken, den hatte sie von ihrem Papa bekommen.
Die Matrosen standen an der Reling und schauten Pippi nach, solange sie sie sehen konnten. Sie ging mit festen Schritten davon, ohne sich umzudrehen, mit Herrn Nilsson auf der Schulter und dem Koffer in der Hand.
»Ein merkwürdiges Kind«, sagte einer der Matrosen und wischte sich eine Träne aus dem Auge, als Pippi in der Ferne verschwunden war.
Er hatte recht. Pippi war ein sehr merkwürdiges Kind. Das Allermerkwürdigste an ihr war, dass sie so stark war. Sie war so furchtbar stark, dass es auf der ganzen Welt keinen Polizisten gab, der so stark war wie sie. Sie konnte ein ganzes Pferd hochheben, wenn sie wollte. Und das wollte sie. Sie hatte ein eigenes Pferd, das sie für eines ihrer vielen Goldstücke gekauft hatte, an demselben Tag, an dem sie heimgekommen war in die Villa Kunterbunt. Sie hatte sich immer nach einem eigenen Pferd gesehnt. Und jetzt wohnte es auf der Veranda. Aber wenn Pippi ihren Nachmittagskaffee dort trinken wollte, hob sie es ohne Weiteres in den Garten hinaus.
Neben der Villa war ein anderer Garten und darin ein anderes Haus. In dem Haus wohnten ein Papa und eine Mama mit ihren beiden netten kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Der Junge hieß Tommy und das Mädchen Annika. Das waren zwei sehr liebe, wohlerzogene und artige Kinder. Niemals kaute Tommy an seinen Nägeln, immer tat er das, was ihm seine Mama sagte. Annika murrte niemals, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Sie sah immer ordentlich aus in ihren gebügelten Baumwollkleidern, und sie nahm sich sehr in Acht, dass sie sich nicht schmutzig machte. Tommy und Annika spielten brav zusammen in ihrem Garten, aber sie hatten sich oft einen Spielkameraden gewünscht, und zu der Zeit, als Pippi noch mit ihrem Papa auf den Meeren herumsegelte, standen sie manchmal am Gartenzaun und sagten:
»Zu dumm, dass niemand in dieses Haus zieht. Da sollte jemand wohnen, jemand, der Kinder hat.«
An dem schönen Sommerabend, als Pippi zum ersten Mal über die Schwelle der Villa Kunterbunt schritt, waren Tommy und Annika nicht zu Hause. Sie waren für eine Woche zu Besuch zu ihrer Großmutter gereist. Sie hatten daher keine Ahnung, dass jemand in die Nachbarvilla eingezogen war, und als sie am ersten Tag nach ihrer Rückkehr an der Gartentür standen und auf die Straße schauten, wussten sie immer noch nicht, dass ganz in ihrer Nähe ein Spielkamerad war.
Als sie gerade überlegten, was sie anfangen sollten und ob vielleicht heute etwas Interessantes passieren würde oder ob es so ein langweiliger Tag werden würde, wo einem nichts einfiel, gerade da wurde die Gartentür zur Villa Kunterbunt geöffnet, und ein kleines Mädchen kam heraus. Das war das merkwürdigste Mädchen, das Tommy und Annika je gesehen hatten, und es war Pippi Langstrumpf, die zu ihrem Morgenspaziergang herauskam. Sie sah so aus:
Ihr Haar hatte dieselbe Farbe wie eine Möhre und war in zwei feste Zöpfe geflochten, die gerade vom Kopf abstanden. Ihre Nase hatte dieselbe Form wie eine ganz kleine Kartoffel und war völlig von Sommersprossen übersät. Unter der Nase saß ein wirklich riesig breiter Mund mit gesunden weißen Zähnen. Ihr Kleid war auch ziemlich merkwürdig. Pippi hatte es selbst genäht. Eigentlich sollte es blau werden, aber weil der blaue Stoff nicht gereicht hatte, hatte Pippi hier und da kleine rote Stoffstückchen angenäht. An ihren langen dünnen Beinen hatte sie ein Paar lange Strümpfe, einen geringelten und einen schwarzen. Und dann trug sie ein Paar schwarze Schuhe, die genau doppelt so groß waren wie ihre Füße. Die Schuhe hatte ihr Papa in Südamerika gekauft, damit sie etwas hätte, in das sie hineinwachsen könnte, und Pippi wollte niemals andere haben.
Tommy und Annika rissen erst recht die Augen auf, als sie den Affen sahen, der auf der Schulter des fremden Mädchens saß. Es war eine kleine Meerkatze mit blauen Hosen, gelber Jacke und einem weißen Strohhut.
Pippi ging die Straße entlang. Sie ging mit dem einen Bein auf dem Bürgersteig und mit dem anderen im Rinnstein. Tommy und Annika schauten ihr nach, solange sie sie sehen konnten. Nach einer Weile kam sie zurück. Aber jetzt ging sie rückwärts. Das tat sie, damit sie sich nicht umzudrehen brauchte, wenn sie nach Hause ging. Als sie vor Tommys und Annikas Gartentür angekommen war, blieb sie stehen. Die Kinder sahen sich schweigend an. Schließlich fragte Tommy:
»Warum bist du rückwärtsgegangen?«
»Warum ich rückwärtsgegangen bin?«, sagte Pippi. »Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte? Übrigens will ich dir sagen, dass in Ägypten alle Menschen so gehen, und niemand findet das auch nur im Geringsten merkwürdig.«
»Woher weißt du das?«, fragte Tommy. »Du bist doch wohl nicht in Ägypten gewesen?«
»Ob ich in Ägypten war? Ja, da kannst du Gift drauf nehmen! Ich war überall auf dem ganzen Erdball und hab noch viel komischere Sachen gesehen als Leute, die rückwärtsgehen. Ich möchte wissen, was du gesagt hättest, wenn ich auf den Händen gegangen wäre wie die Leute in Hinterindien.«
»Jetzt lügst du«, sagte Tommy.
Pippi überlegte einen Augenblick.
»Ja, du hast recht, ich lüge«, sagte sie traurig.
»Lügen ist hässlich«, sagte Annika, die endlich wagte, den Mund aufzumachen.
»Ja, lügen ist sehr hässlich«, sagte Pippi noch trauriger. »Aber ich vergesse es hin und wieder, weißt du. Und wie kannst du überhaupt verlangen, dass ein kleines Kind, das eine Mama hat, die ein Engel ist, und einen Papa, der Südseekönig ist, und das sein ganzes Leben lang auf dem Meer gesegelt ist, immer die Wahrheit sagen soll? Und übrigens«, fuhr sie fort, und sie strahlte über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht, »will ich euch sagen, dass es im Kongo keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag. Sie fangen früh um sieben an und hören nicht eher auf, als bis die Sonne untergegangen ist. Wenn es also passieren sollte, dass ich mal lüge, so müsst ihr versuchen, mir zu verzeihen und daran zu denken, dass es nur daran liegt, weil ich etwas zu lange im Kongo war. Wir können doch trotzdem Freunde sein, nicht wahr?«
»Ja, klar«, sagte Tommy, und er wusste plötzlich, dass der Tag heute sicher keiner der langweiligen werden würde.
»Warum könnt ihr übrigens nicht bei mir frühstücken?«, fragte Pippi.
»Ja, richtig«, sagte Tommy, »warum können wir das nicht? Kommt, wir gehen!«
»Ja«, sagte Annika, »jetzt sofort.«
»Aber erst muss ich euch Herrn Nilsson vorstellen«, sagte Pippi.
Und da nahm der kleine Affe den Hut ab und grüßte höflich.
Und nun gingen sie durch die verfallene Gartentür der Villa Kunterbunt den Kiesweg entlang, an dessen Rändern alte moosbewachsene Bäume standen, richtig prima Kletterbäume, und hinauf zur Villa und auf die Veranda.
Da stand das Pferd und fraß Hafer aus einer Suppenschüssel.
»Warum in aller Welt hast du ein Pferd auf der Veranda?«, fragte Tommy.
Alle Pferde, die er kannte, wohnten in einem Stall.
»Tja«, sagte Pippi nachdenklich, »in der Küche würde es nur im Weg stehen. Und im Salon gefällt es ihm nicht.«
Tommy und Annika streichelten das Pferd und gingen dann ins Haus. Da gab es eine Küche, einen Salon und ein Schlafzimmer. Aber es sah so aus, als ob Pippi vergessen hätte, am Wochenende sauber zu machen.
Tommy und Annika sahen sich vorsichtig um, ob der Südseekönig in einer Ecke säße. Sie hatten in ihrem ganzen Leben noch keinen Südseekönig gesehen. Aber kein Papa war zu sehen und auch keine Mama, und Annika fragte ängstlich:
»Wohnst du hier ganz allein?«
»Aber nein, Herr Nilsson und das Pferd wohnen ja auch hier.«
»Ja, aber, ich meine, hast du keine Mama und keinen Papa hier?«
»Nein, gar nicht«, sagte Pippi vergnügt.
»Aber wer sagt dir, wenn du abends ins Bett gehen sollst, und all so was?«
»Das mach ich selbst«, sagte Pippi. »Erst sag ich es ganz freundlich, und wenn ich nicht gehorche, dann sag ich es noch mal streng, und wenn ich dann immer noch nicht hören will, dann gibt es Haue.«
Genau verstanden Tommy und Annika das nicht, aber sie dachten, dass es vielleicht ganz praktisch wäre. Inzwischen waren sie in die Küche gekommen, und Pippi schrie:
»Jetzt woll’n wir braten Pfannekraten!
Jetzt woll’n wir essen Pfannekessen!
Jetzt woll’n wir futtern Pfannekuttern!«
Und nun holte sie drei Eier und warf sie in die Luft. Eins fiel ihr auf den Kopf und ging kaputt, sodass ihr das Eigelb in die Augen lief. Aber die anderen fing sie geschickt in einem Topf auf, und dort gingen sie dann kaputt. »Ich hab immer gehört, dass Eigelb gut für die Haare sein soll«, sagte Pippi und wischte sich die Augen aus. »Ihr sollt mal sehen: Es wächst, dass es kracht. In Brasilien laufen übrigens alle Leute mit Ei im Haar herum. Aber da gibt’s auch keine Kahlköpfe. Nur einmal war da ein Alter, der war so verrückt, dass er die Eier aufaß, anstatt sie ins Haar zu schmieren. Er bekam auch ganz richtig einen Kahlkopf, und wenn er sich auf der Straße zeigte, gab es einen solchen Auflauf, dass die Polizei anrücken musste.«
Während Pippi redete, hatte sie geschickt die Eierschalen mit den Fingern aus dem Topf gefischt. Jetzt nahm sie eine Badebürste, die an der Wand hing, und fing an, den Pfannkuchenteig zu schlagen, sodass die Wände ringsherum vollgespritzt wurden. Schließlich goss sie das, was übrig war, in eine Pfanne, die auf dem Herd stand.
Als der Pfannkuchen auf der einen Seite gebacken war, warf sie ihn hoch, sodass er sich in der Luft umdrehte, und fing ihn dann wieder in der Pfanne auf. Und als er fertig war, warf sie ihn quer durch die Küche direkt auf einen Teller, der auf dem Tisch stand.
»Esst«, rief sie, »esst, bevor er kalt wird!«
Und Tommy und Annika aßen und fanden, dass es ein sehr guter Pfannkuchen war.
Danach bat Pippi sie in den Salon. Dort stand nur ein Möbelstück. Das war eine große, große Kommode mit vielen kleinen, kleinen Schubladen. Pippi öffnete die Schubladen und zeigte Tommy und Annika all die Schätze, die sie dort verwahrt hatte. Da waren seltsame Vogeleier und merkwürdige Schneckengehäuse und Steine, kleine hübsche Schachteln, schöne silberne Spiegel und Perlenketten und vieles andere, was Pippi und ihr Papa während ihrer Reisen um die Erde gekauft hatten.
Pippi gab jedem ihrer neuen Freunde ein kleines Geschenk zum Andenken. Tommy bekam einen Dolch mit schimmerndem Perlmuttgriff und Annika ein Kästchen, dessen Deckel mit rosa Muscheln besetzt war. In dem Kästchen lag ein Ring mit einem grünen Stein.
»Am besten, ihr geht jetzt nach Hause«, sagte Pippi, »damit ihr morgen wiederkommen könnt. Denn wenn ihr nicht nach Hause geht, könnt ihr ja nicht wiederkommen. Und das wäre schade.«
Das fanden Tommy und Annika auch. Und so gingen sie nach Hause, am Pferd vorbei, das den ganzen Hafer aufgefressen hatte, und durch die Gartentür der Villa Kunterbunt. Herr Nilsson schwenkte den Hut, als sie gingen.
Zweites Kapitel
Annika erwachte zeitig am nächsten Morgen. Sie sprang schnell aus dem Bett und schlich zu Tommy.
»Wach auf, Tommy«, sagte sie und rüttelte ihn am Arm. »Wach auf, wir wollen zu dem ulkigen Mädchen mit den großen Schuhen gehen.«
Tommy war sofort hellwach.
»Ich wusste, als ich schlief, dass heute was Lustiges kommt, ich konnte mich nur nicht daran erinnern, was es ist«, sagte er und zog seine Pyjamajacke aus. Dann gingen beide ins Badezimmer. Sie wuschen sich und putzten die Zähne viel schneller als sonst, sie zogen sich schnell und vergnügt an, und eine ganze Stunde früher, als ihre Mama gedacht hatte, kamen sie von oben auf dem Geländer heruntergerutscht und landeten genau am Frühstückstisch, wo sie sich hinsetzten und riefen, dass sie jetzt sofort ihren Kakao haben wollten.
»Was habt ihr denn vor?«, fragte ihre Mama. »Ihr habt es ja so eilig!«
»Wir wollen zu dem neuen Mädchen ins Haus nebenan gehen«, sagte Tommy.
»Wir bleiben vielleicht den ganzen Tag da«, sagte Annika.
An diesem Morgen war Pippi dabei, Pfefferkuchen zu backen.
Sie hatte eine riesengroße Menge Teig gemacht und auf dem Küchenfußboden ausgerollt.
»Denn weißt du«, sagte Pippi zu ihrem kleinen Affen, »wie weit reicht eigentlich ein Backblech, wenn man mindestens fünfhundert Pfefferkuchen backen will?«
Und da lag sie nun auf dem Fußboden und stach mit Hingabe Pfefferkuchen aus.
»Tritt nicht immer in den Teig, Herr Nilsson«, sagte sie gerade, als es klingelte.
Pippi lief zur Tür und öffnete. Sie war von oben bis unten weiß wie ein Müller, und als sie Tommy und Annika herzlich die Hände schüttelte, wurden sie von einer Mehlwolke eingehüllt.