Robert J. Shiller

Märkte für Menschen

So schaffen wir ein besseres Finanzsystem

Aus dem Englischen von Petra Pyka

Campus Verlag
Frankfurt/New York

Über das Buch

Börsenspekulationen, Milliardenpoker, überzogene Boni, Renditedenke: Was im Interesse der Finanzwirtschaft erstrebenswert ist, hat für den Rest der Gesellschaft katastrophale Folgen. Doch das muss – und darf – nicht sein. Topexperte Robert Shiller stellt seine Vision einer besseren Finanzordnung vor: in der die Märkte wieder ihre ursprüngliche Funktion erfüllen, das Kapital der Gesellschaft zu verwalten und zu mehren. Vom Banker bis zum CEO, von der Börse bis zur Politik: Wir haben es in der Hand, die Kräfte der Wirtschaft wieder zum Wohle aller einzusetzen.

Über den Autor

Robert J. Shiller

Robert J. Shiller ist seit Jahren einer der Topanwärter für den Wirtschaftsnobelpreis und zählt zu den einflussreichsten Vordenkern in der globalen Wirtschaft. Shiller ist erfolgreicher Autor und lehrt als Wirtschaftswissenschaftler an der Yale University.

Inhalt

Vorwort

Einführung

Teil I Funktionen und Aufgaben

1 Die Topmanager

2 Die Investmentmanager

3 Die Banker

4 Die Investmentbanker

5 Die Hypothekenvergeber und -verbriefer

6 Die Händler und Marktmacher

7 Die Versicherer

8 Die Marktdesigner und Finanztechniker

9 Die Derivateanbieter

10 Die Juristen und Finanzberater

11 Die Lobbyisten

12 Die Regulierungsbehörden

13 Buchhalter, Steuerberater und Abschlussprüfer

14 Die Wissensvermittler

15 Das öffentliche Finanzwesen

16 Die Politiker, die für die Stabilisierung der Wirtschaft zuständig sind

17 Treuhänder und gemeinnützige Verwalter

18 Die Philanthropen

Teil II Das Unbehagen in der Finanzwirtschaft

19 Finanzwesen, Mathematik und Ästhetik

20 Die Klassifizierung von Menschen: Finanzleute im Vergleich zu Künstlern und anderen Idealisten

21 Der Risikoimpuls

22 Der Konventionalitäts- und Vertrautheitsimpuls

23 Fremdkapital und Hebelwirkung

24 Unglückliche Anreize für Unmoral im Finanzwesen

25 Die Bedeutung der Finanzspekulation

26 Spekulationsblasen und ihre volkswirtschaftlichen Kosten

27 Ungleichheit und Ungerechtigkeit

28 Probleme mit Philanthropie

29 Die Streuung des Eigentums am Kapital

30 Die falsche Rechnung, damals und heute

Epilog: Finanzwesen, Macht und menschliche Werte

Anmerkungen

Literaturhinweise

Register

Vorwort

Ursprünglich wollte ich dieses Buch für die Studenten meines Finanzwirtschaftskurses schreiben, den ich jetzt seit 25 Jahren an der Universität Yale anbiete. Nach meinem Eindruck suchen viele dieser jungen Menschen noch ihren Platz in der Welt und machen sich Gedanken darüber, was in der harten Wirklichkeit aus ihren Zielen und Träumen wird. Mit diesem Buch will ich ihnen das moderne System des Finanzkapitalismus erklären, in dem sie jetzt und jahrzehntelang leben müssen – ungeachtet ihrer Berufswahl.

Der Kurs ist seit 2008 online verfügbar – über die Videoaufzeichnungen von allen meinen Vorlesungen, die von Open Yale Courses für die Öffentlichkeit produziert werden. Eine neue Videoversion meiner Vorlesungen erscheint 2012.1

Auch die Bedürfnisse meiner Fernstudenten, die meine Vorlesungen in aller Welt online verfolgen, haben mich zu diesem Buch veranlasst.

Doch nachdem ich mit der Arbeit begonnen hatte, hat sich eine übergeordnete und dringendere Zielsetzung ergeben, die über die Vermittlung von Wissen an Studenten hinausgeht. Wir alle leben in einer Welt des Finanzkapitalismus – einem Wirtschaftssystem, das sich immer stärker an den Finanzinstituten orientiert und nach der schweren Finanzkrise, die 2007 einsetzte, vielen angeschlagen erscheint. Wir alle müssen nun darüber nachdenken, ob diese Gesellschaft überhaupt den richtigen Kurs gesetzt hat – für unsere und die folgenden Generationen.

Der Finanzkapitalismus ist eine Erfindung, und der Prozess des Erfindens ist wohl noch nicht abgeschlossen. Das System muss wohlüberlegt in die Zukunft gelenkt werden. Vor allem aber muss es erweitert, demokratisiert und humanisiert werden, damit Finanzinstitute irgendwann noch weiter verbreitet sind und positive Effekte haben. Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen gleichberechtigt am Finanzsystem teilhaben können, mit umfassendem Zugang zu Informationen und mit den menschlichen und elektronischen Ressourcen, die sie brauchen, um ihre Chancen aktiv und sinnvoll zu nutzen. Dafür müssen sie sich durch und durch als Teil des modernen Finanzkapitalismus verstehen, nicht als Opfer der aggressiven und eigennützigen Machenschaften eines zynischen finanzwirtschaftlichen Establishments. Zu diesem Zweck werden neue finanzielle Erfindungen gebraucht, in die die aktuelle Finanztheorie einfließen muss. Und es ist eine Research-Revolution in Verhaltensökonomie und Verhaltensfinanzwirtschaft erforderlich, die den realen menschlichen Grenzen auf den Grund geht, die rationale und humane Entscheidungen verhindert. Die Entwicklung und Umsetzung solcher Erfindungen ist die beste Taktik zur Beseitigung wirtschaftlicher Ungleichheit. Diese Zukunft liegt in der Hand der Menschen, ob alt oder jung, die dieses Buch lesen werden.

Während diese Zeilen geschrieben werden, tritt die Bedeutung dieser Thematik besonders klar zutage, da viele Länder in aller Welt noch mit den Folgen der Finanzkrise kämpfen, die 2007 begann. Die genaue Datierung dieser Krise ist schwierig, denn 2012 – in dem Jahr, in dem dieses Buch entsteht – können wir keinesfalls davon ausgehen, dass sie vorüber ist. Vielleicht steht uns das Schlimmste noch bevor. Die Regierungen sind mit ihren Bestrebungen, die ursächlichen Probleme der Krise zu lösen, noch nicht sehr weit gekommen, und die »Stresstests«, die von staatlicher Seite bemüht wurden, um die Zuversicht im Hinblick auf unsere Finanzinstitute zu stärken, waren von fragwürdiger Gründlichkeit.

Öffentliche Demonstrationen gegen Regierungen und die bestehende finanzwirtschaftliche Ordnung machten 2011 Schlagzeilen, als ich längst mit der Arbeit an diesem Buch begonnen hatte. Die Demonstranten hatten sich offensichtlich von den Protesten im Zuge des Arabischen Frühlings gegen die Diktaturen im Nahen Osten inspirieren lassen. Sie richteten sich immer mehr gegen das finanzwirtschaftliche Establishment, mit dem Movimiento 15-M in Madrid, Occupy Wall Street in New York, Occupy Boston, Occupy Los Angeles, Occupy London, Occupy Melbourne, Occupy Rome und anderen Erscheinungsformen. Im stimmgewaltigen Widerstand gegen die Wahlen in Russland vom Dezember 2011 spiegelte sich Unzufriedenheit mit dem Umstand, dass es sich die »Wirtschaftsoligarchen« so gemütlich eingerichtet hatten. Der rote Faden, der sich durch all diese Bewegungen zieht, ist ein Plädoyer für mehr Demokratie und das Anprangern einer vermeintlichen Verschwörung zwischen Regierungen und dem mit ihnen verwobenen Finanz-Establishment. Die Demonstranten argumentieren und formulieren nicht immer schlüssig, doch die Proteste als solche stellen eine maßgebliche und willkommene Bekräftigung demokratischer Werte und staatsbürgerlicher Verantwortung dar.

Dabei sind diese Bewegungen nicht unbedingt im linken Flügel anzusiedeln. Auch Gruppierungen, die sich in den Vereinigten Staaten als ideologisches Gegenstück zu Occupy Wall Street verstehen, wie die rechts orientierten Tea-Party-Aktivisten, sind allem Anschein nach beunruhigt von der offensichtlichen Konzentration von Reichtum und Macht in New York und an anderen Finanzplätzen, während im »mittleren Amerika« die produktive Arbeit stattfindet. Praktisch alle politischen Richtungen scheinen sich einig darin, dass die finanziellen Interessen der Wohlhabenden keinen Einfluss auf die Regierung ausüben sollten, um Reiche noch reicher zu machen, wie es offenbar vor der Krise und auch noch danach der Fall war. Weniger Einigkeit herrscht allerdings über die Schritte, die jetzt unternommen werden sollten.

Viele Menschen haben offenbar die fixe Idee, dass die Verantwortlichen für die Finanzkrise ins Gefängnis gehören. Ende 2011 hielt ich vor großem Publikum, das sich wohl mehrheitlich aus Vertretern der Wirtschaft zusammensetzte, einen Vortrag, der vom Chicago Council on Global Affairs gesponsert wurde. Manche Zuhörer attackierten mich im Anschluss scharf, weil ich nicht intensiv genug auf die vielen Betrugsvorwürfe eingegangen sei, die im Zuge der Krise gegen Finanzunternehmen erhoben wurden. Dass sich gerade die Geschäftswelt so echauffierte, überraschte mich, denn von den Anwesenden gingen sicher die wenigsten mit Transparenten auf die Straße, und die politischen Lager der Republikaner und Demokraten waren vermutlich gleich stark vertreten. Ebenso erstaunt war ich darüber, dass meine Zuhörer mein eigentliches Thema – die Notwendigkeit einer Demokratisierung des Finanzwesens durch eine Verbesserung der Finanzmarktfunktionen für alle – nicht stärker mit ihren Anliegen identifizierten. Immerhin griff ich damit doch die grundlegenden Ziele von Occupy Wall Street auf.

Natürlich ist Rechtsbruch eine unübersehbare Ursache für die aktuelle Finanzkrise. Doch wer das Problem ausschließlich dort ansiedelt, der verliert meines Erachtens das Gesamtbild aus den Augen. Unser Finanzsystem hat aus vielen verschiedenen Gründen versagt. Wenn wir die tieferen Ursachen der Krise nicht ausräumen, indem wir das System verbessern, dann gehen wir am Kernproblem vorbei – und verpassen die Chance, es zu lösen.

Natürlich sollte jeder begangene Betrug geahndet werden. Doch ein plötzlicher Ausbruch krimineller Energie kann kaum der Krise angelastet werden. Der Boom, der in die Krise führte, war mehr oder minder vergleichbar mit einer Autobahn, auf der die meisten Fahrzeuge die erlaubte Geschwindigkeit geringfügig überschritten. In solchen Situationen passt sich der wohlmeinende Fahrer der Kolonne an. Der Untersuchungsausschuss, der sich in den USA mit der Finanzkrise befasste – die U.S. Financial Crisis Inquiry Commission –, beschrieb den Boom in seinem Abschlussbericht 2011 als »Tollheit«2. Wie auch immer, in erster Linie kriminell war er jedenfalls nicht.

Um das Bild von der Autobahn weiterzuentwickeln, könnte man sagen, dass sich nun die Autohersteller am besten auf die Frage konzentrieren sollten, wie der Fahrzeugverkehr durch neue Technik besser organisiert werden kann – mit perfektionierten Tempomaten, externem elektronischem Feedback und letztlich vielleicht sogar selbstfahrenden Autos, kurz, mit komplexen neuartigen Systemen, durch die alle ihr Reiseziel leichter und sicherer erreichen. Wenn das die Zukunft unserer Autobahnen ist, dann sollte die Zukunft unserer Finanzinstitute ganz ähnlich aussehen.

All die Protestbewegungen können lediglich eine Unzufriedenheit manifestieren, die sich seit Einsetzen der Finanzkrise in Gesprächen und Blogs wiederfindet. Die Äußerungen von Demonstranten auf der Straße und verärgerten Unternehmern sind nicht zielführend und zeigen nicht auf, was fehlgeleitet ist und was getan werden sollte. Dennoch zeigen sich in der grundlegenden Unzufriedenheit mit unserem derzeitigen Finanzwesen echte Probleme mit dem System, die aus der Welt geschafft werden müssen – Probleme, die durch neue Gesetze und Vorschriften, die im Kielwasser der Krise erlassen wurden, noch nicht behoben sind.

Sichtbar wurde die Finanzkrise in den Vereinigten Staaten, als nach 2006 die Immobilienpreise bröckelten. Dem Standard & Poor’s/Case-Shiller-Index für die US-Immobilienpreise zufolge fielen diese in den fünf Jahren von 2006 bis 2011 effektiv um 40 Prozent. 2007 hatte dieser Rückgang die Kurse von mit Eigenheimhypotheken unterlegten Wertpapieren so stark gedrückt, dass es für deren Inhaber brenzlig wurde. Man bezeichnete das als Subprime-Krise, weil der Preisverfall bei sogenannten Subprime-Hypotheken besonders ausgeprägt war, die an Kreditnehmer von minderer Bonität vergeben worden waren – also Eigenheimkäufer, die aufgrund von Faktoren wie ihrer Zahlungs- und Beschäftigungshistorie mit höheren Ausfallrisiken behaftet waren. Die Schuld an der Krise gab man den Finanzinnovationen auf der Grundlage sicherlich minderwertiger Darlehen. Doch die Krise blieb nicht auf solche Hypotheken begrenzt. Das war nur die erste Schockwelle eines verheerenden Bebens. In der Folge rutschten die Immobilienpreise ab und Finanzinstitute brachen zusammen – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa und anderen Regionen. Im Frühjahr 2009 hatte sich die Krise derart zugespitzt, dass sie als größte Finanzkatastrophe seit der Weltwirtschaftskrise der 1930 er Jahre bezeichnet wurde – größer noch als die Asienkrise der 1990 er Jahre und als die ölpreisbedingten Krisen von 1974/75 und 1981/82. Erschwerend kam 2010 eine europäische Staatsschulden- und Bankenkrise hinzu, die 2012 dazu führte, dass die Kreditqualität von Anleihen vieler Staaten herabgestuft wurde – auch die des Rettungsschirms der Eurozone, der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität. Bis heute wirkt sich diese Krise weltweit aus.

Doch trotz der Probleme der Hypothekenbranche und vieler großer Finanzinstitute – die zum Teil schlicht auf übermäßigem Enthusiasmus und Naivität beruhten, mitunter aber auch auf eindeutigen Manipulations- und Betrugsversuchen – waren diese Probleme für mich, anders als für viele andere, nie ein vernichtendes Zeugnis für unser Finanzsystem als Ganzes. So unvollkommen dieses sein mag, muss ich es dennoch unwillkürlich für seine Errungenschaften bewundern und stelle mir vor, wie viel eindrucksvoller es noch werden kann.

Mir ist klar, dass Kritiker annehmen könnten, die Vorbereitung von Studenten auf eine Karriere in der Finanzwirtschaft würde einen Trend zu größeren wirtschaftlichen Problemen für die breite Masse nur verstärken. Sicherlich haben viele, die im Finanzwesen oder in verwandten Bereichen tätig sind, enorme materielle Vorteile davon, während andere weit weniger verdienen. Die Einkommensschere klafft in der modernen Gesellschaft derzeit tatsächlich tendenziell immer weiter auseinander.3 Zu diesem Trend beigetragen hat die Tendenz, manche Berufsgruppen im Dunstkreis des Finanzwesens besonders gut zu entlohnen, während andere, die ihr Geld primär in anderen Wirtschaftssektoren verdienen – einschließlich großer Teile der Mittelschicht und der Armen – an Boden verlieren. Die staatlichen Rettungsaktionen für wohlhabende Banker haben die Vorbehalte der Öffentlichkeit in Bezug auf diese Ungleichheit spontan verdoppelt.

Doch die Finanzwirtschaft sollte nicht als inhärent oder ausschließlich elitär betrachtet werden oder als Motor für wirtschaftliche Ungerechtigkeit. Der Finanzsektor ist trotz seiner Makel und Exzesse eine Kraft, die uns helfen kann, eine bessere, wohlhabendere und gleichere Gesellschaft zu schaffen. Die Finanzwirtschaft war sogar ein zentraler Faktor für den Aufstieg reicher Marktwirtschaften in der Moderne. Ohne sie wäre diese Entwicklung gar nicht denkbar gewesen. Abgesehen von den Schlagzeilen, in denen Banker und Finanziers als selbstverherrlichende Rechtsbrecher und Urheber wirtschaftlicher Verzerrungen und Verwicklungen dargestellt werden, ist und bleibt das Finanzwesen eine maßgebliche gesellschaftliche Einrichtung, die notwendig ist, um die Risiken zu steuern, die es einer Gesellschaft ermöglichen, kreative Impulse in unverzichtbare Produkte und Dienstleistungen umzusetzen, von besseren Operationsprotokollen in Krankenhäusern über fortschrittliche Produktionstechnik und hochwissenschaftliche Forschungsunternehmen bis hin zum Sozialstaat. Die Schnittstellen zwischen Finanzinstituten und Menschen sind eine Grundlage der Gesellschaft. Klare Voraussetzungen für diese Schnittstellen und der richtige Kontext für ihre Realisierung und Verbesserung sind Thema dieses Buches.

Dasselbe Finanzsystem, das uns einige unserer größten Errungenschaften bescherte, kann aber auch implodieren und verheerende Folgen haben, was paradox erscheint. Für die Zukunft ist die Gesellschaft allerdings am besten beraten, wenn sie Finanzinnovationen zulässt, statt sie einzudämmen. So können die Auswirkungen solcher Katastrophen abgefedert und das Finanzsystem gleichzeitig demokratisiert werden. In diesem Buch beschreibe ich verschiedene Finanzinnovationen, die sich noch in der Entwicklung befinden, und ich schlage weitere Innovationen vor, um aufzuzeigen, wie kreative und wohlmeinende Menschen unsere Gesellschaft weiter verbessern und ihr Finanzwesen demokratischer gestalten können.

Doch die Finanzkrise hat uns vor Augen geführt, dass Innovation so erfolgen muss, dass einer verantwortungsbewussten Verwaltung des Vermögens einer Gesellschaft Vorschub geleistet wird. Das lässt sich am besten durch die Verankerung moralisch einwandfreien Verhaltens in der Kultur der Finanzmärkte erreichen – durch Einführung und Einhaltung bewährter Praktiken in ihren verschiedenen Berufsgruppen, bei CEOs, Händlern, Wirtschaftsprüfern, Investmentbankern, Anwälten und Philanthropen.

Als Adam Smith 1776 seinen Klassiker Wohlstand der Nationen verfasste, der lange als Ursprung der modernen Wirtschaftswissenschaft gewürdigt wurde, waren die Zölle das Thema, das den Denkern und Kritikern seiner Zeit unter den Nägeln brannte.4 Zeitgenossen, die eigene Vorteile im Auge hatten, brachten die Regierungen dazu, diese vor das öffentliche Interesse zu stellen und die Zölle in solche Höhen zu treiben, dass kostengünstigere Anbieter aus dem Ausland nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Doch Adam Smith und andere Wirtschaftswissenschaftler nach ihm konnten die Bedeutung des Handels für den breiten Wohlstand der Nationen hinlänglich deutlich machen. Seither ist es für Lobbyisten mit ihren konkreten Anliegen viel schwerer, die Zölle hochzutreiben. Der Handel ist inzwischen weitgehend frei – eine wesentliche Voraussetzung für beachtliches Wachstum und verbreiteten Wohlstand, wie wir sie seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts beobachten konnten.

In der aktuellen schweren Finanzkrise scheiden sich die Geister der Denker und Kritiker nicht am Handel, sondern am Finanzwesen als solches. Sogar gesellschaftliche Institutionen, die in den Augen der Menschen nur ganz am Rande mit Finanzwirtschaft assoziiert werden, sind unter heftigen Beschuss geraten. Diese Feindseligkeit erinnert an den Geist, der während der letzten großen globalen Finanzkrise herrschte – der Großen Depression nach 1929 –, die am Ende solche Unruhen auslöste, dass weite Teile der Weltwirtschaft gelähmt wurden, und die zu den Spannungen beitrug, die den Zweiten Weltkrieg entfesselten.

Die kritische Haltung der breiten Öffentlichkeit infolge der Krise kann den unglücklichen Effekt haben, die Weiterentwicklung des Finanzsystems zu bremsen. Die Ironie dabei: Wir brauchen bessere Finanzinstrumente und nicht weniger finanzwirtschaftliche Aktivität, um die Wahrscheinlichkeit künftiger Finanzkrisen zu verringern. In der Öffentlichkeit herrscht großer Zorn über die vermeintlich ungerechtfertigten Summen, die in der Finanzwelt verdient werden, und dieser Zorn verhindert Innovation: Jede Neuerung wird mit Misstrauen betrachtet. Innovation kann vom politischen Klima abgewürgt werden – und damit auch eine Weiterentwicklung des Finanzkapitalismus, wie sie allen Bürgern zugutekommen könnte.

Natürlich verbreiten sich Finanzinnovationen weiter, auf langsamem und konservativem Niveau, doch im Moment ist die Angst so groß, dass keine bahnbrechenden neuen finanzwirtschaftlichen Erfindungen eingeführt werden können. Ich stelle in diesem Buch die These auf, dass die Finanzkrise nicht einfach die Folge der Gier oder der mangelnden Ehrlichkeit der Akteure in der Finanzwelt war. Vielmehr war sie letztlich die Konsequenz der fundamentalen strukturellen Mängel unserer Finanzinstitute. Doch diese Mängel – wie das Scheitern bei der Steuerung von Immobilienrisiken oder bei der Regulierung des Fremdkapitalanteils – sind noch immer nicht durchgängig beseitigt. Auf die Krise wurde nicht mit beherzten Änderungen in Bereichen reagiert, in denen unsere Finanzinstitute versagt haben. Stattdessen liegt der Schwerpunkt auf der Vermeidung von Rettungsaktionen und auf der Verringerung der Verschuldung von Ländern durch Einschnitte bei den Staatsausgaben. Von Politikern auf den öffentlichen Zorn hin entwickelte Initiativen orientieren sich an dem, was die Öffentlichkeit als Problem wahrnimmt, und nicht an den Beiträgen von Visionären.

Gesellschaftlich produktive Finanzinnovationen könnten rasche Fortschritte erzielen angesichts der Informationsrevolution und der Vielzahl von Ländern, die mit unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen experimentieren und auf dem Weltmarkt in Wettbewerb treten. In den kommenden Jahrzehnten könnten wir bei der Breite von Finanzkontrakten eine rapide Entwicklung verzeichnen, die sich auch in die Reichweite von Märkten hinein erstreckt, um unsere fundamentalen wirtschaftlichen Aktivposten zu wahren. Zu solchen Innovationen könnte die Umsetzung neuer und besserer Schutzmechanismen gegen Wirtschaftskrisen wie die Verbreitung neuartiger Versicherungskontrakte gehören, damit die Menschen ohne Angst vor wirtschaftlichen Katastrophen abenteuerlustiger leben könnten. Vielleicht erleben wir sogar, wie innovative Maßnahmen entwickelt werden, um der wachsenden Belastung durch wirtschaftliche Ungleichheit Herr zu werden, die schwerwiegende gesellschaftliche Probleme zu verursachen droht.

Was ich meinen Studenten – nah und fern, jung und alt – unbedingt mitgeben möchte, ist aber, dass das Finanzwesen wahrhaftig Hoffnung auf eine fairere und gerechtere Welt bringen kann – und dass sie sich mit ihrer Energie und ihrem Verstand diesem Ziel verschreiben müssen.

Dank

Meine studentischen Hilfskräfte in der Forschung hier in Yale – Oliver Bunn, George Cook, Duck-Ju Kang, Bin Li, Michael Love, Lindsey Raymond, Kate Stratton, Argyris Tsiaras und Rachel Wang – waren während der Arbeit an diesem Buch meine Augen und Ohren. Die Studenten meines Finanzwirtschaftskurses in Yale, die als Ergänzung zum Lehrbuch einen ersten Entwurf dieses Buches bekamen, lieferten mir wertvolle Rückmeldungen. Ich wollte gerne die Sichtweise der Jugend berücksichtigen. Ich wollte die Finanzwelt aus dem Blickwinkel von Menschen betrachten, die das Leben noch vor sich haben, die am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn stehen, ob in der Finanzwirtschaft oder in anderen Bereichen – und dabei waren sie mir eine große Hilfe.

Meine Kollegen Karl Case, John Cochrane, Darrell Duffie, Seth Fischof, John Geanakoplos, Gary Gorton, Henry Hansmann, Daeyeol Lee, Bill Leigh, Shlomo Maital, Wayne Moore und Pasko Rakic sowie anonyme Rezensenten versorgten mich mit hilfreichen Kommentaren und Vorschlägen. Eventuelle Fehler gehen aber allein auf mein Konto.

Meine Verwaltungskräfte Carol Copeland und Melissa Studer haben mich stets zuverlässig unterstützt.

Meine Frau Virginia, die als Psychologin eine eigene Praxis betreibt und als Lehrbeauftragte am Yale Child Study Center tätig ist, war wie immer eng in meine geistige Arbeit eingebunden. Sie hat alles, was ich tue, erst möglich gemacht.

Mein Dank gilt dem Public Lectures Committee der Universität Princeton, das mich einlud, die Walter Edge Lecture 2010 zu halten: »Finance and the Good Society«. Darin präsentierte ich eine erste Version der in diesem Buch propagierten Ideen und erhielt Feedback dazu.

Ich stehe in der Schuld Peter Doughertys, des Leiters von Princeton University Press, der mir bei der Konzeptionierung und Ausarbeitung des Buches zur Seite stand. Vielen Dank auch allen im Verlag und im Grunde der gesamten Verlagsbranche, die einen breiteren Diskurs angeregt hat, ohne den es dieses Buch nicht gegeben hätte.

Ich glaube fest daran, dass man besonders durch Bücher zu Einsichten gelangt, nicht nur durch akademische Artikel in Fachblättern, denn ich bin der Ansicht, dass die umfänglichere Erörterung eines Themas, wie sie in einem Buch möglich ist, am Ende zu einem tieferen Verständnis eines jeden Themas beiträgt. Dieses Buch habe ich ursprünglich für meine Studenten begonnen und für sie viele Querverweise eingefügt, wie es sich für einen anständigen Lehrer gehört. An diesen hielt ich auch fest, nachdem ich mich entschlossen hatte, ein Buch für die breite Öffentlichkeit zu schreiben, nicht nur für Studenten. Meines Erachtens ist es für alle Leser wichtig, auch für meine Fachkollegen, sich lesbare Bücher zu breiten Themen zu Gemüte zu führen, und nicht nur akademische Fachliteratur. Solche Bücher popularisieren in meinen Augen nicht nur, sondern sie synthetisieren, schöpfen, provozieren und inspirieren. So sehe ich auch dieses Buch – und andere hoffentlich ebenfalls.

Einführung
Das Finanzwesen, die treuhänderische Verwaltung und unsere Ziele

Was haben wir uns unter einem Buch mit dem Titel Märkte für Menschen. So schaffen wir ein besseres Finanzsystem vorzustellen? Es mag Leser geben, denen diese Konzepte unvereinbar erscheinen. Das Finanzsystem wird landläufig mit der Wissenschaft und Praxis der Vermögensverwaltung gleichgesetzt. Wir stellen uns vor, dass Portfolios aufgestockt, Risiken und steuerliche Belastungen gesteuert und die Reichen noch reicher gemacht werden. Diese Definition werden wir im vorliegenden Kapitel aufgreifen und infrage stellen. Ein besseres Finanzsystem zielt ab auf das Leitbild einer Gesellschaft freier Menschen, ein Begriff, der von Generationen von Philosophen, Historikern und Wirtschaftsexperten verwendet wurde, um eine lebenswerte Gesellschaft zu beschreiben. Darunter ist in aller Regel eine egalitäre Gesellschaft zu verstehen, in der sich alle Menschen gegenseitig achten und wertschätzen. Auf den ersten Blick arbeiten die Finanzmärkte, zumindest nach gängiger Auffassung, offenbar gegen das Ziel einer Gesellschaft freier Menschen.

Doch so einfach ist das nicht. Die Finanzmärkte werden immer stärker mit dem Kapitalismus assoziiert. Seit der Industriellen Revolution haben Intellektuelle ihre oft hitzigen Debatten über die Gesellschaft freier Menschen an Themen festgemacht, die sich auf den Kapitalismus beziehen – wie das System der Märkte, des Privateigentums, der gesetzlichen Vorschriften und der Beziehungen zwischen den Klassen. Diese Institutionen und Themen prägen die moderne Gesellschaft weltweit immer stärker. Neben der Demokratie gibt es wenige Konzepte, die in der Definition der Gesellschaft freier Menschen so verbreitet und gleichzeitig so umstritten sind wie der Kapitalismus.

Die Diskussion über Kapitalismus und die Gesellschaft freier Menschen, von der aufrührerischen Kritik eines Karl Marx im 19. Jahrhundert bis hin zu Milton Friedmans engagiertem Plädoyer für freie Märkte im 20. Jahrhundert, hat sich meist auf den Industriekapitalismus bezogen: das System von Produktion, Bankwesen und Handel, das bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die moderne Gesellschaft formte. Doch in den letzten Dekaden haben wir den Aufstieg des Finanzkapitalismus erlebt: ein System, in dem die Finanzwirtschaft, einst Handlanger der Industrie, zur treibenden Kraft des Kapitalismus geworden ist. Über die rein wirtschaftlichen Aspekte des Finanzkapitalismus ist schon viel geschrieben worden. Auch ich habe mich an dieser Diskussion beteiligt mit meinen akademischen Schriften zur Marktvolatilität und Büchern wie Irrationaler Überschwang. Die aktuelle schwere Finanzkrise wirft aber nicht nur Fragen zu Teilen des Systems auf, sondern auch zum Finanzkapitalismus als Ganzem. Diese Krise, die Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff als die »zweite große Kontraktion« bezeichnen eine Phase mit geschwächten Volkswirtschaften in aller Welt, die 2007 begann, seit Jahren anhält und ein Spiegelbild der großen Kontraktion ist, die auf die Finanzkrise von 1929 folgte, hat zu einer Unmutsreaktion geführt, die dem Finanzkapitalismus jeden Wert abspricht.

Angesichts dieser Erfahrung fragen sich viele, welche Rolle die Finanzmärkte in der Gesellschaft freier Menschen spielen sollen? Wie kann die Finanzwirtschaft als Wissenschaft, in der Praxis und als Quelle wirtschaftlicher Innovation eingesetzt werden, um die Ziele der Gesellschaft freier Menschen voranzutreiben? Wie kann das Finanzwesen Freiheit, Wohlstand, Gleichheit und wirtschaftliche Sicherheit fördern? Wie können wir die Finanzwelt demokratisieren, damit sie uns allen bessere Dienste leistet?

Mehr als nur ein Wort: Die Entwicklung des Finanzkapitalismus

Der Begriff Finanzkapitalismus war schon negativ besetzt, als er in den 1930er Jahren mit der Veröffentlichung von George W. Edwards The Evolution of Finance Capitalism erstmals populär wurde.1 Edwards sah eine Verschwörung großer Finanzinstitute mit J. P. Morgan an der Spitze, die er als Pax Morgana bezeichnete. Während der Weltwirtschaftskrise machten Kritiker und auch die breite Öffentlichkeit das Finanzsystem für ihre Probleme verantwortlich. Sie betrachteten es als eine Art Feudalsystem, in dem die Finanziers die Lehensherren abgelöst hatten.

Der Begriff wurde unlängst wiederbelebt und erneut abwertend verwendet. So sagte der französische Präsident Nicolas Sarkozy: »Der reine Finanzkapitalismus hat die Logik des Kapitalismus pervertiert. Der Finanzkapitalismus ist ein System der Verantwortungslosigkeit und per se … unmoralisch. Er ist ein System, in dem die Logik des Markts alles entschuldigt.«2

Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair kommentierte die schwere Finanzkrise, die 2007 einsetzte, mit folgenden Worten: »Klar ist, dass das Finanzsystem seine Grundlagen verändert hat und niemals wieder so sein kann wie zuvor. Was wir brauchen, sind radikale Maßnahmen zur Bewältigung der Auswirkungen der Krise.«3

Grigorij Jawlinskij schrieb das 500-Tages-Programm von 1990, das den Übergang Russlands in eine freie Marktwirtschaft umriss, und wurde zu dessen Umsetzung zum stellvertretenden Premierminister befördert. Nach der Krise brachte er ähnliche Bedenken zum Ausdruck. In seinem Buch Realpolitik von 2011 äußerte er in einem Abschnitt mit der Überschrift »Struktureller Wandel: Vom Industriekapitalismus zum Finanzkapitalismus«, dass »die fundamentalen strukturellen Veränderungen in direktem Zusammenhang stehen mit einer allmählichen Rückbildung moralischer Restriktionen in den Industrieländern. Solche strukturellen Veränderungen folgen auf extrem schnelles Wachstum des Finanzsektors und artverwandter Dienstleistungen.«4

Ich argumentiere in diesem Buch, dass manche Vorwürfe der Kritiker zwar berechtigt sind, doch die erforderlichen Änderungen die Innovationskraft des Finanzkapitalismus nicht einschränken, sondern vielmehr erweitern sollten. Die bloße Brandmarkung des Finanzkapitalismus als »System der Verantwortungslosigkeit« wird uns kaum weiterbringen. Dabei haben wir die Möglichkeit, die übergeordneten Ziele »guter« Gesellschaften – wohlhabender und freier Gesellschaften in Industrie- und Schwellenländern – voranzutreiben, wenn wir das Finanzwesen ausbauen, korrigieren und neu ausrichten.

Die unauf haltsame Ausbreitung des Finanzkapitalismus

Zum Erscheinungstermin dieses Buchs stecken wir noch in der schweren Finanzkrise, die 2007 begann. Daher assoziieren wir die Finanzmärkte gern mit den jüngsten Problemen wie Altlasten durch Hypotheken und Schulden in den Vereinigten Staaten und Europa und auch mit den rechtlichen und aufsichtsrechtlichen Fehlern, die diesen Entwicklungen vorausgingen. Wir dürfen aber dabei das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren. Die wichtigere Story dreht sich um die Verbreitung und Transformation erfolgreicher Finanzideen. Finanzinnovationen aus Amsterdam, London und New York entwickeln sich in Buenos Aires, Dubai und Tokio weiter.

Die sozialistische Marktwirtschaft mit ihren immer komplexeren Finanzstrukturen wurde 1978 von Deng Xiaoping in China eingeführt und hat auf das Land übertragen, was andere höchst erfolgreiche chinesischsprachige Großstädte vorgemacht haben: Hongkong, Singapur und Taipeh. Die Liberalisierung der indischen Wirtschaft, die eine freiere Anwendung moderner Finanzwirtschaft ermöglichte, wurde 1991 unter Premierminister P. V. Narasimha Rao von dessen Finanzminister (und dem späteren Premierminister) Manmohan Singh eingeläutet, der am Nuffield College an der Universität Oxford Wirtschaftswissenschaften studiert hatte. Das System der Privatisierungsschecks, das Russland 1992/94 unter Premierminister Boris Jelzin und seinem Minister Anatolij Tschubais nach einer Modifizierung des Jawlinskij-Plans einführte, war eine gezielte und aggressive Strategie zum Umbau der russischen Wirtschaft. Nicht nur die Durchdringung des Alltagslebens der russischen Bevölkerung durch das Finanzwesen sollte internationalem Niveau angepasst werden, sondern Russland sollte beim öffentlichen Kapitaleigentum weltweit an erster Stelle stehen.

Die plötzliche Integration hoch entwickelter Finanzstrukturen, die ursprünglich für Länder mit einem weiter fortgeschrittenen Finanzwesen konzipiert waren, ging in solchen Ländern nicht immer reibungslos vonstatten. Die ungleiche Verteilung der Vorzüge, die manche genossen, erregte ein gewisses Missfallen, als Opportunisten im Umbruch rasch große Reichtümer anhäuften. Doch in China, Indien und Russland florierte die Entwicklung des Finanzwesens, und die Länder verzeichneten ein enorm hohes Wirtschaftswachstum. Und nicht nur sie allein. Nach Daten des Internationalen Währungsfonds konnte das gesamte Schwellenländeruniversum – einschließlich der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, des gesamten Nahen Ostens, Afrikas südlich der Sahara und Lateinamerikas – beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den letzten zehn Jahren Wachstumsraten von über sechs Prozent erzielen, sofern sie nicht von globalen Finanzkrisen in Mitleidenschaft gezogen wurden.5

Außerdem führte eine Fülle internationaler Vereinbarungen zur Einrichtung von Institutionen, die mit ausgeklügelten Finanzinstrumenten die Lebensbedingungen für die ganze Menschheit verbessern. Am Hauptsitz der 1944 gegründeten Weltbank, die sich mittlerweile zur weitläufigen Weltbankgruppe ausgewachsen hat, in der US-Hauptstadt Washington prangt das Motto: »Working for a World Free of Poverty« – Für eine Welt ohne Armut. Die Weltbank war die erste der multilateralen Entwicklungsbanken: der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Asiatischen Entwicklungsbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbankgruppe und vielen mehr.

Heute gibt es überall auf der Welt moderne Finanzinstitutionen. Und es sind nicht mehr nur Aktien oder Anleihen, die die Finanzmärkte repräsentieren. Auf den ersten Blick erschließt sich nicht unbedingt, dass die Preise für landwirtschaftliche Rohstoffe bedeutsam sind für eine Diskussion der Finanzinstrumente, doch was sie an Terminmärkten kosten, hat ganz ähnliche Bedeutung wie die Kurse auf Aktien- oder Rentenmärkten. Auch die Märkte für Weizen und Reis sind Finanzmärkte – insofern als dort ähnliche Geschäfte gemacht werden und sie sich auf eine vergleichbare technische Maschinerie stützen. Auch in Bezug auf Preisschwankungen und ihre Effekte auf die Wirtschaft gibt es Parallelen. Dass der Lebensunterhalt einkommensschwacher Menschen in aller Welt von den Lebensmittelpreisen auf manchen dieser Märkte abhängt, unterstreicht nur die Bedeutung unserer Finanzinstitutionen – und zeigt, wie wichtig es ist, dass diese richtig funktionieren.

Finanzkapitalismus und Marxismus

Der Triumph des Finanzkapitalismus und seiner Entsprechungen seit den 1970er Jahren, selbst in ehemals marxistisch-kommunistischen Ländern, gehört zu den weltbewegenden Revolutionen in der Geschichte und stellt eine radikale Abkehr von der Vergangenheit dar.

Der Kommunismus in seiner modernen Form hatte seinen schicksalhaften Moment im Jahr 1848, als es in etlichen europäischen Großstädten zu Aufständen kam. Diese Revolten der Arbeiterklasse hatten aber keinen effektiven Führer und waren im Grunde nicht kommunistisch geprägt. Sie entsprangen der allgemeinen Unzufriedenheit an der Basis der Gesellschaft. Doch sie verschafften der kommunistischen Bewegung die Möglichkeit, Fuß zu fassen.

Karl Marx und Friedrich Engels erkannten die Bedeutung dieser Ereignisse und veröffentlichten im selben Jahr mit Unterstützung der Kommunistischen Liga (einer ursprünglich christlichen Organisation) ihr kurzes Manifest der kommunistischen Partei, das sich allerdings recht radikal und unchristlich las. Es plädierte für einen gewalttätigen Umsturz. Marx und Engels wurden von vielen letztlich als Füllsel des Führungsvakuums der Revolutionen von 1848 angesehen. Obgleich diese Aufstände kurzlebig waren, galt das Manifest am Ende als Sprachrohr für die vielen Stummgebliebenen.

Der Begriff Kommunismus entstammt dem alten französischen Wort commun, das gemeinsam bedeutet, und knüpft an den ursprünglichen zentralen Glaubenssatz dieses Systems an: den gemeinsamen Besitz des Kapitals, also der Produktionsmittel. In diesem Buch beziehe ich mich auf die traditionelle Form des Kommunismus, nicht auf die sozialistische Marktwirtschaft, wie sie die kommunistische Partei Chinas heute propagiert, die Privateigentum der Öffentlichkeit nicht nur zulässt, sondern sogar aktiv unterstützt.

Das zentrale Argument für öffentliches Eigentum am Kapital war, wie Marx in Das Kapital schrieb, die Unterbrechung eines Teufelskreises der Armut:

»Der Kapitalist ist nicht Kapitalist, weil er industrieller Leiter ist, sondern er wird industrieller Befehlshaber, weil er Kapitalist ist. Der Oberbefehl in der Industrie wird Attribut des Kapitals, wie zur Feudalzeit der Oberbefehl in Krieg und Gericht Attribut des Grundeigentums war. … Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. … Der Prozeß, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozeß des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter.«6

Warum Arbeiter keinen Zugang zum Kapital haben, erklärt Marx nie genau. Er lässt durchblicken, dass die Ziele einer Gesellschaft im Kapitalismus von den Menschen an ihrer Spitze festgelegt werden – denen mit Zugang zu Kapital –, nicht vom gesamten Volk. Dass ein armer Arbeiter nie ein Unternehmen gründen kann, indem er einen Bankkredit aufnimmt oder Kapital von reichen Investoren einwirbt, bleibt eine ungesagte Annahme.

Doch in einem idealen kapitalistischen System können Menschen mit einer guten Geschäftsidee genau das tun – grundsätzlich zumindest. Unsere kapitalistischen Institutionen entsprechen diesem Ideal noch nicht zur Gänze, doch in der Geschichte hat ein langfristiger Trend zur Demokratisierung des Finanzwesens stattgefunden, der jedermann finanzielle Chancen eröffnet. Es steht zu hoffen, dass sich dieser Trend auch künftig fortsetzt.

Natürlich halten soziale Barrieren manche davon ab, ihre Fähigkeiten zu nutzen und daraus Kapital zu schlagen. Ein Bauernjunge aus einer entlegenen Gegend, der nicht lesen und schreiben kann, wird es schwierig finden, in der Großstadt die Geschäftsstelle einer Bank zu betreten und um Gründungskapital nachzusuchen. Solche Menschen stoßen auf sehr reale Hindernisse beim Zugang zu Kapital, die sich auch ganz klar in den extremen Unterschieden bei den Zinssätzen manifestieren, die Kreditnehmer aus unterschiedlichen Regionen und Kategorien zahlen. Die Entwicklungsökonomin Esther Duflo bringt das auf den Punkt: »Die Beweislage spricht klar dagegen, dass die Kreditmärkte – zumindest in Entwicklungsländern – auch nur annähernd dem idealen Markt entsprechen, auf dem die Verteilung von Vermögen für Investitionen keine Rolle spielt.«7

Das ist jedoch kein ureigentliches Problem des Finanzkapitalismus. Es ist vielmehr ein Problem der Demokratisierung, Humanisierung und Ausweitung des Finanzkapitalismus. Eine neue Gesellschaft im Sinne von Marx hätte grundsätzlich dasselbe Problem. Das ist ein gesellschaftliches Dilemma, das durch Änderungen an unserem Bildungssystem überwunden werden kann. Und wir haben ja schon damit begonnen, dieses System weltweit durch bessere öffentliche Bildung und Kommunikation zu verändern.8

Der Finanzkapitalismus wird erwachsen

Wir leben tatsächlich im Zeitalter des Finanzkapitalismus. Und das sollten wir nicht bedauern. Finanzinstitute können und sollten durch Vorschriften und Einschränkungen reglementiert werden, damit sie den Interessen der Gesellschaft dienen. Doch die ihnen eigene Logik und Macht ist eine wesentliche Voraussetzung für ihre Funktion. Finanzinstitute und Finanzvariablen sind in unserem Leben ebenso richtungweisend und ordnungstiftend wie der Lauf der Sonne, die Jahreszeiten oder die Gezeiten.

Allem Anschein nach gibt es wohl keine echte Alternative. Man hört kein Wort über ein nichtfinanzkapitalistisches Modell – obwohl ein solcher Begriff verwendet werden könnte, um eine Marktwirtschaft mit schwach entwickelten Finanzinstituten zu beschreiben, wie wir sie heute noch in ärmeren Regionen der Welt beobachten können. So gern wir die Finanzwirtschaft kritisieren, solche Alternativen erscheinen ganz offensichtlich niemandem als geeignete Modelle für eine wie auch immer geartete Zukunft.

Unsere Aufgabe, sowohl im Finanzsektor als auch in der Zivilgesellschaft, ist es, den Menschen zu helfen, im Wirtschaftssystem einen Sinn und einen übergeordneten gesellschaftlichen Zweck zu erkennen – kein leichtes Unterfangen angesichts der scheinbar absurden Konzentrationen von Reichtum, die das System herbeiführt, angesichts der häufig verwirrenden Komplexität seiner Strukturen und angesichts der vielfach unbefriedigenden und wenig vergnüglichen Spielchen, die es den Menschen aufzwingt.

Es kommt auf die Definition an. Wie wir Finanzkapitalismus definieren – die richtige Definition also –, wird uns helfen, eine Arbeitstheorie zu dieser so wichtigen Kraft zu entwickeln. Sie sollte normativ festlegen, wie das Finanzwesen funktioniert und was Führungskräfte in der Wirtschaft, im öffentlichen Sektor und in der Gesellschaft tun müssen, um sich neue Entwicklungen im Finanzbereich zunutze zu machen bei der Förderung der Ziele einer robusten und wohlhabenden Wirtschaft, bei der Eindämmung von Exzessen, bei der Glättung von Volatilität und bei der Überlegung, wie die Finanzwirtschaft darauf ausgerichtet werden kann, um die Bedürfnisse fortschrittlicher und noch in der Entwicklung befindlicher Volkswirtschaften gleichermaßen zu erfüllen.

Die Entwicklung einer Arbeitstheorie des Finanzkapitalismus

Im weitesten Sinne ist das Finanzwesen die Wissenschaft von der Zielarchitektur – von der Strukturierung der nötigen wirtschaftlichen Voraussetzungen zum Erreichen eines bestimmten Zielekanons und der treuhänderischen Verwaltung der dafür benötigten Vermögenswerte. Dabei kann es sich um Ziele von Haushalten, Kleinunternehmen, Körperschaften, kommunalen Einrichtungen, Behörden und der Gesellschaft als Ganzes handeln. Sobald ein Ziel konkretisiert ist – wie die Finanzierung eines Studiums, die Alterssicherung eines Ehepaars, die Eröffnung eines Restaurants, der Anbau eines neuen Flügels an ein Krankenhaus, die Einrichtung eines Sozialversicherungssystems oder eine Reise zum Mond – brauchen die Beteiligten die richtigen Finanzinstrumente und oft auch fachmännische Ratschläge, um es zu verwirklichen. So betrachtet sind Finanzspezialisten mit Ingenieuren vergleichbar.

Ein pikanter und häufig übersehener Umstand: Etymologisch stammt das Wort Finanzen tatsächlich vom klassischen lateinischen Begriff für »Ziel« ab. Das Wörterbuch verrät, dass es auf das klassische lateinische Wort finis zurückgeht, das gewöhnlich mit Ende oder Vollendung übersetzt wird. Aus einem Wörterbuch geht hervor, dass sich finis zu Finanz entwickelt hat, weil ein Aspekt des Finanzwesens in der Vollendung im Sinne von Rückzahlung von Verbindlichkeiten besteht. Doch unseren Zwecken kommt entgegen, dass finis schon in alter Zeit in der Bedeutung »Ziel« verwendet wurde – wie übrigens auch das moderne englische Wort end.

Die meisten Menschen definieren den Finanzbegriff viel enger. Dabei schafft die Finanzierung einer Aktivität tatsächlich die Architektur für die Verwirklichung eines Ziels – und sorgt dafür, dass die Vermögenswerte, die zum Erreichen und Erhalten dieses Ziels benötigt werden, durch treuhänderische Verwaltung geschützt und bewahrt werden.

Die Ziele, denen das Finanzwesen dient, kommen aus uns selbst. Sie spiegeln unsere beruflichen Interessen, unsere privaten Hoffnungen, unseren unternehmerischen Ehrgeiz, unsere kulturellen Ambitionen und unsere gesellschaftlichen Ideale wider. Das Finanzwesen an sich sagt uns nicht, wie diese Ziele aussehen sollten. Es stellt selbst kein Ziel dar. Im Finanzwesen geht es nicht darum, zum Selbstzweck »Geld zu machen«. Die Finanzwirtschaft ist vielmehr insofern eine »funktionelle« Wissenschaft, als sie existiert, um andere Ziele voranzutreiben – die Ziele der Gesellschaft nämlich. Je besser die Finanzinstitute einer Gesellschaft auf ihre Ziele und Ideale ausgerichtet sind, desto robuster und erfolgreicher ist diese Gesellschaft. Versagen ihre Mechanismen, kann die Finanzwirtschaft solche Ziele untergraben, wie es in den letzten zehn Jahren auf dem Markt für minderwertige Hypotheken geschehen ist. Funktionieren sie aber, verfügt sie über das einzigartige Potenzial, ein hohes Wohlstandsniveau herbeizuführen.

Um bedeutende Ziele zu erreichen und die dafür nötigen Vermögenswerte verantwortungsvoll zu verwalten, ist fast ausnahmslos die Zusammenarbeit vieler Menschen erforderlich. Diese müssen ihre Informationen angemessen zusammenführen. Sie müssen dafür sorgen, dass die jeweiligen Anreize aufeinander abgestimmt sind. Denken Sie an die Entwicklung eines neuen Labors, die Finanzierung eines medizinischen Forschungsprojekts, den Bau einer neuen Universität oder die Anlage eines neuen U-Bahn-Systems in einer Großstadt. Das Finanzwesen liefert den Unterbau für diese und andere Vorhaben und Einrichtungen der gesamten Gesellschaft. Tut sie das erfolgreich auf ganzer Linie, trägt sie zum Aufbau einer Gesellschaft freier Menschen bei. Je besser wir das verstehen, desto klarer begreifen wir auch, dass fortgesetzte Innovationstätigkeit im Finanzwesen notwendig ist.

Was die Finanzwirtschaft bewirkt

Wirtschaftswissenschaftler und Finanzexperten definieren und diskutieren das Finanzwesen sehr viel enger, als wir das hier getan haben. Die akademische Forschung im Finanzwesen konzentriert sich stark auf kurzfristige Handelsstrategien und -ergebnisse und das verwandte Thema Risikomanagement. In ihrer kanonischen Form ist die Finanzlehre die Wissenschaft von der Entwicklung optimaler Anlageportfolios. Auch das Tagesgeschäft an der Wall Street befasst sich schwerpunktmäßig mit hoch spezialisierten Aktivitäten. Doch das ist nur ein Teil dessen, was das Finanzwesen wirklich ausmacht.

Einen wesentlichen Bestandteil der Tätigkeit von Finanzprofis bildet das Aushandeln von Geschäftsabschlüssen – die Strukturierung von großen und kleinen Projekten, Unternehmen und Systemen. Diese Aktivität bringt die oft abweichenden Ziele Einzelner zusammen. Finanzielle Vereinbarungen – wie die Strukturierung von Zahlungen, Krediten, Sicherheiten, Anteilen, Incentive-Optionen und Ausstiegsstrategien – sind lediglich oberflächliche Elemente solcher Abschlüsse. Das Aushandeln von Geschäften ist im Grunde die Herbeiführung von Vereinbarungen, die echte Menschen und oftmals große Gruppen von Menschen zu realen Handlungen motivieren. Den Wenigsten gelingt es, ohne die Zusammenarbeit mit anderen bleibende Werte zu schaffen. Selbst der archetypische einsame Poet braucht finanzielle Unterstützung, um seiner Kunst zu frönen. Er braucht ein Einkommen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, Verleger, Drucker, Veranstalter, die Lesungen organisieren, geeignete Räumlichkeiten für diese Lesungen, die gebaut werden müssen. Und hinter alldem steckt eine verborgene Finanzarchitektur.

Alle Vertragsparteien müssen sich dem Ziel verschreiben, ihre Aufgaben erfüllen und die Risiken tragen. Sie müssen überzeugt sein, dass die anderen an dem Geschäft Beteiligten auch wirklich produktiv auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten und alles tun, was nach optimaler Informationslage erforderlich ist. Die Finanzwirtschaft bietet die nötigen Anreizstrukturen, um diese Aktivitäten zuzuschneiden und zu gewährleisten, dass die Ziele erreicht werden.