Josef Aldenhoff
Ich und Du – warum?
Was Beziehungen schwierig macht
und wie sie gelingen können
C. Bertelsmann
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1. Auflage
© 2016 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: buxdesign, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16265-8
V002
www.cbertelsmann.de
Inhalt
Ich und Du – wie geht das?
Sie sind ein Beziehungsinsider
Vertrauen ist das Zauberwort
Warum sind wir so fit in Beziehungen?
Ihre erste Beziehung
Nachfragen, niemals anklagen
Wann und wie entsteht Beziehung?
Chance Pubertät!
Allein
Los geht’s!
Projektion und Empathie
Aber man darf halt nie auf eine Reaktion hoffen
Kennenlernen – wie?
Soziale Netze und die Liebe
Himmelsmacht 1
Beziehungsbiologie
Paartherapie – die erste Sitzung
Leidenschaft contra Ewigkeitsanspruch
Sexualität: beunruhigend, beglückend und vor allem höchst individuell!
Ganz konkret – Sex!
Sex ist nicht gleich Sex
Her oder: Warum lieben Sie nicht Ihr Betriebssystem?
Himmelsmacht 2
Konventionen 1: Monogamie
Paare – im Guten wie im Schrecklichen
Paartherapie – Heiraten oder nicht heiraten
Konventionen 2: Zusammenziehen
Optimierung: toll, toller – Angst?
Selbstverantwortung bis zur Erschöpfung
Kinder kommen einfach so – und verändern Ihr Leben komplett!
Paartherapie – Kinder ja oder nein? Und wenn ja, wann?
Kinder haben Rechte
Unergründlich und intensiv: Prominente über Kinder
Kinder verändern Ihre Beziehung
Alles hat sich verändert
Gedankenspiele für werdende Eltern
Alles ist möglich?
Gute Eltern, böse Eltern
Für meine Eltern
Die Sache mit der Gewöhnung
Reden oder schweigen?
Zuhören – die schwerste aller Künste?
Ehrlichkeit, Treue und die schnöde Realität
Keine Liebe widersteht einem Unbekannten, der eine Bar betritt
Auch Untreue setzt Verantwortung voraus
Vater Burdas Vielweiberei
Eifersucht – was wollen Sie eigentlich wissen?
Paartherapie – Was tun mit der neuen Verliebtheit?
Vom zeit-losen Glück zur Burnout-Beziehung
Wie Differenzen zu Krisen werden
Investment Liebe?
Streiten? Wie?
Das Ich, der Flow und die Liebe
Ich und die Anderen
Beziehungskrankheiten
Frauen sind einfach viel komplexer und interessanter als Männer
Trennen? Oder: Beziehungen sind kostbar
Machen Sie Trennung zum Thema! Es lohnt sich!
Trennungsgründe: leiden oder loslassen?
Trennung mit Kindern
Paartherapie – Hätten wir etwas anders machen können?84
In guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod euch scheidet
Happy End
Liebe ist ein Geschenk
Anhang
Dank
Literaturempfehlungen
Anmerkungen
Register
Maria, Maria, Maria …
für Anna-Lena, Carla, Ella, Franz,
Johannes, Johann, Lara, Lenny, Lilian,
Lisa, Luise, Lukas, Tedi.
Ich und Du – wie geht das?
Vor 630 Millionen Jahren war die Erde ein eisverkrusteter Ball, snowball-earth. Kein Ort für Lebewesen. In den Lücken des Eises hatten sich unsere Vorfahren für Millionen Jahre zur Verteidigung eingerichtet. Lebenskraft gestaut. Jetzt löste sich der Bann, der Planet erwärmte sich. Die Lebewesen breiteten sich über den Erdball aus, zu Wasser, zu Lande. Dies war die erste Globalisierung.
Von diesem Glücksfall tragen wir einen Hoffnungsvorrat in uns, in den Knochen, in den Augen, den Ohren, in unserem Gehirn, auf der Haut, in jeder Regung.
Von diesem Vorrat zehren wir in den Zeiten des Fortschritts und der Abstiege. Keine Enttäuschung braucht diesen Vorrat völlig auf. Wie ein Phönix entsteht er bei jeder Neugeburt, fast ungeschmälert. Stets derselbe glücksfähige Typ.
Alexander Kluge1
Menschen wollen nicht allein sein. Sie nicht, ich nicht.
Wir suchen Nähe, Vertrauen und vor allem – Liebe. Sie bricht unsere selbst geschaffenen Panzer auf, bringt unser geordnetes, von vielerlei Nützlichkeitserwägungen geprägtes Leben so in Fahrt, dass wir wider alle Hemmungen und Ängste, wider Erfahrung, gute Vorsätze und alle Vernunft losgehen, um die und den Anderen zu suchen, die zu uns passen. Um dann aufzublühen im Jubel der Verliebtheit, in diesem überwältigenden Glück einer anderen Möglichkeit, zu leben, einer Hoffnung, die sich immer wieder neu entfaltet.
Woher kommt dieser Zauber? Dieses Versprechen, aus dem sich seit Jahrtausenden wie aus keinem anderen Phantasie, Poesie, Tragik mit nie versiegender Kraft speisen?
Ist es der Hoffnungsvorrat, von dem Alexander Kluge spricht? Liebe als Ursprung aller Sehnsucht nach gelungenem Leben? Liebe als Ursprung allen Lebens überhaupt – im unmittelbaren wie im übertragenen Sinn?
Beziehung ist hoch attraktiv, Liebe für viele das Wunschziel ihres Lebens, die treibende Kraft, immer aufs Neue Grenzen zu überschreiten, so kühn und wagemutig zu sein, dass uns unsere Alltagspersönlichkeit kaum wiedererkennt. Wir gehen aus uns heraus, wachsen über uns hinaus. Wir glauben, dass alles möglich ist. So fühlt sich Glück an. Und wenn es nach uns geht, sollte das dauern. Ein Leben lang.
Aber dann mischt sich die Vernunft ein. Über viele Generationen vererbt, ebenfalls ein Überlebensfaktor. Sie will Glück allenfalls in geordneter, berechenbarer Form, in stabilen Beziehungen. Zumeist in Zweierbeziehungen als Mann und Frau. Sie sind nach wie vor die bürgerlich-etablierte Form des Zusammenlebens, die so selbstverständlich erscheint, dass Schwule und Lesben vehement um dieses Recht auf Ehe kämpfen. So wichtig ist den meisten Menschen ihre Existenz als Zweierbeziehung, dass sie eilig die nächste Beziehung beginnen, noch bevor sie die gerade scheiternde beendet haben. Einige probieren es nach der Scheidung sogar wieder mit demselben Partner.
Hier also scheinen wir unsere alles überstrahlende Herausforderung zu suchen: Dieses überaus attraktive Wagnis Liebe zu leben, in den Beziehungsstrukturen unserer Gesellschaft, als Gegenentwurf zu all den Normen und Erwartungen, dem allseits geforderten Funktionieren und Optimieren.
Die Liebe ermutigt und befähigt, sich über all diese pseudovernünftigen Zwänge hinwegzusetzen. Im unerschütterlichen Vertrauen darauf, dass es gelingen kann.
Gelingen lassen wollen wir Liebe bevorzugt in dauerhaften Beziehungen, nur Wenige halten Serien von kurzen Glücksgeschichten für erstrebenswert. Aber gerade für die langen Beziehungen gilt, dass Glück oder auch nur Zufriedenheit eher selten sind. Von den »ordentlich« geschlossenen Ehen scheitern über dreißig Prozent – über das Scheitern nicht-ehelicher Beziehungen gibt es keine sicheren Zahlen. Dauer wird oft mit Kampf auf den verschiedensten Beziehungsebenen bezahlt. Solche alten Liebesbeziehungen setzen auf die längst enttäuschten Träume und die immer noch aktiven Erwartungen; wieder und wieder mit hohem Einsatz und im gefährlichen Wissen um die Schwächen des anderen, die früher durch Vertrauen behütet waren – um dann in immer bittereren Niederlagen zu enden. Liebe hat sich längst dem Hass angenähert.
Warum ist Innehalten in diesem Stadium so schwer, oft unmöglich? Warum fragen Sie nicht, ob es Ihnen noch gut genug geht, um so weiterzumachen?
Vielleicht, weil loslassen zwar Ihrer Liebe gutgetan hätte, aber nicht Ihrem Bedürfnis nach Macht, nach Kontrolle. Kontrollverlust macht Angst, und sei es nur die Angst, allein im Regen zu stehen. Macht wird in Beziehungen selten thematisiert, vielleicht gerade, weil es ein Grundthema ist. Das die Liebe erdrückt. Angst wird schon eher wahrgenommen, vor allem, wenn sich das Beziehungsgefüge zu lockern beginnt.
Es kommt Vieles an die Oberfläche, wenn zwei Menschen zusammenleben, Erwünschtes, Beglückendes, aber auf Dauer eben auch unsere ungeliebten, in den Schatten verbannten Anteile. Wie die sich entpuppen, unterliegt meist nicht unserer vernünftigen Kontrolle. Es kann sich so schön anfühlen, wenn das Interesse des Anderen die Persönlichkeitsanteile wachsen lässt, an die wir selbst nicht glauben mochten, aber nicht immer erscheinen sie uns deshalb akzeptabel.
Als Therapeut frage ich mich oft: Warum nur stürzen wir uns immer wieder begeistert und siegesgewiss in dieses schwierigste aller Vorhaben? Aber als Mann weiß ich, wie ich es als Frau wüsste – nur anders –, dass nichts so unfassbar mitreißend ist, wie der Moment, wenn mich die Liebe packt. Da kommt mir aller therapeutische Hochmut abhanden – Gott sei Dank! –, und ich verstehe meine Klienten, die sich hineinstürzen in das nächste Beziehungsabenteuer.
Mit jedem neuen Versuch wird die Frage dringlicher, was wir tun könnten, damit es endlich klappt?
Um unser Bedürfnis nach Beziehung gut leben zu können, nicht überwiegend daran zu leiden und andere leiden zu machen, sollten wir uns mit unserer Herkunft und den dadurch geprägten seelischen Strukturen vertraut machen. Und herausfinden, wie diese Strukturen unsere Beziehungen dominieren. Denn das Gelingen von Beziehungen setzt, bei allen Emotionen, Wissen voraus. Das wäre ja durchaus verfügbar, manchmal auf der Ebene des gesunden Menschenverstandes, manchmal als Ergebnis aufwendiger wissenschaftlicher Studien. Wir müssten uns nur darum bemühen. Die heute landläufigen Erwartungen an eine glückliche Beziehung beruhen auf idealisierenden Vorstellungen und haben mit den Beziehungsrealitäten nur wenig zu tun.
Gute Beziehung bleibt ein anspruchsvolles Ziel.
Wie komme ich dazu, dieses Buch über Liebe und Beziehungen zu schreiben? Sind zwei geschiedene Ehen, immer wieder neue, mehr oder weniger glückliche Beziehungen ein Qualitätsmerkmal? Bei einiger Introspektion durchaus. Einige Motivation kommt aus meiner therapeutischen Tätigkeit, während der mir wieder und wieder vor Augen geführt wird, wie wenig Wissen den Willen zur Beziehung begleitet. Das gilt keineswegs nur für den schnellen Sex oder die von vornherein als kurzfristig angelegte Urlaubsbekanntschaft, sondern gerade auch für viele langjährige Ehen, bei denen das Aufwachen aus einer nachhaltig gepflegten Illusion so viel schmerzhafter ist als nach dem One-Night-Stand.
Ich will versuchen, Modelle zu vermitteln, wie Beziehung funktionieren könnte, und Hindernisse zeigen, die das Scheitern heraufbeschwören.
Gerade dann, wenn es nicht funktioniert hat, wenn Sie sich eingestehen müssen, dass Sie, ja Sie, nicht die oder der Andere, Ihre Beziehung nicht zuletzt auch durch Ihr Verhalten ruiniert haben, wäre es für alle Beteiligten, Sie, Ihre/n Partner/in und die ja oft so schnell entstandenen Kinder, besser, wenn Sie sich gut, vielleicht ein wenig resignativ, aber ohne Rosenkrieg trennen könnten, um – danach – vielleicht, ja, ein neues Beziehungsleben beginnen zu können. Wieder offen zu sein für die Beglückungen und die Verrücktheiten der Liebe, die uns lebendiger machen als alles andere.
* * * *
Es gibt drei Arten von Texten in diesem Buch:
Sie sind ein Beziehungsinsider
Von Beziehungen verstehen Sie jede Menge, es ist Ihnen nur meistens nicht bewusst.
Zum Beispiel:
Ihr Chef stellt Ihnen den neuen Mitarbeiter vor, den Nachfolger von Herrn M., mit dem Sie sich von Anfang an so schwertaten. Nach den Erfahrungen mit seinem Vorgänger waren Sie durchaus reserviert.
Doch schon in der ersten Minute ist alles anders, Sie öffnen das Visier; ein paar Worte gewechselt, Sie wissen, es wird klappen.
Abends berichten Sie Ihrer Frau davon, die Ihnen rät, etwas vorsichtiger zu sein und abzuwarten, aber Sie sind sich sicher. Und behalten recht. Zwischen Ihnen und dem Neuen stimmt die Chemie.
Es könnte auch umgekehrt sein:
Sie geben sich Mühe, wollen der Neuen ohne Vorurteile begegnen; aber Sie merken vom ersten Moment an, dass Sie ihr nicht trauen, dass sich Ihnen die Nackenhaare aufstellen. Innerlich schelten Sie sich dafür, können sich selbst nicht verstehen. Aber nach ein paar Monaten wissen Sie sicher, dass Ihr erstes Gefühl Sie nicht getrogen hat: Für Sie bleibt die Neue eine Schlange!
Noch ein Szenario:
Sie leben schon lange genug allein, haben sich eingerichtet; viel Hoffnung haben Sie nicht, dass Sie die Frau Ihres Lebens noch treffen werden. Die Wunden aus Ihrer ersten Ehe sind allmählich vernarbt. Schön wäre es schon, nicht mehr solo durch die Welt zu dackeln.
Heute haben Sie sich entschlossen, in die neu eröffneten Deichtorhallen zu gehen. An Beziehung denken Sie gar nicht, eine Fotoausstellung ist ja keine Partnerbörse. Irgendwann lässt Ihre Begeisterung für die Bilder etwas nach, und Sie bemerken, dass eine attraktive Frau sich für genau dieselben Fotos zu interessieren scheint. Stimmt das denn? Ihr Eindruck bestätigt sich, verstohlen fangen Sie an, sie zu beobachten. Irgendwann bemerkt sie das und lächelt Sie an! Sie erschrecken und drehen erst mal eine Runde durch einen Nebenraum, aber schließlich gewinnt Ihre Neugier die Überhand, und Sie suchen sie, finden sie nach einigen bangen Minuten auch. Und im Überschwang des Wiederfindens sprechen Sie sie an, ob sie nicht Lust hätte, mit Ihnen einen Kaffee zu trinken. Nicht so wahnsinnig originell, aber Sie haben ohnehin schon zu viel Herzklopfen, um noch klare Gedanken zu fassen. Doch das Gefühl ist ganz klar: Ihnen würde Ihr Leben entgleiten, wenn Sie ihr nicht noch näher kommen könnten, wenigstens für einen kurzen Moment. Offensichtlich passt der Vorschlag, sie nimmt an.
Im Gespräch stellt sich heraus, was Sie eigentlich schon wussten, als Sie sie zuerst sahen: Dass Sie gut zusammenpassen. Nach zwei Monaten leben Sie in einer beginnenden, mit vielen Unsicherheiten behafteten, aber offensichtlich aufkeimenden Liebesbeziehung.
Natürlich hätte das auch anders gehen können. Sie hätte Sie doof finden, Ihre Anmache als Anmache abqualifizieren können, oder sie wäre verheiratet gewesen, oder, oder, oder … War aber nicht!
Eine »alte« Geschichte:
Ihre Erinnerungen an die Kindheit sind nicht mehr so klar, aber Ihre große Schwester erzählt Ihnen bei irgendeinem Familientreffen, dass Sie schon als Dreijähriger sehr klar wussten, mit der neuen Frau Ihres Vaters, also Ihrer Stiefmutter, würden Sie nicht zurecht kommen. Zumindest hätten Sie sich sehr eindeutig verhalten. Es gab erkennbar keinen Grund. Sie war nett zu Ihnen, gab sich offensichtlich Mühe. Ihre Dreikäsehoch-Einschätzung hat sich aber bewahrheitet.
Überlebensvorteil Beziehung
Was ich hier über Beziehungen schreibe, wissen Sie eigentlich schon. Sie hätten es als Mensch nicht weit gebracht, wenn Sie nicht Insider zum Thema Beziehung wären. Auch in Ihrer Herkunftsfamilie konnten Sie sich nur so durchsetzen.
Mit »wissen« meine ich nicht unbedingt, dass Sie darüber Vorträge halten könnten. Aber das müssen Sie ja auch nicht, um sprechen oder laufen oder radfahren, Stimmen oder Gesichter erkennen zu können. Sie tun es einfach. Ganz ähnlich leben Sie Beziehungen, ohne groß darüber nachzudenken; aus einer mehr oder weniger stabilen Gewissheit, dass es so schon irgendwie stimmt. Aus Ihrer sozialen Umwelt, aus dem Verhalten Ihrer Eltern, das Sie geprägt hat, und nicht zuletzt aufgrund der Genetik ist Ihre Beziehungskompetenz entstanden, und die ist weitgehend automatisiertes Verhalten. Was nicht heißt, dass soziale Kompetenz simpel oder trivial wäre: Wenn auch nur minimale Fähigkeiten fehlen, wie beispielsweise bei dem gerade sehr populären Asperger-Autismus, funktioniert zwar einiges im Leben gut, aber anderes, vor allem im Bereich Beziehung, kann unendlich mühsam und nur für Nichtbetroffene komisch sein.2
Entstanden ist die Beziehungsfähigkeit als Überlebensvorteil unter härtesten Bedingungen, zu einem Zeitpunkt, als keineswegs klar war, dass die Menschen das Überleben packen würden.
Unsere Beziehungsfähigkeit ist ein, vielleicht der wichtigste, Evolutionsvorteil, der die Gattung Mensch überleben und alle anderen Lebewesen dominieren ließ. Halbwegs zutreffend einschätzen zu können, wie andere Ihnen gesonnen sind, ist ein unglaubliches Erfolgskonzept! Und weil Sie ahnen, dass Sie das gut können, wollen Sie es immer wieder ausprobieren. Nicht selten ordnen Sie diese Fähigkeit einem anderen menschlichen Bedürfnis, dem nach Macht, unter. Unser Ich will mit guten Gründen Macht! Und so üben wir Macht über die aus, die wir am besten kennen, die uns vertrauen, uns anvertraut sind. Wenn Sie in solch einer Situation feststecken, fragen Sie sich vielleicht manchmal, ob das so geplant war.
Ihre evolutionäre Herkunft macht Glanz und Elend Ihrer heutigen Beziehungen aus. Sie sind ein Oldtimer, Ihr Schaltplan hat Millionen Jahre auf dem Buckel. Diese Ausstattung garantiert Ihnen die Möglichkeit, Kindheit und Jugend zu überleben und sich fortzupflanzen. Mehr war in den kurzen Lebensdauern vor über hunderttausend Jahren nicht drin. Schon das ist nicht so einfach, alles andere erfordert Sonderausstattungen.
Besonders das heute vom common sense formulierte Ziel, in einer glücklichen Beziehung mit einem significant other gut zu leben, älter zu werden, respektvoll und freundschaftlich miteinander umzugehen, Interessen zu teilen und möglichst noch tollen Sex miteinander zu haben, stand nicht in den Lieferbedingungen. Auch wenn es manchmal funktioniert, bleibt es eine Herausforderung, vielleicht eine Vision, jedenfalls überhaupt keine Selbstverständlichkeit!
Im Vergleich zu Ihren Vorfahren leben Sie heute in tiefstem Frieden und unter luxuriösen Bedingungen. Selbst wenn Sie existenzielle Sorgen haben, sind die nicht gleich lebensbedrohend, zumindest nicht in Mitteleuropa. Deswegen haben Sie den Kopf ziemlich frei und bilden sich auch öfter mal ein, Sie könnten Ihre Beziehung offen und frei gestalten, ohne dass es negative Konsequenzen hätte.
Können Sie auch. Bis zu einem gewissen Grad. Die Grundbedingungen dafür sind gerade in den letzten fünfzig Jahren sehr viel günstiger geworden:
Was Beziehungsgestaltung angeht, ist der Rahmen des Möglichen in der Tat viel weiter geworden, ja, die Möglichkeiten sind (fast) unbegrenzt. Normen sind kaum noch sichtbar. Sie können wirklich fast jeder finanziellen, zwischenmenschlichen, werbungsinduzierten Laune folgen, Ihr Sexleben nach den Anregungen von Fifty Shades of Grey ausrichten oder versuchen, die geilsten Youporn-trailer nachzuspielen, Ihre Kinder nach den Kriterien von Summerhill aufwachsen lassen – weiß noch jemand, was das war? Googeln können Sie’s ja mal – oder nach den Empfehlungen der Super-Nanny erziehen, zusammenleben, mit oder ohne Trauschein usw. usf.
Nur, wie gut geht es Ihnen damit?
Das ist offen. Ein Zitat von Jesper Juul macht das deutlich:
»In den Familien herrschen … komplizierte Zustände … Das Zusammenleben von Kindern und Eltern findet in einer Offenheit statt, die aber nicht definiert ist. Das Vielversprechende daran sind die neuen Möglichkeiten, echte Gleichwürdigkeit und Wärme in den Beziehungen entstehen zu lassen. Die Gefahr besteht darin, dass der äußere Rahmen diesen Prozess nicht stützen kann und dass das Fehlen von festen Richtlinien ein Gefühl von Angst und Chaos auslösen kann.«3
Beziehungswärme oder Angst?
Wenn Sie, Ihr/e Partner/in, Ihre Kinder sich gut fühlen, bekommt Partnerschaft eine lebenstabilisierende Funktion im Sinne des Wortes, denn auch Ihre Gesundheit profitiert davon. Kaum ein äußerer Faktor wirkt sich gesundheitlich so positiv aus wie Wohlbefinden in der Beziehung. Sex mit der geliebten Person hat zwar – bei großen individuellen Unterschieden – keinen größeren Trainingseffekt als »schwere Hausarbeit« oder »Graben im Garten« …, ist aber fundamental beglückend und gesundheitsfördernd.4 Liebe heilt, wie Werner Bartens mit vielen Beispielen belegt5, und wem die Liebe zerbricht, der muss auch auf seine Gesundheit aufpassen, besonders auf sein Herz. Kein Witz!
Also, mit Ihrer Freiheit umgehen lernen, das wär’s. Mit Ihrer Freiheit. Wie Sie Beziehung gestalten, wie Sie lieben, wie Sie glücklich werden könnten, das unterliegt einem höchst individuellen Bewertungssystem. Vorbilder, Modelle sind nicht schlecht, aber letzten Endes können nur Sie für sich selbst entscheiden, was für Sie persönlich stimmt. Ausprobieren ist manchmal okay, manchmal wissen Sie es eigentlich schon vorher. Denn wie gesagt: In Sachen Beziehung sind Sie Insider!
Vertrauen ist das Zauberwort
Hugh Jackman, geboren 1968, ist ein sehr erfolgreicher Schauspieler und Musicaldarsteller; er sagt über seine 20 Jahre währende Beziehung:
»Am Tag meines Heiratsantrags wollte ich meine Frau Deborra mit einem Picknick im Park überraschen, aber es schüttete, die Enten fraßen die Croissants, und ich brachte vor lauter Nervosität keinen Bissen runter. Jetzt sind wir bald 20 Jahre verheiratet, und ich fand es überhaupt nicht hart. Im Englischen sagt man ja scherzhaft ›happy wife, happy life‹. Da ist schon etwas dran, und ich sage auch zu meinen Kindern immer, wenn sie mit meinem Ruhm hadern: Erfolg kommt und geht, aber die Liebe zu euch wird immer bleiben.«6
Klaus Meine, geboren 1948, ist seit 1969 Frontman und Songwriter der Band Scorpions. Er spricht über Treue.
SZ: Eine so langlebige Ehe (43 Jahre) kriegen die wenigsten Rockstars hin. Wie geht das?
KM: Keine Ahnung. Warum soll das denn nicht gehen?
SZ: Sie sind in fernen Ländern auf Tour, stehen immer im Mittelpunkt, werden überall gepampert. Ego-Anfälle, Exzesse, ungeahndete Grenzüberschreitungen, ewige Rastlosigkeit, totale Dekadenz. So stellt man sich das vor als Nicht-Star.
KM: Sicher, aber Gabi und ich haben das ganz gut hingekriegt über die Jahre. Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen ist das Zauberwort. Wenn du einen Partner hast, der immer da ist, wenn es dir nicht gut geht, der dich auf so einer langen Strecke supportet, dann muss man das auch zurückgeben.7
Warum sind wir so fit in Beziehungen?
Wenn wir uns Menschen mit unseren nächsten Verwandten unter den Primaten vergleichen, ist zweifelsfrei klar: Der Mensch ist himmelhoch überlegen! Aber vor 200000 Jahren war diese Entwicklung längst nicht ausgemacht. In der afrikanischen Savanne, wo nach heutigem Wissen wohl unsere Ursprünge liegen, waren die Überlebenschancen unserer unmittelbaren Vorläufer alles andere als rosig. Umgeben von Konkurrenten, die viel stärker, schneller, gefährlicher waren, kaum weniger intelligent und vor allem viel, viel zahlreicher, grenzte es aus Sicht der Evolution wohl an ein Wunder, dass sich Menschen überhaupt entwickeln konnten und dass sie überlebt haben. Zumal menschliche Babys viel mehr Kalorien verbrauchen als die Kinder von Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans oder Gorillas.
Was also hat ermöglicht, dass die paar zehntausend Menschenvorläufer überlebten, sich vermehrten und schließlich die dominanteste Spezies auf der Erde wurden?
Natürlich kann das keiner zweifelsfrei beantworten, denn es gibt ja keine Überlieferung aus dieser Vorzeit. Es besteht also nur die Möglichkeit, Menschen und ihre nächsten Verwandten unter den Menschenaffen nach neuropsychologischen Kriterien genau zu beobachten und daraus Rückschlüsse zu ziehen auf das, was sich in Jahrmillionen abgespielt haben könnte. Apropos nächste Verwandte: Die letzten gemeinsamen Ahnen hatten diese Affen und die Menschen vor sechs Millionen Jahren, was heißt, dass wir gar nicht so nah verwandt sind, sondern uns schon früh unterschiedlich weiterentwickelt haben.
Aus solchen Beobachtungen hat der zur Zeit in Leipzig forschende Entwicklungspsychologe Michael Tomasello die aufregende Hypothese entwickelt, Menschen hätten eine besondere Begabung zu »hyper-sozialem« Verhalten8: Menschen interessieren sich demnach sehr viel stärker für die geistigen und emotionalen Zustände anderer als unsere nächsten tierischen Verwandten und reagieren auch viel sensibler darauf. Das trifft sich mit der Theorie von Sarah Blaffer Hrdy9: Sie fragte sich, welchen Vorteil es den Menschen bietet, dass schon sehr kleine Babys herausfinden können, ob ein anderer Mensch ihnen freundlich oder unfreundlich gesonnen ist, beziehungsweise ob es gefährlich oder angenehm ist, von diesem Menschen anstelle der Mutter betreut zu werden. Sie nimmt an, der entscheidende Vorteil dieser Begabung lag darin, dass die Menschenmütter ihre Kinder schon sehr früh an andere helfende Personen abgeben konnten, zumindest zeitweise. Frauen wirkten in Frühzeiten zum Beispiel an der Nahrungsbeschaffung entscheidend mit und konnten ihre Babys dabei nicht immer mitnehmen. Oder sie bekamen das nächste Kind und gaben deswegen ihre Kleinkinder an Ersatzmütter ab. Schimpansen tun das zum Beispiel überhaupt nicht. Die Auswahl solcher Ersatzpersonen war durchaus kritisch für die Zukunft des Kindes. Deswegen war es ein Selektionsvorteil für unsere Vorfahren der Art Homo erectus, besser als selbst die schlauesten Affen für diese hochdifferenzierte Beziehungsbildung ausgestattet zu sein. Schimpansenbabys haben, aber vergessen diese Fähigkeit, weil ihre Mutter sie ohnehin nicht hergibt.
Sie, der moderne Mensch von heute, haben diese Ausstattung geerbt, auch wenn Babys diese Fähigkeit zur Einschätzung anderer Menschen in unserer Zivilisation nicht so lebensnotwendig brauchen. Sie entstand und wurde wahrscheinlich genetisch fixiert in den ein bis zwei Millionen Jahren, in denen der Homo erectus sich entwickelte. Die paar hundert Jahre, seit denen diese Fähigkeit nicht mehr zum Überleben gebraucht wird, weil die menschliche Existenz inzwischen relativ gut abgesichert ist, haben auf die Genetik noch keinen Einfluss gehabt. Mittlerweile profitieren wir alle in vielfältigen Situationen von dieser Fähigkeit, andere Menschen schnell zutreffend einzuschätzen. Sie beeinflusst unsere sozialen Strukturen in Zweierbeziehung, Familie und Beruf nachhaltig. Wir setzen sie nicht nur als Baby, sondern auch in allen höheren Altersstufen ein, und zwar immer dann, wenn eine schnelle und fein abgestimmte Beziehungsgestaltung von besonderem Wert ist. Unbewusst beherrschen wir ein ausgefeiltes psychologisches Repertoire zum Management von Beziehungen. Wahrscheinlich aller Arten von Beziehungen! Dieses Repertoire nützt Mutter und Kind, Partnerin und Partner und allen anderen sozialen Verbindungen wie etwa zwischen Chef und Mitarbeitern.
Theory of Mind
Eine meiner Aufgaben als leitender Oberarzt war die Besetzung freier Assistenzarztstellen. Aufgrund der schriftlichen Bewerbungen wählte ich ungefähr sechs Bewerberinnen und Bewerber aus, mit denen ich dann ein etwa halbstündiges Gespräch führte. Ich befragte sie eingehend hinsichtlich ihrer menschlichen und beruflichen Qualifikation, um eine oder einen Spitzenkandidatin/en auszuwählen, die oder der optimal in unser hervorragendes Team passte. Ich gab mir Mühe.
Meine Sekretärin machte gerne launige Bemerkungen über die einzelnen Kandidaten, mit denen sie lediglich bei dem Anklopfen an das Sekretariat Bekanntschaft machte. Zu meiner Überraschung schien ihre Einschätzung mit meiner ziemlich genau übereinzustimmen, obwohl ich viel mehr Zeit für meine Entscheidung und auch eine wesentlich größere Erfahrung in der Auswahl ärztlicher Kolleginnen und Kollegen hatte.
Eines Tages schlug ich vor, dass jeder von uns unabhängig eine Reihung vornehmen und sie schriftlich fixieren sollte; wenn alle Kandidaten »durch« waren, würden wir unsere Listen vergleichen. Unsere Ergebnisse waren tatsächlich weitgehend identisch.
Wie das? War ich trotz meiner Erfahrung ein besonders schlechter Menschenkenner, war sie ein Genie im zwischenmenschlichen Kontakt? Weder noch. Sie profitierte von dieser grundsätzlichen menschlichen Fähigkeit, die es jedem erlaubt, andere Personen in kürzester Zeit ziemlich zutreffend einzuschätzen. Ich war natürlich klar überlegen, wenn es um die psychiatrisch-neurologische Qualifikation ging, aber wenn die allgemeinmenschlichen Qualitäten gefragt waren, wie Umgangsstil, Vertrauenswürdigkeit, Ausstrahlung, dann zog meine Sekretärin gleich. Anders ausgedrückt: Wir waren uns einig, wenn es um die Frage ging, ob der Kandidat einer wäre, von dem wir einen Gebrauchtwagen gekauft hätten.
Diese Fähigkeit nennen die Psychologen Theory of Mind.
Klingt wie ein Computerspiel und ist ein Allround-Werkzeug zwischenmenschlichen Verhaltens, das sich in früher Kindheit zu entwickeln beginnt und im Alter von drei Jahren voll ausgeprägt ist. Der Ausdruck bedeutet, dass wir aufgrund der Introspektion in unser eigenes Denken und Fühlen die Theorie entwickeln, dass andere Menschen eine Seele wie wir selbst haben und dass wir aus den Analogien zwischen unserem und dem Verhalten anderer rückschließen, was der andere jetzt wohl gerade denkt. Da wir es nicht wissen, sondern nur vermuten, heißt es Theorie. Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Theory of Mind ist das Interesse an anderen Menschen, was bei Kleinkindern schon im Alter von wenigen Monaten nachweisbar ist. Besonders gilt das für die Interpretation von zielgerichtetem Verhalten. Indem Kinder annehmen, andere seien wie sie selbst, können sie einen Zusammenhang zwischen ihren eigenen und den Seelenzuständen anderer herstellen.
Bei einer Reihe von seelischen Krankheiten, vor allem Autismus, Alkoholkrankheit und Schizophrenie, sind die Theory-of-Mind-Fähigkeiten eingeschränkt. Der Vorteil der Theorie liegt vor allem darin, dass wir Voraussagen machen können, wie sich andere vermutlich verhalten werden und welche Gedankengebäude dahinterstecken, ohne dass wir das im Einzelnen genau erfragen müssen. Dadurch können wir soziale Situationen schnell zutreffend einschätzen.
Ihre erste Beziehung
Über die wichtigste Phase in Ihrem Leben wissen Sie nichts. Überhaupt nichts.
Sie waren schlicht zu klein.
Jetzt, als Erwachsene, machen Sie sich Gedanken über Ihr Leben, sorgen sich und versuchen zu planen. Können Sie machen. Sie können sich auch einer Psychotherapie unterziehen, wenn Sie was für Ihre Seele tun wollen. Oder ins Kloster gehen und Retreats absolvieren, christlich, buddhistisch …
Nur müssen Sie sich klar sein, dass die wesentlichen Voraussetzungen Ihres sozialen Lebens bereits in den ersten drei Lebensjahren festgelegt wurden. Ihre übliche Bewertung, lediglich das für wesentlich zu halten, was Sie als erwachsene Person erinnern, unterschätzt, dass Ihnen in Ihrer vorbewussten Lebensphase etwas Wesentliches passiert ist: Der Kontakt zu Ihren ersten Bezugspersonen entscheidet über Ihr Verhaltensrepertoire im künftigen Leben, prägt Ihre Persönlichkeit mindestens genau so wie Ihr genetisches Erbe, in manchen Bereichen wahrscheinlich deutlich stärker.
Es schadet nichts, wenn Sie das bedenken.
Wie Persönlichkeit entsteht, können Sie bei Babys am besten beobachten. Am interessantesten sind natürlich Ihre eigenen Kinder, aber jede Gelegenheit ist nützlich. Zunächst haben Sie vielleicht den Eindruck, dass so ein Winzling bis auf schlafen, schreien, saugen und verdauen gar nichts kann. Das täuscht.
Denn schon sehr kleine Kinder nehmen bereits kurz nach der Geburt Kontakt zu der Person auf, die sich um sie kümmert, also meistens zur Mutter. Aber nicht nur sie, auch die anderen, die ins Blickfeld kommen, werden begutachtet. Bereits kleinste Kinder bewerten: Gut für mich oder gefährlich?
Als Sie so klein waren, ist Ihre Beziehungsfähigkeit entstanden.
Das ist also gelaufen, der Prozess ist abgeschlossen.
Sind Sie jetzt irritiert, dass etwas so Wesentliches ohne Ihr aktives Zutun geschehen ist? Dass somit Änderungen nicht einfach zu bekommen sind? Wenn Sie Glück mit Ihrer Mutter, Ihren Eltern hatten, ist es toll, wenn nicht, dann kann Ihr Leben ganz schön schwierig sein.
Was in dieser Lebensphase gelaufen ist, begründet Ihre Persönlichkeit, Ihr Verhaltens- und Beziehungsrepertoire und Ihr grundlegendes Wohlbefinden.
Deswegen ist die Beziehung zwischen Ihnen und Ihren Eltern so entscheidend. Ja, aber, mögen Sie hier einwenden, zu dieser Beziehung haben Sie doch fast nichts beigetragen. Sie waren doch viel zu klein. Richtig. Der Mensch, der Sie heute sind, ist sehr wesentlich das Produkt der Zuwendung und der Erziehungsbemühungen Ihrer Eltern. Das ist für selbstbewusste Menschen, die gerne ihr Leben im Griff hätten, nicht leicht zu akzeptieren.
Mein Gott, die Eltern! Jeder Kontakt ist doch Stress ohne Ende! Als Mann haben Sie die Probleme eher mit Ihrem Vater, als Frau mit der Mutter. Für Ihr weiteres Leben, für Ihre Beziehungsgestaltung, für die Beziehung zu den eigenen Kindern, wäre es gut, wenn Sie die Beziehung zu Ihren Eltern klären könnten. Auch wenn Sie für den Stress nur zu einem geringen Teil verantwortlich sind, es fühlt sich besser an. Vielleicht erinnern Sie sich aus grauer Vorzeit noch an eines der zehn Gebote: »Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass dir’s wohl ergehe und du lange lebst auf Erden.« Ob Sie sich so was gebieten lassen, ist Ihre Entscheidung, aber dieser alte Schriftsatz ist nicht falsch. Als Psychotherapeut weiß ich, dass es furchtbar schwer sein kann, diesen Vater, diese Mutter nun auch noch zu ehren. Obwohl die Ihnen das Leben ganz schön vermasselt haben, indem sie eben nicht auf Ihre Bedürfnisse eingegangen sind, indem sie manipulativ waren, Sie erpresst haben oder indem sie sich um allen möglichen Unsinn mehr gekümmert haben als um Sie. Ich habe erwachsene Menschen bei dem Versuch, sich vorzustellen, dass sie ihre Eltern »ehren« sollten, vor Wut weinen sehen. Aber es hilft nichts, diese Personen haben Ihre entscheidende Lebensphase geprägt. Und mit sich werden Sie erst weiterkommen, wenn Sie das akzeptieren.
Bei Ihnen ist es gut gelaufen? Sie haben eine schöne, liebe- und respektvolle Beziehung zu Ihren Eltern, Sie freuen sich auf jedes Treffen, weil Ihre Eltern an Ihnen interessiert sind, ohne Sie zu bevormunden, und sie sich auch auf die Enkelkinder freuen?
Super. Dann werden Sie mit meinem Berufsstand vermutlich nicht viel zu tun bekommen.
Verlässlichkeit ist nicht verzichtbar
Gut wäre auf jeden Fall, dass Sie mit sich und Ihrer Beziehung zu Ihren Eltern im Reinen sind, wenn Sie selbst Kinder haben wollen. Spätestens wenn gerade so ein schreiendes Etwas auf die Welt gekommen ist und Sie nicht so recht wissen, was Sie mit ihm anfangen sollen. Wenn Ihre Beziehung zu Ihren Eltern gut war, können Sie sich auf Ihre Intuition verlassen, wenn nicht, dann müssen Sie basteln, sich informieren, Rat und Hilfe suchen.
Hauptsache, Sie kümmern sich, wann auch immer dieses neue Wesen irgendwie signalisiert, dass das angesagt sein könnte. Also eigentlich ständig.
Denn aus den Bedürfnisäußerungen des Babys und Ihrer Reaktion darauf entsteht die Wahrnehmungsfähigkeit des kleinen Menschen für seine Gefühle. Je differenzierter Sie reagieren, desto genauer lernt das Kind seine Bedürfnisse kennen und sie zu unterscheiden.
Übrigens ändern sich auch Ihre Wahrnehmung, Ihre Gefühle, Ihr emotionales Repertoire, wenn Sie mit Kindern umgehen. Die formen Sie ebenso, wie Sie es tun. Wenn Sie offen dafür sind, bekommen Sie jede Menge. Ziemlich schön ist das!
Daraus folgt Verschiedenes:
Der Person, die sich des Babys annimmt, die zur wesentlichen Bezugsperson für das Baby wird, sollte es gut gehen. Sie sollte genügend Zeit haben, sich um das Baby zu kümmern und auch etwas für ihre eigenen Bedürfnisse zu tun. Warum soll es ihr gut gehen? Nur so kann sie etwas von ihrem Wohlbefinden weitergeben. Denn Babys, die ja noch nicht bewusst wahrnehmen, merken vor allem eines: Wie die Person drauf ist, die mit ihnen umgeht. Also wäre es eine gute Investition in das künftige Familienglück und in die Zukunft des neuen Menschen, wenn die Mütter, denn die sind es ja meistens, sich wohlfühlen würden. Das ist wichtiger als der Job des Mannes oder die ausgewogene Partnerschaft. Obwohl das alles ineinandergreift. Aber zu bestimmten Zeiten gibt es bestimmte Prioritäten. Und das sind in den ersten Wochen nach der Geburt die Bedürfnisse des Babys.
Es muss übrigens nicht nur eine Bezugsperson sein. Die Eltern können sich das Umsorgen des Babys teilen. Wobei teilen schon teilen meint. Darauf komme ich später zurück. Wenn die Untersuchungen zur Bindungsfähigkeit auch von einer Bindungsperson ausgehen, heißt dies nicht, dass es nicht auch mehrere sein können. Da Menschenbabys schon früh ihre möglichen Beziehungspartner auf Verträglichkeit durchchecken, können auch mehrere Mütter oder Väter zu Bezugspersonen werden. Nur die Verlässlichkeit ist nicht verzichtbar!
Es geht nicht in erster Linie ums Überleben. Kleine Menschen sind in gewissen Grenzen schon erstaunlich überlebensfähig. Sondern es geht darum, dass aus diesem gerade begonnenen Leben eine zufriedene Persönlichkeit entstehen kann, dass es ein Leben wird, dessen Träger es gut geht und der etwas davon an seine Umgebung weitergeben kann. Also geht es doch ums Ganze.
In den ersten Wochen läuft fast alles über Blickkontakt, Berührung.
Ziemlich bald wird es komplexer. Verhalten entsteht entsprechend den sich entwickelnden Fähigkeiten des Kindes, Mutter und Kind reagieren gegenseitig mit immer mehr Verhaltensweisen aufeinander.
Aus diesen Reaktionsweisen entsteht eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen überhaupt: das Vertrauen in die Beziehung, konkret der sogenannte Bindungstyp. Der entscheidet darüber, ob Sie künftig auf andere offen und vertrauensvoll oder zurückhaltend und mit viel Abwehr zugehen. Oder ob Sie überhaupt nicht auf andere zugehen können.
Diese Entwicklung ist meistens mit drei bis vier Jahren abgeschlossen. Dann ist der kleine Mensch zwar nicht fertig, das werden sie im besten Fall nie, aber die wesentlichen Grundstrukturen sind da.
Was heißt das nun für Sie?
In den ersten Jahren Ihres Lebens ist eine seelische Struktur entstanden, die darüber entscheidet, wie das mit Ihnen und den anderen, vor allem jenen anderen, denen Sie gerne näherkommen würden, so läuft. Das ist Ihnen nicht bewusst: Sie merken es allenfalls, wenn Sie Beziehungen eingehen und dann feststellen, dass diese Beziehungen immer wieder nicht funktionieren oder mit vielen Reibungen und Schmerzen verbunden sind. Bei den ersten Malen denken Sie sicher, das liege an der oder dem Anderen. Manche Menschen behalten diese Sichtweise ihr Leben lang. Vielleicht kommen Sie aber doch mal auf die Idee, es könne an beiden, also auch irgendwie an Ihnen liegen. Wenn Sie nach dieser Einsicht auch noch einen Beitrag zur Verbesserung leisten wollen, könnten Sie eine Psychotherapie versuchen.
In der Therapie ändern Sie einfach Ihr Verhaltensmuster? Manipulation??
So einfach ist das nicht. Denn was Sie als Kleinkind gelernt haben, können Sie nicht per Knopfdruck ablegen und schon gar nicht auf Aufforderung. Ein wichtiger Schritt ist Achtsamkeit: Sie lernen, erst einmal bewusst wahrzunehmen, was Sie in den verschiedenen Situationen einer Beziehung fühlen, bevor Sie in die eingeübten Handlungsautomatismen einklinken.
In einer Therapie könnten Sie sich ansehen, wieso Ihre Beziehungen immer wieder in dieselbe Sackgasse laufen. Und wie diese Muster in der Wechselwirkung mit Ihren früheren Bezugspersonen entstanden sind.
Das Tempo rausnehmen, hinschauen! Und sich danach vielleicht Alternativen zu den ausgetretenen Interaktionspfaden überlegen, die aber auch wieder eingeübt werden müssen. Dadurch könnte sich vielleicht was ändern in Ihrem Beziehungsverhalten.
Bei der Psychotherapie können Sie wählen: zwischen der sehr strukturierten kognitiven Verhaltenstherapie, in der Sie transparent gezielt an Ihren Problemen arbeiten, und den psychoanalytischen Verfahren, die sich von Sigmund Freuds Couch ableiten, auch wenn die wenigsten Psychoanalytiker heute noch eine Couch benutzen.10
Möglicherweise überdenken Sie das mit den Kindern jetzt noch mal. Das schadet nichts, denn Kinder zu kriegen, geht manchmal viel zu einfach. Wenn Sie daran zweifeln, ob Sie es wollen, sollten Sie diese Zweifel erst ausräumen, vielleicht auch über die Rahmenbedingungen nachdenken, die sich möglicherweise vor dem Hintergrund des hier Gesagten ändern müssen, damit Sie guten Gewissens ein Kind kriegen können. Rahmenbedingungen für das Kind, nicht für den Job, nicht für die Karriere! Damit erweisen Sie sich und Ihrem potenziellen Kind einen guten Dienst. Manchmal kommt ein Kind allerdings, ohne sich um Ihre Zweifel zu scheren. Dann müssen Sie durch. Es ist aber auch legitim, auf Kinder zu verzichten. Ihre Entscheidung!
Nachfragen, niemals anklagen
SZ: Warum wollten Sie sich mit Ihren Eltern versöhnen?
Buchfellner: Ich merkte, dass sich in meinem Leben immer wieder dieselben Dramen abspielen. Ich hatte bestimmte Verhaltensmuster, die mich hinderten, ein glückliches Leben zu führen. Vor allem in Partnerschaften. Irgendwann bin ich draufgekommen, dass nicht mein Partner schuld ist, sondern viel bei mir liegt. Und ich hatte das Gefühl, ich muss in meine Kindheit zurückgehen, um etwas verändern zu können.
Ich wollte in die Fußstapfen meiner Eltern gehen, um sie zu verstehen. Nachfragen, niemals anklagen. Nur verstehen.11