Die Entwicklung der Moderne kann als eine Entwicklung von den uns unmittelbar umgebenden Räumen hin zu den unbegrenzt fernen Räumen beschrieben werden. Während sich in den frühen Stammesgesellschaften eine starke Bindung an den Nahraum beobachten lässt, führt die Moderne gerade über die alternativlos gegebenen Räume hinaus und eröffnet neue Horizonte. Die Klage über den Verlust der Gemeinschaft, des Lokalen und der Tradition findet hier ihren Ausgangspunkt. Die vorliegende Arbeit argumentiert, dass diese Bindung des Sozialen an die Nahverhältnisse einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Raum in der Soziologie lange im Weg stand. Im Durchgang durch zentrale soziologische Theoriepositionen und anhand einzelner Fallstudien werden nicht nur die Auswirkungen dieser Privilegierung der Nähe aufgezeigt, sondern wird auch der Gleichzeitigkeit von Deterritorialisierungs- und Reterritorialisierungsprozessen, von Öffnungen und Schließungen nachgegangen.
Markus Schroer ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Im Suhrkamp Verlag erschien von ihm: Das Individuum der Gesellschaft (stw 1509); zuletzt herausgegeben hat er den Band Diven, Hacker, Spekulanten (es 2573, zusammen mit Stephan Moebius).
Räume, Orte, Grenzen
Auf dem Weg
zu einer
Soziologie des Raums
Suhrkamp
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eISBN 978-3-518-73214-4
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Für Jutta Anna
Einleitung
I. Zur Theorie des Raums
1. Von der Raumvergessenheit der Soziologie
2. Raumkonzepte in Philosophie und Physik
2.1 Antike Raumvorstellungen: Platon und Aristoteles
2.2 Die Philosophie der Renaissance und der unendliche Raum
2.3 Newton und der absolute Raum
2.4 Leibniz und der relationale Raum
2.5 Kant: Der Raum als reine Form der Anschauung
2.6 Einstein und der relative Raum
2.7 Zusammenfassung und Ergebnisse
3. Raumkonzepte in der Soziologie
3.1 Die soziale Konstituierung des Raums – Emile Durkheim
3.2 Raumqualitäten und Raumgebilde – Georg Simmel
3.3 Der physische und der soziale Raum – Pierre Bourdieu
3.4 Raum und die Konstitution moderner Gesellschaften – Anthony Giddens
3.5 Gesellschaft ohne Raum – Niklas Luhmann
4. Auf der Suche nach dem verlorenen Raum:
Leben wir in einer atopischen Gesellschaft?
5. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums
II. Exemplarische Analysen
1. Politische Räume
1.1 Die Territorialisierung des Politischen und die Entstehung der Nationalstaaten
81.2 Die Deterritorialisierung des Politischen und das Ende des Nationalstaats
1.3 Die Reterritorialisierung des Politischen und die Erfindung neuer politischer Räume
1.4 Nicht Raum, sondern Räume: Von der Diversifizierung räumlicher Bezüge
2. Urbane Räume
2.1 Die Stadt: Ort der Zivilisation oder der Barbarei?
2.2 Zur Privatisierung des öffentlichen Raums
2.3 Die Stadt als Einheit und ihre zunehmende Fragmentierung
2.4 Die Dezentralisierung der Stadt und die Aufwertung der Peripherie
2.5 Fremde in der Stadt – Begegnung oder Rückzug?
2.6 Mit anderen Augen: Von der Stadt als Prozess – Folgen für die empirische Stadtforschung
3. Virtuelle Räume
3.1 Von der »Datenautobahn« zum »Datenmeer« – Metaphern für den Cyberspace
3.2 Verfestigung des Flüssigen – Landnahme im Cyberspace?
3.3 Die Entwicklung des Cyberspace – eine Raumrevolution?
4. Körperräume
4.1 Der Raum als Körper
4.2 Der Körper als Raum
4.3 Körper und Raum – Grenzverschiebungen
Literaturverzeichnis
Namenregister
Sachregister
Das Verfügenkönnen über die Räume hat es uns angetan.
(Siegfried Kracauer)
Der Titel Räume, Orte, Grenzen umschreibt das Thema, das auf den nächsten Seiten behandelt werden soll. Der Untertitel Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie des Raums gibt die folgenden Überlegungen als Teil einer Suchbewegung aus, denn noch immer tut sich die Soziologie schwer mit dem Raum. Ein ähnlich schwieriges Verhältnis scheint die Soziologie zum Thema Zeit zu unterhalten. Sowohl die Zeit (Waldmann 1971, Lüscher 1974) als auch der Raum (Konau 1973) sind Aspekte, die von der soziologischen Theoriebildung in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts vernachlässigt worden sind. Inzwischen gibt es eine große Zahl von Arbeiten zum Zeitthema, doch die Soziologie hat erst in den letzten Jahren begonnen, die Lücke zu schließen, die durch die Nichtbehandlung des Raumthemas entstanden ist. Nachdem Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts noch einmal auf die »Raumblindheit« (Läpple 1991: 163; Dangschat 1994: 336) und »Raumvergessenheit« (Schäfers/Bauer 1994) der Sozialwissenschaften hingewiesen wurde, ist inzwischen durchaus von einer regen Aufmerksamkeit dem Thema gegenüber zu sprechen, wie allein schon die Anzahl der Monografien (Sturm 2000, Ahrens 2001, Löw 2001) und Sammelbände (vgl. Ecarius/Löw 1997, Fecht/Kamper 2000, Feiner/Kick/Krauß 2001, Henckel/Eberling 2002, Maresch/Werber 2002, Krämer-Badoni/Kuhm 2003, Funken/Löw 2003) aus den letzten Jahren zu diesem Thema zeigt. In all diesen Publikationen wird die Zentralität des Raumbegriffs für die Sozialwissenschaften diskutiert, wobei unterschiedliche Raumvorstellungen vorgestellt und verschiedene Raumbegriffe entwickelt werden.
Mit welchen Raumbegriffen wir es aber auch immer zu tun haben, stets gilt, dass wir in Schwierigkeiten geraten würden, wenn wir die ontologische Frage stellten, was der Raum nun tatsächlich ist oder nicht ist – eine Frage, die sich die klassische Physik und die Philosophie seit Jahrtausenden stellt. Vielmehr wird man auch in diesem Falle die »Was«- in eine »Wie«-Frage überführen müssen. 10Insofern wird es im Folgenden nicht um die Beantwortung der Frage gehen, was Raum letztendlich ist, sondern darum, wie Raum bisher gedacht worden ist und welche Auswirkungen und Folgen dies für die soziologische Theoriebildung hatte und hat. Es geht – im Sinne eines wissenssoziologischen Zugangs – weniger um »den« Raum als vielmehr um verschiedene Möglichkeiten, den Raum zu denken, also um Raumkonzepte und Raumvorstellungen.
Wenn man aber anfängt über den Raum nachzudenken, stößt man schnell auf ein Paradoxon: Auf der einen Seite ist der Raum sehr konkret, da er uns ständig zu umgeben scheint, wir uns ständig »in« ihm aufhalten. Wir können Raum erfahren, können Räume begehen, betreten und wieder verlassen. Auf der anderen Seite ist der Raum äußerst abstrakt. Können wir uns unter »Lebensraum« noch etwas Konkretes vorstellen, scheint schon der »Weltraum« nicht mehr recht fassbar, weil er sich in seinen unendlichen Weiten und seinen immer noch expandierenden Ausmaßen unserer Erfahrung entzieht. Schon Pascal notiert angesichts dieser Unermesslichkeit des Raumes: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich« (Pascal 1997: 141).
Die Unterscheidung zwischen einem erlebbaren und einem nur vorstellbaren Raum hat erhebliche Auswirkungen auch für die soziologischen Vorstellungen vom Raum. Die Entwicklung der Moderne, mit der die Soziologie seit jeher befasst ist, beschreibt nicht zuletzt eine Entwicklung, die von den uns unmittelbar umgebenden Räumen zu den unbegrenzt fernen Räumen führt. Während wir in frühen Stammesgesellschaften eine starke Bindung an den Nahraum beobachten können, führt uns die Moderne gerade über die alternativlos gegebenen Räume hinaus und eröffnet neue Horizonte. Der Moderne ist die Befreiung aus dem Nahraum und die Eroberung der Ferne gleichsam eingeschrieben. Sie führt aber zugleich dazu, dass die Ferne immer mehr in Nähe verwandelt wird und die »eigentliche«, »ursprüngliche« Nähe als »bedroht« erscheint. Die Klage über den Verlust der Gemeinschaft, des Lokalen und der Tradition findet hier ihren Ausgangspunkt. Auf die Eroberung der Ferne, die unweigerlich zur Konfrontation mit alternativen Lebensvorstellungen, Sitten und Gebräuchen führt, folgt die Vorstellung, dass das Eigene gegenüber dem Fremden verteidigt werden müsse. Es ist diese Konstellation, die deutliche Spuren in den klassischen Theorien der Soziologie hinterlassen hat. In ihrer 11Mehrheit zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie Nähe gegenüber Ferne privilegieren. Zwar wird die Entwicklung der Moderne mit dem Aufbruch in fremde Welten und der Befreiung des Individuums aus traditionalen Sozialbeziehungen gleichgesetzt. Doch obwohl dieser Vorgang in großen Teilen der Modernisierungstheorie durchaus begrüßt wird, wird das Soziale doch immer wieder an Nahverhältnisse gebunden, während die fernen Einflüsse als Bedrohung wahrgenommen werden. Diese in die Geschichte der Soziologie tief eingesenkte Überzeugung ist es, so meine These, die eine systematische Behandlung des Raums verhindert hat. Raum wird letztlich mit dem Ort gleichgesetzt, und die zunehmende Ablösung des Sozialen von örtlichen Gegebenheiten wird als Verfallsgeschichte erzählt. Zugleich wird immer wieder die Notwendigkeit überschaubarer Verhältnisse, sozialer Beziehungen und Gemeinschaften auf lokaler Basis und die Unverzichtbarkeit von Face-to-face-Kontakten eingeklagt.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht deshalb die Frage, welche Folgen ein solches Raumverständnis hat und was sich ändert, wenn man die Privilegierung der Nähe und des Ortes aufgibt. Um diese Frage zu beantworten, gehe ich wie folgt vor:
In einem ersten Schritt werde ich mich den Gründen widmen, die zu einer Nichtthematisierung des Raums im sozialwissenschaftlichen Kontext geführt haben. Anschließend werde ich die philosophisch-physikalischen Raumkonzepte diskutieren, die einen erheblichen Einfluss auf die Auffassung von Raum im soziologischen Kontext ausgeübt haben. In der Geschichte der Naturwissenschaften und der Philosophie ist die derzeit in den Sozialwissenschaften geführte Debatte über die Kategorie des Raums bereits vorgezeichnet. Auch in der Soziologie geht es um den Streit zwischen absolutistisch-substanziellen auf der einen und relativistisch-relationalen Raumtheorien auf der anderen Seite. Daneben jedoch spielt für die Sozialwissenschaften insbesondere das Verhältnis von physischem und sozialem Raum eine große Rolle. Bei Emile Durkheim, Georg Simmel, Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und Niklas Luhmann findet man sowohl eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Raumbegriffen als auch eine stillschweigende Übernahme des einen oder anderen physikalisch-philosophischen Raumbegriffs, wie ich im Einzelnen herausarbeiten werde. Dabei lasse ich mich von der Vorstellung leiten, dass es im soziologischen 12Zusammenhang nicht um eine Fortsetzung des scheinbar endlosen Streits um den einen, einzig richtigen Begriff des Raums in Philosophie und Physik gehen kann. Die Soziologie hat sich beim Thema Raum vielmehr dafür zu interessieren, wie Raum tatsächlich konstituiert wird, wann Raum als Problem überhaupt virulent wird und was die Berücksichtigung des Raums in soziologischen Theorien für Folgen zeitigt. Auf der Grundlage der theoretischen Diskussion um ein angemessenes Raumverständnis werden in den darauf folgenden Kapiteln die Konsequenzen aufgezeigt, die sich ergeben, wenn die Soziologie nicht mehr mit einem banalen, letztlich erd-räumlichen, physisch-materiellen Raumbegriff arbeitet, sondern mit einem konstruktivistischen Raumbegriff, der die Entstehung des Raums auf soziale Operationen zurückführt. Statt einer zunehmenden Irrelevanz des Raums ist dabei der vermehrte Aufbau von Räumen zu beobachten. Um diese Perspektive zu verfolgen, wird anhand der exemplarischen Analysen zu politischen Räumen, urbanen Räumen, virtuellen Räumen und Körperräumen danach gefragt, welche Raumauffassungen in diesen Themenfeldern zur Sprache kommen. Dabei gehe ich einerseits davon aus, dass der Vorstellung relationaler Räume eine immer größere Bedeutung für die Erklärung von Globalisierungsprozessen, mediatisierter Kommunikation und Körperkonzepten zuwächst. Auf der anderen Seite werde ich den Nachweis führen, dass dem Behälter-Raumkonzept nach wie vor eine hohe Attraktivität zukommt, weil mit seiner Hilfe klare Trennlinien gezogen und Zuordnungen vorgenommen werden können.
Zeitdiagnostisch gesehen erleben wir derzeit – und auch darauf wird einzugehen sein –, dass eine weit zurückreichende Vorstellung über den Raum immer weniger zu gelten scheint, die der französische Schriftsteller George Perec wie folgt zu charakterisieren versucht hat: »Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben. Man muß immer die Zeit wissen […], aber man fragt sich nie, wo man ist. Man glaubt es zu wissen: man ist zu Hause, man ist im Büro, man ist in der Metro, man ist auf der Straße« (Perec 1990: 103). Es ist diese Selbstverständlichkeit in Bezug auf den Raum, auf die lokale Verortung und die Ortsgebundenheit, die im Zeitalter von Computern, Handys und GPS-Systemen nicht mehr länger zutrifft. Die einstmalige 13Selbstverständlichkeit räumlicher Bezüge machte den Raum zu einer Art Kontingenzbewältiger. Die derzeitige Unruhe rührt genau daher, dass räumliche Bezüge nun selbst flexibel, kontingent und fragil geworden sind und damit nicht mehr länger als Antidot gegen den Rausch der Geschwindigkeit taugen, der die gegenwärtige Gesellschaft erfasst hat.
Der Raum spielt traditionell in der soziologischen Theoriebildung keine wesentliche Rolle. Lässt man die einzelnen Theorieschulen Revue passieren, wird schnell deutlich, dass er allenfalls am Rande vorkommt. Ob in der Kritischen Theorie, der Wissenssoziologie, dem methodologischen Individualismus bzw. der Rational-Choice-Theorie oder der Systemtheorie – überall herrscht das gleiche Bild: Während die Zeit durchaus eine Rolle spielt, muss man nach Eintragungen zum Raum oft lange suchen – wenn er überhaupt vorkommt. Handelt es sich in den meisten Fällen um eine eher implizite Vernachlässigung, erfolgt die Nichtthematisierung des Raums zugunsten der Zeit bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980: 29) sogar explizit: »Die Alltagswelt ist räumlich und zeitlich strukturiert. Ihre räumliche Struktur ist für unsere Überlegungen ziemlich nebensächlich. Es genügt vollauf zu sagen, daß auch sie eine gesellschaftliche Dimension hat kraft der Tatsache, daß die Zone meiner Handhabung sich mit den Zonen der Handhabung anderer überschneidet. Wichtiger für uns ist die Zeitstruktur der Alltagswelt.« Zwar wird hier immerhin konzediert, dass die räumliche Struktur eine gesellschaftliche Dimension hat, die zeitliche Struktur aber gilt als die entscheidende Instanz unseres Alltags, der durch eine Abfolge sich wiederholender Tätigkeiten strukturiert wird.[1] Eine ähnliche Gewichtung der Relevanz von Zeit und Raum findet sich bei Talcott Parsons (1967: 45): »While the phenomena of action are inherently temporal […] they are not in the same sense spatial.«
Welche Gründe mag es für diese allenfalls sekundäre Bedeutung des Raums in der Soziologie geben? Ein entscheidender Grund dafür ist sicher in der Rolle zu sehen, die der Raum im Nationalsozialismus gespielt hat. Insbesondere in Deutschland ist der Begriff des 18Raums vorbelastet: Die Rede vom »Volk ohne Raum«, vom »Lebensraum«, von »Blut und Boden« und das in dieser Zeit zur Blüte gelangte Konzept der »Geopolitik« haben über viele Jahre hinweg eine unvorbelastete Thematisierung des Raums ausgeschlossen. Wie tief die Vorbehalte gegen die Kategorie des Raums gehen, kann man auch daran erkennen, dass wir nicht nur eine Vernachlässigung dieser Kategorie beobachten können, sondern sogar eine normative Legitimation für diese Nichtbehandlung erhalten. Noch in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts bewertete Alois Hahn die Nichtberücksichtigung des Raums in der soziologischen Theorie ausdrücklich als ein Zeichen dafür, dass die Soziologen die Prüfung in »reeducation« bestanden hätten, weil nach den verhängnisvollen Erfahrungen eines »Volkes ohne Raum«[2] eine »Soziologie ohne Volk« entstanden sei, die auch den Begriff des Raums nicht mehr als Grundbegriff führe (Hahn 1993: 201). Die nationalsozialistische Thematisierung des Raums hat das Räumliche also geradezu zu einem Tabuthema werden lassen, was substanzielle Raumdebatten nach 1945 verhindert hat (vgl. Prigge 2000: 23).[3] Gerade die deutschsprachige Soziologie hat nach 1945 den Raum systematisch vergessen. An seine Stelle trat die Konzentration auf die Zeit, die von beinahe allen Theorietraditionen mitgemacht und unterstützt wurde.
Doch so plausibel die Belastung des Raumthemas in der deutschen Tradition ist – die nationalsozialistische Verwendung des Raumbegriffs allein kann nicht erklären, warum er so lange von der Soziologie eher gemieden worden ist. Denn die Vernachlässigung der Raumkategorie hat eine viel weiter zurückreichende Geschichte. Nicht erst die jüngeren Klassiker der Soziologiegeschichte weisen hinsichtlich der Thematisierung des Raums eine Lücke auf. Schon für Karl Marx, Max Weber und Emile Durkheim gilt, dass sie der Zeit und der Geschichte den Vorrang vor dem Raum und der Geografie gegeben haben »and, where they treat of the latter at 19all, tend to view them unproblematically as the stable context or site for historical action. […] The way in which the space-relations and the geographical configurations are produced in the first place passes, for the most part, unremarked, ignored« (Harvey 1985: 141 f.).
Die Gründe für diese nicht zu übersehende Absenz des Themas scheinen also tiefer zu liegen. Meines Erachtens ist die mangelnde Thematisierung des Raums – neben der erwähnten Belastung des Begriffs durch seine Karriere im Nationalsozialismus – auf folgende Punkte zurückzuführen: 1. auf die Entstehungszeit der Soziologie als Wissenschaft, 2. auf die geistesgeschichtlich weit zurückreichende Konnotation des Raumbegriffs, 3. auf das Verhältnis zu anderen Wissenschaften und 4. auf die Gleichsetzung des Raums mit dem Nahraum.[4]
(1) Die Soziologie entstand zur Zeit der Etablierung des Nationalstaats. Von da an ist der Nationalstaat das wie selbstverständlich vorausgesetzte Territorium, auf dem sich Gesellschaft ereignet. Wann immer im Folgenden die Soziologie von Gesellschaft sprechen wird, hat sie eine nationalstaatlich verfasste Gesellschaft vor Augen, was in der Rede von der amerikanischen, der deutschen oder der französischen Gesellschaft nur zu deutlich wird (vgl. Berking 2002). Die makrotheoretisch angelegte Gesellschaftstheorie von Talcott Parsons beispielsweise steht wie kaum eine andere für die Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaat. Gesellschaft gleicht einem Container, in dem sich Soziales abspielt. Ähnlich wie sich bei den berühmten russischen Puppen – den Matroschkas – 20unter der Größten immer wieder eine kleinere Puppe befindet, so verbirgt sich auch in jedem Container ein nächst kleinerer Container, der als Hülle des Sozialen fungiert: Die Welt, der Kontinent, der Staat, das Land, die Region, die Stadt, das Viertel, das Haus, das Zimmer bieten die immer kleiner werdenden Rahmen, in denen sich Soziales abspielt. Die klare Aufteilung und das Wissen um die Vielzahl der vorhandenen Container motiviert zur komparativen Methode, deren Ergebnisse man in der Soziologie immer wieder beobachten kann: Länder- und Städtevergleiche sind eine weit verbreitete Methode, um sich Themen wie Armut, gewalttätige Auseinandersetzungen, Kriminalitätsraten, Eheschließungen und -scheidungen zu widmen.
Die Vernachlässigung des Raums in der Soziologie hat darüber hinaus damit zu tun, dass sie als Kind der Aufklärung und der Moderne ihre wesentlichen Anregungen aus der idealistischen Philosophie bezieht. Schon hier ist eine Betonung der Zeitlichkeit sozialer Phänomene und eine Vernachlässigung der räumlichen Aspekte beobachtbar.[5] Die außerordentliche Karriere der Bewusstseinsphilosophie trägt mit dazu bei, die Kategorie des Raums zu vernachlässigen, denn: »So wie wir die Dimension des Raums mit dem Körper assoziieren, orten wir die Zeit dem Bewußtsein zu« (Gumbrecht 1991: 56).[6]
So hat sich die Soziologie zwar immer wieder mit dem Übergang 21von einfachen zu komplexen Gesellschaften befasst, diesen aber in erster Linie als zeitlichen Wandel verstanden. Einfache Gesellschaften stellen eine vergangene Epoche der sozialen Evolution dar. Noch vorfindbare einfache Gesellschaftsformen werden als Relikte einer vergangenen Zeit angesehen, deren Untersuchung man getrost den Ethnologen überlassen kann. Welche räumlichen Veränderungen Auslöser und Ergebnis dieses Wandels waren, bleibt in den Erklärungsversuchen zumeist ausgespart. Eine Analyse des Wandels räumlicher Arrangements beim Übergang von einfachen zu modernen Gesellschaften mag zwar erwähnt werden, steht aber weder bei Max Weber, Georg Simmel, Emile Durkheim und Ferdinand Tönnies noch bei Talcott Parsons, Norbert Elias, Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann im Vordergrund. Allenfalls erfährt man, dass sich das Soziale aus einem kleinen Gehäuse befreit, um in ein größeres überzugehen.
(2) Die Vorstellungen über gesellschaftlichen Wandel sind geprägt von einem in der abendländischen Geistesgeschichte tief verankerten Verständnis von Raum und Zeit. Während die Zeit für das Mobile, Dynamische und Progressive, für Veränderung, Wandel und Geschichte steht, steht der Raum für Immobilität, Stagnation und das Reaktionäre, für Stillstand, Starre und Festigkeit. Die Zeit wird in der abendländisch-metaphysischen Tradition zumeist positiv, der Raum negativ konnotiert: »With Time are aligned History, Progress, Civilization, Science, Politics and Reason, portentous things with gravitas and capital letters. With space on the other hand are aligned the other poles of these concepts: stasis, (›simple‹) reproduction, nostalgia, emotion, aesthetics, the body« (Massey 1992: 73).[7] Der Raum scheint damit den auf Wandel und 22Veränderung angelegten Theorien der Soziologie zu widersprechen, scheint sich als Bremse der voranpreschenden Zeit zu erweisen: »Die Zeit schreitet fort, während der Raum nur herumlungert« (Massey 1993: 118). Der Raum scheint also ein Hindernis für Entwicklung, Fortschritt und Modernisierung darzustellen, denn in ihm manifestiert sich die alte Ordnung, die überwunden werden soll. Dem Raum kommt in den meisten Modernisierungstheorien deshalb nur eine »dienende Statistenrolle« zu: »Er ist der geräuschlose Hintergrund, vor dem sich das soziale Geschehen entfaltet« (Heidenreich 1993: 224). Die Entwicklung der Moderne aber zielt auf nichts weniger als auf die Überwindung, Eroberung und Inbesitznahme des Raums.[8] Die Dynamik von Neuzeit und Moderne entsteht durch den Aufbruch in neue Räume. Den gegebenen Räumen entfliehen, um neue zu entdecken, das ist das Programm. Diese Aktivität leitet das Zeitalter der Entdeckungen ein.[9] Die Entdeckung der »Neuen Welt« ist dafür ebenso ein Beispiel wie die astronomischen Erkundungen des Weltraums. Mit beiden Ereignissen greift eine tiefe Erschütterung der bisherigen Raum- und damit auch Gesellschaftsordnung um sich. Der »Vorstoß in die unend23liche Weite des Raums« (Bollnow 1989: 82) führt zur Entgrenzung der den Europäern bisher bekannten Welt. Die Entdeckung bisher unbekannter Welten lockt ebenso, wie sie die Sicherheit zerstört, in einer überschaubaren Welt aufgehoben zu sein. Das Bewusstsein, sich in einer »Mitte« zu befinden, wie es das aristotelisch-ptolemäische System stets vorsah, zerbricht durch die Kopernikanische Wende ebenso wie durch die Entdeckung des Columbus:
Raum zu erobern war das höchste Ziel – so viel davon zu ergreifen, wie man nur halten konnte, ihn dann festzuhalten und überall mit sichtbaren Zeichen des Besitzes und Kein-Zutritt-Schildern zu markieren. Landbesitz war eine der stärksten modernen Obsessionen, die Inbesitznahme eine der zwanghaftesten modernen Triebfedern – während die Bewahrung der Grenzen einen besonders hohen Stellenwert unter den allgegenwärtigen, unverwüstlich und unbarmherzig anwachsenden modernen Süchten erhielt (Bauman 2000b: 25).
Im Grunde ist also Grenzerweiterung und Grenzüberschreitung ebenso wie Grenzerhaltung das Ziel. Ein unbesetzter, »leerer« Raum wurde gleichsam als Provokation empfunden, der zu immer neuen Vorstößen Anlass gab. Der Drang, in Welten vorzustoßen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat, und damit der Drang, bisher Unsichtbares sichtbar zu machen, bisher Unbekanntes bekannt und Entferntes nah, scheint ein anhaltender Impuls der Moderne zu sein, der auch heute keineswegs zur Ruhe gekommen ist: Lässt der äußere Raum keine weiteren Eroberungen zu,[10] erlaubt auf der einen Seite das Mikroskop und die Nanotechnik eine immer weiter gehende Erforschung des bisher den Blicken entzogenen Mikrobereichs. Auf der anderen Seite wird die Erschließung der virtuellen Räume durch eine ähnliche Semantik begleitet wie einstmals die Eroberung des »realen« Raums.
(3) Die Kaprizierung auf die Zeit zu Lasten des Raumes hatte auch Konsequenzen im Hinblick darauf, mit welchen anderen Wissenschaften 24ein Austausch und eine Auseinandersetzung gesucht wurde und mit welchen nicht. Während die Soziologie mit der Geschichtswissenschaft zumindest vereinzelt Kontakt aufgenommen hat, wurde die Geografie im Grunde genommen als nicht satisfaktionsfähig ignoriert. Die Aufforderung, soziologische Untersuchungen auch historisch anzulegen, hat einen ganz anderen Stellenwert als derjenige, die räumlichen Bedingungen des Sozialen nicht zu vernachlässigen.
Die Aufteilung der Wissenschaftsdisziplinen in eine Soziologie mit dem Bezug auf das Soziale und die Humangeografie mit Bezug auf das Räumliche hat dazu geführt, dass die Soziologie glaubte, sich mit dem Raum nicht näher beschäftigen zu müssen. Der Raum gilt als die natürliche und ureigenste Domäne der Geografie. Beschäftigt man sich als Soziologe mit dem Raum, drängt sich unweigerlich der Verdacht auf, in fremden Gewässern zu fischen, schließlich gilt die Geografie »als die Raumwissenschaft par excellence« (Spiegel 2000: 44). Dabei wird der Raum jedoch weitgehend mit dem geografischen Raum, d. h. dem Boden und der Erdoberfläche, identifiziert, sodass wir es mit dem Paradox einer Raumwissenschaft zu tun haben, die sich lange Zeit über nicht um eine Klärung der zentralen Kategorie Raum bemüht hat (vgl. Blotevogel 1999: 4). Bemerkenswert ist, dass der explizite Raumbezug der Geografie geradezu als Beleg dafür angeführt wird, dass es sich bei dieser Wissenschaft nicht um eine Sozialwissenschaft handeln könne: »Die moderne Geographie befasst sich mit den räumlichen Konsequenzen menschlicher Verhaltensweisen, Lebensansprüche und Lebenserwartungen. Sie ist somit keine ›reine‹ Sozialwissenschaft, die in der Regel vom Raum abstrahiert, aber auch keine (reine) Geowissenschaft, die den Raum ausschließlich in seinen physischen Aspekten betrachtet« (Hartke 1970: 403). Nach Hartke zeichnet sich eine reine Sozialwissenschaft also gerade dadurch aus, dass sie vom Raum abstrahiert. Die Nichtberücksichtigung der Raumkategorie wird förmlich zum Garanten dafür, es mit einem sozialwissenschaftlichen Ansatz zu tun zu haben. Die Arbeitsteilung zwischen Geografie und Soziologie und die damit einhergehende Delegierung des Themas an die Geografie hat die Vernachlässigung des Themas in der Soziologie mit bedingt. Mit der Ausdifferenzierung der Geschichte als Wissenschaft zur Untersuchung zeitlicher Verläufe auf der einen und der Geografie als Raumwissenschaft auf der 25anderen Seite wird Soziologie vorstellbar als Wissenschaft vom Sozialen, die sich mit Raum und Zeit nicht näher beschäftigen muss, da sie sich über ein bereits von anderen Wissenschaften bearbeitetes Feld nicht konstituieren und profilieren kann.
Erst in jüngster Zeit scheint sich das Bild langsam zu ändern: Soziologie und Geografie scheinen sich aufeinander zu zu bewegen. Eine intensive Bemühung um den Raumbegriff ist in beiden Wissenschaften zu beobachten. Wenn man die Geschichte der Soziologie durch ihre wechselnden Bezüge zu anderen Wissenschaften zu schreiben versuchte, dann könnte man nach einer anfänglichen Nähe zur Nationalökonomie über eine Nähe zur Philosophie, zur Geschichte,[11] zur Ethnologie und zur Linguistik inzwischen von einer Annäherung an die Geografie sprechen. Helmuth Berking (1998: 382) hat dies bereits zum Anlass genommen, von einer »geografischen Wende« in den Sozialwissenschaften auszugehen,[12] die damit den »linguistic-turn« und den »cultural turn« ablösen würde. Für Anthony Giddens (1992: 427) ist die Nähe zwischen Soziologie und Geografie sogar so groß, dass er zu der weitgreifenden Schlussfolgerung gelangt, dass es »keine logischen und methodologischen Differenzen zwischen der Humangeografie und der Soziologie«[13] gibt. Die Beobachtung, dass »es keine signifikante Episode in der Geschichte soziologischen Denkens zu geben scheint, in der die Geografie ein bedeutsamer Kontaktpartner und Konkurrent war« (Stichweh 2003: 94), ist insofern zu korrigieren, dass wir es gegenwärtig zumindest mit einer nicht zu übersehenden Annäherung zu tun haben, die sich allerdings vor allem in den angelsächsischen Ländern vollzieht, während im deutschsprachigen Kontext weiterhin eher von einer indifferenten Koexistenz auszugehen ist.
Möglicherweise hat dies auch damit zu tun, dass die Wiederent26deckung des Raums in der Soziologie mit einer Relativierung des Raums in der Geografie einhergeht (Scheiner 2002: 23). Insofern gibt es derzeit eine interessante Parallelbewegung von Geografie und Soziologie zu beobachten. Während die einen ihre Raumfixiertheit endlich ablegen wollen und deshalb von der eigenen Zunft als »Raumexorzisten« (Hard 2002: 268) gebrandmarkt werden, will eine wachsende Anzahl von Soziologen und Soziologinnen dem Raum wieder eine größere Bedeutung zuerkennen. Die »Wiederkehr des Raumes« (Waldenfels 2001: 179) innerhalb der Sozialwissenschaften ist dabei von der Gefahr nicht frei, in überholte Konzepte des Raums zurückzufallen. Gerade eine stärkere Auseinandersetzung mit der Geografie könnte die Soziologie vor einer Wiederauflage der dort schon seit langem ad acta gelegten Raumkonzepte bewahren.
(4) Einen weiteren entscheidenden Grund dafür, dass sich Soziologie mit der Raumkategorie nicht näher beschäftigt hat, sehe ich in ihrer auf Nahraumverhältnisse ausgerichteten Charakterisierung des Sozialen. Die These der vorliegenden Arbeit lautet, dass die Theoriebildung von den Klassikern bis heute eine Lokalitätsgebundenheit des Sozialen voraussetzt, das Soziale an konkrete Orte bindet und in Nahraumverhältnissen vermutet. Obwohl sie die zunehmende Mediatisierung sozialer Beziehungen selbstverständlich thematisiert, sind Nahverhältnisse und Fernbeziehungen ebenso eindeutig mit einem Plus- und einem Negativzeichen versehen wie die ähnlich gelagerten Differenzierungen von Sozial- und Systemintegration, Anwesenheit und Abwesenheit, Lebenswelt und System, mit denen nicht zuletzt zwischen Eigenem und Fremdem, Vertrautem und Unvertrautem unterschieden wird. Zurückzuführen sind diese tief in die soziologische Theoriebildung eingesenkten Dichotomien auf das klassische Gegensatzpaar von Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Tönnies 1991). Das Gegensatzpaar enthält die Trendaussage, dass wir es mit einer zunehmenden Ablösung der Gemeinschaft durch die Gesellschaft zu tun haben. Während Gemeinschaft als ursprüngliche Form des Sozialen gilt, die auf affektiver Nähe beruht, wird Gesellschaft als Verfallsform eingestuft, in der Zweckrationalität, Anonymität, Indifferenz, Distanzierung und Entfremdung vorherrschen. Gemeinschaft strahlt Wärme aus, Gesellschaft Kälte. Weit über Tönnies hinaus ist dieses Gegensatzpaar in immer neuen Varianten in die Theoriebildung eingegangen. Dabei 27wird stets die Kommunikation unter Anwesenden, die Sozialintegration und die Lebenswelt als der Ort des eigentlich Sozialen ausgemacht, während die Kommunikation unter Abwesenden, die Systemintegration und die Systeme oftmals als Bedrohung des Sozialen erscheinen.
Im Globalisierungszeitalter kehrt das Gegensatzpaar von Gemeinschaft und Gesellschaft als Differenz zwischen dem Lokalen und dem Globalen wieder. Und auch hier steht das Globale für die Bedrohung des schützenswerten Lokalen. Die Klage über den Verlust an überschaubaren Beziehungen, an sozialer Einbindung in die nächste Umgebung, an gegenseitiger Wahrnehmung, an Unmittelbarkeit und Nähe ist allseits vernehmbar. Eine extremste Variante dieses Denkens bietet der Kommunitarismus, der explizit für eine Rückführung der unübersichtlichen und bedrohlichen, weil von Anomiezuständen gefährdeten Gesellschaft in überschaubare kleine Gemeinschaften plädiert (vgl. Etzioni 1998). Aber auch jenseits solch eindeutiger Stellungnahmen ist die Privilegierung der Nähe nicht zu übersehen, die sich wie eine Bestätigung des Heidegger’schen Diktums liest: »Im Dasein liegt eine wesentliche Tendenz auf Nähe« (Heidegger 1986: 105).[14] Entscheidend für den Kontext einer Soziologie des Raumes ist, dass diese Unterscheidungen auch räumlich fundiert sind. Die Wertschätzung der Gemeinschaft, der Lebenswelt und der Anwesenheit geht einher mit der Privilegierung des Ortes gegenüber dem Raum, wobei der Ort als Nahraum fungiert. Das eigentlich Soziale ist im Nahraum, vor Ort zu suchen.[15] Die mit der Moderne sich vollziehende Herauslösung der Individuen aus den traditionellen, nahräumlichen Bindungen (vgl. Schroer 2001) wird gleichzeitig als zunehmende Emanzipation vom Raum interpretiert. Die Globalisierungserzählung erweist sich damit als Fortsetzung der Modernisierungserzählung, da sie eine weitere Runde von Herauslösungsprozessen auslöst, die nun nicht mehr nur die lokalen Verbände und Beziehungen sprengt, sondern auch die nationalen Bezüge unterläuft und für globale Verbindungen öffnet.
Die Wertschätzung der lokal verorteten Sozialbeziehungen ist 28insbesondere im Kontext phänomenologischer und interaktionsnah gebauter Sozialtheorien stark ausgeprägt. Konzepte der Gemeinschaft wie der Lebenswelt transportieren die Idee des vor allem auf den Nahbereich ausgerichteten Sozialen. Deshalb habe ich bei den im 3. Kapitel behandelten Theorien solche ausgewählt, die zunächst keine Präferenz für den Nahraum vermuten lassen, da sie den Anspruch erheben, sowohl Mikro- als auch Makrophänomene analysieren zu können. Die Frage, die an diese Gesellschafts- bzw. Sozialtheorien zu richten sein wird, lautet, inwiefern es ihnen gelingt, die Vorstellung von der Lokalitätsgebundenheit des Sozialen zu überwinden, wofür ein soziologisch tragfähiger Begriff des Raums die Voraussetzung ist, der Raum nicht von vornherein mit dem Territorium, dem physischen Raum und dem Nahraum identifiziert.
Doch bevor ich mich den soziologischen Angeboten zur Thematisierung des Raums widmen kann, soll es im nächsten Kapitel zunächst um die im philosophischen und physikalischen Kontext entstandenen Raumkonzepte gehen, die gewissermaßen die Basis der auch heute diskutierten Raumbegriffe in den Sozialwissenschaften bilden.
Was ist Raum? Stellt man sich eine solch umfassende Frage, wird man als Antwort nicht im Blick haben, zu einer eindeutigen Definition zu gelangen, was der Raum nun wirklich ist. Vielmehr kann man diese ontologische in eine wissenssoziologische Frage überführen, indem man danach fragt, wie Raum bisher gedacht worden ist: Welche Vorstellungen gibt es über den Raum, welche hat es bisher gegeben? Wann treten diese Vorstellungen auf? Wie und wodurch ändern sie sich? Ein erster Schritt im Hinblick auf diese Form der Beantwortung ist der Rückgriff auf die etymologische Bedeutung des Wortes Raum, die in manch nachfolgenden Konzepten aus Philosophie oder Physik wieder anklingt. Die etymologische Bedeutung des Substantivs Raum ist aufschlussreich. Es leitet sich vom Verb »räumen« ab, was so viel bedeutet wie »Platz schaffen, leer-, freimachen; verlassen, fortschaffen« (vgl. Pries 1997: 19). Als ursprüngliche Bedeutung verzeichnet das Grimmsche Wörterbuch für »räumen«: »einen Raum, d. h. eine Lichtung im Walde schaffen, behufs Urbarmachung oder Ansiedlung« (nach Bollnow 1989: 33). Raum steht für »einen uralten Ausdruck der Ansiedler […], der zunächst die Handlung des Rodens und Freimachens einer Wildnis für einen Siedelplatz bezeichnete […], dann den so gewonnenen Siedelplatz selbst«. Diese Bedeutung kann man gar nicht genug hervorheben, denn Raum bedeutet demnach nicht einfach Boden oder Fläche. Selbst als geografischer Raum ist der Raum nicht immer schon vorhanden, sondern muss erst durch menschliche Tätigkeiten hervorgebracht werden. Keineswegs also wird auf einen ursprünglich vorhandenen, immer schon gegebenen natürlichen Raum Bezug genommen. Wenn man so will, ist damit bereits in der ursprünglichen Bedeutung ein konstruktivistischer Raumbegriff angelegt, der im Laufe der Entwicklung der Raumbegriffe – und ebenso im Verlaufe der vorliegenden Arbeit – noch eine bedeutende Rolle spielen wird. Für ein soziologisches Verständnis von Raum wird wichtig, dass es nicht um je schon vorhandene Räume geht, deren Wirkung auf das Soziale, auf Individuen und Gesellschaft dann untersucht werden könnte. Wichtig ist vielmehr, dass Räume erst hergestellt werden müssen, um eine Bedeutung für soziale Prozesse zu erhalten. Eine solche Vorstellung vom Raum spielt auch 30in einigen klassischen philosophischen Theorien eine bedeutende Rolle.
Ein Blick in die Geschichte der Raumtheorien konfrontiert uns mit einer schier endlosen und kaum mehr zu übersehenden Anzahl von Erklärungen darüber, was der Raum ist und wie man ihn denken könne. Zunächst erscheint es kaum möglich, in diese wild wuchernde Theorienvielfalt irgendeine Ordnung bringen zu können. Und doch scheint auf den zweiten Blick eine wiederkehrende Kontroverse erkennbar, nach der sich die einzelnen Beiträge ordnen lassen. Es ist die Opposition von relativistischen Raumbegriffen auf der einen und absolutistischen Raumbegriffen auf der anderen Seite. In dieses Raster lassen sich die meisten Epoche machenden Ansätze, die ich im Folgenden vorstellen möchte, einordnen. Einstein schreibt (1960: XIII):
Man kann diese beiden begrifflichen Raum-Auffassungen einander gegenüberstellen als:
a) Lagerungsqualität der Körperwelt,
b) Raum als »Container« (Behälter) aller körperlichen Objekte.
Im Falle a) ist der Raum ohne körperliche Objekte undenkbar. Im Falle b) kann ein körperliches Objekt nicht anders als im Raum gedacht werden; der Raum erscheint dann als eine gewissermaßen der Körperwelt übergeordnete Realität.
Die Kontroverse zwischen diesen beiden Raumbegriffen durchzieht die Wissenschaftsgeschichte seit Jahrhunderten (vgl. auch Urry 1985, Pries 1997).
Traut man den allgemeinen Darstellungen über die Geschichte der Raumvorstellungen und Raumkonzeptionen, haben wir es mit einem zunächst noch völlig unreflektierten Versuch der Orientierung zu tun, die sich erst sehr langsam zu einem abstrakten Begriff vom Raum entwickelt. Bei Naturvölkern ist die Raumvorstellung zunächst offenbar »nur eine zufällige Sammlung konkreter Orientierungen, eine mehr oder weniger geordnete Vielfalt örtlicher Richtungen, von denen jede sich mit gewissen gefühlsbetonten Empfindungen 31verband. Dieser vom einzelnen erfahrene und unbewußt geformte primitive ›Raum‹ hat sich dann wohl einem ›Raum‹ angeglichen, wie ihn die Gruppe, die Familie, der Stamm erlebte« (Jammer 1960: 5; vgl. Läpple 1991: 202).
Erst in der Antike und dort erst mit der Generation von Forschern unmittelbar vor Platon starten die Versuche, zu einem Begriff des physischen Raums vorzustoßen (Zekl 1989: 68). Ohne alle entscheidenden Stationen auf diesem langen Weg im Einzelnen Revue passieren lassen zu können, sollen die herausragendsten Erkenntnisfortschritte zumindest kurz vorgestellt werden. Dabei hat man es zunächst mit literarischen Quellen zu tun, in denen die Dichter die Weite der Welt zu beschreiben versuchen. Daneben und anschließend geht es vor allem um die Betrachtung der Himmelskörper und deren Beziehung untereinander. In welcher Entfernung stehen die einzelnen Planeten zueinander? Das ist in jener Zeit eine zentrale Frage. Dabei werden die Erkenntnisse jedoch oft unmittelbar aus den Sinneseindrücken abgeleitet. So gilt noch für Heraklit, dass die Sonne so groß ist, »wie sie uns erscheint«. Sie hat die »Breite eines menschlichen Fußes« und ist »neu an jedem Tage« (Zekl 1989: 69). Es herrscht die Ansicht vor, dass die Welt als Ganze eingegrenzt ist, »weil das Seiende ohne Abschluß nicht sein darf« (ebd.). Aus der lückenlosen Einheit des Weltganzen folgt für Melissos die Unendlichkeit des Seienden: »denn jede Grenzbildung würde das Sein gegen ein anderes entzweien« (ebd.).
Den ersten umfassenden Versuch, den Begriff des Raums zu erklären, finden wir bei Platon. Insbesondere in seiner Schrift Timaios (Platon 1991) entwickelt er seine Theorie des Raums. Die grundsätzliche Idee dieses Platonischen Dialogs besteht darin, dass die beiden Kategorien des Seins und des Werdens nicht ausreichen, um Welt zu beschreiben. Es bedarf vielmehr einer dritten Gattung, in der alles Werden Aufnahme findet. Diese alles – Geistiges wie Materielles – in sich aufnehmende Gestalt, die sonst ohne weitere Bestimmung ist, nennt Platon »Raum«. Der Raum selbst gehört also weder zum immer Seienden noch zum Gewordenen, das an einem Ort (Topos) Anfang und Ende findet, sondern nimmt eine Zwischenstellung ein. Er entzieht sich sowohl dem Wissen, denn wirkliches und wahres Wissen kann es nur über das immer Seiende geben, als auch der Sinneswahrnehmung, denn wahrgenommen werden kann nur das Gewordene. Doch obwohl wir nach Platon über 32den Raum nichts Rechtes wissen und meinen können, benötigen wir die Annahme einer
Gattung des Raumes, dem Untergange nicht unterworfen, welche Allem, was ein Werden hat, eine Stätte gewährt, selbst aber, den Sinnen unzugänglich, auch vom Geiste nur, so zu sagen, durch einen Bastardschluß erfaßt und kaum zuverlässig bestimmt wird, die, welche wir auch im Auge haben, wenn wir träumen, es müsse doch notwendig das, was ist, an einem Orte sein und einen Raum einnehmen, was aber weder auf der Erde noch sonst im Weltall sich befinde, sei überhaupt gar nicht vorhanden (Plato 1991: 303, Tim 52b; vgl. Castoriadis 1990: 321).
Platon entdeckt also den Raum als ausgeschlossenes Drittes zwischen Sein und Werden als das Worin.
Aristoteles anerkennt zwar den Versuch Platons, die Existenz des Raums nicht nur festzustellen wie dessen Vorgänger, sondern auch zu erklären. Aber die von Platon vorgeschlagenen Erläuterungen bleiben ihm zu allgemein. In seiner Kategorienlehre und in der Physik unternimmt er deshalb selbst den Versuch, zu einer Theorie des Raums zu gelangen. In der Kategorienlehre wird der Raum als die Summe aller von Körpern eingenommenen Örter betrachtet. Der Ort selbst ist Teil des Raums, dessen Grenzen mit den Grenzen des ihn einnehmenden Körpers zusammenfallen. In der Physik erweist sich Aristoteles anders als Platon als ein Philosoph der Erfahrung, der von zwei Grundprämissen ausgeht: 1. Nach allgemeiner Auffassung und den Erfahrungen der Menschen gemäß verbinden sich die Dinge irgendwo an einem Ort. 2. Die allgemeinste Form der Bewegung ist die Bewegung auf einen Ort zu, die Ortsbewegung also.
Bewegung ist ohne Raum und Zeit nicht feststellbar. Ohne Ort (topos), Leere (kenon) und Zeit (chronos) gäbe es keine Bewegung. Die Bewegung selbst wird dabei von Aristoteles vorausgesetzt, um in einem zweiten Schritt nach ihren Ursachen zu fragen. Es ist im Grunde das Thema der Bewegung, das Aristoteles zur Beschäftigung mit dem Raum veranlasst. Das Problem des Raums stellt sich für ihn überhaupt nur, weil er auf Bewegung stößt (vgl. Schubert 1987: 28). Angesichts der Erfahrung von Veränderungen (Bewegung) ergibt sich die Suche nach Invarianten. Bewegung wird dabei stets als Bewegung von Körpern gedacht, die an einem Ort stattfindet. Schwieriger zu beantworten ist allerdings die Frage, was der 33Ort selber ist. In der Physik, in der ausschließlich vom Ort und nicht vom Raum die Rede ist, versucht er diese Frage zu beantworten. Dabei geht er von vier Grundannahmen aus:
Wir setzen also für richtig an, (1) Ort sei das unmittelbar Umfassende für das, dessen Ort er ist, und (2) er sei kein Stück des (umfaßten) Gegenstands (selbst); weiter (3), der unmittelbare (Ort) sei weder kleiner noch größer (als das von ihm umfaßte Ding); weiter (4), er lasse ein jedes (Ding) hinter sich und sei von ihm ablösbar; außerdem (5), jeder Ort enthalte das ›oben und unten‹ (als seine Arten); und (6), es bewege sich jeder Körper von Natur aus zu seinem angestammten Ort und bleibe (dort), das tue er entweder oben oder unten (Aristoteles 1995: 81, 211a).
Durch die Annahme, dass sich jeder Gegenstand, wenn er nicht daran gehindert wird, an seinen Ort bewegt, wird der Raum »zum Träger qualitativer Verschiedenheiten« (Jammer 1960: 17). Der Ort ist etwas von seinen wechselnden Inhalten Verschiedenes. Er ist die »Grenze des umfassenden Körpers« (Aristoteles 1995: 84, 212a). Ein Fisch ist im Wasser, ein Vogel in der Luft usw. Räume können also ineinander übergehen, kleinere Räume in einem größeren aufgenommen werden, sodass sich eine »Stufenfolge zu immer umfassenderen Räumen« ergibt, die »die Frage nach einem allumfassenden Raum« aufwirft (Bollnow 1989: 30). Nach Aristoteles, dessen Welt eine Welt der Ordnung und der Symmetrie ist, sind die verschiedenen Teile der materiellen Welt durch ein sie äußerlich Zusammenhaltendes miteinander verknüpft, eine übergeordnete Sphäre, welche die Teile dazu zwingt, zusammenzuhalten gleich Mustern in einer Schachtel (vgl. Jammer 1960: 24).
Von den vier Möglichkeiten, die Aristoteles nacheinander durchspielt – der Ort als Gestalt, der Ort als Materie, der Ort als Ausdehnung oder Abstand und der Ort als Grenze oder das Äußerste –, entscheidet er sich am Ende für die letztere Möglichkeit. Diese Vorstellung vom Ort als gefülltes Gefäß wird noch einige Zeit nachwirken und maßgebliche Folgekonzepte beeinflussen. Dennoch ist Aristoteles’ Theorie schon zu Lebzeiten nicht unwidersprochen geblieben. Eine große Rolle spielt dabei die relative Raumauffassung, die bereits zu diesem Zeitpunkt gegen die Behälterauffassung in Stellung gebracht wird. So kommt etwa der Aristoteles-Schüler Theophrast zu dem Schluss, »dass der Raum an sich keine Realität besitzt, sondern nur eine Ordnungsbeziehung von Körpern ist, die 34ihre gegenseitige Stellung festlegt« (Jammer 1960: 22). Raum gilt ihm als ein »System miteinander verbundener Beziehungen« (ebd.).
Auch in den darauf folgenden Jahrhunderten schlägt der Pegel alternierend einmal in die Richtung eines absoluten Behälter-Raums und ein anderes Mal in die Richtung eines relativen Raum aus. Sowohl für die eine als auch für die andere Position finden sich stets neue Vertreter. Dabei gilt es immer mit zu bedenken, dass wir es nicht allein mit philosophischen Konzepten zu tun haben, die Folgewirkungen nur für die Geistesgeschichte zeitigen. Gerade mit Raummodellen verbinden sich Ordnungsmodelle für Gesellschaft. Der Raum ist das Medium, mit dessen Hilfe Ordnung hergestellt werden kann.