Barbara Kühl
Til und der Körnerdieb
ISBN 978-3-86394-251-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1980 bei
Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Erika Godemann
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Der Sommer war in diesem Jahr ungewöhnlich heiß und trocken. Bereits am Vormittag lag über dem Dorf Beesel brütende Julihitze. Und immer, wenn ein Traktor einen der Feldwege entlangratterte, wirbelte er graue Staubwolken hoch.
Til stand auf dem Holzgatter, das die hintere Hofdurchfahrt zwischen Schuppen und dem ehemaligen Kuhstall verschloss. Er benutzte seine Hände wie ein Fernglas. Einzelne Gehöfte, ein Stück Straße, wieder ein paar Häuser und den Weg zum kleinen See konnte er erkennen. Dahinter lagen die bis zu den Seetannen ansteigenden Koppeln, auf denen die Kühe wie schwarzweiße Kleckse aussahen. Vor dem großen See, in dem das Baden verboten, das Angeln aber erlaubt war, fraßen Mähhäcksler wie riesige Raupen Streifen in das Grünfutterfeld.
"Kein einziger Halm und nicht ein Blättchen Viehfutter bleibt mir auf dem Feld!", hatte der LPG-Vorsitzende Ernst Tümmler den Traktoristen eingeschärft. "Stellt die Schneidwerke so tief wie möglich, es wird schon keins zerschlagen werden. Die Steine habt ihr ja im Frühjahr vom Acker gesammelt und dabei tüchtig auf mich geflucht. Gibt es vielleicht bei uns was zu verschenken, he?"
"Nein, nein, natürlich nicht!", stimmten die Beeseler Bauern ihrem Vorsitzenden zu.
Doch warum musste erst ein Ernst Tümmler kommen, um ihnen so Selbstverständliches zu sagen? Kein Wunder, dass die LPG "Freie Scholle" die Jahre zuvor ihr Fleischsoll nur knapp oder gar nicht erfüllen konnte, weil die Traktoristen die hohen Grünstoppeln mit unterpflügten. Je mehr Futter die LPG aus anderen Betrieben kaufen musste, um so weniger konnte sie ihren Mitgliedern am Jahresende als Prämie auszahlen.
Til Burmeister erinnerte sich noch genau an die große Enttäuschung vor vier Jahren zum Schulanfang. Er hatte sich ein Fahrrad gewünscht und keins bekommen. Die neue Liege in seinem Zimmer gefiel ihm zwar auch ganz gut, aber mit der konnte er schließlich nicht durchs Dorf fahren. Sein Vater war damals mit ihm in den Schweinestall gegangen, hatte ihn hochgehoben und auf eins der drei Schweine gezeigt.
"Da liegt dein Fahrrad, mein Junge, aber bis Weihnachten musst du noch warten."
Sein Vater hatte Wort gehalten. Til wurde ungeduldig und ließ die Hände sinken. Wo die Zwillinge nur blieben? Locke hatte fest versprochen, ihm beim Einbau der neuen Gangschaltung zu helfen, weil der Vater Til jetzt immer wieder vertröstete. Das hatte er im vergangenen Sommer nie getan. An warmen Abenden waren sie oft zum kleinen See geradelt, um zu baden. Sogar Schwimmen hatte Hanning Burmeister seinem Sohn vor fünf Jahren selbst beigebracht.
"Bis zu mir!", hatte der Vater, der im Tiefen stand, gerufen. "Komm, du schaffst das schon!"
Til sah nur seinen Vater und paddelte mit hastigen Bewegungen auf ihn zu.
"Prima!", lobte der Vater, wenn Til ihn erreichte und sich an ihm festklammerte. "So, und nun noch einmal!"
Schon nach wenigen Tagen schwamm Til ruhiger, atmete richtig, und die Abstände zwischen Ufer und dem rufenden Vater wurden immer größer. Til verspürte keine Angst, sein Vadding war ja da. Später schwammen sie dann nebeneinanderher, und im letzten Sommer hatten sie zum ersten Mal die kleine Schilfinsel in der Mitte des Sees umrundet. Til platzte fast vor Stolz.
Locke und Wiesel bewunderten und beneideten Til darum. Ihr Vater, an der Ostsee aufgewachsen, ging nur ungern zum See und entfernte sich im Wasser nur wenige Meter vom Ufer.
"Wisst ihr was?", sagte Til eines Tages großspurig zu seinen Freunden. "Mein Vater wird auch euch das Schwimmen beibringen. Bei dem braucht ihr keine Angst zu haben."
"Klar mach ich das, wenn du mir deine beiden Tober anvertraust, aber gehorchen müssen sie, sonst wird nichts daraus", sagte Hanning Burmeister zu seinem Freund Ernst Tümmler. Nun fuhren sie oft zu viert an den See.
"Dein Vater ist Klasse!", sagte Locke anerkennend. "Soviel Geduld hätte mein Vater nie!" Auch Wiesel strahlte ihren Freund an.
"Och...", wehrte Til lässig ab, dachte aber stolz: Ist eben mein Vadding!
Doch in diesen Ferien war das anders. Noch nicht ein einziges Mal ist Hanning Burmeister mit am See gewesen. Seit die Sonne den Frost aus dem Boden getrieben hat, packte Tils Vater jeden Tag nach Feierabend Maurerkelle und Wasserwaage in den Rucksack. Bandelows, die in der strohgedeckten Lehmkate neben der Schmiede wohnten, bauten sich ein Haus. Der rothaarige Bruno Bandelow prahlte gern damit. Er und seine vier kleineren Geschwister sollten jeder ein Zimmer kriegen! Die Oma sogar eins extra, damit sie endlich den Fernseher so laut stellen konnte, wie sie wollte. Und das neue Spülklosett eine Attraktion!
Til sprang vom Gatter und ging zurück zum Schuppen. Eine richtige kleine Werkstatt hatte sich sein Vater hier so nach und nach eingerichtet, mit Werkbank und Schraubstock. In dem Holzregal auf der einen Seite lagen der Größe nach Schraubenzieher, Schraubenschlüssel, Zangen und Feilen, und ein Sortiment an Nägeln und Schrauben, Muttern und Metallscheiben befand sich in Holzkästen mit verschieden großen Fächern. Ja, der Futter- und Speichermeister Hanning Burmeister war ein ordentlicher Mensch. Ganz fuchtig konnte er werden, wenn Til ein Werkzeug nicht wieder an seinen Platz legte.
Trotzdem gab Til dem Schraubenschlüssel einen Fußtritt. Ärgerlich betrachtete er sein Fahrrad, das umgedreht auf Lenker und Sattel stand. Wenn Locke nicht kam, musste er es eben allein versuchen. Er arbeitete verbissen und war sich plötzlich sicher: Ich schaffe es. Leise pfiff er vor sich hin immer die gleiche Melodie von "Lütt Matten, de Has, de makt sick een Spaß..."
Das Hinterrad war eingesetzt, die Kette lief über den größten Zahnkranz. Til fasste nach dem Pedal, drehte schnell und schneller. Dann bückte er sich nach dem Ganghebel und schaltete. Es knackte, die Kette sprang ab und schlug gegen den Rahmen.
Vielleicht habe ich den Hebel zu schnell angezogen, dachte er und legte erneut die Kette auf. Wieder ließ er das Hinterrad schnurren, und wieder sprang die Kette ab. Doch diesmal verklemmte sie sich zwischen Zahnkranz und Rahmen. Til zog und zerrte, griff mit dem Schraubenzieher darunter. Es nützte nichts, die Kette saß fest.
"Oller Mist!" Er schleuderte den Schraubenzieher durch den Schuppen und traf die klapprige Drillmaschine, mit der sein Großvater noch als Neubauer über den Acker gezogen war. Dann schlenderte er über den Hof, schwang sich über das Gatter und ging den sandigen Weg durch das Dorf.
Oben an der Chaussee lag der Tümmlersche Hof. Obwohl das Wohnhaus und die Stallungen gepflegt aussahen, war Ernst Tümmler gar nicht so gerne hier eingezogen. Gleich neben seinem Gehöft lag die Schweineaufzuchtanlage, und an manchen Tagen war es vor Gestank kaum auszuhalten. Ernst Tümmler blieb jedoch keine andere Wahl, als er vor sieben Jahren von seinem Vorgänger nicht nur den Vorsitz der LPG "Freie Scholle", sondern auch die Wohnung hatte übernehmen müssen. Die Tümmlerschen Zwillinge, die eigentlich Henry und Ute hießen, störte der Mief nicht. Sie freuten sich, endlich einen großen Garten zu haben. Und wenn sie über die Koppel zum See wollten, brauchten sie sich nur durch ein Loch in der Hecke zu zwängen. Auch Til benutzte oft diesen Durchstieg, um zu seinen Freunden zu gelangen.
Ich werde mal lieber vorne herum gehen, überlegte Til, vielleicht ist Locke krank. Aber hätte Wiesel dann nicht Bescheid gesagt? Schließlich wollten sie morgen zu dritt mit ihren Fahrrädern zum Bach am Schlangenberg.
Plötzlich hörte Til hinter sich dumpfes Stampfen, das rasch näher kam. Er drehte sich um und sah das Pferd, das in vollem Galopp den Weg vom großen See heraufpreschte. Das kann doch nur Büdel sein, schoss es Til durch den Kopf. Mit ausgebreiteten Armen stellte er sich mitten auf den Weg, fuchtelte und schrie aus Leibeskräften: "Brrr! Halt, Büdel! Brrr!"
Das Pferd verminderte sein Tempo nicht. Til sprang erschreckt zur Seite. Büdel änderte die Richtung und raste an der dicken Pappel vorbei hinunter zu den Viehkoppeln. Til hatte die ängstlich aufgerissenen Augen gesehen und den Schaum vor dem Maul, und er hörte das hustende Keuchen und das Poltern und Klirren des Holzschwengels, der dem Tier um die Hinterbeine schlug.
"Büdel, bleib doch stehen!", rief Til und rannte hinter dem Pferd her.
Hinter den Schweineställen machte der Weg einen Knick. Als Til den Ausreißer endlich wieder sah, hatte dieser schon fast die Milchwagendurchfahrt erreicht. Büdel musste auf alle Fälle dort stehen bleiben, denn die beiden Balken waren wie gewöhnlich zu beiden Seiten durch die Hufeisen gezogen, die Meister Tramm in die Koppelpfähle eingeschlagen hatte.
Da aber geschah etwas Ungewöhnliches, was Til dem schweren Kaltblüter nie zugetraut hätte: Büdel riss den Kopf kurz nach rechts und setzte zum Sprung über die Drähte des alten Koppelzaunes an.
Nun ist er weg, dachte Til enttäuscht.
Im gleichen Augenblick ging ein schrilles Quietschen durch den Drahtzaun, und Til sah, wie Büdel mit den Vorderbeinen einknickte.
"Büüüdel!", schrie Til im Laufen. Einige Sekunden verharrte das gestürzte Pferd. Doch sobald Til es erreicht hatte, sprang es wieder hoch und versuchte zu entkommen. Vergeblich.
Da entdeckte Til die Bescherung. Büdel war mit den Hinterbeinen in die Drähte gesprungen und so eingeklemmt, dass er sich nicht daraus befreien konnte. Er zitterte am ganzen Körper, und sein Fell glänzte vor Schweiß. Immer wieder stieg das Tier hoch, zerrte mit den Hinterbeinen an dem Draht und brach doch wieder vorne zusammen. Sein Wiehern wechselte mit einem verzweifelten Röcheln, und Til wagte nicht, sich dem Tier zu nähern.
"Warte, Büdel, lieg still, ich hole Hilfe!", redete Til beschwörend auf Büdel ein. Dann rannte er hinaus ins Dorf.
An der Aufzuchtanlage prallte Til mit dem Viehpfleger Otto Prochnow zusammen.
"Der Büdel... da unten in der Koppel...! Schnell, wir müssen ihm helfen! Er ist durchgebrannt!", stieß Til hervor und zog ungeduldig an Prochnows Ärmel.
"Sachte, Junge, der Paule wird ihn schon wieder einfangen."
"Aber der hängt doch im Draht und kann nicht heraus!"
"Der Paul hängt im Draht? Mein Gott, Til, dann aber Tempo!"
"Nein, der Büdel hängt im Draht... und schreit immerzu... und hat bestimmt alle Beine gebrochen! Paul ist doch gar nicht dabei!"
Prochnow begriff. "Los, Til, zu Bandelow in die Schmiede, eine Drahtschere! Eine Drahtschere, hörst du? Ich kümmere mich inzwischen um Büdel. Wo liegt er?"
"Vor dem Melkstand unten in der Koppel."
Til sauste los.
Plötzlich kam ihm Paul entgegen, eilig, suchend. Bleich sah er aus, der kleine Mann, und alt, und aus seinen grauen Haaren rann der Schweiß über die stoppligen Wangen. Schon als Junge wusste er mit Pferden umzugehen, doch noch nie war ihm ein Pferd durchgegangen. Sogar die feurigen Reitpferde des Großbauern Voss, die Paul kurz vor Kriegsende pflegen und betreuen musste, hatten nie den damals vierzehnjährigen Jungen gebissen oder nach ihm geschlagen.
Büdel und Hexe waren die letzten Pferde in Beesel, und Paul war ihr Gespannführer. Als die LPG "Freie Scholle" gegründet wurde, hatte es noch mehrere Gespanne in Beesel gegeben. Aber nach und nach kamen Traktoren in die LPG, und die moderne Technik verdrängte die Zugtiere aus dem Dorf.
Paul liebte seine beiden Vierbeiner, und sie schienen auch ihn zu lieben, diesen kleinen, stotternden Mann. Die Peitsche in seiner Hand zitterte leicht, als er Til schon von weitem zurief: "Hast d-du B-Büdel gesehen?"
"Ich hole schon 'ne Drahtschere, Paul. Büdel hängt im alten Koppelzaun und ist ganz wild!", keuchte Til. "Unten am Melkstand!", fügte er noch hinzu, während er weiterhastete.
Meister Bandelow schweißte gerade an einem Futterhänger, als Til vor der Werkstatt -anlangte.
"Du schwindelst doch nicht, Junge?", fragte der Werkstattmeister. "Auf dem Grünfutterschlag brauchen sie nämlich dringend den Hänger."
Doch als er Tils Augen sah und das verschwitzte Gesicht, schaltete er das Schweißgerät aus und nahm die Schutzbrille ab. Während Til ungeduldig von einem Bein auf das andere trat, packte Wilhelm Bandelow zwei Zangen und einen Hammer in eine Werkzeugtasche und hielt sie Til hin. "Da, nimm!"
Dann aber rief er Til nach: "Warte, mit dem Moped geht es schneller! Komm schon!"
Er schwang sich auf den Sitz, während Til sich mit der umgehängten Tasche hinter ihn setzte.
"Festhalten!", kommandierte Bandelow.
Til schlang seine Arme um Bandelows Leib, dann sausten beide zur Unglücksstelle.
Büdel hing noch zwischen den Drähten, Vorder- und Hinterbeine eingeknickt. Daneben kniete Paul. Beruhigend sprach er auf das Tier ein, streichelte und tätschelte den braunen Hals mit der hellen wuscheligen Mähne.
"Is ja g-gut, Büdel, b-bleib ruhig, g-gleich haben wir es g-geschafft." Behutsam stand Paul auf und griff in die Zügel. Dann nickte er Bandelow zu.
"Zinnnng!", machten die Drähte und noch einmal "Zinnnng!" und sprangen auseinander. Sofort schnellte Büdel in die Höhe, sprang mit einem Satz zur Seite und tänzelte mit zitternden Beinen auf einem Fleck.
"Holla, holla! Sooo, soso! Bist ja mein G-Guter!", sagte Paul und liebkoste das verängstigte Tier.
Otto Prochnow und Til kamen vorsichtig näher.
"G-geht man nicht so d-dicht ran!", warnte Paul. Er führte Büdel ein Stück über die Koppel und wieder zurück. Til bemerkte, dass der Braune hinten lahmte, aber gebrochen hatte er sich wohl nichts.
Prochnow und Bandelow stemmten die Arme in die Hüften und sahen eine Weile zu.
"Nun brauchst du uns wohl nicht mehr, Paule", meinte Bandelow, und als der Gespannführer nicht antwortete, sagte er: "Na, dann!" und zu Prochnow gewandt: "Komm, kannst bis oben mitfahren."
Als sie gingen, hörte Til den Viehpfleger sagen: "Denkst du, das wilde Biest hat mich vorhin an sich rankommen lassen? Das ist auf eine Art genauso verrückt wie der Stotterpaul."
"Na, lass ihn", antwortete Bandelow, "mit seinen Gäulen kann er jedenfalls umgehen, wenn er auch manchmal ein bisschen spinnt."
Til wurde plötzlich traurig. Immer schon war das so gewesen: Alle hielten Paul für dumm. Die Dorfkinder lachten über ihn und äfften ihn nach, bloß weil er stotterte. Was konnte denn Paul dafür?
Vor etwas mehr als zehn Jahren war Paul plötzlich in Beesel aufgetaucht. Er trug einen abgeschabten Holzkoffer unter dem Arm, und seine Lodenjacke sah auch nicht mehr neu aus. Misstrauische Blicke folgten ihm auf dem Weg zum LPG-Büro.
"Sicher ein Knastbruder", tuschelte die Sekretärin dem Vorsitzenden Laban zu.
Laban unterzog den Neuankömmling einer Art von "Verhör", und schon wenig später stand seine Meinung über Paul fest: Dumm, gutmütig, aber brauchbar.
"Und du sagst, dass du mit Pferden umgehen kannst?", fragte er gerade, als Hanning Burmeister hereinkam und einige Papiere auf den Schreibtisch legte.
"Ja-ja ... b-bestimmt ...", stotterte Paul und nickte heftig.
"Gib ihm das Gespann von Reeter, Hanning, der will schon lange wieder in die Werkstatt zurück, weil er da mehr verdient. Und zeig ihm gleich seinen Schlafplatz!"
Die Geschirrkammer lag neben den Pferdeboxen. An den Wänden hingen Riemen und Leinen, zerrissenes Geschirr, und in einer Ecke lehnte ein Sattel neben einem Holzbett. Die grauen Decken darauf sahen wenig einladend aus, und der ganze Raum roch nach Leder und Pferdemist.