Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Maike Braun

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7534-9260-5

Inhalt

Am Anfang war die Zukunft

Überlebenskünstler

Die Herde raste auf die Klippe zu, fast fünftausend Tiere, gut dreitausend Tonne Muskelmasse. Berauscht von dem Botenstoff, den der Bazillus in ihrem Gehirn freisetzte, und aufgepeitscht vom Beben der Erde unter ihren Hufen, stürzten sie mit der Wucht eines mittelgroßen Asteroiden vorwärts und ins Verderben.

Das Leittier erreichte die Klippe und sprang in die Tiefe, die nächsten drängten nach und die nächsten und nächsten — ein gigantischer Wasserfall aus Tierleibern. Minutenlang dauerte das Spektakel an. Die Wolke aus Eisenoxidstaub legte sich erst dann endgültig, als das letzte Rentier hinabgestürzt und mit ihm die Art erloschen war.

Der Bazillus hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Aber der Einzeller war anpassungsfähig. Er kapselte sich ein, überdauerte eine Eiszeit, während derer der Planet sich auf seiner stark exzentrischen Umlaufbahn vom Zentralgestirn entfernte, und behielt auch dann noch seine undurchdringliche Sporenhülle, als sich das Trockeneis wieder zu verflüchtigen begann.

In der Zwischenzeit hatten sich tief unter der Oberfläche dickfellige Nagetiere herausgebildet. Eines davon erspähte in einem Erdspalt die Geweihschaufel eines der Rentiere, knabberte daran, scharrte weiter und stieß auf einen Schädel, von dem es ein Stück des Nasenbeins abbiss.

Fast sofort reagierten die Sporen auf die erhöhte Temperatur im Inneren des Nagers und die Schutzhülle wurde durchlässig. Der Bazillus nahm seinen Stoffwechsel wieder auf und schüttete Botenstoffe aus, die die hemmenden Neuronen des Nagers lahm legten und damit dessen Ängste und Sorgen verschwinden ließ.

Der infizierte Nager kehrte in die unterirdische Kolonie zurück, um der Sippenältesten von seinem Fund zu berichten. In leuchtenden Farben beschrieb er, wie der Knochenfund der Sippe zu einer glorreichen Zukunft verhelfen würde. Nicht nur biete das organische Material wertvolle Nährstoffe, so der Nager, man könne mit den größeren Knochen den Bau stabilisieren und so vor weiteren Erdrutschen schützen. Sogar eine oberirdische Bauweise und damit endliche eine Alternative zu den beengten Verhältnissen sei damit in greifbare Nähe gerückt.

Der Ältestenrat rief den Schamanen, der eine ungesunde Aufgeregtheit an dem Entdecker diagnostizierte, aber da war es bereits zu spät. Vor allem die Jüngeren der Kolonie hatten sich infiziert und ließen sich von den Schilderungen des Entdeckers mitreißen. Eine Expedition an die Oberfläche wurde organisiert und noch eine und noch eine und ein paar Hundert Jahre später schauten die Nager verächtlich auf ihre höhlenbewohnenden Vorfahren zurück.

Der Planet erreichte den sonnennahen Teil seiner Umlaufbahn. Gnadenlos bombardierte die ionisierende Strahlung des Zentralgestirns die Oberfläche des Planeten und zerstörte alles, was sich nicht tief genug unter die Erde flüchten konnte.

Einige wenige Nager überlebten und schleppten sich nachts durch die versengte Landschaft in kühlere Gefilde.

Am Fuß eines Wabus schlug die kleine Sippe ihr Lager auf. Die Wandernden Bäume nutzten ihr violett schimmerndes und perfekt auf das Sonnenlicht angepasste Blattwerk tagsüber zur Energiegewinnung. Nachts lagen sie auf der Lauer und erlegten ihre Beute mit Stromschlägen.

Ein Blitzgewitter löschte auch jetzt die letzten Nager ihrer Art aus. Sofort strömten zig Spinnentiere, die mit den Wabus in Symbiose lebten aus Erdlöchern hervor und stürzten sich auf die reichhaltige Beute. Für mehrere Wochen vollgefressen verkrochen sie sich wieder in das Wurzelwerk der Wabus, das sie mit ihren Ausscheidungen düngten.

Es dauerte mehrere Fortpflanzungszyklen, bis sich der Bazillus an die Hirnchemie der Spinnentiere angepasst hatte und es dauerte weitere dreitausend Jahre, bis die Spinnentiere – angetrieben von einem bis dato ungeahnten Forschungsdrang – die Wabus derart genetisch modifiziert hatten, dass die zu Baumpyramiden wuchsen, die bis zur Stratosphäre reichten.

Mit den dadurch gewonnenen Energiereserven konnten die Gliedertiere auch die harschen Winter des Planeten überstehen.

Dann durchschritt der Planet den Scheitelpunkt der sonnenfernen Seite und erreichte ein Asteroidenfeld. Tagelang dauerte der Meteoritenschauer an. Die Baumwelt der Spinnentiere lag in Schutt und Asche, der Einschlag schleuderte Bauten und Leiber gleichermaßen in den Weltraum – und mit ihnen den Bazillus.

Dieser kapselte sich erneut ein und trieb erst im Sonnenwind, später dann nur noch aufgrund der eigenen Trägheit tiefer und tiefer in den Weltraum hinein. Eines Tages gelangten die Sporen in den Sog eines anderen Sonnensystems und ließen sich von der Anziehungskraft des dritten Planeten einfangen, schwebten hierhin und dorthin, bis sie irgendwann sanft auf eine Blumenwiese sanken.

Dort fand sie ein Zweibeiner mit zotteligem Haar und stark ausgeprägten Augenwülsten. Kaum hatte der Primat an der Blume geschnuppert und die unsichtbaren Sporen eingesaugt, wurde der Bazillus erneut aktiv und die Geschichte nahm ihren Lauf

Nahe Zukunft

Erntetag

»Erntetag«, sagte Cäcilie zu ihrem Spiegelbild und zog sich die Lippen nach. Sie knöpften den obersten Knopf ihres Popelinemantels zu und strich sich eine Strähne aus der Stirn. Endlich wieder Erntetag. Hatte auch lange genug gedauert. Wärmere Tage abwarten, Geld für die Fahrkarte ansparen, zu Kräften kommen. Cäcilie zwinkerte verschwörerisch der gold lackierten Winkekatze mit den roten Ohren zu, die auf einer Kommode neben der Tür stand. »Bring mir Glück«, sagte sie und verließ die Wohnung.

Langsam ging sie die Straße hinunter, achtete auf Unebenheiten in den Steinplatten und andere potenzielle Stolperfallen. Hin und wieder schaute sie auf, um keinem anderen Alten in die Arme zu laufen. Das konnte sie jetzt nicht gebrauchen, nicht am Erntetag.

Sie hefteten den Blick auf den Weg und drückte ein Taschentuch gegen den Mund, um nicht zu viel Staub einzuatmen. Heute war es wieder besonders schlimm. Sie war froh, als sie sich am Ende der Straße an einem Parkverbotsschild abstützen konnte, um wieder zu Atem zu kommen. Ein eisiger Wind fegte unter den weiten Mantel und griff mit seinen kalten Fingern nach ihr. Sie zwang sich weiterzugehen.

Ein Pfleger kam ihr entgegen. Als er sie bemerkte, wechselte er schnell die Straßenseite. Er versorgte eine Gruppe Dementer, die im Erdgeschoss wohnte. Er war eigentlich ganz umgänglich, aber hatte wie alle Pflegearbeiter seine Zeitvorgaben. Er konnte es sich nicht leisten, kostbare Minuten in einem Gespräch zu verlieren. Das letzte Mal, als er mit ihr ein paar Worte wechselte, war gerade einer seiner Patienten gestorben, sodass er etwas Zeit über hatte. Er bot ihr für ihr Goldarmband eine Monatskarte ins Zentrum an, was sie freundlichmöglichst ablehnte. Pfleger durfte man nicht vergrätzen. Wer weiß, wann man sie noch brauchte.

Eine Krähe flatterte von einem überquellenden Mülleimer auf. Cäcilie tänzelte elegant um einen abgebröckelten Fenstersims. Dabei stieß sie fast mit einem alten Mann zusammen, der mit ausgestreckten Armen durch die Straßen torkelte. Ihr Blick fiel auf das hellblaue Plastikarmband an seinem Handgelenk, ein Institutionalisierter.

»Bitte«, flehte der Mann »ein freundliches Wort.« Sie wich ihm aus und hastete weiter. Sie hatte nichts zu verschenken. Sie musste selbst zusehen, wie sie zurechtkam.

»Blöde Kuh«, rief er ihr mit erstaunlich kräftiger Stimme hinterher. »Du wirst früh genug auf dem Abstellgleis landen.«

Sie presste die Hände an die Ohren. Jetzt nur nicht an diese furchtbaren Waggons denken, in denen die Überhundertjährigen hin und her gekarrt wurden, die Gesichter gegen die Scheiben gepresst, die Augen starr auf die Landschaft gerichtet. Studien hatten gezeigt, dass die Denkprozesse dieser Alten zu langsam waren, um Bewegtbilder aufzunehmen. Deswegen setzte man sie in Züge statt vor den Fernseher.

Sie schüttelte den Kopf. Sie durfte sich nicht von derart negativen Gedanken vergiften lassen. Nicht heute, am Erntetag, wo sie sowieso empfindlicher war, ihre Gemütslage schneller aus dem Lot gebracht werden konnte als sonst, wenn sie still in ihrer Wohnung saß. Was hatte der Alte hier überhaupt zu suchen? Wo war sein Aufpasser?

Sie erreichte den Bahnhof. Sechzehn Treppenstufen trennten sie vom Bahnsteig. Sie hielt sich am Handlauf fest und erklomm Stufe für Stufe. Oben angekommen klopfte sie sich erst mal den Staub vom Mantel, kämmte ihre Haare und sackte dann auf eine der wenigen unbeschädigten Sitzschalen.

Die Bahn war voll. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wo kamen die ganzen Leute her und vor allem: Was wollten die in der Stadt? Cäcilie machte eine Wandergruppe aus, erkennbar an den roten Strümpfen und Kniebundhosen. Sie wurden von einem Betreuer begleitet. Also stammten sie vermutlich aus einem der Seniorendörfer des Umlands. Dann meinte sie hier und da einen Einhüter zu erspähen, frisch Verrentete, die noch Arbeitskraft hatten – und Geld. Es war kostspielig bei einer Familie als Haus- und Kinderhüter anzuheuern. Die meisten Familien verlangten mehr, als man in Form von Kost und Logis erhielt. Zumal viele Einhüter nach wie vor in den Randbezirken lebten. Welche Familie wollte schon ständig den Geruch des Alters um sich herumhaben? Das bekam man ja nicht mehr heraus, das hing in den Vorhängen, in den Polstermöbeln, einfach überall.

Sie blickte aus dem Fenster. Die Wohnblocks wurden niedriger, die Lücken dazwischen grüner, der Rasen gepflegter. Schließlich erreichten sie die Vororte. Lärmschutzwände schossen rechts und links der Gleise hoch. Nur die Dachgiebel lugten dahinter hervor. Der Zug verlangsamte seine Fahrt und fuhr in den Bahnhof ein. Einige Einhüter sowie die Wandergruppe stiegen aus. Das hatte sie sich gedacht. Garantiert strebten die Wanderer den nächsten Kinderspielplatz an. In Begleitung eines Betreuers war der Aufenthalt dort erlaubt.

Sie zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. Fremde Kinder schauen, wie armselig war das denn? Dann schon lieber ernten gehen.

Die Bahn hielt jetzt häufiger an. Im Laufe der nächsten fünf Stationen verließen die restlichen Einhüter das Abteil. Bis auf eine gute Handvoll Alter, einige mit Rollator, war das Abteil leer. Und das war gut so. Zu viel Konkurrenz gleich beim Ausstieg bedeutete, dass sie womöglich ihren Radius vergrößern müsste, um ernten zu können.

Eine Frau mit Kind stieg hinzu. Sofort drehten sich die Köpfe aller noch verbleibenden Alten in seine Richtung. Einige machten Anstalten aufzustehen, ein Buckliger ruckelte mit dem Rollator ein Stück auf das Kind zu, eine Frau, Cäcilie schätzte sie auf mindestens neunzig, ließ die Halteschlaufe los, um dem Kleinen entgegen zu schlurfen. Schon streckten sich die ersten knorrigen Hände nach ihm aus. Das Kind drückte sich ängstlich an seine Mutter. In dem Moment schlossen die Türen und mit einem Ruck fuhr die Bahn an. Die Greisin kam ins Wanken, der Bucklige mit dem Rollator rutschte ein Stück zurück, jemand packte sie am Mantel, um sich festzuhalten. Die Zombies krochen wieder zurück auf ihre Plätze und setzten sich. Keiner sprach, alles war wieder erstarrt. Die Mutter und das Kind hatten sich auf den hintersten Platz verdrückt.

Noch zwei Haltestellen bis zum Zentrum. Es stieg kaum jemand zu. Für die Shopper war es zu früh, für die meisten Büroarbeiter zu spät. Die wenigen Berufstätigen, die einstiegen, stöpselten mit schnellen, effizienten Bewegungen die Ohren zu, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden.

Cäcilie brachte sich in Position neben der Tür, um schnell aussteigen zu können. Wenn sie die Jungen vorließ, lief sie Gefahr abgedrängt zu werden und dann saß sie bis zur nächsten Station fest und verlor wertvolle Zeit.

Als sie dann ins Zentrum einfuhren, klappte alles wie am Schnürchen.

Sie verließ als Erste das Abteil und ging zielstrebig zur Treppe. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Aufzug nicht funktionierte, war zu groß, um wertvolle Zeit dafür zu riskieren.

Als Cäcilie in der Unterführung ankam, hatte sie die anderen Alten weit hinter sich gelassen. Sie folgte dem Schild mit Aufschrift Zentrum. Kurz darauf stand sie auf dem Vorplatz und genoss die sanfte Brise, die ihr das Haar streichelte, die bunten Lichter an den Häusern, den Verkehrslärm, die Bewegung der hin und her eilenden Menschen, ja, sie hörte sogar ein Kind lachen. Es würde eine gute Ernte werden, das spürte sie. In dem Moment vernahm sie eine Stimme hinter ihr.

Sprach sie etwa jemand an? Das hatte sie nicht zu hoffen gewagt.

Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht eines Polizisten, neben ihm stand seine Kollegin.

»Ihren Berechtigungsausweis, bitte«, sagte er.

»Ich bin zum Einkaufen hier«, sagte Cäcilie.

Der Polizist musterte sie. Sie ging im Kopf durch, was er sah: ordentlicher Mantel, etwas aus der Mode gekommen, aber teures Material, sorgfältig geschminkt, Goldarmband, Geld hatte sie also. Zumindest hoffte Cäcilie, dass er das so interpretieren würde. Sein Blick fiel auf ihre Schuhe. Bequeme Laufschuhe und – vor allem staubig. Mist, warum hatte sie nicht daran gedacht, sich den Staub der Peripherie von den Schuhen zu wischen? Was für ein dummer Anfängerfehler. Wurde sie langsam dement?

»Wenn Sie keine Berechtigung vorweisen können, müssen wir Sie leider bitten, die nächste Bahn zurück zu nehmen«, sagte der Polizist. »Das Herumlungern im Zentrum ist verboten.«

»Ich lungere nicht herum!«

»Belästigung der Allgemeinheit ist eine Ordnungswidrigkeit«, fuhr der Polizist unbeeindruckt fort, »darunter fällt zielloses Herumlaufen – und Betteln.« Er blickte sie scharf an.

Seine Kollegin fasste sie am Oberarm.