Heinz G. Konsalik

Wer stirbt schon gerne unter Palmen

Band 2:
Der Sohn

Roman

10

Zunächst aber blieb es still. Es war, als warteten die entsetzten Papuas auf die Rache der Götter. Gleich am nächsten Tag hatten sie einen Toten auf die Insel gebracht, und Paul, der am Rande des Begräbnisplatzes oben in einer Palmenkrone saß, hatte beobachtet, wie die Eingeborenen sprachlos vor ihrem zerstörten Totem standen. Für sie musste in diesem Augenblick die gesamte Götterwelt in Trümmer zerfallen sein. Sie blickten um sich, als könnten sie es nicht fassen, dass die Insel dem Fluch der Götter noch nicht zum Opfer gefallen war.

Die sechs Männer, die den Toten abgeladen hatten, richteten den umgestürzten Götzen wieder auf. Es war nur noch ein Torso, ein Holzklotz ohne Kopf, und selbst dieser armselige Rumpf war kreuz und quer zerhackt. Mit einer Kraft, die etwas Unnatürliches hatte, war Anne mit der Axt über dieses Stück hergefallen und hatte wieder und wieder zugeschlagen, mit jedem Hieb Bäckers Namen schreiend, bis Paul ihr die Axt mit Gewalt aus den Händen wand und sagte: »Es ist genug, Mutter. Ruh dich aus.«

Später saß sie auf der Bank am Hang, starrte über das sonnenglänzende Meer und den flimmernden Glast der Hitze, hatte die Hände im Schoß gefaltet und wartete darauf, dass Paul berichtete, was er auf Vahua Oa gesehen hatte. Aber Paul sagte nichts … es war unmöglich, Anne vom Tod seines Vaters zu berichten.

Den ganzen Tag sprach Anne kein Wort, saß nur auf der Bank und blickte übers Meer. Paul schoss eine Ente für das Abendessen, füllte den reparierten Wassertank mit dem aufgefangenen Regenwasser nach und vermied es, in die Nähe Annes zu kommen. Am Abend aber ließ es sich nicht mehr vermeiden. Nach dem stummen Essen sah Anne ihren Sohn mit entsetzlich leeren Augen an.

»Es hat keinen Sinn, vor mir wegzulaufen, Paul«, sagte sie.

Paul senkte den Kopf. »Mutter, bitte, frag mich nicht …«, antwortete er. »Bitte …«

»Du hast seine Mörder gefunden?«

»Ja, Mutter.«

»Sie leben noch?«

»Nein, Mutter.«

»Und das Schiff?«

»Wir haben nur noch das Beiboot und den kleinen Funkapparat. Zehn Tonnen mit Lebensmitteln und zwanzig Kanister Benzin.«

»Hast du die Stelle gesehen, wo … wo …«

Sie konnte nicht weitersprechen. Paul nickte.

»Ja, Mutter.«

»Fahr mich hin. Ich möchte sie auch sehen.«

»Unmöglich, Mutter!«

»Bei deinem Vater gab es kein Unmöglich! Und bei mir gibt es dieses Wort auch nicht. Wann fahren wir? Morgen früh?«

»Überhaupt nicht, Mutter. Wir haben den Götzen zerstört … die ganze Südsee ist in Aufruhr. Von Vahua Oa werden sie es von Insel zu Insel melden, und es wird keinen Menschen mehr im Umkreis von Hunderten von Meilen geben, der nicht aufgerufen ist, an uns die Götter zu rächen.«

Anne schwieg wieder, aber Paul ahnte, was sie dachte. Bevor er sich schlafen legte, traf er seine Vorsichtsmaßnahmen. Er brachte das Beiboot hinaus zwischen die Klippen der dunklen Felsen, dorthin, wo Anne es nicht wegholen konnte. Selbst Paul vollführte gefährliche Kletterkunststücke über schroffe, glatte Felsvorsprünge und gischtumsprühte Steinplatten, um wieder an Land zu kommen. Wie unbeschreiblich muss sie Vater geliebt haben, um jetzt diese Kraft des Hasses und der Rache zu haben, dachte er. Wenn sie könnte, würde sie alle Inseln um uns herum ausrotten. Aber hätte das einen Sinn? Wäre es in Vaters Sinn? Er hat die Menschen geliebt, auch die, die ihn dann den Haien vorwarfen.

In der Nacht wachte er auf. Ein unerklärliches Gefühl ließ ihn hochfahren. Anne saß an seinem Bett.

»Du hast das Boot versteckt –«, sagte sie ruhig.

»Ja, Mutter.« Er setzte sich auf. »Ich wusste, dass du es suchen würdest.« Er griff nach ihren Händen, sie waren eiskalt, wie durchfrosteter Stein. »Morgen rufe ich mit dem Funkgerät Papeete. Wir erklären uns bereit, Viktoria-Eiland zu räumen.«

»Nie, Paul, nie!«

»Wir haben keine Chance mehr, Mutter. Ohne Vater …«

»Du bist da, Paul. Und du bist ein Mann geworden.« Anne starrte geradeaus gegen die Hüttenwand. Sie wirkte wie eine Statue, aus der wie auf geheimnisvollen Wegen menschliche Worte drangen. »Wenn Vater hier gestorben wäre … wir hätten die Insel verlassen und ihn mitgenommen. Aber jetzt, mein Junge, jetzt bringt mich niemand von hier weg. Niemand!«

»Wir haben viel Zeit, uns das zu überlegen«, sagte Paul. »Schlaf jetzt, Mutter.«

»Hast du Angst, Paul?«, fragte sie und stand auf.

»Nein. Aber es war ein Fehler, den Götzen zu zerstören.«

»Wir wurden durch etwas in uns gezwungen, es zu tun. Verstehst du das?«

»Ja, Mutter.«

Er streckte sich aus und schloss die Augen. Lautlos wie ein Geist verließ Anne die Hütte. Paul stieg leise aus dem Bett und schlich ihr nach. Sie ging hinunter zum Meer und stand dort in der kalten Dunkelheit, unbeweglich, mit geballten Fäusten.

Sie kann Vaters Tod nie verwinden, dachte Paul. Sie hat mit dem Leben abgeschlossen. Dass sie noch atmet, ist ein rein biologischer Vorgang.

Mein Gott, wir müssen alles versuchen, um sie von dieser Insel zu schaffen. Die vergangenen zwanzig Jahre müssen wir irgendwie ausradieren. Sie kommt um in ihrem Schmerz. Sie verhärtet hier zu Stein.

Fünf Tage später landete ein altes Motorboot in der Lagune. Ein Mann mit einem weißen Bart und in einer bodenlangen weißen Soutane kletterte an den Strand und schwenkte einen breiten aus Palmstroh geflochtenen Hut. In seiner Begleitung war ein junger, schlanker, dunkelhäutiger Papua gekommen, der aber an Bord blieb.

Anne, die oben auf der Terrasse saß und eine Ente rupfte, streckte die Hand aus und zog an dem Glockenseil. Die Schiffsglocke aus dickem Messing, die neben der Haustür hing, hallte weit über die stille Insel. Paul, der auf einem der neuangelegten Felder arbeitete, lief zum Hang, das Gewehr schussbereit in den Händen.

»Das ist die richtige Begrüßung für einen Gottesmann!«, rief es vom Strand herauf. »Man läutet die Glocken! Wer hätte das hier vermutet? Darf ich näher kommen, Madame Bäcker?«

Anne stieg die in den Hang gehauenen Stufen hinab zum Strand. Der Mann in der weißen Soutane setzte seinen breiten Hut auf und stapfte durch den Korallensand. Er schielte dabei hinauf zur Böschung, wo Paul vor einer der drei gebogenen, hohen stolzen Palmen stand, dem Wahrzeichen von Viktoria-Eiland.

»Er sieht aus wie Tarzan«, sagte der Mann. »Sie haben einen prachtvollen Sohn, Madame.«

Anne blieb stehen. Ihre großen dunklen Augen bekamen einen abweisenden Blick, aber der Mann schien auch keine Freudenausbrüche über sein Erscheinen erwartet zu haben.

»Pater Pierre – nehme ich an«, sagte Anne kühl. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Hat Paul Sie gebeten, herzukommen?«

»Die Bäckers haben keinen Priester nötig … das hat Ihr Mann einmal zu mir gesagt.« Pater Pierre gab Anne die Hand, aber als sie ihm die Finger wieder entziehen wollte, hielt er sie fest. »Wir leben mit Gott unter einem Dach, hat er gesagt. Ich habe einen vorzüglichen Kontakt zu ihm. – Das war vor drei Jahren, Madame. Ich bin seitdem des Öfteren um Ihre Insel herumgefahren, aber nie gelandet.«

»Und warum landen Sie jetzt, Pater Pierre?«

Es klang mehr als abweisend.

»Wissen Sie, ich lebe jetzt seit vielen Jahren auf dem Atoll Katatoki. Ich habe in diesen von Gott gesegneten Jahren eine kleine Christengemeinde aufgebaut, und im Vergleich zu zwei Milliarden Heiden nur ein Staubkorn unter den Menschen, aber ich bin glücklich. Wir haben eine Bambuskirche, eine kleine Glocke, ein Harmonium, ein Kreuz.«

»Und warum erzählen Sie mir das alles, Pater?«

Sie gingen die Treppe hinauf. Paul hatte sein Gewehr an die Palme gelehnt und streckte Pater Pierre die Hand entgegen. Er hatte ihn zum ersten Mal gesehen, als er neun Jahre alt war. Damals baute der Pater mit den ersten vier bekehrten Papuas seine kleine Kirche auf Katatoki.

»Er ist ein Riese geworden«, sagte Pater Pierre anerkennend und rieb sich die Hand. Pauls Händedruck war wie eine Presse. Dann fächelte er sich mit dem Strohhut Luft zu und setzte sich an den Tisch vor das Haus.

»Ja, warum bin ich hier? Eigentlich ohne Grund, Madame. Ich wollte einfach mal nach Ihnen sehen.«

»Seit wann dürfen Priester lügen?«, fragte Anne. »Schickt Brissier Sie? Oder der Gouverneur? Bevor Sie anfangen zu predigen, Pater: Ich verlasse diese Insel nie mehr!«

»Darüber wollen wir auch gar nicht reden, Madame.« Pater Pierre griff in die Tasche seiner Soutane und zögerte. »Vor drei Tagen kam ein Papua zu mir, ein neuer Christ. Er betete und gab mir etwas. Ich habe mir den Weg zu Ihnen lange überlegt, aber dann glaubte ich, dass es gut sei, nach Viktoria-Eiland zu fahren. Kennen Sie das?«

Er legte einen schmalen Goldring auf den Tisch. Anne zuckte zusammen, dann saß sie wieder wie versteinert.

»Werners Ehering …«, sagte sie tonlos.

»Ich dachte es mir. In die Innenseite ist das Wort ANNE eingraviert. Weiter nichts.«

»Für Werner war das alles –«, sagte Anne leise. Sie nahm den Ring, streifte ihn über ihren rechten Ringfinger, und da er viel zu groß war, legte sie die andere Hand darüber. »Ich danke Ihnen, Pater.« Sie senkte den Kopf und holte tief Atem. Es war ungeheuer schwer, alles, was jetzt in ihr aufbrach, zu unterdrücken. »Ist … ist das alles, was von Werner übrig geblieben ist? Wie ist er gestorben? Sie wissen es, Pater. Sagen Sie es mir. Mein Sohn weigert sich, darüber zu sprechen. Aber ich bin stark genug, alles zu ertragen …«

Pater Pierre warf Paul einen schnellen Blick zu. Der schüttelte unmerklich den Kopf.

»Darüber schweigen die Eingeborenen«, sagte Pater Pierre und hoffte, dass Gott ihm die Flut von Lügen verzeihen möge, denn es waren gute, gnädige Lügen. »Sie brachten mir nur den Ring.« Er trank einen tiefen Zug aus dem Glas mit Kokosmilch, das ihm Paul hingestellt hatte, wischte sich den Mund ab und zeigte hinunter zur Lagune. »Mein Boot kann gut vier Menschen transportieren …«

»Pater –«, sagte Anne leise. »Wir wollten nicht davon sprechen …«

»Ich habe erfahren, dass sie auf Botao Oa einen neuen, riesigen Götzen schnitzen und ihn hier aufstellen wollen. Über hundert Kriegskanus werden ihn begleiten. Es soll das größte Götterfest der letzten hundert Jahre werden. Die ganze Inselwelt rund um Viktoria-Eiland lebt in Angst vor der Rache der Geister. Anne, Sie haben den Götzen umgehackt wie damals Bonifazius die Donareiche. Bonifazius ist das nicht gut bekommen, man hat ihn später erschlagen, aber immerhin ist er heiliggesprochen worden. Ich möchte verhindern, dass auch Sie eine Märtyrerin werden, Anne … In unserer Zeit brauchen wir so etwas nicht.«

»Ist das alles, was Sie mir sagen können, Pater?«

»Ja, Madame.«

»Ich danke Ihnen.« Sie erhob sich.

Mit der linken Hand hielt sie noch immer Werners Ring an ihrer Rechten fest. Auch Pater Pierre sprang auf. Er wollte noch etwas sagen, aber er sah ein, dass Worte hier keine Überzeugungskraft mehr hatten.

»Paul wird die Glocke wieder läuten, wenn Sie abfahren, Pater. Es hat Ihnen ja so gut gefallen. Und kommen Sie wieder, wenn Sie wollen …« In ihren großen braunen Augen lag unendliche Traurigkeit. »Und dann erzählen Sie mir, was Sie über die letzten Stunden meines Mannes erfahren haben …«

Als Pater Pierre langsam aus der Lagune ins freie Meer tuckerte, läutete Paul wirklich die alte Schiffsglocke. Pater Pierre blickte zurück zu der flachen Insel, und er war versucht, die Arme zu heben und den Segen zu sprechen. Dann aber schüttelte er den Kopf und kümmerte sich um die Korallenbänke, durch die er sein Boot hindurchmanövrieren musste.

Auch er wusste keinen Rat mehr, wie man Anne und Paul von dieser verfluchten Insel holen konnte.

Drei Tage später landeten zwei Boote an der Rückseite von Viktoria-Eiland in der Todesbucht. Paul hockte wieder in der hohen Palmkrone und beobachtete sie.

Die Eingeborenen holten ihren zerhackten Gott ab.

Feierlich trugen sie den Torso zum Meer, hoben ihn in das größte Boot, legten Ketten aus Tiara-Blüten über den zerstörten Leib und fuhren dann wieder hinaus in die Weite des Pazifiks.

Es war klar, dass sie in den nächsten Tagen die neue, größere Statue bringen würden, aber dann würden es hundert Kriegskanus sein, die sie begleiteten.

Paul kletterte von seiner Palme und lief zum Haus zurück. Anne war im Garten und hackte die Gemüsebeete durch.

»Wir müssen die Waffen ölen, Mutter –«, sagte Paul bedrückt. »Wir müssen alles zur Verteidigung herrichten. Ich glaube, es bleibt uns nicht mehr viel Zeit!«

Später versuchte er, mit dem kleinen Funkgerät Papeete oder Nuku Hiwa zu erreichen, aber niemand meldete sich.

11

In den nächsten Tagen hatten sie alle Hände voll zu tun, das Haus wie eine kleine Festung auszubauen. Paul fällte und schleppte Bäume heran und errichtete eine Holzwand mit Schießscharten, die mit den Waffen der Papuas nicht zu erobern war. Anne sorgte für Wasser- und Essenvorrat, falls die Eingeborenen auf den Gedanken kommen sollten, sie auszuhungern. Auch stellten sie in leeren Benzinfässern Meerwasser bereit, um genug Löschwasser zu haben, wenn die Papuas mit Feuerpfeilen das Haus in Brand steckten.

Sie schufteten vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, und es war unerklärlich, woher Anne die Kraft nahm, das alles durchzustehen.

Zweimal in diesen Tagen durchlitt Paul eine Hölle. Das war, wenn Anne am frühen Morgen, bevor die Arbeit begann, nackt hinunter zum Meer lief und in der Brandung badete.

Früher waren sie alle drei jauchzend ins Meer gerannt und hatten sich gegenseitig mit Wasser bespritzt, aber dann – Paul wusste nicht genau, wann es angefangen hatte – waren nur noch die Eltern allein zum Baden gegangen, und er war vor oder nach ihnen durch die Lagune geschwommen. Und noch später, der Kindheit entwachsen, hatte er immer so lange gewartet, bis sie wieder im Haus waren, um dann allein irgendwo zwischen den Klippen zu baden.

Nach seinem Erlebnis mit Tara Makarou aber war alles anders geworden. Er hatte begonnen, eine Frau anders anzusehen, und er hatte erfahren, wozu eine Frau geschaffen worden war. Das ließ ihn nicht mehr los, er träumte davon, es machte ihn unruhig und erschreckend unsicher.

Jetzt lag er oben am Hang auf dem Bauch, verborgen im Bambus, und sah seiner Mutter zu, wie sie nackt im Meer stand, ihre Brüste, den Leib und die Schenkel wusch, ein paarmal hin und her schwamm, dann aus dem Wasser stieg, schlank und ergreifend schön durch den weißen Sand am Ufer lief, sich der Sonne entgegenreckte, und dann zum Haus zurückkam, umweht von den langen, seidigen Haaren … eine Nacktheit voll solch heißer Ausstrahlung, dass Paul beschämt, sich verfluchend, sich einen Schuft nennend, das Gesicht in den Boden drückte, die Fäuste ballte und die Hitze, die in ihm zu wüten begann, bekämpfte. Es war ein kläglicher Kampf, und er verlor ihn immer.

Er blieb dann im Bambus liegen, bis er sich völlig beruhigt hatte, sein Atem wieder glatt ging und er den Schock überwunden hatte, seine eigene Mutter nicht als Mutter, sondern als Frau angesehen zu haben, die man heimlich begehren durfte. Das war für ihn so ungeheuerlich, dass er Anne beim Frühstück nicht anzublicken wagte, sondern sein Essen hinunterschlang und dann schnell wieder im Wald verschwand, um Bäume zu fällen. An ihnen ließ er seine Wut über sich selbst aus … und träumte dabei von Tara und sah seine Mutter vor sich, und beide verschmolzen miteinander zu jener Frau, nach der er sich in Sehnsucht verzehrte. Es war ein Zustand, von dem Paul nicht wusste, wie er ihn jemals überwinden sollte.

Am zehnten Tag nach dem Besuch von Pater Pierre auf Viktoria-Eiland färbte sich das Meer zuerst grün, dann grauviolett und wurde unruhig, obgleich es fast windstill war. Weiße Schaumkronen tanzten auf den merkwürdig spitzen Wellen, der Himmel verwandelte sich in einen riesigen fahlgelben Fleck, der die Sonne aufsaugte, als sei er ein ausgespanntes, unendliches Löschblatt.

Die Luft blieb stehen. Das Atmen wurde plötzlich zur Qual. Das himmlische Löschblatt saugte auch den Sauerstoff auf.

Anne und Paul standen vor dem Haus und starrten über das Meer. Sie hatten schon viele Stürme erlebt, hatten Taifune überstanden, die haushohe Wellen bis an den Hang trieben, hatten die Welt in Wasser und Wind untergehen und sie wiederauferstehen sehen in strahlendem Sonnenschein. Aber was heute mit dem Meer geschah, mit dem Himmel, der kein Himmel mehr war, mit der Sonne, die auseinander floss, mit der Luft, die so dünn wurde, dass die Lungen sich schmerzvoll blähten, das hatten sie noch nicht erlebt, und es wurde ihnen unheimlich.

»So muss es aussehen, wenn die Welt untergeht«, sagte Anne.

»Vielleicht geht sie unter«, erwiderte Paul. Er sah sich um. Alles sah plötzlich anders aus, fremd, unbekannt.

»Verdammt, sieh dir das an, Mutter. Alle Farben sind wie verwaschen. Die Bäume sind nicht mehr grün, der Sand nicht mehr gelb …«

Er legte den Arm um die Schultern seiner Mutter und wartete. Mehr konnte er nicht tun. Sie atmeten mühsam und sehnten den ersten Windstoß herbei, der den Sturm einleitete und neuen Sauerstoff brachte. Der Sturm, gegen den man kämpfen konnte. Alles war besser als diese drückende, dumpfe Schwüle.

Und dann traf es sie wie mit einem riesigen Hammer. Aus dem Nichts, aus dieser gelbgrauen Kuppel, die einmal der Himmel war, schlug der Sturm mit einem wilden Aufbrüllen auf sie ein. Die Palmen bogen sich, der Bambuswald wurde zerfetzt, das Dach von Pauls Hütte wirbelte hoch, der Wasserturm knickte zusammen, und das Meer türmte sich auf, rollte heran wie eine riesige Wand und begrub die Felsenriffe unter sich. Ein anhaltendes, unerklärliches, aus der Tiefe hervorquellendes Grollen begleitete die Sintflut.

»Mein Gott …«, stammelte Anne. »Paul, mein Gott … wir werden ertrinken! Das Meer verschlingt die ganze Insel!«

»Halt dich fest, Mutter!«, brüllte Paul. Er riss Anne mit sich, schleppte sich hinters Haus zu der großen starken Palme, der stolzesten von Viktoria-Eiland, zu der damals vor zwanzig Jahren Werner Bäcker vom Strand hinaufgeblickt hatte, hilflos mit seinem zerschmetterten Bein, und gesagt hatte: »Ich komme zu dir, du stolzes Aas da oben! Warte nur! Ich werde deinen Stamm umarmen! Ich sterbe nicht unter dir, du stolze Palme …«

Jetzt war sie das Festeste, was die Insel zu bieten hatte, und Paul band seine Mutter mit dicken Schiffstauen an dem Stamm fest.

Der Sturm prallte gegen ihn und trommelte auf seinen Körper, er konnte sich kaum aufrecht halten, aber es gelang ihm doch, das Seil wieder und wieder um den Körper seiner Mutter zu schlingen. Dann warf er sich hin, umklammerte einen Baumstumpf und zuckte zusammen, als die erste Flutwelle gegen den Hang donnerte.

Die Insel schien zu schwanken. Als sei sie ein Schiff und hänge nur an einer Kette, so knarrte und knirschte es in ihrem Inneren.

»Das Meer reißt uns los!«, schrie Anne. Und dann, überwältigt von Angst, begann sie zu schreien. Sie stand an dem Baum, gefesselt, vom Wind geschlagen, vom strömenden Regen ausgepeitscht, ihr langes Haar schlang sich um den rissigen Stamm und fesselte nun auch ihren Kopf. Paul lag drei Meter von ihr entfernt. Er konnte ihr nicht mehr helfen. Unter ihm, in der Tiefe der Erde, knirschte es, als würden Meer und Wind die Insel aus ihrer Verankerung reißen.

Das Haus brach zusammen, als sei es aus Papier. Die Felder ertranken. Was in zwanzig Jahren mühsam geschaffen worden war, zerstampfte der Sturm, begruben entwurzelte Bäume, schwemmte die Flut hinweg.

Das Meer hatte sich wirklich gehoben. Es gab keinen Strand mehr, keine Buchten, keine Lagune … das Meer rollte brüllend gegen die Böschung und fraß sich mit jedem Schlag tiefer ins Land hinein.

Der Himmel hatte sich wieder verändert … er war jetzt schwefelgelb, streifig, ein riesiges Maul, das das Meer aufsaugen wollte.

Einen Augenblick war Stille, nur das Meer dröhnte, aber der Wind schien den Atem anzuhalten. Anne wandte den Kopf zu ihrem Sohn. Er lag hinter dem Baumstumpf, umarmte ihn und presste sich gegen die Erde.

»Paul!«, schrie Anne gegen das Meer an. »Paul …«

»Ja, Mutter?«

»Wenn wir es überleben, ich schwöre es dir … verlassen wir die Insel!«

»Wir werden es überleben, Mutter! Bis zu uns kommt das Meer nicht …«, schrie er zurück.

Die Antwort gab der Sturm, nicht das Meer. Nach diesem letzten Atemholen war es, als löse sich alles, was noch Form besaß, auf … mit einem einzigen gewaltigen Schlag zerdrückte der Taifun die Insel Viktoria-Eiland. Was von dem Palmenwald noch übriggeblieben war, knickte um wie ein Strohhalm. Die Stämme wurden abgedreht; mit einem grellen Kreischen schleuderte der Sturmkreisel die Palmen nach allen Richtungen.

Paul, an die Erde gedrückt, von der Faust des Sturmes niedergehalten, begriff erst nach mehrmaligem Hochducken des Kopfes, dass die Palme neben ihm, an die er seine Mutter gebunden hatte, aus dem Boden gerissen worden war. Der stärkste Baum der Insel trieb aufrecht, mit zerfetzter Krone, dem Meer zu.

Es war ein grauenhaftes, unbegreifliches, durch seine wilde Schrecklichkeit lähmendes Bild.

Anne hing noch an dem Stamm, unrettbar festgebunden. Ihre nassen Haare waren die zweite Fessel, die sie mit dem Baum verband, ihr Kleid hatte der Wind weggerissen, nackt klebte sie an der Palme, und eine Riesenhand trug sie über die Trümmer der Insel zur Böschung und zu dem schäumenden, brüllenden, entfesselten Meer.

Paul wollte aufspringen, aber ein herumwirbelnder Ast schlug ihn zurück. »Mutter!«, heulte er. »Mutter!«

Er kroch dem Meer zu und sah mit vor Grauen geweiteten Augen, wie der Sturm die Palme ins Meer schleuderte. Der Stamm tauchte ins Wasser, drehte sich, hob den kleinen, hilflosen, nackten Menschen noch einmal nach oben, die Wellen schlugen auf Anne ein, zerhieben den zarten Körper, dann riss der Stamm sie in donnernde Abgründe und schleuderte sie hinaus in die tobende Unendlichkeit.

Schreiend vor Schmerz und Grauen, kroch Paul Bäcker vorwärts, und es gelang ihm, bis an den Rand der Böschung zu kommen. Das Meer sprühte über ihn, er krallte sich in die Erde und wartete darauf, dass eine Woge ihn in die Tiefe riss. Aber weder Sturm noch Meer wollten ihn – sie hatten Anne, und das war ihnen genug.

Noch einmal sah Paul den großen Palmenstamm … er wurde von einer breiten schäumenden Welle fast bis in den gelben Himmel geworfen, und ein weißer Fleck hing an ihm, der aufzuleuchten schien, bevor er wieder – und dieses Mal für immer – in einem Wellental versank. Die Insel bebte, als sich der Wasserrachen schloss.

»Mutter!«, brüllte Paul noch einmal. »Mutter! Mutter!« Dann lag er auf der Erde, weinte in den schwammigen Boden, hieb mit den Fäusten in sinnloser Verzweiflung um sich und begriff nicht, warum ein Mensch, der einen solchen Schmerz erleidet, nicht an diesem Schmerz auseinanderbricht. Er wartete darauf, dass sein Herz zerplatzte. Aber ein Mensch kann mehr aushalten, als er will.

Das bohrende, knirschende Geräusch war wieder unter ihm, tief in der Erde. Das Meer schäumte auf, als koche es. In der Tiefe schienen Vulkane auszubrechen. Die Insel schwankte. Wo das Haus gestanden hatte, brach der Boden auseinander, und eine breite Spalte entstand. Die Felsbarriere knickte ein…

Die Welt geht unter, dachte Paul. Mutter, du hattest recht. Wir werden vernichtet. Warte Mutter … ich folge dir … unter mir bricht die Insel zusammen.

Irgendetwas musste Paul Bäcker getroffen haben, ein Stein, ein Ast, ein herumwirbelndes Stück seiner zerstörten Welt… er erwachte aus einer tiefen Ohnmacht mit großen Schmerzen, die seinen Kopf wie eiserne Klammern überzogen.

Aber er lebte. Das erschien ihm so unbegreiflich, dass er zunächst auf der Erde liegenblieb und voller Staunen die Wahrnehmungen seiner Sinne erprobte: Er atmete wirklich. Er roch den Duft der Erde. Er hörte das Donnern des Meeres. Er fühlte den Wind auf seiner Haut. Er lebte …

Die Sonne schien wieder. Der Sturm war einem lauen Wind gewichen, nur das Meer grollte noch. Aber es war zurückgewichen und hatte die Böschung wieder freigegeben. Nur die Lagune war weggerissen, und die Felsenbarriere war an vier Stellen durchbrochen worden. Die Insel war kahl – das Bambusdickicht und die Palmenwälder waren verschwunden. Ein Fleck Erde, von einer Riesenhand kahlrasiert.

Paul Bäcker stemmte sich mühsam auf die Knie und sah sich um, schwankte und umklammerte seinen schmerzenden Kopf.

Die Welt hatte sich verändert. Mitten auf der Insel war eine Schlucht entstanden. Die Stelle, wo das Haus gestanden hatte, war nach oben gedrückt worden. Es gab die Bucht mit der Totenstätte nicht mehr, kein einziger Vogel schien überlebt zu haben. Alles Leben war ausgelöscht worden.

»Warum lebe ich noch?«, schrie Paul zum Meer hinüber. Er kroch bis zum Rand der Böschung, starrte hinunter und sah dann im Geiste wieder die große, auf den Wellen tanzende Palme, an die er seine Mutter gebunden hatte, um sie vor dem Meer und dem Sturm zu retten.

»Du Mörder!«, brüllte Paul hinunter zum Meer. »Du Mörder! Ich will dich hassen wie mein Vater! Ich werde gegen dich kämpfen, und es wird keine Stunde geben, in der ich dich nicht verfluche, du verdammtes Meer!«

Er lag noch eine Zeitlang herum, völlig erschöpft, mit brummendem Schädel, und dachte: Was soll das alles? Ich lebe, um mein Sterben in allen Einzelheiten zu verfolgen. Ein paar Tage kann man durchhalten, dann habt ihr es geschafft, Sonne, Meer und Wind.

Kein Baum ist mehr da, keine Wurzel, keine Blume, kein Vogel. Nur noch Sand. Das ist die Rache des Meeres. Weil es vor zwanzig Jahren meinen Vater nicht bekommen hatte, holt es jetzt mich, den Sohn.

Der Gedanke erregte ihn nicht, flößte ihm keine Angst ein. Nach allem, was er erlebt hatte, dachte er an den Tod wie an einen stillen, sanften Freund.

Aber da war noch eine Erinnerung: Als Werner Bäcker vor zwanzig Jahren an dieser Insel angeschwemmt worden war, hatte er ein zerschlagenes Bein und außer seinen beiden Händen nichts als den unbesiegbaren Willen zu überleben.

Paul Bäcker wälzte sich auf den Rücken und starrte in den weiten, blauen, wolkenlosen Himmel. »Nein!«, sagte er laut. »Ich bin sein Sohn! Versteht ihr das? Ich weiß nicht, ob sich alles wiederholt, aber ich weiß bestimmt, dass ihr mich nicht kleinkriegt. Lasst mich noch eine Stunde liegen … aber wenn ich dann auf stehe, bleibe ich auch stehen, das verspreche ich euch.«

Er legte die Hände über die Augen, um sich vor der grellen Sonne zu schützen, und dachte darüber nach, was er als Erstes tun müsste. Dem Stand der Sonne nach musste es bald Abend sein … er würde also erst einmal die Insel abgehen, ihre Veränderungen untersuchen, für Wasser und Essen sorgen und zusammensuchen, was von dem alten Viktoria-Eiland übriggeblieben war.

Wenn auch das Haus zerstört war und nichts mehr, nicht einmal ein Pfahl, daran erinnerte … der Keller musste geblieben sein, und im Keller lagen alte Töpfe, Tonnen, Werkzeuge, Kisten, Säcke … Abfälle eines schon ziemlich luxuriös gewordenen Lebens, die jetzt wieder zur Grundlage eines neuen Lebens wurden. Aus jeder Ruine wächst einmal Gras … das hatte Werner Bäcker oft gesagt. Wenn wir so zäh und genügsam sind wie Gras, wer kann da unseren Lebenswillen noch aufhalten?

Paul Bäcker erhob sich, als sich die Hitze merklich in die abendliche Kühle auflöste. Das Meer hatte sich noch mehr beruhigt … es war Ebbe, der Strand reichte weiter ins Land hinein als sonst. Im Sand lagen dicke Krebse, einige Schildkröten und ein paar Riesenkrabben.

»Nein!«, sagte Paul laut. »Nein, du Mistmeer, ich lasse mich nicht bestechen. Und wenn du mir einen Tisch deckst mit allen Köstlichkeiten … ich hasse dich auf ewig!«

Er wandte sich ab, blickte nach Osten und erstarrte.

Ein Wunder hatte sich ereignet. Er verlor vor dem, was er sah, die Sprache.

Da, wo Viktoria-Eiland früher wie ein Schildkrötenpanzer im Meer gelegen hatte, buchtenlos, sanft abfallend, war die Insel nun wie ein abgerissenes Brot, zernagt, als hätten sich Riesenzähne hineingegraben.

Dahinter aber, nur durch eine schmale Wasserstraße getrennt, lag eine neue Insel im Meer … weißglänzend, felsig, mit einer weiten Bucht wie ein Hafen und höher als Viktoria-Eiland. Eine Insel in der Form eines Hufeisens, von urweltlichen Kräften aus der Meerestiefe ans Licht gehoben. Ein Stück Land mit einem Sandstrand, mit bizarren Korallenbänken, trocken und blankgeputzt, als habe Gott ein besonders schönes Sandkorn gewaschen und auf ein Tuch aus blauer Seide gelegt.

Fassungslos stand Paul Bäcker vor diesem Wunder. Und dann begriff er: Ein Seebeben hatte ihm die Mutter genommen und ihm dafür eine neue Insel geschenkt, es hatte Viktoria-Eiland vernichtet und gleichzeitig Neuland geschaffen. Der Taifun hatte ihn zum Sterben verurteilt, aber gleichzeitig seinen Lebensraum erweitert. Die Natur folterte ihn, indem sie ihm zeigte, wie ungeheuerlich eine Geburt sein kann.

»Ihr irrt euch!«, schrie Paul Bäcker plötzlich. Er machte den ersten Schritt vorwärts über sein vernichtetes Land, aber schon der zweite und der dritte Schritt waren die Eroberung des Neuen. »Ich gehe nicht mehr in die Knie! Du da drüben, du Insel … bevor ich dich betrete, sollst du schon deinen Namen haben. Ich taufe dich ›Anne-Eiland‹! So, wie mein Vater seiner Insel den Namen seiner toten Frau gegeben hat, gebe ich dir den Namen meiner toten Mutter. Sieh mich an, Insel … ich habe keine Angst. Und wenn ich Angst hätte, ich fräße sie auf und würde mich von ihr ernähren!«

Er ging über das völlig zerklüftete Viktoria-Eiland und stellte fest, dass die entfesselte Natur doch nicht stark genug gewesen war, alles zu vernichten. Baumstümpfe waren. übriggeblieben, einige Bambusstangen, Ansätze von Büschen, einige Gemüsepflanzen in den umgewühlten Beeten … einsame Überlebende wie der Mensch auf dieser Insel.

»Das ist genug!«, sagte Paul Bäcker und hob die Faust gegen das Meer. »In einem Jahr werden hier wieder Blumen blühen, neue Palmen wachsen, wird der Bambus sprießen, werden neue Vogelscharen nisten. Schildkröten werden hier ihre Eier vergraben und Fischschwärme im seichten Wasser spielen. Vor allem eins, Meer, sollst du wissen: Ich bleibe hier! Wir Bäckers sind ein verdammt sturer Menschenschlag.«

Im Keller des Hauses fand Paul genug Werkzeug und alte Gefäße. Noch in der Nacht machte er sich daran, aus leeren Benzintonnen ein kleines Floß zu bauen. Er band sie aneinander, legte zwei Kistenbretter darüber und ließ das Floß beim Morgengrauen in den kleinen Meeresarm gleiten. Mit zusammengeflochtenen Palmblättern, die er überall am Ufer fand, paddelte er hinüber zu der neuen Insel. Er lag auf den Benzintonnen, balancierte das Gleichgewicht aus und hoffte während der mühsamen Überfahrt, dass gerade jetzt, in der Dämmerung, keine Haie auftauchten.

Er brauchte fast eine halbe Stunde, um über die schmale Wasserstraße zu kommen. Eine starke Strömung trieb ihn weitab, und er landete am äußersten Ende der weiten Bucht zwischen zwei bizarren Korallenbänken.

Als er das Neuland betrat, war ihm durchaus nicht feierlich zumute. Er kletterte über die Riffe, sprang in den Sand, der einmal Meeresboden gewesen war, und sank bis zu den Knöcheln ein. Dann stapfte er den sanft ansteigenden Hügel hinauf und wunderte sich, wie uralt diese Insel aussah, obgleich sie gerade einen Tag alt war.

Als er die höchste Stelle erreicht hatte und hinüberblickte nach Viktoria-Eiland, krampfte sich sein Herz zusammen. Das Ausmaß der Zerstörung war erst von hier zu übersehen. Die Natur hatte Viktoria-Eiland zerrissen, um aus diesem Material Anne-Eiland zu schaffen.

»Du gehörst mir!«, sagte Paul Bäcker mit der gleichen Entschlossenheit, wie sein Vater vor zwanzig Jahren seine unbekannte Insel in Besitz genommen hatte. »Ich gehe dich jetzt ab, und jeder Schritt heißt: Kampf! Kampf! Kampf! Ihr habt euch alle verrechnet – Meer, Sonne und Wind!«

In der Mitte der neuen Insel, zwischen zwei merkwürdigen, säulenähnlichen Felsgebilden, fand Paul das Wunder des Überlebens: Wasser! Reines, klares, süßes Wasser.

Sprudelnd quoll es aus der Tiefe, rieselte zwei Meter über einen felsigen Grund und versickerte dann wieder in dem sandigen Boden.

Unentwegt, ein herrlich glitzernder Strom.

Wasser!

Leben!

Paul Bäcker kniete neben der Quelle, schöpfte mit beiden Händen das Wasser und trank es, wusch sein Gesicht damit, legte seinen ganzen Kopf in das Rinnsal, ließ die köstliche Kühle über sich fließen, zog sich dann aus, warf sich in das Wasser und staute es mit seinem Körper, bis es ihn völlig überflutete und über seine Füße hinweg wieder im Sand versickerte.

»Das wird ein Paradies werden«, sagte er, zitternd vor Ergriffenheit. »Mutter, aus deiner Insel mache ich den schönsten Platz dieser Erde.«

Am Abend paddelte er auf seinem Benzintonnenfloß wieder hinüber nach Viktoria-Eiland.

12

In den nächsten Tagen sammelte er die Trümmer von Viktoria-Eiland, die ihm noch nützlich waren. Er fand mehr, als er erwartet hatte. Es gab noch eine Axt, die Motorsäge und das kleine Funkgerät. Da aber das Stromaggregat zerstört war, konnte er im Augenblick nicht funken.

Mit der Flut schwemmten auch neun ausgerissene Bäume zurück zur Insel, Paul holte sie mit der Axt aus den Wellen, und bei jedem Stamm bebte er vor Angst, es könne der Stamm sein, an dem seine Mutter festgebunden war. Aber die große, stolze Palme kam nicht zurück.

Am vierten Tag nach dem Seebeben überflog ein Flugboot die Insel in großer Höhe. Dann kehrte es zurück, ging tiefer, umkreiste die alte und die neue Insel und schien Fotos zu machen. Paul Bäcker duckte sich in den Keller des weggeblasenen Hauses und rührte sich nicht.

Es ist besser so, dachte er. Sehen sie mich, kommt Brissier wieder und will mich zwingen, die Insel zu verlassen. Der alte Streit geht wieder los. So aber glauben sie, hier sei nichts mehr übriggeblieben und der Zustand des Paradieses wiederhergestellt.

Aus den angeschwemmten Stämmen zimmerte sich Paul als erstes ein stabiles Floß. Aus dem Keller machte er eine behelfsmäßige Unterkunft und deckte sie mit Rindenschwarten und Palmblättern ab. Jeden Tag fuhr er jetzt hinüber zu Anne-Eiland … zuerst mit seinen Benzintonnen, dann mit seinem Holzfloß, holte in Kanistern das herrliche reine Wasser und begoss täglich dreimal seinen kleinen, neuangelegten Garten und die Bambussprösslinge, die sich durch die Erde wieder ans Licht bohrten.

Auch Fische stach er wieder mit einem zugespitzten Holz aus dem Meer und verbrachte vier mühsame Stunden damit, Funken aus den Steinen zu schlagen und ein Feuer zu entfachen. Als es aufflammte, hielt er beide Hände darüber und sagte: »Jetzt habt ihr alle verloren … Natur, du solltest dich mit mir verbünden.«

Am zehnten Tag nach der Geburt der neuen Insel sah Paul Bäcker die Kriegskanus. In breiter Front schwammen sie heran, vorne drei große Häuptlingsboote mit rot gefärbten, geflochtenen Segeln.

Paul hockte in seinem Keller. Ein Gewehr, das er zwischen den Trümmern gefunden hatte, brachte er auf dem Grubenrand in Anschlag. Neben ihm, Patrone neben Patrone, lagen neunzehn Schuss Munition. Mehr hatte er nicht ausgegraben, er hatte auch nicht danach gesucht. Die neue Insel und der Floßbau hatten ihm keine Zeit mehr gelassen.

Langsam, fast weihevoll näherten sich die Kanus. Der rhythmische Gesang der Krieger flog ihnen voraus.