Cover

Leitwölfe sein

»Das anregende Buch ist kein simpler Ratgeber, sondern überlässt es dem Leser, die passenden Schlüsse zu ziehen.« Hörzu

»Der bekannte dänische Familienberater schöpft sein Wissen aus 40 Jahren Berufserfahrung. Seiner unaufgeregten Art zu argumentieren folgt man gern.« Buchjournal Extra

»Der Therapeut schreibt von unzähligen Beratungsgesprächen geprägte kluge Sätze: ›Das Wohl von Kindern hängt davon ab, wie es allen in der Familie geht – als Einzelperson und als Gemeinschaft.‹« Marion Meier-Rietdorf, N24.de

»Jesper Juul formuliert in seinem Leitwölfe-Buch eine Vision für die Gesellschaft: Wenn sich in den Familien eine bessere Führungskultur etabliert, lassen sich die Lebensbedingungen für alle verbessern. Für Eltern gilt wie für Manager und Politiker: Führung darf nicht mit Macht verwechselt werden.« Tanja Zech, T-Online

»Ade, Kuschelkurs!« Kerstin Kullmann, Der Spiegel

»Das Buch ist trotz der eingestreuten Fallbeispiele weniger ein herkömmlicher Erziehungsratgeber als eine Gesellschaftsanalyse. Juul versucht zu ergründen, wo die Probleme heutiger Eltern und ihrer Kinder liegen und woher diese kommen. Auch Lösungen hält der Erziehungsexperte parat, wobei er sich in Leitwölfe sein vor allem auf die Haltung der Erwachsenen gegenüber ihren Kindern konzentriert.« Heike Le Ker, Spiegel online

»Wieder ein Buch von Jesper Juul, das mir Mut macht, mich zu entspannen und ich selber zu sein. Möge ich diese Gelassenheit jeden Tag ein bisschen mehr leben … Danke.« Leserstimme

»Jesper Juul gelingt es, über das, was er wie schreibt, mit mir in Beziehung zu treten. Ich füge hinzu: in eine gleichwürdige Beziehung! Er macht mich, den manchmal verunsicherten Vater, den oft verunsichernden Lehrer, den nach Sicherheit Suchenden nicht falsch. Nein, ich fühle mich in all meinen Facetten gesehen, wertgeschätzt, eingeladen.« Andreas Reinke

»Manchmal ist es wichtig, eine unliebsame Entscheidung zu treffen, um Ja zu sich selbst zu sagen und dem Kind zu zeigen, wofür seine Eltern stehen. (…) Ich kann dieses Buch nicht nur Eltern, sondern allen empfehlen, die Menschen führen.« Leserstimme

»Der Erziehungsratgeber (…) eignet sich für alle (werdenden) Eltern, die sich mit ihrer Rolle als Leitwölfe auseinandersetzen wollen und dabei auf vorgekaute Theorien und To-do-Listen gerne verzichten können.« Christiane K.; www.lol-mehr-vom-leben.de

»Für Eltern natürlich sehr gut, aber vor allem auch für Großeltern sehr zu empfehlen, um den heutigen Ansatz im Umgang in der Familie und mit Kindern zu begreifen.« J.A.

»Juul schafft es, Eltern das schlechte Gewissen zu nehmen und sie in ihren Fähigkeiten zu bestärken. Ein Buch nicht nur für Eltern, sondern ein Must-have für jeden Menschen, der führt!« Dr. A. Widmer

»Ein großer Gewinn für unsere Familie! (…) Besonders spannend war für mich das Erläutern der geschlechterspezifischen Führungsherausforderungen. Worin unterscheidet sich männliche und weibliche Führung?« Lisa Heitzler

»Ein großes Plus des Buches sind die vielen Beispiele aus der Praxis, die nicht nur illustrieren, sondern auch immer wieder den Fokus auf nochmal neue Art erweitern. Dieses Buch sei all denen ans Herz gelegt, die, egal ob in der Familie, einer Schulklasse oder einer KiTa, Menschen führen, denn es eröffnet immer wieder neue Räume der erfüllenden Begegnung mit (nicht nur) Kindern und Jugendlichen.« Dirk Bayer

Inhalt

Einleitung

1
Kinder wollen Erwachsene, die die Führung übernehmen

Persönliche Autorität neu definieren

Persönliche Verantwortung übernehmen

Lebenselixier Selbstwertgefühl

Gegenseitiges Lernen

2
Sie können Ihrem Kind vertrauen

Jedes Kind will kooperieren

Achtsamkeit und Empathie

Eltern fragen Jesper Juul

3
Der Leitwolf und das innere Kind

Wer bin ich?

Eltern fragen Jesper Juul

4
Weibliche und männliche Führung

Ein Blick zurück

Eltern fragen Jesper Juul

5
Frau und Mutter sein

Die Angst vor Egozentrik überwinden

Liebe ohne Selbstzerstörung

Von persönlicher Integrität und dem Recht, Nein zu sagen

Was wirklich mit den netten Mädchen passiert

Mütter und Töchter

6
Wo sind die Männer und Väter?

Gemeinsam stark

Eltern fragen Jesper Juul

7
Wollen wir wirklich starke und gesunde Kinder?

Die Lücke zwischen korrekt und richtig

Erziehung ist Beziehung

Aus Alt mach Neu

8
Was hat Macht mit Führung zu tun?

Das Paradox der Macht und wie Eltern damit umgehen können

9
Die Zukunft Ihres Kindes ist jetzt!

Was möchten Sie als Eltern?

Was können Sie tun?

Was tut die Politik?

Seien Sie persönlich und eine neue Welt wird sich eröffnen

10
Werte, die Führung schaffen

Werte in Familie und Partnerschaft

Gleichwürdigkeit – den anderen Menschen wahrnehmen und ernst nehmen

Integrität – persönliche Grenzen, Bedürfnisse und Wertvorstellungen

Der Wille zur Authentizität – ohne ihn können Liebesbeziehungen nicht erfolgreich sein

Verantwortung – der Gemeinschaft und sich selbst gegenüber

11
Erfolg durch Anpassung: unsere kollektive Illusion

Was ist ein starkes Kind?

Ja sagen zum Ich

Eltern fragen Jesper Juul

12
Fallgruben für Leitwölfe

Der neuromantische Stil: Harmonie über alles

Curling-Elternschaft: Bahn frei für kleine Prinzen und Prinzessinnen

Der Weg des geringsten Widerstands

Überwachung total

Mein Kind als Projekt!

13
Führung light: Teenagerzeit und das Kind als Erwachsener

Nach der Kindheit

14
Was tun, wenn das Rudel tollt?

Soll ich mich aus den Kämpfen der Kinder heraushalten?

Meine Tochter klaut – was soll ich tun?

Dürfen Kinder ins Elternbett?

Warum macht der Siebenjährige in die Hose?

Aggressiver Streit: eingreifen, ja oder nein?

Was tun, um dem Kind die Angst zu nehmen?

Unser Familienleben ist ein einziger Kampf

Wie kriege ich meinen Sohn vom Bildschirm weg?

Anmerkungen

Editorische Notiz

Bücher und DVDs von Jesper Juul

Bücher

DVDs – eine Auswahl

Im Buch erwähnte Literatur

Über den Autor

familylab – die Familienwerkstatt

Einleitung

Unsere Welt verändert sich schneller als jemals zuvor. Wir alle versuchen verzweifelt, Schritt zu halten und für uns selbst und unsere Kinder Anpassungsmöglichkeiten an den Wandel zu finden. Die gute Nachricht ist, dass wir dabei oft erfolgreich sind. Die Smartphones, Tablet-PCs, Apps und andere elektronischen Geräte, die heute im Umlauf sind, und ihr Einfluss auf das Leben sowohl des Einzelnen als auch der Familie sind anschauliche Beispiele. Wir haben die kritische, besorgte und defensive Haltung, die noch vor zehn Jahren im Hinblick auf die Fülle der technologischen Neuerungen vorherrschte, hinter uns gelassen und einen Punkt erreicht, an dem Schulkinder angespornt werden, sich auf elektronikfreie Tage oder Wochen einzulassen, und Familien spannende und wohltuende Mittel und Wege ersinnen, die Zeiten zu beschränken, in denen jeder den Blick auf das eigene Display heftet. Sehr viele entdecken den Wert der persönlichen Interaktion aufs Neue, und wenn Eltern den Mut haben, neue Maßstäbe zu setzen, folgen die Kinder bereitwillig.

Seit mehr als einer Generation versuchen die Gesellschaft als Ganzes und auch die meisten ihrer einzelnen Mitglieder, die Tatsache zu verarbeiten, dass heute jeder von uns – ungeachtet des Lebensalters – erheblich stärker, kompetenter und selbstbestimmter ist, als es früher möglich schien. Meine eigene Generation hat bedeutende Veränderungen in der Altenpflege auf den Weg gebracht, Kindergärten und Schulen sehen sich zu einem Kurswechsel in ihren Denk- und Verhaltensweisen gezwungen, und auch die Ehe und andere Liebesbeziehungen zwischen Erwachsenen fordern einen Einstellungswandel.

Die Suche nach einem gesunden Gleichgewicht zwischen unserem Wunsch nach Kooperation und Anpassung einerseits und dem Bedürfnis nach Integrität und persönlichen Grenzen andererseits ist heute mehr denn je in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Sind wir zu individuell und egozentrisch geworden oder gestatten wir uns noch Sozialisationsprozesse, die auch Kummer und Enttäuschungen mit sich bringen? Diese Suche ist eine große existenzielle Herausforderung, und viele Kinder, die verhätschelt und von den Eltern zum absoluten Mittelpunkt ihrer Lebenswelt gemacht wurden, halten nun − inzwischen erwachsen geworden − nach Möglichkeiten Ausschau, einen Beitrag zum Wohl anderer zu leisten. Sie und wir alle wissen, dass auch heute die Mehrzahl der Kinder auf Unterstützung und Ermutigung angewiesen ist, um ihr Potenzial voll zu entfalten.

Erziehungswissenschaftler, Pädagogen, Leute wie ich streiten über viele Themen, jedoch über eine Tatsache nicht. Bei diesem Thema gibt es keinen Zweifel und keine Debatte: Kinder brauchen Führung durch Erwachsene. Das wissen wir, weil es Kindern, die ohne diese Führung leben, schlecht geht – ob sie allein sind, nur unter anderen Kindern oder mit Eltern, die nicht führen können oder wollen. Eine Mutter hat mir einmal geschrieben, dass ihre zweijährige Tochter morgens nicht in den Kindergarten wollte. Wenn das Mädchen im Kindergarten ankam, ging alles wunderbar, aber vor der Fahrt dorthin weigerte sie sich, ins Auto zu steigen. Eines Tages hat die Mutter zufällig drei oder vier Gummibärchen im Auto gefunden und gesagt: »Wenn du jetzt kommst, kriegst du die Gummibärchen.« Zu der Zeit, als die Mutter mir den Brief schrieb, forderte ihre Tochter schon mindestens zweihundert Gramm Gummibärchen, wenn sie ins Auto einsteigen sollte, und die Mutter fragte: »Was mache ich jetzt?« Wir wissen alle, dass innerhalb weniger Monate die Gummibärchen nicht mehr funktionieren werden. Wie macht man das in einem solchen Fall mit der Führung? Die Antwort ist im Grunde einfach und trotzdem schwierig. Es geht darum, seine Kinder kennenzulernen, ihre persönlichen Grenzen kennenzulernen, sich diesen gegenüber respektvoll zu verhalten und mit seinen Kindern so authentisch wie möglich umzugehen. Das ist das Thema dieses Buches.

Kinder brauchen Eltern als Leitwölfe, damit sie sich im Dickicht des Lebens zurechtfinden. Sie brauchen Eltern, die manchmal – es gibt da keine genaue Zahl – klare Signale senden. Wir sehen heute viele Familien, in denen die Eltern so große Angst haben, ihren Kindern zu schaden oder sie zu verletzen, dass die Kinder zu Leitwölfen werden. Und die Eltern streifen orientierungslos durch den Wald. Meine Generation hat noch geglaubt, es sei ganz einfach. Wir dachten, wenn wir einfach das genaue Gegenteil dessen leben, was unsere Eltern gemacht haben, sei alles okay. Doch es war nicht alles okay, und auch die Männer und Frauen, die heute Eltern werden, haben kaum eine Vorstellungen davon, wie man als Familie so zusammenleben kann, dass alle zu ihrem Recht kommen. Man kann natürlich als Individuum sehr starke Wertvorstellungen mitgebracht haben – aus der eigenen Familie oder aus der Gegend, dem Land oder der Kultur, aus denen man stammt –, aber eine gemeinsame deutsche, bayerische oder dänische Sammlung von Werten gibt es nicht. Das macht das Leben natürlich schwieriger. Entweder lebt man als Familie von Konflikt zu Konflikt, was dahin führt, dass es eine Riesennachfrage nach Lösungen gibt, die es nicht geben kann. Oder man muss reflektieren und nachdenken. Man muss sich miteinander unterhalten, und man muss sich fragen: Was will ich als Basis für meine Familie, was will ich als Fundament für unser gemeinsames Heim? Und was finde ich so wertvoll, dass ich es meinen Kindern gern mitgeben möchte, weil ich glaube, dass es auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch wertvoll sein wird? Diese Fragen sind einfach zu stellen, aber sie sind nicht einfach zu beantworten. Und wie jede Krise bringt auch diese sowohl Leid als auch Potenzial für Wachstum und Veränderung mit sich.

Das Grundgeflecht jeder Gesellschaft ist die Familie. Ungeachtet der Vielfalt der Familienkonstellationen und der hohen Scheidungsraten handelt es sich um Beziehungen, die auf dem Fundament der Liebe errichtet sind. In Europa konnten wir eine allmähliche Entwicklung von dem, was ich »Wir-Familie« nenne, zur »Ich-Familie« beobachten. Jedes einzelne Familienmitglied hat heute Zugriff auf die unendlichen Chancen einer globalen Welt und somit auf lebenslange, folgenschwere Wahlmöglichkeiten. Die Qualität dieser Wahlmöglichkeiten hängt weitgehend vom Selbstwertgefühl und den Leitwerten ab, die im Verlauf der Entwicklung vielleicht durch neue ersetzt werden oder langfristig Bestand haben. Eine Fülle von Faktoren – auf ökonomischer, soziologischer, psychologischer und demografischer Ebene – trieb diesen Prozess des Wandels voran.

In einigen Ländern werden inzwischen erste Anzeichen sichtbar, dass Menschen nach Möglichkeiten suchen, die Ich-Familie anzupassen, um sich auf neue Weise in die eigene erweiterte Familie, in die lokale Gemeinschaft, in Migranten- und andere soziale Gruppen einzubringen. Die wirtschaftlichen Umstände legen nahe, sich eingehender mit der Betreuung unserer älteren Mitbürger zu befassen, und alle diese Bestrebungen setzen voraus, dass wir über Begriffe wie »Gebende« und »Nehmende« hinausdenken. Es gilt, neue Wege einzuschlagen, um Werte und Prinzipien wie die Würde des Menschen, persönliche Grenzen, Authentizität und Empathie in unser Denken und Handeln einzubeziehen.

Ein Text in diesem Buch (Kapitel 7) greift die Frage auf, ob wir uns tatsächlich dafür einsetzen, Stärke und Gesundheit unserer Kinder zu fördern. Das Gleiche gilt für Erwachsene. Die politische Agenda in Europa verlangt Leistung, Wettbewerb und Individualismus, die bekanntlich extrem ungesund für Kinder und Erwachsene sind. Um uns nicht an diese sozialen Normen automatisch anzupassen, brauchen wir klare Wertvorstellungen. Wenn das Fundament einer Gesellschaft sich ändert, müssen auch die alten Begriffe einer Untersuchung unterzogen und gegebenenfalls neu definiert werden: persönliche Autorität, individuelle Verantwortung (Kapitel 1), die Paradoxie der Macht (Kapitel 8). Wie gelangen wir zu den Maximen, die unser Leben bestimmen sollen? Nach wessen Vorstellungen wollen wir leben? Salopp gesagt: Wer ist hier der Bestimmer?

Seit im Zuge der antiautoritären Bewegung und des Kampfes der Frauen um Gleichberechtigung in den Siebzigerjahren die traditionelle westliche Kernfamilie sich aufzulösen begonnen hat, steckt das Konzept elterlicher Führung in einer Art Identitätskrise. Früher war die Sache klar: Der Patriarch führte die Familie an. Der Chef führte die Firma, der Lehrer bestimmte, was in der Schule passierte. Es besteht kein Zweifel, dass die Auflehnung gegen den autoritären Führungsstil von Staatsoberhäuptern, Regierungen, Bürokraten, Lehrern , Eltern und anderen unumgänglich war. Sie hatte zahlreiche positive Auswirkungen sowohl auf die Gesellschaft als auch auf das Individuum. Vor allem aber sorgte sie dafür, dass das grundsätzliche Konzept von Macht unter die Lupe genommen und seine innere Logik infrage gestellt wurde. Als diese politisch motivierte Bewegung von Menschen weitergedacht wurde, deren Rollen nicht durch Politik, sondern durch psychologische und existenzielle Aspekte geprägt waren – beispielsweise von Lehrern und Eltern, die Verantwortung für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen trugen –, warf das eine Menge Fragen auf und führte zu tiefer Verunsicherung. In den Achtziger- und Neunzigerjahren wurde deutlich, dass die politische Alternative zur Autokratie – die Demokratie – zwar eine konstruktive Zusammenstellung von Werten darstellte, dass sie aber nicht ausreichte, um die Menschen an der Macht mit neuen und besseren Leitlinien, Werten und Verhaltensweisen zu versorgen.

Was dann geschah, war, dass sowohl die öffentliche Debatte als auch die persönlichen Überlegungen von Erwachsenen in einer gegensätzlichen Begrifflichkeit gefangen waren: Es gab »autoritär« als das eine Extrem und die faire oder »freie« Zusammenarbeit als das andere. Und »demokratisch« lag irgendwo dazwischen. Es stellte sich jedoch heraus, dass sich das grundlegende Bedürfnis nach Nähe sowie nach persönlicher und gemeinschaftlicher Entwicklung sowohl von Erwachsenen als auch von Kindern in keinen dieser Begriffe fassen ließ. Das bedeutet, dass wir quer denken mussten, um eine wirkliche Alternative formulieren zu können. Wir mussten einen anderen Blickwinkel einnehmen und ein neues Paradigma schaffen.

In den letzten dreißig Jahren sind die Werte und der Kern dieses Paradigmas immer klarer geworden – dank der Millionen Eltern und Pädagogen, die ihr Leben und ihre Arbeit der Aufgabe gewidmet haben, herauszufinden, wie Kinder und Erwachsene besser zusammenleben und -arbeiten können. Das Feedback der Kinder – sowohl ihre Aussagen als auch ihr Verhalten – hat dabei einen unverzichtbaren Beitrag geleistet. Parallel dazu wurden insbesondere in der Neurowissenschaft, in der Familientherapie und in der Entwicklungspsychologie wichtige Erkenntnisse gewonnen, die Daten und Perspektiven von unschätzbarem Wert liefern. Ich hatte das Privileg, Teil dieser Veränderung sowohl aufgrund meines Berufes als auch als Vater und Großvater zu sein. Und obwohl der Veränderungsprozess gerade erst begonnen hat, möchte ich in diesem Buch versuchen, einige Erkenntnisse und Leitlinien zu formulieren. Ich hoffe, dass diese Ihnen als Eltern, aber auch anderen Menschen, die sich mit der Führungsaufgabe von Erwachsenen beschäftigen – egal ob sie Erfahrene oder Neulinge sind –, als Inspiration dienen.

Ein zentraler Punkt ist, wie oben schon gesagt, »die Frauenfrage«, die seit den Sechzigerjahren virulent und immer noch nicht gelöst ist. An vielen Veränderungen habe ich sowohl im Beruf als auch in meinem Privatleben stets auch als Partner von Frauen teilgenommen – und werde seit vielen Jahren gebeten, ein Buch über Mütter zu schreiben. Das habe ich immer abgelehnt, einfach aufgrund der Tatsache, dass ich weder Frau noch Mutter bin und mein Wissen daher bestenfalls aus zweiter Hand stammt. Andererseits habe ich so viele Jahre als Therapeut, Berater und Pädagoge mit Müttern, Kolleginnen, Lehrerinnen und vielen anderen Frauen gearbeitet und dadurch ein ziemlich umfassendes Verständnis und Einfühlungsvermögen für weibliche Sichtweisen entwickelt, dass ich jetzt beschlossen habe, dass es vielleicht in Ordnung ist, darüber zu schreiben. Ich möchte das als solidarischen Beitrag aus der Perspektive eines Mannes verstanden wissen. Meine unmittelbare Inspiration dazu waren die Titelseite des Time-Magazins (21. Mai 2012), wo eine Mutter ihren sechsjährigen Sohn stillt, und all die Turbulenzen, die dieses Cover über lange Zeit verursacht hat. Meine wahre Motivation sind jedoch die oft sehr vereinfachte Art und Weise, wie Mütter in den Medien dargestellt werden, und die Erfahrung, dass Frauen und Mütter jede Unterstützung von außen brauchen, die sie nur bekommen können, um ein erfülltes Leben für sich selbst zu schaffen und dadurch so gute Partnerinnen und Mütter zu sein, wie es ihnen möglich ist.

Die Verschiebung der Geschlechterrollen und der Kampf beider Geschlechter um eine zeitgemäße, für alle Familienmitglieder beglückende und befriedigende Neudefinition hängen eng mit der Frage der elterlichen Führung zusammen, die im Zentrum dieses Buches steht. Neue Antworten auf alte Fragen müssen her, die für keinen der Beteiligten leicht zu finden sind und die auch schmerzhafte Prozesse einschließen. Wenn Sie eine Frau sind, hoffe ich, dass Sie meine Fürsorge und Wertschätzung hinter dem spüren können, was Sie vielleicht als harte oder kritische Aussagen wahrnehmen. Und wenn Sie ein Mann sind, ermutige ich Sie, einen ernsthaften Blick auf Ihre eigene Rolle zu werfen und den Einfluss zu sehen, den Sie als Sohn, Liebhaber, Partner und Elternteil haben. Denn auch wenn einige Elemente des Phänomens, das Frauen und Mütter an der Entfaltung ihres vollen menschlichen und zwischenmenschlichen Potenzials hindert, in einem sozialen und politischen Kontext einfach zu erklären sind, gelten diese Phänomene auch für Männer, wenn auch aus anderen Gründen, worauf ich in Kapitel 4 und 6 eingehen werde.

In einfachen Worten bedeutet ein neues Paradigma eine neue Perspektive. Statt die Dinge aus dem ewig gleichen alten Winkel zu betrachten, wählen wir einen neuen Blickwinkel, und indem wir das tun, sehen wir Neues und machen überraschende Entdeckungen. Aufregend, nicht wahr? Die Realität scheint zu sein, dass Menschen generell konservativ und sogar nostalgisch sind, und die Tatsache, dass das menschliche Gehirn in Gegensätzen statt in Alternativen denkt, macht es nicht einfacher, neue Perspektiven vorzuschlagen. Dennoch möchte ich in diesem Buch genau das tun.

Sie werden sich fragen, warum ich mein Buch mit dem Motiv der Leitwölfe überschrieben habe. Wölfe, das klingt nach Alphatier und Aggression und gerade nicht nach Harmonie und Ausgewogenheit. Doch je mehr die Wölfe wieder nach Europa vordringen, desto mehr wandelt sich das Bild vom Wolf auf faszinierende Weise. Früher galten Wölfe als böse und gefährlich, heute weiß man, dass sie über ein hohes Maß an sozialer Intelligenz verfügen. Vor allem fasziniert mich der neue Blick auf die intelligente Führungsstrategie dieser Tiere, denn sie sind absolut familienorientiert und leben in einer Art klassischer Großfamilie. Es ist für sie eine Überlebensfrage, ihrer Gruppe gut funktionierende Anführer zu sein und sie zusammenzuhalten. Ich denke, der Schlüssel für erfolgreiche Familien heißt bei Menschen wie bei Wölfen: Beziehung und Vertrauen. Vom Familienleben der Wölfe können wir viel lernen, und der Begriff Leitwolf ist für mich positiv besetzt.

Und noch etwas: Falls Sie die Hoffnung haben, dass ich in dem folgenden Text irgendeine Methode beschreibe, werden Sie enttäuscht werden. Es gibt kein Patentrezept, wenn es um menschliche Beziehungen geht, und die Leute, die das behaupten, sind eher gute Marketingleute als Menschen mit Beziehungs- oder Fachkompetenz. Am Ende entscheiden Sie. Wir leben in einer Welt, in der es nicht nur möglich geworden ist, persönliche Entscheidungen zu treffen – es ist notwendig geworden! Entscheidungsfreiheit bringt persönliche Verantwortung mit sich, und ich hoffe, dass Sie ein bisschen mehr über sich selbst wissen, wenn Sie die folgenden Seiten gelesen haben.

1

Kinder wollen Erwachsene, die die Führung übernehmen

Woher wissen wir das? Wir wissen es aus Erfahrung: Kindern, die in Familien aufwachsen, in denen es keine oder nur ungenügende Führung durch Erwachsene gibt, geht es nicht gut, und sie können sich nicht richtig entwickeln. Dafür scheint es zwei Gründe zu geben. Der eine ist, dass Kinder zwar ihre Wünsche und Gelüste gut kennen, sie sich aber ihrer grundlegenden Bedürfnisse nicht bewusst sind. Der andere Grund ist, dass man qualifizierte Anleitung braucht, um sich an eine Kultur anzupassen – an welche Kultur auch immer, sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb der Familie. Mit anderen Worten: Kinder werden mit großer Weisheit geboren, aber ihnen fehlen praktische Lebenserfahrung, Überblick und die Fähigkeit vorauszudenken. Um diese Kompetenzen zu erlangen, brauchen sie Erwachsene.

Wir müssen unbedingt begreifen, dass Führung und Erziehung völlig unterschiedliche Dinge sind, auch wenn die beiden Begriffe ständig miteinander verwechselt und im täglichen Sprachgebrauch sogar synonym verwendet werden. Um ein Kind aufzuziehen und zu erziehen, muss der Erwachsene die Führung übernehmen. Wenn er oder sie das nicht kann beziehungsweise nicht will oder wenn Führung auf destruktive Art und Weise ausgeübt wird, wird niemand Erfolg haben – der Erwachsene wird seine Ziele nicht erreichen, und das Kind wird nicht in der Lage sein, sich zu entfalten und seine Persönlichkeit zu entwickeln. Exakt formuliert müsste die Überschrift dieses Kapitels folgendermaßen lauten: Um fruchtbare und tragfähige Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern aufzubauen, müssen die Erwachsenen die Führung übernehmen. Every team needs a captain, jede Familie braucht ihre Leitwölfe.

Ich arbeite jetzt seit vierzig Jahren als Familienberater und Familientherapeut. Jede Zeit hat ihre Themen und Herausforderungen; in den letzten zwanzig Jahren bin ich einer ständig wachsenden Zahl von Eltern aus allen Gesellschaftsschichten begegnet, die sich über Themen wie morgens Aufstehen und Fertigwerden, Schlafen, Essen und Ähnliches beschweren. Diese Punkte sind nicht an sich »problematisch«, aber die Tatsache, dass so viele Eltern und Kinder mit ihnen zu kämpfen haben, ist ein klares Zeichen für zu wenig Führung. Das heißt nicht, dass elterliche Führung früher besser war – nicht in dem Sinne, dass sie dem Wohlbefinden und der gesunden Entwicklung von Kindern gedient hätte. Aber sie war klarer und konsistenter, und das sorgte dafür, dass es weniger offene Konflikte gab. Der heute so oft geäußerte Wunsch nach einer solchen elterlichen Führung klingt, als hätten heutige Eltern versehentlich den falschen Knopf gedrückt und müssten jetzt einfach den richtigen drücken. Wie Sie sicher wissen, ist es ganz so einfach leider nicht.

Doch es sind nicht allein die Eltern, die in Schwierigkeiten stecken. Vor einigen Jahren habe ich mich während eines Vortrags sehr kritisch zu einer in Mode gekommenen Erziehungsmethode geäußert, die nach dem Grundsatz verfährt, gehorsame und folgsame Kinder zu belohnen. …Fast beschämt erzählte mir in der Pause die Leiterin eines kleinen Kindergartens, dass sie in Absprache mit den Erzieherinnen ebenjene Methode eingeführt habe, die ich so deutlich kritisiert hatte. Der Grund: »Wir waren nicht in der Lage, die Kinder am Ende des Tages dazu zu bringen, die Spielecke aufzuräumen.« Meine Antwort lautete: Wenn es den Erwachsenen in einer Tageseinrichtung nicht gelingt, in einer Gruppe von Drei- bis Sechsjährigen eine Atmosphäre und Kultur von Mitarbeit und Teilnahme zu erzeugen, müssen sie dringend ihre zwischenmenschlichen Kompetenzen überdenken und sie zusammen mit ihrem Führungskonzept grundlegend ändern. Mit einer primitiven Methode, Kinder zu manipulieren, ist es jedenfalls nicht getan.

Wenn es um Führung innerhalb von Familien, in Schulen oder auch in Unternehmen geht, wird die Beziehung zwischen den Führenden und denen, die geführt werden, traditionellerweise als Subjekt-Objekt-Beziehung definiert – mit dem Kind oder dem Angestellten als Objekt. Inzwischen wissen wir, dass Subjekt-Subjekt-Beziehungen1 für alle Beteiligten besser funktionieren, dass sie konstruktiver und fruchtbarer sind und dass sie mehr Gemeinsamkeit schaffen. Sie fördern den Erfolg einer Beziehung im Sinne von Zufriedenheit, Gesundheit und Produktivität.

Mir wurde klar, dass diese Erkenntnis einem neuen Paradigma die Tore öffnete, für das es noch keinen Begriff gab. Ganz grundsätzlich geht es um die gleiche Würde, die jedem Menschen zugestanden wird; sie ist entscheidend für die Qualität einer Beziehung. So entschied ich mich für den Begriff der »Gleichwürdigkeit« – sowohl zwischen Mann und Frau als auch zwischen Erwachsenem und Kind.2 Die ideale durch Erwachsene ausgeübte Führung ließe sich folgendermaßen beschreiben: Sie ist proaktiv, empathisch, flexibel, dialogbasiert und fürsorglich.

Proaktiv zu sein bedeutet, dass man als Erwachsener in der Lage ist, seinen eigenen Werten und Zielen entsprechend zu handeln, anstatt lediglich auf das, was das Kind sagt oder tut, zu reagieren. Empathie ist die Fähigkeit, einen anderen Menschen wirklich wahrzunehmen. Flexibel sein bedeutet, dass man in der Lage und willens ist, Veränderungen und Entwicklungen beim Kind und bei sich selbst zu berücksichtigen – im Gegensatz zu der Haltung, immer »konsequent« zu sein. Fürsorglich und dialogbasiert sein heißt, die Wünsche, Bedürfnisse, Gedanken, Ideen und Gefühle des Kindes ernst zu nehmen und zu berücksichtigen – auch dann, wenn sie den eigenen entgegengesetzt sind. Für Erwachsene, die auf diese neue Art und Weise Führung ausüben, ist der allerwichtigste Aspekt die persönliche Autorität. Diesen Begriff werde ich im folgenden Abschnitt näher erläutern.

Im Großen und Ganzen kann man sich eine Familie als einen Raum vorstellen, in dem jedes Familienmitglied so viel wie möglich von dem bekommt, was es für die bestmögliche Qualität seines Lebens braucht – und so wenig wie möglich von dem, was nicht gut dafür ist. Will man Führung ausüben, die auf der Gleichwürdigkeit aller Familienmitglieder basiert, muss man dafür sorgen, dass es ein ungefähres Gleichgewicht gibt zwischen den Bedürfnissen der Gemeinschaft und den Bedürfnissen jedes einzelnen Familienmitgliedes. Natürlich gilt das ebenso für Kitas, Schulen und Fußballvereine: Hier wie dort geht es um ein Austarieren individueller und gemeinschaftlicher Bedürfnisse.