Stephan Knösel, 1970 geboren, lebt mit Frau und zwei Kindern in München. Er arbeitet als freiberuflicher Drehbuchautor und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Für seinen Roman »Echte Cowboys« erhielt er das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2011 sowie den Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur 2010. Sein zweiter Jugendbuchroman »Jackpot – Wer träumt, verliert« war 2013 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Wart ihr schon mal im Büro des Direktors? Ist ganz gemütlich dort. Eigentlich.
Außer man fliegt gerade von der Schule …
»Quentin! Was hast du dir dabei gedacht?!«
Quentin, das bin ich. Momentan noch Fünftklässler. Ich antwortete: »Das ist eine längere Geschichte.«
Direktor Brandl setzte so ein Lächeln auf, das Erwachsene nur lächeln, wenn sie einen gleich anbrüllen – und zwar so, dass es einem die Haare nach hinten weht wie in einem Cabrio. »Ich hab Zeit!«, knurrte er.
Wie ein Hund, kurz bevor er anfängt zu bellen. Und mit Hund meine ich keinen Dackel oder Pudel – eher einen Dobermann oder Rottweiler.
»Na ja«, fing ich an und streichelte Ingrid, die »Gack. Gack-gack!« machte. »Unterbrich mich mal nicht«, sagte ich zu ihr.
»Dieses Huhn macht mich noch wahnsinnig!«, brummte Direktor Brandl.
Ihr fragt euch vielleicht, was da auch noch ein Huhn in seinem Büro zu suchen hatte. Aber dazu komme ich noch. Erst mal sagte ich zu Brandl: »Eigentlich ist das alles gar nicht meine Schuld.«
Statt loszubrüllen, atmete der Direktor tief durch: »Ach ja, und wessen Schuld ist es dann?«
»Na, die von Schlumpfine!«
Erster Teil
Ich meinte natürlich nicht die echte Schlumpfine. Meine Schlumpfine heißt eigentlich Stella. Und um das gleich klarzustellen: Stella ist nicht als Baby in einen Farbeimer gefallen oder so. Nein, ich hab sie nur Schlumpfine genannt, weil Frau Gern, unsere Grundschullehrerin, nicht wollte, dass ich Superbitch zu ihr sage. Das war mein ursprünglicher Spitzname für Stella. Aber Schlumpfine passt auch ganz gut.
Ich bin mir sicher, ihr kennt diese Mädchen. Wenn die mit einem Spickzettel erwischt werden, dürfen sie die Klassenarbeit trotzdem mitschreiben. Ich dagegen, wenn ICH mit einem Spickzettel erwischt werde … krieg ich eine Sechs! Warum? Richtig. Weil ich ein Junge bin.
Und Schlumpfine ist ein Mädchen.
Aber sie ist nicht nur ein Mädchen – sie ist das schlimmste Mädchen von allen. Ich sag es mal so: Als der liebe Gott sich Mädchen ausgedacht hat, hat er bestimmt nicht damit gerechnet, dass so was wie Schlumpfine dabei rauskommt. Sonst hätte er sich das garantiert noch mal anders überlegt.
Nicht dass sie total hässlich ist oder so. Man muss jetzt nicht würgen, wenn man Stella sieht.
Also nicht gleich.
Aber sie ist so eine unglaubliche Schleimerin! Die ist Sternzeichen Schnecke, so sehr schleimt die, wirklich. Und Frau Gern, unsere Grundschullehrerin, hat das nie kapiert.
»Ach, danke, Stella …«
»Das ist aber nett, Stella …«
»Ach, Stella, wie lieb von dir …«
Stella hier, Stella da – davon konnte einem ganz schwindlig werden! Aber wenn ICH mal aufstehen musste, um was in den Mülleimer zu werfen oder weil ich aufs Klo wollte – dann hat Stella mir immer in die Hacken getreten.
Und wenn ich dann aufgeschrien habe, weil das echt wehgetan hat – dann hieß es immer nur: »Was ist denn jetzt schon wieder, Quentin?«
Wenn ich dann gesagt habe: »Stella hat mich gerade getreten!«, dann hat unsere Lehrerin gefragt: »Stella, hast du Quentin getreten?« Und Stella hat gesagt: »Nein, hab ich nicht.«
Jetzt drück ich mal kurz auf die Pausetaste. Denn das ist nur EIN Beispiel. Und das versteht man ja sogar noch: Wenn ich jemanden trete, geb ich das auch nicht gleich zu. Aber was ich niemals machen würde, und zwar wirklich niemals, weil das eine ganz, ganz miese Nummer ist: Ich würde niemals anfangen zu weinen!
Gut, erstens, weil ich das gar nicht könnte. Ich kann nicht einfach losheulen, wenn ich nicht heulen muss. Aber Stella, diese Bitch – Entschuldigung: Superbitch –, die kann das. Und die macht das auch.
Und ich?
Ich darf mir dann von Frau Gern anhören: »Quentin! Wegen dir weint Stella jetzt! Stella, Schatz, na komm, das wird schon wieder. Quentin, entschuldige dich! Sofort!«
»Entschuldigen? Hallo, wofür denn? Dafür, dass Stella mir in die Hacken getreten hat?«
Tja.
Was hat meine Mutter dann immer gesagt: »Wie kann man denn in der Grundschule schon einen Verweis bekommen, Quentin?!«
Ich sag’s euch, bis zur Grundschule hatte ich so ein schönes Leben. Ich hatte nette Eltern, meistens jedenfalls, und einen Bruder, der zwar manchmal nervte, aber letztlich doch immer das machte, was ich wollte. Wir lebten in einer kuschligen Wohnung mit einem riesigen Fernseher und einem Computer, auf dem man hervorragend spielen konnte – es war ein Traum.
Auch draußen: Im Innenhof hinter unserem Haus gab es einen Spielplatz für die kleinen Kinder und für uns ein Mülltonnenhäuschen. Von dort konnten wir aufs Garagendach des Nachbarhauses klettern – das war so was wie unser zweites Kinderzimmer. Von da oben konnte man zum Beispiel wunderbar Wasserbomben werfen, ohne gesehen zu werden.
Wenn wir mal nicht zu Hause waren, waren wir entweder im Kindergarten oder bei unserer Oma. Die kochte uns dann immer unsere Lieblingsgerichte, und wir durften fernsehen, so lange wir wollten. Und nicht nur das – dazu gab es auch noch Süßigkeiten bis zum Umfallen. Es war wie im Paradies! Und unter der Woche waren mein Bruder und ich im wahrscheinlich coolsten Kindergarten der Welt. Die Bude war zwar schon ziemlich alt und sah aus, als würde sie gleich einstürzen – und drinnen gab es Mäuse, weil es nicht sehr sauber war. Aber wir fanden das nicht schlimm. Ich weiß wirklich nicht, warum Erwachsene immer so ein Gedöns um Sauberkeit machen.
In dem Fall vermutlich, weil sie ihn selber putzen mussten – unser Kindergarten war nämlich eine sogenannte Elterninitiative, wo die Eltern selber die Chefs waren. Warum sie den Laden dann auch putzen mussten – fragt mich bitte nicht! Das ist so eine Erwachsenensache, die nur Erwachsene verstehen. So ähnlich wie das mit meinem Vater, der angeblich wahnsinnig gut in der Schule war, sich jetzt aber nur um den Haushalt kümmert. Erwachsenensachen sind ja grundsätzlich unlogisch. Aber egal, für uns Kinder war dieser Kindergarten großartig. Wir durften alles: rausgehen, wann wir wollten, spielen, was wir wollten – wir durften sogar essen, was wir wollten! Es war toll. Mein ganzes Leben war toll.
Dann kam die Schule!
Es begann schon am allerersten Schultag in der Grundschule, vor fünf Jahren. Da hatte ich eigentlich überhaupt nicht hingewollt. Das hatte ich meinen Eltern auch immer gesagt:
»Hört mal, ich glaube, Schule ist nichts für mich, ich bleib lieber im Kindergarten. Okay?«
Meine Eltern haben dann immer nur gelächelt und genickt. Also, entweder haben sie mir nicht zugehört, was leider öfters vorkommt, oder sie haben nicht gedacht, dass ich das ernst meine. Denn irgendwann kam der erste Schultag und ich hatte plötzlich eine Schultüte in der einen und einen Schulranzen in der anderen Hand. Und als ich dann meine Eltern daran erinnerte, dass wir uns doch schon einig gewesen waren – nämlich dass ich nicht in die Schule gehen würde –, na ja, da ist meine Mutter vor mir in die Hocke gegangen, hat mir die Haare verwuschelt, nett gelächelt und dabei gesagt:
»Aber Schätzchen. Wenn du nicht zur Schule gehst, darfst du nie wieder in deinem Leben fernsehen. Und iPad spielen auch nicht. Es gibt auch keine Chips mehr, keine Schokolade …«
Da hab ich mir gedacht: Okay, ich kann mir die Schule ja wenigstens mal anschauen.
Und der erste Eindruck war auch ganz gut: Die Lehrer hier schienen nett zu sein, es gab einen großen Pausenhof, eine riesige Turnhalle, sogar die Viertklässler waren anscheinend in Ordnung. Sie sangen immerhin zur Begrüßung ein Lied für uns Neuankömmlinge. Und meine alten Kindergartenkumpel Valentin, Emil und Leif kamen sogar in dieselbe Klasse wie ich. Gut, nicht nur die, auch Mats, der alte Schnarcheimer. Trotzdem: Das könnte richtig nett werden, hab ich mir damals gedacht. – Bis ich Schlumpfine gesehen hab.
Ihr kennt das vielleicht: Bei manchen Menschen hat man sofort ein schlechtes Gefühl – so wie man andere sofort total nett findet. Aber von »nett« war Stella Lichtjahre entfernt.
Das Problem ist nur: Mit der Grundschule kann man nicht einfach »aufhören«, falls es einem dort nicht gefällt. Die Lehrer lassen einen nicht. Die Eltern sind auch dagegen. Wenn man da mal drin ist, ist das praktisch wie Gefängnis: Dann kommt man erst nach vier Jahren wieder raus. Und selbst wenn man zwischendurch mal nicht hingeht, erfahren das die Eltern spätestens, wenn die Polizei vor der Tür steht. Glaubt mir. Das ist wirklich so. Ich hab’s ausprobiert. Danach war mir klar: Es hat keinen Sinn. Da muss ich durch. Ob ich wollte oder nicht: Die nächsten vier Jahre hatte ich Schlumpfine am Hals. Und das war wirklich schlimm!
Ich weiß ja auch nicht, warum wir uns so hassten. Es gab keinen Auslöser dafür. Stella hatte nicht etwa meinen Lieblingsteddy im Klo runtergespült oder ich ihr den Zopf abgeschnitten. Am besten kann ich es vielleicht so erklären: Wir hatten als Familie mal »Urlaub auf dem Bauernhof« gemacht. Dort gab es einen Hund, Rexi. Den hatte ich auf Anhieb, also von Sekunde 1 an, total lieb. Bei Stella war es das genaue Gegenteil. Nur noch viel schlimmer.
So schlimm, dass ich in der vierten Klasse jedenfalls gut darauf verzichten konnte, noch mal mehrere Jahre mit ihr in derselben Schule zu verbringen. Da hätte ich auch gleich in der Klapsmühle nachfragen können, ob die noch ein Zimmer für mich frei haben.
Also fasste ich einen Plan.
Stella würde nach der Vierten garantiert aufs Gymnasium gehen. Und wie die meisten Eltern hier wollten meine Eltern auch, dass ich aufs Gymnasium gehe. Nur dass das – hoppla, so ein Pech aber auch! – ein paar Mathe-Vierer später nicht mehr für mich infrage kam.
Und so durfte ich auf die Gesamtschule.
Ich weiß noch, wie ich mich auf den Infoabend dort freute. Nicht mal mein Vater konnte mir den Spaß verderben. Also, nur um das klarzustellen: Mein Vater ist eigentlich in Ordnung. Aber manchmal nervt er ein bisschen. Zum Beispiel kurz vor dem Infoabend.
»Quentin? Zieh deine Halbschuhe an! Bitte.«
Ich fragte das nun schon zum elften Mal: »Aber warum?«
Es war 17.40 Uhr. Wir standen im Flur vor der Wohnungstür. In zwanzig Minuten fing der Infoabend an. Würden wir genau jetzt losfahren, kämen wir genau rechtzeitig zur Gesamtschule.
Doch je länger wir hier rumtrödelten, desto stressiger, wenn nicht gar unmöglich würde es natürlich werden, pünktlich dort anzukommen.
Aber das kapierte mein Vater anscheinend nicht, denn er sagte: »Warum? Weil ich das will!«
Und hier die Preisfrage: Wer ist mal wieder schuld, wenn wir nicht pünktlich zu diesem Infoabend kommen? Etwa mein Vater? Falsch. Ich bin schuld. Wieso? Weil Erwachsene es nie zugeben würden, dass sie schuld sind.
Also sagte ich: »Papa, ich hab doch schon extra eine Jeans ohne Löcher angezogen!«
Ist es da zu viel verlangt, wenn ich jetzt wenigstens meine Turnschuhe anziehen wollte? Damit ich nicht wie ein kompletter Spießer aussehe?
Aber auch das verstand er anscheinend nicht, denn er sagte: »Ja, und nun ziehst du bitte auch noch die Halbschuhe an!«
Ich redete jetzt etwas leiser, weil die Wohnzimmertür offen war: »Dir ist doch sonst auch egal, was ich für Schuhe anhab.«
Mein Vater seufzte. Auch er flüsterte jetzt: »Mama hat gesagt, du sollst die Halbschuhe anziehen. Also zieh sie jetzt bitte an!«
»Aber Mama kommt doch gar nicht mit.«
Meine Mutter passte lieber auf meinen Bruder auf. Nicht dass der das nötig gehabt hätte. Es war eher so, dass sie eine Ausrede brauchte, um zu Hause zu bleiben. Meine Mutter hat’s nämlich nicht so mit Schule. Vielleicht hab ich das ja von ihr geerbt. Für Schule ist bei uns jedenfalls mein Vater zuständig. Der ist nämlich als Kind wahnsinnig gerne zur Schule gegangen. Sagt er zumindest immer.
Wenn man dann fragt, warum er keinen richtigen Beruf hat wie andere Väter, ist er total genervt. Dann sagt er: »Ich hab den besten Beruf von allen. Ich kann nämlich zu Hause arbeiten. Und mich gleichzeitig um euch Kinder kümmern. Wär’s euch lieber, wenn ich nur am Wochenende für euch Zeit hätte?«
Nein, wäre es natürlich nicht. Es hat auch Vorteile, dass mein Vater gerne zur Schule gegangen ist. Er kann einem ziemlich gut bei den Hausaufgaben helfen. Manchmal schafft man es sogar, dass er für einen die Hausaufgaben macht. Doch was genau sein Beruf ist? – Keine Ahnung. Ab und zu hängt er vorm Computer ab. Aber eigentlich ist er die ganze Zeit mit Waschen, Putzen, Kochen und Aufräumen beschäftigt.
Während meine Mutter jeden Tag in ihren coolen Toyota-Pick-up steigt und damit in ihre Gärtnerei brettern darf. Ich finde, dafür, dass sie die Schule nur mit Ach und Krach geschafft hat, hat sie heute eindeutig die besseren Karten.
Aber das nur nebenbei. Wir standen ja immer noch vor der Wohnungstür, mein Vater und ich, und diskutierten die Vorteile von Turnschuhen im Vergleich zu Halbschuhen.
Ich sagte: »Erstens – ich kann viel besser rennen mit Turnschuhen!«
»Und zweitens?«, fragte mein Vater.
»Moment. Ich bin immer noch bei erstens. Stell dir vor, ein Kidnapper will mich entführen. Denkst du, in Halbschuhen kann ich vor dem weglaufen? Ich kann’s ja mal versuchen … Aber in Turnschuhen erwischt der mich nie!«
Mein Vater schnaubte wie ein Rennpferd, das nicht aus dem Stall rausdarf. »Erstens gehen wir da zusammen hin. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Kidnapper aufkreuzen, wenn ich dabei bin!«
»Und zweitens?«, fragte ich.
Ich weiß gar nicht, warum mein Vater so genervt war, wir unterhielten uns doch nur. Und wenn er mir erlauben würde, dass ich meine Turnschuhe anziehe, müsste er auch nicht genervt sein. Erwachsene sind schon komisch.
»Zweitens«, sagte mein Vater, »sollte dich tatsächlich irgendjemand entführen wollen – dann würde er dich spätestens nach fünf Minuten wieder freilassen! WEIL ER EINEN NERVENZUSAMMENBRUCH HAT!«
Ich ging noch näher zu ihm hin und flüsterte: »Ich hab ’ne Idee! Ich zieh die Halbschuhe an, sag Tschüs zu Mama und im Fahrradkeller zieh ich dann die Turnschuhe an. Okay?«
»Nein. Das ist nicht okay! Weil du nicht bestimmst, welche Schuhe du anziehst!«
»Aber es sind meine Füße!«
»Aber, aber! Immer aber! ABER ABER ABER!«
»Sind es etwa deine Füße?«, fragte ich.
Mein Vater stöhnte. So läuft das immer: Erst seufzt er. Dann schnaubt er. Dann fängt er an zu stöhnen.
Dabei hatte ich ja nur recht! Das ist doch was Schönes. Ich hatte eben den Durchblick. Warum freuen sich Eltern da nicht? Stattdessen machen sie genau das Gegenteil: Maulen nur rum. Ich find das richtig undankbar! Ich mach so viel für meine Eltern! Seit vier Jahren steh ich jeden Tag auf und geh in die Schule. Gut, nicht jeden Tag – nicht am Wochenende oder in den Ferien –, trotzdem: Mach ich das etwa freiwillig?
Die Gesamtschule gefiel mir übrigens sofort – als mein Vater und ich endlich dort waren. Es war zwar kein schönes Gebäude. Die Schule sah eher so aus, als hätte ein gewaltiger Riese mit seinen Bauklötzen gespielt und sie dann einfach liegen gelassen. Dafür gab es aber einen großen Pausenhof mit vielen Stufen, Büschen und Verstecken. Und innen wirkte die Schule noch größer: mit vier Stockwerken, mehreren Treppenhäusern und verwinkelten Gängen, die in alle Richtungen führten. Ich sah mich hier schon entlangrennen mit den anderen, mittags in der Mensa essen, danach Hausaufgaben machen in der Bibliothek – ich wusste jedenfalls gleich: Wenn schon Schule, dann hier!
Papa und ich waren natürlich spät dran, die Aula war schon randvoll: mit schüchternen Viertklässlern; Eltern von schüchternen Viertklässlern; mit Gesamtschülern, die belegte Brote und Getränke anboten; mit Lehrern, die sich vorstellten, und einem Direktor Brandl, der eine wahnsinnig sympathische Begrüßungsrede hielt. (Wahrscheinlich, weil er damals noch nicht wusste, dass ich hier auch zur Schule gehen wollte.)
Sogar die Schulband spielte an dem Abend ein paar Lieder. Und die Bollywoodgruppe führte einen Tanz vor. Es war eine richtige Willkommensparty. Fast schon zu schön, wie ein Traum.
Aber dann machte es Peng! und der Traum zerplatzte.
Der Infoabend ging gerade zu Ende, die Lichter wurden wieder angemacht, alle strömten aus der Aula ins Freie.
Zuerst dachte ich da: Das kann nicht sein! Stella? Die Stella? Aus meiner Grundschulklasse?!
Aber dann entdeckte Stella auch mich – und fing an zu grinsen.
Es war also keine Einbildung. So eine Bitch! Was machte sie hier? Sie hatte doch einen Schnitt von eins Komma sechs im Übertrittszeugnis! Und hatte schon in der Dritten damit geprahlt, in was für ein tolles Gymnasium sie mal gehen würde.
Während ich im letzten Schuljahr alles dafür getan hatte, nicht aufs Gymnasium zu kommen! So wie es aussah, hatte ich mir da selber ein Bein gestellt.
Es war ein totaler Schock – und ich brauchte einen neuen Plan. Einen Plan, wie ich Stella doch noch loswurde.
Nur fiel mir leider überhaupt nichts ein. Zum Pläneschmieden brauchte ich meine Ruhe. Doch die ganze Fahrradfahrt von der Gesamtschule nach Hause löcherte mich mein Vater mit Sprüchen wie:
»Und, wie hat’s dir gefallen?«
»Ja, war gut.«
»Den Französischlehrer fand ich besonders nett.«
»Echt?«
»Oh ja. Da hab ich richtig Lust bekommen, selber noch mal Französisch zu lernen.«
»Was?!«
»Wär das nicht toll? Dann könnten wir uns gegenseitig Vokabeln abfragen!«
»Ja, das wär … toll«, sagte ich, damit mein Vater endlich Ruhe gab und heute Nacht gut schlafen konnte. Eigentlich war ich mit den Gedanken ganz woanders.
Bei Schlumpfine. Ich stellte mir gerade vor, wie sie von einer Spezialeinheit der Polizei verhaftet und mit viel zu eng angelegten Handschellen in ein Polizeiauto gesteckt wurde. Das sie ins Gefängnis brachte. Wo man hinter ihr dann die Zellentür zusperrte und den Schlüssel ganz weit wegwarf.
»Oh, und Natur und Technik wird auch klasse!«, sagte mein Vater.
»Mhm-m«, murrte ich. Dann waren wir endlich zu Hause. Normalerweise war meine Mutter immer total hinterher, dass wir alle gemeinsam zu Abend aßen. Aber an diesem Abend machte sie am Küchentisch »Steuer«, weswegen überall Zettel, Rechnungen, Ordner und aufgeschlagene Bücher rumlagen.
»Steuer« ist auch so ein Erwachsenending. Was ganz Schreckliches anscheinend. Nicht ganz so schrecklich wie Krieg, Umweltverschmutzung und schwere Krankheit – aber es liegt wohl nur knapp dahinter. Immer wenn meine Mutter Steuer macht, explodiert sie, wenn man sie auch nur anspricht. Deswegen bekam ich jetzt ein Stück Kuchen in die Hand gedrückt und ein Glas Milch und durfte im Kinderzimmer essen – während mein Vater meiner Mutter mit dem Papierkram half, damit ihre Laune nicht noch schlechter wurde.
Meine Eltern waren also beschäftigt, das war gut. Bloß, mein Bruder hörte gerade ein Hörspiel – irgendwas mit Drachen, Schwertern, dampfenden Vulkanen und Kämpfern aus der Unterwelt – und das war nicht so gut. Denn ich brauchte meinen Bruder, damit er mir zuhörte, nicht diesem dämlichen Hörspiel. Aber er machte immer nur »Psssst!«, und schließlich setzte er sogar seine Kopfhörer auf, damit ich ihn nicht weiter störte.
Also machte ich das, was in solchen Situationen immer noch am besten wirkt. Ich ging nicht einfach nur nach draußen, nein, ich kletterte äußerst geheimnisvoll aus dem Fenster. Pläne schmieden konnte ich sowieso am besten auf dem Garagendach.
Als ich oben war, legte ich mich hin und ruckelte so lange, bis kein Kieselstein mehr in meinem Rücken pikste. Dann schaute ich in den Himmel – und wartete auf Vinzent.
Ach ja. Vinzent, so heißt mein Bruder. Er ist nicht ganz zwei Jahre jünger als ich. Ich muss also wahnsinnig süß gewesen sein als Baby, sodass meine Eltern damals schnell noch ein zweites Kind wollten. Süß – oder unglaublich mies drauf, und meine Eltern haben sich gedacht: Mist, für den da brauchen wir schnell einen Spielkameraden, sonst sind wir am Arsch.
Wie auch immer, ich bin ganz froh über meinen Bruder. Er ist jünger, das heißt, wenn wir uns prügeln, gewinne ich meistens. Seit Kurzem isst er keine Schokolade mehr – weswegen mehr für mich übrig bleibt. Und außerdem kann er richtig gut zuhören. Wenn er sich nicht gerade irgendein dämliches Hörspiel anhört!
Gut, Vinzent hat auch eine gewaltige Macke. Damit meine ich nicht mal diesen Tick, den er sich angewöhnt hat: dass er immer die Nase hochzieht, sodass man denkt, man hätte ein Schwein als Haustier. Nein – er ist jetzt so eine Art Umweltschützer geworden. Globalisierungsgegner, um genau zu sein. Ja, ich weiß. Ich hab auch gedacht, ich spinn. Wie kann man mit acht Jahren schon Globalisierungsgegner sein! Ich bin zehn und weiß noch nicht mal, was Globalisierungsgegner sind.
Er wusste das bestimmt auch nicht! Er faselte nur was von Fleisch und dass es nicht gut sei, wenn das von zu weit weg herkommt, und überhaupt, wenn zu viel davon gegessen wird. Deswegen ging er neuerdings auch nicht mehr zu McDonald’s oder zu Burger King oder in einen anderen Fast-Food-Laden. Das war das eigentliche Problem. Denn wer durfte das ausbaden? Ich natürlich.
Ich wäre nämlich sehr gerne noch zu McDonald’s gegangen. Aber mein Vater ging auch nicht mehr zu McDonald’s. Weil er es nämlich toll fand, dass Vinzent jetzt auf sein Gewissen hörte. Und daran wollte sich mein Vater ein Beispiel nehmen. Und ich? Hatte die Arschkarte gezogen.
»Quentin?«
Da war er endlich. »Ich bin hier oben«, sagte ich.
Die Klappe des Mülltonnenhäuschens schepperte, als mein Bruder hinaufkletterte. Dann raschelten die Efeublätter und Vinzents Schuhe scharrten an der Mauer. Schließlich machte es Fump!, und der Kies knirschte und ein Steinchen prallte von meinem Arm ab, als Vinzent auf das Garagendach sprang.
»Hä? Du hast ja Turnschuhe an«, sagte er. »Solltest du nicht deine Halbschuhe anziehen?« Vinzent legte sich neben mich. Man konnte den ersten Stern am Himmel sehen, es war schon fast dunkel.
»Die sind mir beim Anziehen aus Versehen ins Klo gefallen«, sagte ich. »Wir hatten leider keine Zeit mehr, dass ich sie trocken föhne.«
Vinzent grinste. Das konnte ich spüren. Es war, als würde sein Gesicht immer breiter werden, bis es meines berührte und das Grinsen zu mir übersprang.
»Wie war denn der Infoabend?«, fragte er.
Ich seufzte. »Ich sag nur – ungefähr ein Meter vierzig groß, trägt gerne teure Klamotten und mag Pferde.«
»Oh«, sagte Vinzent.
»Ja. Genau!«
»Ich dachte, Stella kommt aufs Gymnasium.«
»Das dachte ich auch.«
»Aber hey – dann geh du doch jetzt aufs Gymnasium!«
»Dafür braucht man bessere Noten, du Trottel. Für bessere Noten muss man lernen. Und das hab ich extra nicht gemacht.«
»Oh.«
»Ja.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Na, ich muss sie irgendwie loswerden.«
»Und wie?«, fragte Vinzent.
Ich seufzte wieder. »Wenn ich das wüsste!«
Vinzent stützte sich auf die Ellbogen und nahm sich eine der Wasserbomben, die wir hier für Notfälle gebunkert hatten. Er drückte leicht mit den Fingern dagegen, um den Wasserdruck zu prüfen, dann schaute er über die Mauerkante auf die Straße, um sich ein Opfer zu suchen.
Aber statt zu werfen, ging er sofort neben mir in Deckung.
»Was ist?«, fragte ich.
»Stella! Sie steht unten vor unserer Haustür!«
Ich glaubte natürlich erst mal, dass Vinz sich einen Spaß erlaubte. Doch normalerweise verriet er sich da immer selber. Ungefähr eine Sekunde nach jedem Verarschungsversuch schlich sich ein etwa zehn Meter großes Grinsen in sein Gesicht. Jetzt allerdings nicht.
»Stella? Wieso das denn?«, fragte ich.
»Weiß ich doch nicht!«, antwortete Vinzent.
Ich richtete mich vorsichtig auf und lugte über die Kante des Garagendachs. Wir waren hier gut vier Meter über der Straße, etwas nach hinten ins Nachbargrundstück versetzt. Gerade deswegen eignete sich das Garagendach besonders gut als Versteck. Es fiel nicht auf, wenn man am Gehsteig daran vorbeispazierte. Und schon gar nicht rechnete man damit, dass dort oben jemand liegen könnte – und das auch noch mit Wasserbomben bewaffnet.
Stella stand tatsächlich unten vor unserer Haustür. Was seltsam war. In unserem Haus gab es vier Stockwerke, in jedem Stock zwei Wohnungen – aber wir waren die einzigen Kinder, die hier lebten.
Im Hinterhaus gab es noch Kinder, aber die waren viel kleiner als wir. Und Stella war noch nie hier gewesen, auch wenn sie in der Nachbarschaft wohnte.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Vinzent.
Ich beugte mich über ihn und griff in die Plastikwanne mit den gefüllten Wasserbomben. Ich nahm mir zwei, schaute Vinzent an, dann deutete ich mit einem Nicken Richtung Hauseingang, der ungefähr acht Meter von uns entfernt war, und sagte: »Ich zuerst. Dann du, dann wieder ich.«
Vinzent nickte. »Und wenn sie abhaut, jeder noch zwei auf den Rücken!« Er legte sich zwei weitere Wasserbomben zurecht.