Die Herausgeber
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen. Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
Bev Vincent ist vor allem für seine Sachbücher zum Werk von Stephen King bekannt. Daneben schrieb er unzählige Kurzgeschichten, die u. a. für den Edgar Award nominiert wurden. Er lebt in Texas.
FLUG
UND
ANGST
HERAUSGEGEBEN VON
STEPHEN KING
UND
BEV VINCENT
Aus dem Englischen
von Kathrin Bielfeldt, Jürgen Bürger,
Gisbert Haefs, Julian Haefs, Marcel Häußler,
Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz,
Gunnar Kwisinski, Friedrich Mader, Alfred Scholz,
Friedrich Sommersberg, Violeta Topalova
und Sven-Eric Wehmeyer
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
FLIGHT OR FRIGHT
bei Cemetery Dance Publications, Baltimore
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Copyright © 2018 by Stephen King und Bev Vincent
Copyrightvermerk der Einzelbeiträge siehe Quellenverzeichnis.
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture / Cavan Images
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-24033-2
V002
Die Anthologie ist all jenen Piloten – wirklichen und erdichteten – gewidmet, die ihre Flugzeuge und ihre Passagiere nach schlimmen Flügen sicher gelandet und nach Hause gebracht haben. Unter anderem:
Wilbur Wright
Chesley Sullenberger
Tammie Jo Shults
Vernon Demerest
Robert Pearson
Eric Gennotte
Tim Lancaster
Min-Yuan Ho
Eric Moody
Peter Burkill
Bryce McCormick
Robert Schornstheimer
Richard Champion de Crespigny
Robert Piché
Brian Engle
Ted Striker
Einleitung – Stephen King
Cargo – E. Michael Lewis
Das Grauen der Höhe – Arthur Conan Doyle
Albtraum auf 20000 Fuß – Richard Matheson
Die Flugmaschine – Ambrose Bierce
Luzifer! – E. C. TUBB
Die fünfte Kategorie – Tom Bissell
Zwei Minuten fünfundvierzig Sekunden – Dan Simmons
Diablitos – Cody Goodfellow
Luftangriff – John Varley
Freigabe erteilt – Joe Hill
Kriegsvögel – David J. Schow
Die Flugmaschine – Ray Bradbury
Zombies im Flugzeug – Bev Vincent
Alt werden sie nicht – Roald Dahl
Mord im Himmel – Peter Tremayne
Ein Fachmann für Turbulenzen – Stephen King
Im Fall – James Dickey
Nachwort: Eine wichtige Durchsage aus dem Cockpit – Bev Vincent
Autoren
Quellenverzeichnis
Stephen King
Gibt es in dieser modernen, technikhörigen Welt Leute, die gern fliegen? Schwer zu glauben, aber die gibt es bestimmt. Piloten fliegen gern, ebenso wie die meisten Kinder (Babys hingegen nicht, die Luftdruckschwankungen bringen sie durcheinander) und allerlei Luftfahrt-Enthusiasten, aber damit hat es sich. Für die Übrigen ist die kommerzielle Luftfahrt so reizvoll und spannend wie eine Kolorektaluntersuchung. Heutige Flughäfen ähneln meist einem überfüllten Zoo, in dem Geduld und ganz normale Höflichkeit bis zur Belastungsgrenze auf die Probe gestellt werden. Flüge sind verspätet, Flüge werden storniert, Gepäckstücke werden wie Sofakissen durch die Gegend geworfen und kommen häufig nicht zusammen mit den Passagieren an, die dringend saubere Hemden oder wenigstens eine einzige Garnitur frische Unterwäsche brauchten.
Wer am frühen Morgen fliegt, ist ganz und gar verratzt. Dann muss man sich um vier Uhr nachts aus dem Bett wälzen, um einen Eincheck- und Boarding-Prozess über sich ergehen zu lassen, der so unübersichtlich und aufreibend ist wie die Prozedur, im Jahre 1954 aus einem kleinen, korrupten südamerikanischen Land auszureisen. Haben Sie einen Lichtbildausweis? Haben Sie daran gedacht, Shampoo und Haarspülung in kleine, durchsichtige Plastikfläschchen abzufüllen? Sind Sie darauf vorbereitet, Ihre Schuhe auszuziehen und Ihre verschiedenen elektronischen Geräte durchleuchten zu lassen? Sind Sie sicher, dass niemand außer Ihnen Ihr Gepäck gepackt hat oder Zugang dazu hatte? Sind Sie bereit, sich in einen Ganzkörperscanner zu stellen und eventuell auch noch die Weichteile abtasten zu lassen? Ja? Gut. Aber dann stellt man womöglich trotzdem fest, dass der Flug überbucht, aus mechanischen oder wetterbedingten Gründen verspätet oder aufgrund eines Computerabsturzes ganz abgesagt worden ist. Wer übrigens Stand-by fliegt, dem helfe der Himmel; da hat man wahrscheinlich mehr Glück, wenn man ein Rubbellos kauft.
Diese Hürden überwindet man, um ein Ding zu besteigen, das in einem Beitrag dieser Anthologie als »heulender Schrein des Todes« bezeichnet wird. Man könnte fragen, ob das nicht doch ein bisschen übertrieben ist oder gar den Fakten zuwiderläuft. Zugegeben! Verkehrsflugzeuge gehen nur selten in Flammen auf (wenngleich wir alle beunruhigende Handyvideos von Düsentriebwerken gesehen haben, die in dreißigtausend Fuß Höhe Flammen spuckten), und man kommt im Luftverkehr nur selten zu Tode (statistisch gesehen ist es wahrscheinlicher, dass das beim Überqueren einer Straße passiert, vor allem dann, wenn man so dämlich ist, dabei aufs Handy zu schauen). Dennoch betritt man im Grunde eine mit Sauerstoff gefüllte Röhre und sitzt auf mehreren Tonnen leicht entzündlichem Düsentreibstoff.
Sobald diese Röhre aus Metall und Kunststoff verschlossen worden ist (wie – schluck! – ein Sarg) und die Startbahn verlässt, ihren schrumpfenden Schatten hinter sich, ist nur eines gewiss, und zwar so eindeutig, dass es keine Statistik braucht: Man wird wieder herunterkommen. Das verlangt die Schwerkraft. Die einzige Frage ist, wo und weshalb und in wie vielen Stücken, idealerweise in einem. Findet die Wiedervereinigung mit Mutter Erde auf mehreren Kilometern Beton statt (hoffentlich am erwünschten Ziel, im Notfall tun es auch einige gepflasterte Kilometer anderswo), ist alles bestens. Falls nicht, sinken die Überlebenschancen erheblich. Auch das ist eine statistische Tatsache, die selbst routinierte Flugreisende in Betracht ziehen müssen, wenn ihre Maschine in dreißigtausend Fuß in eine Clear-Air-Turbulenz gerät.
In solchen Momenten hat man keinerlei Kontrolle. Man kann nichts Konstruktives tun, außer zum wiederholten Mal den Sicherheitsgurt zu überprüfen, während in der Bordküche die Teller und Flaschen klappern, die Türen von Gepäckfächern aufspringen, Babys heulen, das Deo aufgibt und aus den Lautsprechern über einem die Stimme einer Flugbegleiterin ertönt: »Der Kapitän bittet Sie, sitzen zu bleiben.« Während die überfüllte Röhre schaukelt, schwankt, rattert und ächzt, hat man Zeit, über die Zerbrechlichkeit des eigenen Körpers nachzudenken und über jene eine unwiderlegbare Tatsache: Man wird mit Sicherheit herunterkommen.
Nachdem ich euch nun mit allerhand Denkanstößen für eure nächste Reise durch den Himmel versorgt habe, möchte ich eine folgerichtige Frage stellen: Gibt es eine menschliche Aktivität, irgendeine, die besser für eine Anthologie von Horror- und Thrillergeschichten geeignet wäre wie für jene, die ihr gerade in Händen haltet? Ich glaube nicht, meine Damen und Herren. Da ist nämlich alles enthalten: Klaustrophobie, Höhenangst, Willensverlust. Zwar hängt unser Leben immer an einem seidenen Faden, aber das ist nie eindeutiger, als wenn man durch dichte Wolken und starken Regen hindurch auf den LaGuardia Airport zufliegt.
Aus persönlicher Perspektive kann ich euch verraten, dass euer Herausgeber heute ein wesentlich besserer Fluggast ist als früher. Dank meiner schriftstellerischen Karriere bin ich im Lauf der vergangenen vierzig Jahre viel geflogen, und bis etwa 1985 hatte ich dabei gewaltige Angst. Die Theorie des Fliegens hat mir zwar ebenso eingeleuchtet wie die ganzen Sicherheitsstatistiken, aber das half überhaupt nichts. Teilweise lag mein Problem an dem Wunsch (den ich immer noch habe), über jede Situation die Kontrolle zu behalten. Am Lenkrad eines Autos fühle ich mich sicher, weil ich mir vertraue. Wenn jemand von euch am Lenkrad sitzen sollte, habe ich weniger Vertrauen (so leid mir das tut). Und wenn man ein Flugzeug besteigt und sich auf seinen Platz setzt, überlässt man die Kontrolle Leuten, die man nicht kennt und wahrscheinlich nicht einmal zu Gesicht bekommen wird.
Noch schlimmer für mich ist die Tatsache, dass ich meine Fantasie im Lauf der Zeit bis aufs Äußerste geschliffen habe. Solange ich an meinem Schreibtisch sitze und Geschichten ersinne, in denen sehr netten Leuten schreckliche Dinge zustoßen können, ist das prima. Weniger prima ist es, wenn ich in einem Flugzeug eingesperrt bin, das auf die Startbahn einbiegt, zögert und dann mit einer Geschwindigkeit vorwärtsschießt, die man bei jeder Familienkutsche für selbstmörderisch halten würde.
Fantasie ist eine zweischneidige Sache, und in jenen frühen Tagen, wo ich aus beruflichen Gründen viel zu fliegen begann, habe ich mich nur allzu leicht damit geschnitten. Zum Beispiel lag allzu nahe, über die ganzen beweglichen Teile in dem Triebwerk vor meinem Fenster nachzugrübeln. So viele Teile waren das, dass sie beinahe zwangsläufig in Disharmonie geraten mussten. Leicht – ja geradezu unvermeidlich – war es zudem, sich zu fragen, was jede kleine Veränderung im Geräusch dieses Triebwerks bedeuten mochte oder weshalb das Flugzeug sich urplötzlich in eine neue Richtung neigte, wodurch die Oberfläche der Pepsi in dem kleinen Plastikbecher ebenfalls eine bedrohliche Neigung bekam.
Wenn der Pilot nach hinten kam, um ein bisschen mit den Passagieren zu plaudern, überlegte ich, ob der Kopilot wohl wirklich qualifiziert war (so richtig qualifiziert konnte er bestimmt nicht sein, sonst hätte er nicht als Ersatz gedient). Vielleicht war aber auch der Autopilot eingeschaltet, und wenn der plötzlich den Geist aufgab, während der Pilot mit irgendjemand über die Siegchancen der Yankees diskutierte, und die Maschine unvermutet in einen Sturzflug überging? Was würde passieren, wenn sich die Verschlüsse des Gepäckraums öffneten? Wenn das Fahrwerk sich nicht ausfahren ließ? Wenn ein defektes Fenster platzte, das bei der Qualitätskontrolle übersehen worden war, weil der zuständige Bursche von seinem Schätzchen zu Hause träumte? Oder wenn wir von einem Meteor getroffen wurden und schlagartig der Kabinendruck absank?
Mitte der Achtzigerjahre ließen die meisten solcher Ängste nach, und zwar dank einer Nahtoderfahrung, die ich auf einem Flug nach Bangor, Maine, nach dem Start vom Flugplatz in Farmingdale bei New York hatte. Bestimmt gibt es massenhaft Leute – von denen manche gerade vielleicht dieses Buch lesen –, die beim Fliegen selbst einen Riesenschrecken bekommen haben, zum Beispiel weil das Bugfahrwerk zusammengebrochen oder die Maschine von der vereisten Landebahn gerutscht ist, aber damals bin ich dem Tod so nahe gekommen, wie es überhaupt möglich ist, wenn man nachher noch davon erzählen kann.
Es war am späten Nachmittag. Das Wetter war herrlich klar. Ich hatte einen Learjet 35 gechartert, in dem man sich beim Start so vorkam, als hätte man eine Rakete an den Arsch geschnallt. Mit der betreffenden Maschine war ich schon oft geflogen. Ich kannte die Piloten und vertraute ihnen, wofür es gute Gründe gab. Der auf dem linken Sitz hatte seinen ersten Düsenjet in Korea geflogen und dabei viele Kampfeinsätze überlebt. Inzwischen hatte er mehrere zehntausend Flugstunden auf dem Buckel. Daher holte ich meine Lektüre hervor, einen Roman in Taschenbuchform und ein Kreuzworträtselbuch, und erwartete einen störungsfreien Flug, gefolgt von einem freudigen Wiedersehen mit meiner Frau, meinen Kindern und unserem Hund.
Wir hatten eine Höhe von 7000 Fuß erreicht, und ich fragte mich gerade, ob ich meine Familie wohl dazu überreden könnte, abends mit mir ins Kino zu gehen, da verhielt der Learjet sich, als wäre er auf eine Mauer aufgeprallt. In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass wir mit einer anderen Maschine zusammengestoßen waren und dass wir drei Insassen – beide Piloten und ich – sterben würden. Die Tür der kleinen Bordküche sprang auf, und der Inhalt ergoss sich in die Kabine. Die Kissen der freien Sitze flogen in die Luft. Der kleine Jet neigte sich … neigte sich stärker … und drehte sich dann ganz auf den Rücken. Das spürte ich, ohne es zu sehen. Ich hatte die Augen geschlossen. Mein Leben zog nicht blitzartig an mir vorüber. Ich dachte nicht: Aber ich wollte doch noch so viel tun. Da war kein Gefühl, mich zu fügen (oder nicht zu fügen). Da war nur die Gewissheit, dass meine Zeit gekommen war.
Dann fing sich die Maschine wieder. Im Cockpit brüllte der Kopilot: »Steve! Steve! Alles okay da hinten?«
Das bejahte ich. Ich beäugte den auf dem Gang verstreuten Kram, darunter mehrere Sandwiches, ein Salat und ein Stück Käsekuchen mit Erdbeergarnierung. Ich beäugte die gelben Sauerstoffmasken, die von der Decke hingen. Ich fragte – mit bewundernswert ruhiger Stimme –, was passiert sei. Das wussten meine beiden Piloten da noch nicht, wenngleich sie es ahnten und später bestätigten, dass wir um ein Haar mit einer 747 von Delta Airlines zusammengestoßen wären. Wir waren in den Strom der aus ihren Düsen austretenden Luft geraten und umhergeschleudert worden wie ein Papierflieger im Sturm.
In den fünfundzwanzig Jahren, die seither vergangen sind, habe ich Flugreisen wesentlich gelassener hingenommen. Schließlich hatte ich aus erster Hand erlebt, was ein modernes Flugzeug aushalten kann und wie ruhig und tüchtig gute Piloten (also die meisten) sein können, wenn es um die Wurst geht. Einer hat mir erklärt: »Du trainierst und trainierst, damit du dann, wenn aus sechs Stunden totaler Langeweile zwölf Sekunden höchster Gefahr werden, genau weißt, was zu tun ist.«
In den hier enthaltenen Geschichten werdet ihr einem Kobold begegnen, der auf dem Flügel einer 727 hockt, und durchsichtigen Monstern, die hoch über den Wolken leben. Ihr werdet auf Zeitreisen und Geisterflugzeuge stoßen. Vor allem jedoch werdet ihr jene zwölf Sekunden höchste Gefahr erleben, die eintreten, wenn das Schlimmste, was hoch oben in der Luft schieflaufen kann, tatsächlich schiefläuft. Ihr werden auf Klaustrophobie, Feigheit, Entsetzen und Momente der Tapferkeit stoßen. Falls ihr eine Reise mit Delta, American, Southwest oder einer anderen Fluggesellschaft vorhabt, seid ihr gut beraten, wenn ihr ein Buch von John Grisham oder Nora Roberts mitnehmt statt dieses. Aber selbst wenn ihr euch auf sicherem Boden befindet, solltet ihr euch gut anschnallen.
Es wird nämlich turbulent.
Stephen King
2. November 2017