Autoren: Jens Lossau und Jens Schumacher

Korrektorat: Oliver Hoffmann und Jörg Löhnerz

Layout und Satz: Oliver Graute

Umschlagillustration: Steffen Winkler

© Feder&Schwert 2017

E-Book-Ausgabe 2017

ISBN 978-3-86762-272-1

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-271-4

Der Orksammler ist ein Produkt der Feder&Schwert GmbH 2017. Alle Copyrights liegen bei Feder&Schwert GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

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Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

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„Die Liebe bringt es fertig,

unsere Moral auf ähnliche Weise zu manipulieren,

wie das Feuer eine starke Eisenstange verbiegen kann.“

– Albert Sánchez Piñol,

Pandora im Kongo

Prolog

Die Luft über der Ebene roch nach Pferd, Schweiß, verschüttetem Wein und Fäkalien. Klorski liebte das Geruchsgemisch. Während er ohne Eile einen Fuß vor den anderen setzte, sog er den ganz speziellen Duft in langen Zügen durch die Nase ein. Es war ein Duft voller Verheißung, ein Duft, der von Freiheit kündete – der Freiheit auszuziehen, einem Gegner mit dem Schwert den Schädel zu spalten und anschließend in seinem hervorsprudelnden Blut zu baden. Ein Duft, der seinem drögen Orkdasein Sinn verlieh.

Es war der Duft des Heerlagers.

Klorski verharrte, eine Hand auf dem Schwertknauf, und ließ den Blick über die nächtliche Steppe schweifen. Karst, Staub, ein paar verkrüppelte Büsche. Am Horizont die unregelmäßige Kette flacher Hügel, hinter der die Ewige Flamme von Torrlem den Nachthimmel mit einem beigebraunen Schimmer überzog. Sonst nichts.

Schnaubend setzte Klorski seinen Rundgang fort. Patrouillengang am Lagerrand – wer kam bloß auf solchen Blödsinn? Dachte General Ortlov wirklich, sie hätten hier, in der am dünnsten besiedelten Gegend Sdooms, mit Angriffen zu rechnen? Mit Spionen? Attentätern?

Lächerlich.

Klorski spuckte einen Batzen Rotz aus und trat ihn mit der Sohle seiner Sandale in den Staub. Im Weitergehen drehte er den Kopf und musterte, was im Schein des Mondes zu seiner Linken vom Lager zu erkennen war.

Sie mochten nur knapp dreitausend sein, ein Heer, das diese Bezeichnung kaum verdiente. Dennoch: Kein Strauchdieb – vorausgesetzt, es gäbe hier, in der unwirtlichen Ebene von Torr einen – hätte es gewagt, sich der Zeltstadt auch nur auf Pfeilschussweite zu nähern. Zu bedrohlich flackerten die Feuer zwischen den Zelten, zu streitlustig hallten die kehligen Gesänge der betrunkenen Männer, Trolle und Orks über das flache Land. In einem Königreich, das seit mehr als einem Zyklus keinen anständigen Krieg mehr gesehen hatte, war selbst ein mickriges Heer ein mächtiges Heer.

Klorski öffnete seinen Gürtelbeutel und fummelte einen handtellergroßen Fetzen pergamentartigen Materials daraus hervor. Er stellte die Laterne neben sich in den Kies und förderte mit der zweiten Hand einen Tabakbeutel zutage. Das schwarze Kraut, das er herausrieseln ließ, verteilte er gleichmäßig auf dem Fetzen, bevor er das Gebilde mit einer Sorgfalt, die für einen Ork mehr als beachtlich war, zu einer fingerdicken Röhre zusammenrollte. Er steckte sie in den Mund, nahm die Laterne wieder auf und gab sich mit dem darin lodernden, ölgetränkten Docht Feuer.

Dicke Schwaden beißenden Qualms stiegen zum nächtlichen Firmament empor. Klorski hustete kehlig, dann seufzte er lustvoll, während er sich wieder in Bewegung setzte. Es ging nichts über Boror-Kraut, gerollt in die getrocknete Haut einer Nachtglyme oder eines anderen köstlichen kleinen Piepmatzes. Bei Boshûda!

Klorski stammte aus Lyktien, einem kleinen Land, das im Südosten an Sdoom grenzte. Sein Vater hatte den Rang eines Bürdenmuffels bekleidet, das höchste öffentliche Amt seiner Heimat und zugleich das einzige. Seine Mutter war, wie die meisten Orkfrauen, erwerbslos gewesen, hatte sich hie und da durch Gelegenheitsprostitution ein paar Kaunaps verdient. Kurz nach Klorskis Geburt war sie dann Orakel geworden, unter Orks eine gleichermaßen angesehene wie lukrative Profession, die nicht allzu viele Frauen auszuüben in der Lage waren, setzte sie doch den regelmäßigen Konsum großer Mengen von Rauschmitteln voraus, ohne dass man dabei das Bewusstsein verlor.

Mit zwölf hatte sich Klorski, wie es unter Orks Brauch war, zur Armee gemeldet. Im Gegensatz zu Sdoom, diesem öden Land voller Langweiler und Feiglinge, existierte in Lyktien bereits seit Urzeiten ein Berufsheer, das unabhängig von der aktuellen politischen Lage unterhalten wurde. Dieses Heer stellte den Hauptgrund für die guten diplomatischen Beziehungen dar, die Lyktien trotz seiner eher bescheidenen Ressourcen und einer desaströsen Wirtschaft zu den meisten umliegenden Reichen pflegte. Letztere borgten sich das stehende Heer mit schöner Regelmäßigkeit aus, um militärische Konflikte auszufechten, und die lyktische Regierung ließ sich diesen Dienst mit ebenso schöner Regelmäßigkeit fürstlich vergüten.

Als drei Monate zuvor die Kunde von Unruhen an der nesnilinischen Grenze in Nophelet, der Hauptstadt Sdooms, eingetroffen war, hatte man daher umgehend Boten mit der Bitte um militärische Unterstützung nach Lyktien entsandt. Es gab Probleme, und zwar direkt vor der eigenen Haustür, an der südwestlichen Landesgrenze: Prinz Wunfrot, Sohn Birkhuns II., der seit gut vierzig Jahren über das benachbarte Nesnilinien herrschte, hatte seinen bettlägerigen Vater in einem Staatsstreich entmachtet. Als Abkömmling eines alten Barbarengeschlechts war der junge Wunfrot nicht nur ungestüm und von tief verwurzelten rassischen Dünkeln beherrscht, sondern auch gänzlich unbeeindruckt von den Hinweisen und Warnungen der königlichen Berater, die er gleich in der ersten Nacht seiner Regentschaft enthaupten ließ.

In der zweiten Nacht erklärte er Ybraltar, einem Nachbarland Nesniliniens, mit dem sein Großvater, Stoffan III., einst unter beträchtlichen wirtschaftlichen Zugeständnissen Frieden geschlossen hatte, den Krieg. Eine weitere Nacht später besann er sich darauf, dass ein breiter Streifen unbesiedelten Waldlandes zwischen Sdoom und Nesnilinien vor beinahe zwei Zyklen einmal zum Land seiner Väter gehört hatte. Sofort ließ er Lislott II., der Herrscherin Sdooms, eine rüde formulierte Depesche zukommen, sie solle die historischen Ansprüche seines Vaterlandes anerkennen und das Gebiet offiziell zurückgeben.

Als Königin Lislott ihm daraufhin in der ihr eigenen Direktheit ausrichten ließ, er möge sich die „historischen Ansprüche seines Vaterlandes dorthin schieben, wo nie die Sonne scheint“, entsandte Prinz Wunfrot eine Horde Barbarenkrieger an die Landesgrenze und besetzte kurzerhand das in Rede stehende Gebiet.

Klorski stieß eine Rauchsäule aus und sah zu, wie sie von der milden nächtlichen Brise zerpflückt wurde. Er schüttelte den Kopf. Soweit er wusste, handelte es sich bei den Invasoren um einen höchst überschaubaren Haufen. Wohl, es mochten Barbaren sein, was bedeutete, dass ihre Kampfkraft rund dreimal so hoch anzusetzen war wie die einer zahlenmäßig vergleichbaren Streitmacht normaler Krieger. Dennoch verstand er nicht, wieso Königin Lislott nicht einfach das gesamte lyktische Heer angefordert hatte und die Störenfriede schon vor Zeniten im wahrsten Sinne des Wortes von der Landkarte gefegt hatte. Stattdessen hatten nur rund eineinhalbtausend Krieger unter der Leitung General Ortlovs den eisigen Pass von Helgarth überquert und waren nach Sdoom marschiert.

Vermutlich steckten wirtschaftliche Gründe dahinter, überlegte Klorski. Aufgrund der häufigen Nachfrage war das lyktische Heer mittlerweile nicht gerade billig, darüber hinaus galt Lislott II. als knauserig, was ungeplante Entnahmen aus dem Staatssäckel anbelangte. Aus diesem Grund hatte sie aus allen Himmelsrichtungen kostengünstige Verstärkungstruppen für den Angriff auf die nesnilinischen Invasoren organisiert, da-runter die xamenischen Verstärkungstruppen, auf die General Ortlov und seine Männer seit nunmehr fast zwei Zeniten hier, im Ödland eineinhalb Meilen südlich von Torrlem, warteten.

Noch relativ pünktlich waren die Soldaten aus Nophelet eingetroffen, knapp fünfhundert Mann, die Lislott von der königlichen Palast- und Stadtwache abgezogen und hergeschickt hatte, an einen Treffpunkt im Nirgendwo, den irgendein sesselfurzender Möchtegerngelehrter mit einem Wurfpfeil auf der Landkarte ermittelt zu haben schien. Einen knappen Zenit später kam eine Verstärkungseinheit aus Rogozhink, einer Provinz tief im Süden. Achthundert Soldaten, unter ihnen viele Xxamparr, grün geschuppte Echsenmenschen, die mit ihren scharfen Augen und geschickten Fingern exzellente Bogenschützen abgaben.

Damit waren sie jetzt knapp dreitausend Mann – genug, um loszuziehen und den nesnilinischen Narren die Knochen in so viele kleine Stückchen zu zerbrechen, dass man damit die gültigen Landesgrenzen auf voller Länge im Waldboden abstecken konnte.

Doch das ging nicht. Sie waren noch nicht komplett.

Boshûda allein wusste, wie es Lislott II. gelungen war, König Quinntur, den Herrscher Xamens, zu einer Beteiligung an einem Konflikt zu bewegen, der für ihn und sein Land weit im Norden gänzlich ohne Bedeutung war. Dennoch hatte er eingewilligt, eine Tausendschaft Oktolinger zu schicken.

Klorski hatte noch nie eines jener krakenartigen Wesen gesehen, die mächtige Militärthaumaturgen einst für kriegerische Auseinandersetzungen gezüchtet hatten. Wie die meisten Soldaten kannte er lediglich Gerüchte: dass die weißhäutigen, krakenartigen Kolosse keiner verständlichen Lautäußerung fähig seien, dass sie niemandem gehorchten als ihrem persönlichen Dompteur. Groß wie Löwenbären sollten sie sein, dabei schnell und hinterhältig wie Harschtippler. Und einen Bullenwolf rissen sie mit ihren acht klauenbewehrten Armen angeblich schneller in Stücke, als man „Verfluchter Mist!“ sagen konnte. Klorski ahnte, dass sich der Kampf an der Seite dieser günstig akquirierten Zusatzkräfte unter Umständen als noch aufreibender erweisen würde als die Zusammenarbeit mit Trollen.

Mit Bestimmtheit sagen konnte er dies freilich nicht, denn die verdammten Biester waren noch immer nicht hier. General Ortlov hatte bereits mehrere seiner gefürchteten Tobsuchtsanfälle hinter sich, denn nicht einmal eine Nachrichtenkrähe war bislang eingegangen, die Hoffnung hätte wecken können, die Einheit aus Xamen könnte sich wenigstens auf eine überschaubare Anzahl von Tagesmärschen genähert haben.

Klorski hob das Bein und ließ einen knatternden Furz entweichen. Er schnupperte mit Kennermiene in die kühle Nachtluft, dann ließ er der sauren Gaswolke einen Schwall Tabakqualm aus einer höher gelegenen Körperöffnung folgen.

Die ganze Operation war laienhaft durchdacht und schlecht ins Werk gesetzt, fand er. Aber das war kein Wunder. In den obersten Etagen der Regierungen saßen viel zu viele verweichlichte Menschen. Seit sie sich auf den Thronen und in den Beratergremien nahezu aller Länder Lorgonias breitmachten wie Ungeziefer, hatte es weder in Lyktien noch in erreichbarer Nähe einen ordentlichen Krieg gegeben. Erbärmlich!

Ein Geräusch zu seiner Rechten ließ Klorski innehalten. Irritiert blieb er stehen und suchte mit den Augen die Landschaft außerhalb des Lagers ab.

Es war eine klare Nacht, der zu drei Vierteln volle Mond sowie der kränkliche Schein der Grabstadt hinter dem Horizont ermöglichten eine gute Sicht.

Zwei Steinwürfe entfernt ragte eine Reihe verdorrter Dornbüsche aus dem Boden, mannshohe Gewächse mit fingerlangen Stacheln, die überall wucherten, sei es auf nacktem Stein oder in versengtem Wüstensand. Ein Stück links davon ragte ein verkrüppelter Baum in die Höhe wie das in Bewegung erstarrte Skelett einer bemitleidenswerten Drachenechse. Darüber hinaus gab es nichts zu sehen außer Geröll, Geröll und noch mehr Geröll.

Wahrscheinlich hatte er den Schrei einer Mantisraude gehört, überlegte Klorski, eines jener flugunfähigen Riesenvögel, die die Xxamparr als Reittiere benutzten. Ihr Korral lag zwar am anderen Ende des Lagers, aber hin und wieder trug der Wind den krächzenden, stets etwas verstört klingenden Ruf eines der Tiere über weite Strecken mit sich.

Klorski zuckte die Achseln und steckte sich die selbstgerollte Zigarre wieder zwischen die Lippen. Während er weiter der vorgegebenen Route folgte, kam ihm erneut die Sinnlosigkeit seines Tuns zu Bewusstsein.

Was gab es an einem Heerlager zu bewachen, bei Boshûda? Fürchtete Ortlov wahrhaftig Spione aus Nesnilinien, die sich einschleichen und ihre Truppenstärke auskundschaften könnten? Lachhaft! Die nesnilinische Grenze war über zweihundert Meilen entfernt, und der Intellekt der Barbaren reichte mit viel Mühe aus, einen Streithammer so zu schwingen, dass er nicht ihren eigenen Schädel traf. Sollten die Wachtposten, die Abend für Abend neu ausgelost wurden und in weitläufigen Abständen an den Grenzen der Zeltstadt entlangmarschierten, vielleicht verhindern, dass jemand das Lager verließ?

Nein, auch das war unsinnig. Das Heer bestand aus Freiwilligen, gut bezahlten Berufssoldaten, und der bevorstehende Kampf – so es je dazu kommen sollte – konnte kaum als sonderlich risikoreich bezeichnet werden. Auch gab es in weitem Umkreis keinerlei Vergnügungsmöglichkeiten. Die einzige Stadt, die sich in weniger als einem Tagesritt erreichen ließ, war Torrlem. An kaum einem anderen Ort in ganz Sdoom würde sich die Vergnügungssucht eines Soldaten weniger befriedigen lassen als in der Grabstadt.

Erneut riss ein Geräusch Klorski aus seinen Gedanken.

Er blieb stehen.

Diesmal war es ganz gewiss nicht der Ruf einer Mantisraude gewesen. Es hatte geklungen, als verlagere etwas Schweres kaum merklich sein Gewicht auf dem losen Geröll, welches die Zeltsiedlung nach allen Richtungen umgab. Und die Geräuschquelle schien eher nahebei als in weiter Ferne zu liegen.

Klorski klappte die ledernen Ohrenschützer seiner Kappe hoch, um besser lauschen zu können, und starrte konzentriert in die diesige Dunkelheit. War das Geräusch von der Buschreihe gekommen? Vielleicht war ein Tier in den Dornen hängengeblieben, ein Steppenfuchs möglicherweise.

Das Geräusch wiederholte sich nicht, daher ging er langsam weiter.

Vielleicht war das ja der Grund für die Patrouillengänge: Der General wollte vermeiden, dass bei Nacht Tiere ins Lager eindrangen und Unruhe stifteten. Zwar gab es in dieser Einöde kaum eine Kreatur, die größer als ein Beutelbär war, aber selbst so ein mickriges Vieh konnte einem Soldaten den wohlverdienten Schlaf rauben, wenn es im Herzen der Nacht plötzlich von außen an der Zeltbahn zu kratzen begann. Innerhalb von Sekunden konnte ein unübersichtlicher Tumult losbrechen, und jeder noch so grüne Fußsoldat wusste, wie nachhaltig nächtliche Fehlalarme der Truppenmoral schadeten.

Klorski zog seine Waffe, ein unterarmlanges Schwert aus lyktischem Stahl, und ließ versonnen den Daumen über die Schneide gleiten. Die Klinge war rau und schartig, wie er es liebte, verkrustet mit den schwarzen Überresten vom Blut irgendeines Tiers, das er vor Zeiten erschlagen hatte. Wie lange war das jetzt her?

Ein Grinsen breitete sich auf seinem warzenübersäten Gesicht aus, als ihm Erinnerungen an seine Jugend in Lyktien ins Gedächtnis kamen. Daheim, zu Beginn seiner Soldatenlaufbahn, hatte er in einer reinen Ork-Kohorte gedient – nicht so einem bunten, verweichlichten Haufen wie seiner jetzigen Truppe, in der Orks allenfalls ein Viertel der Belegschaft ausmachten und wo sogar Trolle geduldet wurden. Damals hatten er und seine Kumpane gerne am frühen Morgen wilde Krügerschweine in den Hof der Kaserne getrieben. Was für ein Spaß, wenn die Kameraden halbnackt aus ihren Kojen hochgefahren und mit gezückten Säbeln über die quiekenden Biester hergefallen waren! Zum Frühstück hatte es dann Braten gegeben, und zwar nicht zu knapp.

Klorskis Grinsen wurde breiter. Tiere zu töten lag ihm. Es bereitete ihm Freude zuzusehen, wie sie blutend und zuckend dalagen und mit ihrem Lebenssaft die Erde düngten. Natürlich war das nichts im Vergleich zu jenem großartigen Moment im Kampf Mann gegen Mann, wenn der Gegner – ein denkendes Wesen, fähig, den Schmerz ganz bewusst wahrzunehmen – mit verdutzter Miene den Kopf senkte und feststellte, dass seine schönen Gedärme, eben noch ordentlich in der Bauchhöhle verpackt, plötzlich aus einer riesigen Schnittwunde bis auf den Boden herabbaumelten. Bei Boshûda, dafür waren Klingen gemacht!

Klorski knurrte, ein gutturaler Laut tief unten in der Kehle. Er wollte kämpfen! Töten, zerhacken, vernichten!

Das verstohlene Knirschen ertönte ein drittes Mal, ganz in seiner Nähe. Schlagartig stand sein Entschluss fest. Wusste der Himmel, wann die verdammten Achtarmigen aus Xamen endlich eintrafen – selbst wenn es schon morgen wäre, würden noch etliche Tage ins Land ziehen, bis er an der nesnilinischen Grenze endlich jemandem das Lebenslicht ausblasen könnte. Klorski aber verspürte jetzt den Drang, ein Lebewesen bluten zu lassen, und wenn es nur ein dreckiger Steppenfuchs war.

Lautlos trat er seinen Stumpen auf dem Boden aus und schlich mit gezückter Klinge los, in Richtung der Buschgruppe. Er war jetzt völlig sicher, dass sich dort etwas verbarg, irgendein Viehzeug, das in unregelmäßigen Abständen seine Position veränderte. Ein paar Dutzend Schritte noch, dann würde er mehr wissen …

Klorski bemühte sich, beim Gehen möglichst wenige Geräusche zu verursachen. Doch die harten Sohlen seiner Schnürsandalen waren eindeutig nicht zum Anschleichen gemacht. Immer wieder knirschte der Kies verräterisch unter seinem Gewicht, viel lauter als die Geräusche, die das Tier verursacht hatte.

Noch zehn Schritte.

Klorskis Atem beschleunigte sich bei der Vorstellung, wie sein Schwert in das weiche Fleisch eindringen würde, das reißende Geräusch, wenn Fell und Haut und Muskelgewebe auseinanderklafften. Voller Vorfreude musterte er sein Schwert, dessen verdreckte Klinge im Mondlicht nicht den Hauch einer Reflexion hervorrief. Perfekt! Orks wussten, warum sie ihre Waffen niemals reinigten.

Ein anhaltendes Rieseln ertönte. Kurz dachte Klorski, er habe auf dem leicht ansteigenden Grund eine Kieslawine losgetreten. Doch ein rascher Schwenk mit der Laterne zeigte ihm, dass sich der Boden rings um seine Füße nicht bewegte.

Ruckartig hob er den Kopf.

Eine verstohlene Bewegung im linken Ausläufer der Buschreihe, wenig mehr als ein Schatten inmitten von Schatten. Sie endete im selben Augenblick, da auch das Rieseln verebbte.

Kein Zweifel, irgendetwas verbarg sich dort. Und es hatte bemerkt, dass er kam.

Was, wenn es kein Steppenfuchs war?

Umso besser, dachte Klorski und hob die Schwertspitze dicht unter die Nase, um den faulig-rostigen Blutgeruch zu inhalieren, der von dem Metall ausging. Vielleicht hauste in dieser von allen Göttern verlassenen Gegend ja ein Äquivalent zu den wilden Krügerschweinen seiner Heimat, und er konnte das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? Was würde General Ortlov wohl sagen, wenn man ihm morgen zum Frühstück einen fetttriefenden Schweineschinken vorsetzte? Mit herzlichen Grüßen von seinem getreuen Gefolgsmann Klorski?

Das Ding in den Büschen knurrte, leise und irgendwie verschleimt. Es klang, als ob jemand versuchte, zähen Durchfall durch eine zu enge Abortöffnung zu spülen.

Also kein Schwein, kombinierte Klorski. Schade.

Aber was dann?

Wie nahezu alle Angehörigen seiner Rasse war Klorski nicht versiert. Er vermochte einen übermächtigen Gegner nicht einfach einzuschläfern oder fortzuhexen, wie es ein schmalbrüstiger Thaumaturg möglicherweise gekonnt hätte. Doch das störte ihn nicht. Wie die meisten Orks kannte Klorski die Worte „Angst“ und „Vorsicht“ nur vom Hörensagen, aus den Gesprächen menschlicher Heergenossen am Lagerfeuer. Ganz gleich, was da in den Schatten saß – er würde das Biest lyktischen Stahl schmecken lassen! Und wenn man es verspeisen konnte, würde er es verspeisen.

Noch fünf Schritte bis zu den ersten Ausläufern der Buschgruppe.

Erneut bewegte sich ein Umriss in den Tiefen der Schatten. Er war bedeutend größer, als Klorski angenommen hatte.

Das war nie im Leben ein Steppenfuchs!

Eine Wolke schob sich vor den Mond, Finsternis glitt über die Ebene wie etwas Lebendiges. Obwohl Klorski automatisch den Arm mit der Laterne in die Höhe reckte, verwandelte sich die Buschreihe binnen eines Augenblicks in eine einheitlich schwarze Wand. Der blasse Abglanz der Ewigen Flamme von jenseits des Horizonts reichte nicht aus, ihn Einzelheiten erkennen zu lassen.

Ein rhythmisches Knirschen wie von schweren Füßen auf Geröll übertönte plötzlich Klorskis Schritte, seinen erregt hechelnden Atem.

„Komm nur“, murmelte er durch abgebrochene Zahnstümpfe. „Du wirst es noch bereuen, den alten Klorski erschrecken zu wollen.“ Er umklammerte den Griff seines Schwertes fester und machte einen energischen Schritt vorwärts.

Plötzlich ging alles ganz schnell.

Mit einem Heulen, wie es Klorski in Jahren des Kampfes gegen nahezu jeden erdenklichen Gegner noch nie gehört hatte, schoss etwas Riesenhaftes aus seiner Deckung hinter den Sträuchern hervor. Klorski erahnte eine Bewegung in der Finsternis, ein affenartiges, schlenkerndes Hüpfen, und ein dunkler Schemen verdeckte für Sekundenbruchteile den entfernten Widerschein der Grabstadt. Ein fremdartiger Geruch schoss ihm in die Nase, widerwärtig und stechend selbst nach den Maßstäben eines Orks, nach Verwesung und Tod und etwas sehr, sehr Altem.

Im selben Moment, da Klorski das Schwert hochriss, um dem unbekannten Angreifer einen Hieb dorthin zu verpassen, wo er dessen Gesicht vermutete, trat der Mond hinter den Wolken hervor. Klorski erstarrte in der Bewegung, sein Blick fuhr ungläubig nach oben – höher, noch höher …

Sein winselnder Schrei währte nur Sekundenbruchteile.

Eine stinkende Pranke schloss sich um seinen Schädel und drückte mit vernichtender Gewalt zu. Weiter unten traf etwas mit unvorstellbarer Wucht seine Brust, er hörte Knochen splittern – seine Knochen – und dann nichts mehr.

– 1 –

Jorge der Troll ließ sich tiefer in den bequemen Sessel sinken, schlug die Beine übereinander, kratzte sich das Kinn, die Wange, die Stirn, beugte sich nach vorne, atmete schnaufend aus, holte erneut tief Atem, hielt die Luft an, grunzte durch die Nase.

Er versuchte, es zu unterdrücken, aber jeder, der ihn sah, erkannte es schon aus weiter Entfernung: Jorge war nervös. Mehr noch, er stand kurz vor einer Panikattacke. Sein Blick glitt zu einem der ovalen Fenster des länglichen Raums. Draußen sah er Wolken und blauen Himmel. Irgendwo weit unten: Sdoom, mit seinen Flüssen und Feldern, Dörfern und Städten, mit seinen Menschen und köstlichen Tieren.

Der mit stählernen Querverstrebungen verstärkte Dielenboden unter seinen Füßen fühlte sich plötzlich schwammig an, aufgeweicht, wie mit glitschigen Algen bewachsen. Schweiß rann von seiner rasierten Stirn. In seinem Magen schien sich ein massiger Giftpilz aufzublähen.

Um sich abzulenken, lenkte er seinen Blick vom Fenster fort, zu der alten Frau hinüber, die neben ihm saß. Sie hatte seit dem Abflug selig vor sich hin geschnarcht, jetzt jedoch starrte sie Jorge mit großen Augen an.

Sie war mindestens siebzig, ihr Gesicht bestand aus einem verzweigten Gitternetz tiefer Furchen und Falten. Ihre Augen verschwanden in Wülsten rosigen Fleisches. Sie trug ein schwarzes Kleid, als wäre sie auf dem Weg zu einer Beerdigung. Was für eine Ironie, fand Jorge, wenn man bedachte, was das Ziel seiner Reise war.

Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?“ Die Stimme der Greisin klang erstaunlich hell, viel zu jung für ihren welken Körper.

Jorge schluckte einen Schwall Speichel, der sich in seinem Mund angesammelt hatte. Sein Herz prügelte wie verrückt gegen seinen Brustkorb. Verdammt, er musste sich zusammenreißen! Er war schließlich nicht irgendwer. Er war Jorge der Erwischer, bei Batardos! Einer der ranghöchsten Beamten des IAIT. Na ja, fast zumindest …

„Es gibt da ein altes Trollsprichwort, und es geht so.“ Jorge fühlte sich saumäßig. „Es geht so, junge Frau: Fliegen, nein danke!“

Die Greisin lachte, ein glockenhelles Geräusch in der weitläufigen Passagierkabine. Es klang nicht herablassend. „Ja, da kann ich Sie gut verstehen, Herr …?“

„Jorge, stieß Jorge hervor. „Name sein Jorge. Jorge sein Troll. Es war keine Absicht, Jorge wollte nicht ironisch klingen, aber seine Flugangst absorbierte jegliche Grammatikkenntnisse, die er möglicherweise einst besessen hatte.

„Sie sind ein Troll?“, fragte die Frau. „Sie sehen gar nicht aus wie einer.“

„Ich rasieren.“ Jorge schloss die Augen, schluckte erneut. Die riesige Flugmaschine um ihn herum legte sich in die Kurve, sodass er tief in seinen Sitz gepresst wurde. „Ich wollte sagen, ich rasiere mich anständig und regelmäßig. Und du? Ich meine natürlich: Du rasierst dich nicht, es gibt ein altes Trollsprichwort, und das geht so: Alte Damen rasieren sich nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Oder so ähnlich.“

Jorge konzentrierte sich auf seinen Atem. Tief ein- und ausatmen, regelmäßig. Er hatte das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn sein nächstes Atemschöpfen nicht tief genug ausfiel. Was, bei Batardos, hatte er sich bloß dabei gedacht, in diesen Wahnsinn einzuwilligen?

Als ihn am Vormittag der Wortwurf Geheimrat Karlibans erreicht hatte, des Obersten Lenkers der staatlichen Ermittlungsbehörde, für die Jorge arbeitete, hatte die Idee mit der Flugreise noch ganz reizvoll geklungen. Rückblickend konnte das nur daran gelegen haben, dass ihm die Wüstensonne von Orshlach in den vorangegangenen drei Tagen restlos das Hirn weggebrutzelt hatte. Aber was sollte er machen? Den letzten Urlaub, an den er sich erinnern konnte, musste er irgendwann vor seiner Geburt genommen haben, und ein altes Trollsprichwort empfahl: Wenn du schon mal in einer maßlos dekadenten Pension wie dem Nalpanters Stolz mitten in der Wüste von Rogozhink einquartiert wirst, in Räumlichkeiten, geräumiger und komfortabler als alles, was du in deinem Leben bewohnen durftest oder je wieder bewohnen wirst, dann genieß es gefälligst!

Und Jorge hatte es genossen. Gemeinsam mit einer kleinen Schar gut betuchter Gäste hatte er die Zeit seit seiner Ankunft damit zugebracht, sich von halbnackten Schönheiten massieren, von servilen Echsenmännern exotische Alkoholika servieren und seinen Leib mit der delikaten Kost füllen zu lassen, die es in der Oase rund um die Uhr gab. Ein nicht gerade billiger Spaß, aber er hatte es sich verdient, bei Batardos! Der Fall um den „Elbenschlächter“, wie die Presse den wahnsinnigen Serienmörder getauft hatte, welchen er gemeinsam mit seinem Vorgesetzten kaum zwei Zenite zuvor zur Strecke gebracht hatte, steckte ihm noch in den Knochen. Da war ein wenig Erholung mehr als angebracht.

Unglücklicherweise war der Wortwurf des Mauls, wie Geheimrat Karliban aufgrund einer fragwürdigen Episode in seiner Vita von seinen Untergebenen genannt wurde, von unmissverständlicher Dringlichkeit gewesen. Jorge hatte sich gerade im Dampfbad des Nalpanters Stolz befunden, wo vier knackige junge Mädchen verschiedene Stellen seines Leibes gleichzeitig mit tiefgreifenden Zärtlichkeiten bedachten, als die kehlige Stimme des Geheimrats wie aus dem Nichts mitten im Raum erschallt war. Da das Institut Jorges Erholungsurlaub finanzierte, wusste man dort aufgrund der eintrudelnden Spesenrechnungen nur allzu genau, wo er sich gegenwärtig aufhielt, und konnte ihn mit einem gezielten Wortwurf kontaktieren.

Das Maul hatte sich hinsichtlich der Details zu dem „drängenden Fall“, für den es Jorge abzukommandieren gedachte, eher bedeckt gehalten. Das deutete entweder darauf hin, dass Karliban selbst noch nicht über viele Informationen verfügte oder dass er sämtliche relevanten Fakten wenige Minuten vorher erst für Meister Hippolit hatte herunterleiern müssen, an dessen Seite Jorge den Fall einmal mehr bearbeiten sollte.

So hatte der Wortwurf bereits nach wenigen Sätzen wieder geendet – mit der Information, dass man für ihn einen Platz in einem Cymwoog reserviert habe, der noch am selben Tag von Orshlach aus abflöge. In seiner Verwirrung hatte Jorge die Abschiedsfloskel des Mauls, dass er doch gewiss gern flöge, bejaht, was in zweierlei Hinsicht dumm gewesen war: Erstens funktionierten Wortwürfe nur einseitig, das Maul konnte ihn folglich gar nicht hören. Zweitens hatte sich Jorge noch nie Gedanken darüber gemacht, ob er gern flog oder nicht.

Mittlerweile war ihm klar, dass dies nicht der Fall war. Cymwoogs waren seit einiger Zeit der letzte Schrei in Sdoom, die bislang spektakulärste Kombination mechanischer und thaumaturgischer Technologie. Jorge war noch nie mit einem geflogen, er schätzte bereits ihre rein mechanisch betriebenen Verwandten auf dem Boden nicht sonderlich. Im Gegensatz zu Vulwoogs, bei denen er lediglich dem auf Dampfdruck basierenden Antriebsprinzip skeptisch gegenüberstand, kam bei den neumodischen Flugmaschinen noch ein Haufen thaumaturgischer Technik hinzu, die er ebenfalls nicht verstand – schließlich war er ein Troll und somit zwangsläufig nicht versiert. Er konnte selbst nicht sagen, welchem Aspekt er weniger über den Weg traute: dem mechanischen oder dem thaumaturgischen.

In seinen Augen bestand ein Cymwoog lediglich aus einer geschlossenen Holzkapsel, die an einem gewaltigen eiförmigen Ballon befestigt war. Der Ballon war mit einem leichten Edelgas gefüllt, sodass er die Kabine mitsamt den bemitleidenswerten Passagieren im Innern trotz ihres immensen Gewichts hoch durch die Luft zu tragen vermochte. Bei der Steuerung kam dann Thaumaturgie ins Spiel. Winde, die von einer Gruppe hochstufiger Thaumaturgen in der Steuerkanzel beeinflusst und verstärkt wurden, trieben das Gefährt mit ungeheurer Geschwindigkeit voran, schneller als der flinkste Vogel.

Das Innere der Passagierkabine war durchaus luxuriös ausgestattet und erinnerte an den vornehmen Salon eines Spielkasinos. Im hinteren Teil, jenseits der Sitzreihen, gab es eine Bar, die zum Konsum alkoholhaltiger Getränke einlud. Man konnte sich in Sesseln aus feinstem rotem Leder niederlassen und Schach oder Karten spielen. Männer in teurer Seide saßen an runden Tischen, Pfeifen oder Zigarren im Mund. Sie tranken Branntwein und Uisky und unterhielten sich leise, wahrscheinlich über Geld. Jorge roch es sofort, selbst von Weitem: Diese Kerle stanken vor Goldkaunaps.

Er wandte sich wieder an die schwarz gekleidete Dame. „Sag mal, wie kommt es, dass du so seelenruhig in diesem fliegenden Monstrum sitzen kannst? Hast du keine Angst, du könntest einfach runterfallen, bei Batardos?“

Die Frau lehnte sich zurück. Abermals erfüllte ihr glockenhelles Lachen die Kabine. „Nein, davor habe ich keine Angst, junger Mann. Denn das passiert so gut wie nie. Aber Sie wirken etwas blass um die Nase! Da Sie offenkundig ein Troll sind – ich darf noch einmal anmerken, dass man das kaum sieht –, überrascht es mich nicht, dass Sie Probleme mit dem Fliegen haben.“ Die Frau legte ihre ohnehin faltige Stirn in noch tiefere Runzeln. „Wieso reisen Sie überhaupt mit einem Cymwoog, wenn Sie mir die Frage gestatten?“

„Hab’s eilig!“ Jorge war schwindelig. Er überlegte, ob er sich auf den Abort zurückziehen sollte, da er es plötzlich für denkbar hielt, sich in naher Zukunft kräftig übergeben zu müssen. Er hatte beim Einsteigen eine schmale Tür mit entsprechender Beschriftung gesehen, und instinktiv fragte er sich, wie in so einem fliegenden Salon wohl die Entsorgung der Exkremente funktionierte. Gab es ein Loch im Kabinenboden, durch das die Bescherung einfach in die Tiefe fiel? Als er einen Augenblick darüber nachsann, kam er zu dem Entschluss, dass er es gar nicht wissen wollte.

Die Greisin musterte Jorge, als habe sie seine Gedanken gelesen. „Ich sehe da einen gewissen Ring“, sagte sie und deutete auf Jorges behaarte Rechte. „Das ist doch ein Siegelring vom IAIT, oder? Sie sind ein Ermittlungsbeamter aus Nophelet.“

Jorge nickte. Er hatte keine Lust mehr, sich mit der Alten zu unterhalten, auch wenn sie sich ihm gegenüber durchaus respektvoll verhielt. „Institut für angewandte investigative Thaumaturgie“, ächzte er. „Ich muss dringend nach … egal, ich muss eben dringend irgendwohin, da hat der Chef mir einen Flug in diesem Ding hier verordnet. Es gibt ein altes Trollsprichwort, und das geht so: Eine fliegende Holzkapsel … also, das kann man sich ja nicht einmal im Traum vorstellen!“

„Es gibt ein wirkungsvolles Mittel gegen Flugangst“, behauptete die Alte und schaute seelenruhig an ihm vorbei aus dem ovalen Kabinenfenster. „Sie müssen zuerst die Luft anhalten, dann bis vierundneunzig zählen und …“

Jorge erhob sich auf weiche Beine, wobei er mit dem Kopf gegen die gewölbte Decke stieß. Cymwoogs waren, wie so vieles in diesem Land, einfach nicht für stattliche Trolle gebaut.

„Wir Trolle haben auch unsere Tricks!“ Er versuchte, auf dem mit rotem Samt ausgelegten Boden festen Halt zu finden. „Quasi ein Sprichwort, und es geht so: Ich werde mir jetzt das Hirn mit Alkohol zuschütten, bevor ich weiter darüber nachdenken kann, wo ich mich gerade befinde.“

Die Bar am Ende des fliegenden Saals war aus getöntem Quarzglas gefertigt. Alles daran war durchsichtig, wie aus schmutzigem Eis modelliert und mit Rauch eingefärbt, einschließlich der davor befindlichen Hocker. Bestimmt künstlerisch überaus wertvoll, dachte Jorge gelangweilt und ließ sich auf einem der Sitze nieder, wobei er hoffte, das Möbel möge unter seinem Gewicht nicht wie Zucker zerbröseln.

Hinter der Theke stand ein blasshäutiger Kerl mit einem dünnen Oberlippenbart und bis über die Schultern herabreichendem blondem Haar. Jorge fühlte sich unwillkürlich an seinen letzten Fall erinnert, in dessen Verlauf er viel mit Burschen wie diesem zu tun gehabt hatte. „Nanu?“, sagte er. „Ein Elb? Hier, im Himmel? Was für eine Überraschung.“

Der Elb starrte ihn ausdruckslos an. „Haben Sie vielleicht ein Problem damit?“ Er hatte eine helle Stimme, wie ein Eunuch.

Jorge schüttelte den Kopf. „Überhaupt kein Problem, Kleiner. Wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Wenn du dich in zehntausend Fuß Höhe befindest, hast du andere Probleme als einen Elb, der hinter einer durchsichtigen Bar herumlungert. Ich mache dir einen Vorschlag: Du reichst mir jetzt sofort einen riesenhaften Humpen Bier. Ich werde ihn mit meiner schönen Trollhand – hier, siehst du den Siegelring an meiner schönen Trollhand, wie du erkennen kannst, bin ich vom IAIT, dem Institut für angewandte investigative Thaumaturgie –, also, ich werde den Krug mit meiner schönen Trollhand ergreifen und seinen Inhalt mittels ruckartiger Neigung des Behältnisses in meinen Trollmund schicken, auf eine Reise ohne Wiederkehr, auf dass mein Gehirn benebelt bleibe bis zum Ende dieser fürchterlichen Schweberei und vergesse, dass es gefangen ist in einer zerbrechlichen Holzkabine, gemeinsam mit meinen zerbrechlichen Trollknochen, die eine beunruhigende Tendenz aufweisen zu zerbröseln, sollten sie ungehindert aus zehntausend Fuß Höhe auf guter sdoomischer Erde aufschlagen, verstehst du? Mach also schnell. Ganz schnell!“ Jorge wusste, dass er zur Geschwätzigkeit neigte, wenn er sich unsicher fühlte, aber das war ihm im Moment egal.

Der Elb starrte ihn einen Moment lang an, dann besann er sich auf seine Pflicht als Barmann und zapfte ein Bier aus einem System von Röhren, das kreuz und quer durch den durchsichtigen Glasblock verlief.

„Danke, mein blonder Freund“, sagte Jorge, als das Bier köstlich und schäumend vor ihm stand. Er goss es sich komplett in den Mund. „Und gleich noch eines. Nachschub nicht unterbrechen!“

Während der Elb ein weiteres Bier zurechtmachte, begann er mit seiner Eunuchenstimme zu sprechen: „Sie sind vom IAIT? Ein Ermittler also. Aber Sie fliegen wohl nicht gerne, was?“

„Bei Batardos, da hast du jetzt aber was gesagt, Kleiner.“ Jorge ergriff das zweite Bier, leerte es in einem Zug. „Ich fliege in der Tat nicht gerne. Aber ich muss. Es ist etwas passiert, draußen, in der Ebene von Torr. Und der beste Mann des IAIT muss hin, um die Sache zu klären. Ein Geheimauftrag, wenn du verstehst, was ich meine?“

Der Elb nickte, zapfte. „Das bedeutet, dass Sie nicht über die Angelegenheit sprechen dürfen?“

„So sieht’s mal aus.“ Jorge begutachtete das dritte Bier mit dem prüfenden Blick des Kenners, bevor er einen geziert kleinen Schluck abtrank. „Das erste war gut und das zweite auch. Aber dieses hier ist köstlich!“ Er schluckte den Humpen ex. „In der Ebene von Torr lagert ein Heer aus Lyktien“, sagte er und rülpste donnernd. „Angeblich sind dort während des letzten Zenits rund ein Dutzend Orkkrieger verschwunden. Ist selbstverständlich streng geheim.“

„Was Sie nicht sagen.“ Der Elb nickte, zapfte.

„Aber hallo! Man hat sie mit aufgerissenen Brustkörben wiedergefunden.“ Jorge hob die Hand vor den Mund und flüsterte verschwörerisch: „Jemand hatte ihnen die Herzen rausgerissen und sich damit aus dem Staub gemacht. Verstehst du? Mit ihren Herzen, Mann!“ Er riss dem Elb das nächste Bier aus der Hand und fügte etwas lauter hinzu: „Und weil es der Moral einer Truppe nicht guttut, wenn die Soldaten jeden Morgen einen weiteren ihrer Kumpels zerfleddert vor den Toren des Lagers finden, hat das Maul mich und den guten, alten M. H. aus dem Urlaub gescheucht, um dort mal nach dem Rechten zu sehen. Ohne jedes Aufsehen, inkognito, unter dem Siegel der Verschwiegenheit sozusagen.“

Mittlerweile hatten mehrere Fluggäste an Tischen ganz in der Nähe von ihren Beschäftigungen aufgesehen und verfolgten mit unverhohlenem Interesse, was Jorge dem Barmann unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute.

„Jetzt weißt du, weshalb ich es so eilig habe, dass ich eins von diesen verfluchten Flugeiern besteigen musste“, fuhr Jorge fort und wischte sich Bierschaum von der Oberlippe. „Die Jungs vom IAIT müssen mal wieder die Kastanien aus dem Feuer holen, so sieht’s aus. M. H. ist auch schon auf dem Weg, angeblich aber nicht auf dem Luftweg, der schlaue Hund.“ Er trank, warf einen kurzen Blick zu einem der Fenster hinüber, sah rasch wieder weg. Er hatte noch längst nicht genug getrunken. „Na ja, wie auch immer. Aus diesem Grund wird der Pilot jedenfalls bei Torrlem eine Zwischenlandung einlegen und mich raushüpfen lassen. Noch ein Bier! Zapf schneller!“

Der Elb erstarrte in der Bewegung. „Wir landen in der Grabstadt?“

Elben waren von Natur aus blass, aber dieser Kerl sah aus, als wäre plötzlich sämtliches Blut aus seinem dürren Körper gewichen.

„Schätze, ja“, sagte Jorge. „Unter uns, Elb: Ich bin auch nicht gerade scharf darauf, dort auszusteigen, aber was soll ich machen? Es ist mein verdammter Beruf. Weißt du, was ein Beruf ist? Klar, du hast ja selbst einen. Du schenkst in einer fliegenden Holzkapsel alkoholische Getränke aus. Eine gute, erfüllende Verpflichtung. Noch vier Bier, bitte.“

Jorge konnte sehen, wie der Elb schluckte, sein Adamsapfel hob sich, verweilte, sank zurück.

„Sie … Sie sind … auf dem Weg in die Stadt des Todes?“, brachte er hervor.

Jorge nickte. „So ist es. Jetzt zapf schon, Junge, zapf das Bier! Wie heißt du eigentlich?“

Der Elb starrte ihn weiter an, dann schüttelte er den Kopf, als erwachte er aus einem schlechten Traum. „Conetto“, sagte er. „Ich, äh, ich heiße Conetto.“

„Conetto“, murmelte Jorge. „Ein Scheißname, wenn du mich fragst. Egal. Sag, Conetto, was hat dich hierher, in den Himmel verschlagen? Verzeih, wenn ich frage, aber die meisten Elben, die ich bisher kennengelernt habe, arbeiteten in Gefilden, die deutlich tiefer lagen … ganz tief unten, wenn du verstehst, was ich meine?“

Jorge fand, dass er es gewitzt umschifft hatte, Conetto direkt zu fragen, weshalb er nicht auf den Strich ging. In Foggats Pfuhl, dem Viertel der dunklen Freuden von Nophelet, wo er sich zuletzt aus beruflichen Gründen des Öfteren aufgehalten hatte, verkaufte quasi jeder männliche Elb seinen Körper für ein paar Kaunaps. Erst als er Conettos verständnislos gehobene Brauen sah, dämmerte Jorge, dass Elbenjünglinge in anderen Gegenden selbstredend auch jeder anderen Beschäftigung nachgehen konnten.

Der Elb fixierte Jorge mit graufleckigen Augen, in denen winzige tote Fische zu treiben schienen, mit dem Bauch nach oben. Plötzlich lächelte er, sein Gesicht verzog sich zu einem so breiten Grinsen, dass sein Unterkiefer Gefahr lief, sich auszuklinken und am Hals abwärtszurutschen.

„Entschuldigen Sie“, sagte er. „Ich war mit den Gedanken kurz woanders. Tut mir leid. Aber wissen Sie, ich habe noch nie einen toten Troll gesehen.“

Jorge kratzte sich am Kinn, fegte ein unsichtbares Staubkörnchen von seiner schwarzen Lederkluft, fuhr sich durch das strähnige, lange Haar und rülpste apokalyptisch. „So, so, Conetto. Du hältst mich also für einen toten Troll? Welcher Umstand bringt dich dazu, diese gewagte und durchaus fragwürdige Aussage in meiner Gegenwart zu tätigen? Bist du lebensmüde? Willst du Schmerzen erfahren, von denen du bisher angenommen hast, sie seien Legende?“

Conetto lächelte noch immer. Jorge sah, dass er schlechte Zähne hatte. Sie erinnerten ihn an die schartigen Felsformationen von Blumerth-Borth im Norden Sdooms. Hippolit und er hatten dort vor knapp zwei Jahren das Versteck eines Hehlers ausgehoben, der mit thaumaturgischen Artefakten handelte. In Blumerth-Borth, nicht im Mund des Elbs, bei Batardos!

„Na ja, man sagt, nur die Toten reisen nach Torrlem. Die Tatsache, dass Sie über der Grabstadt abspringen, hat mich …“

„Ah-ah-ah!“ Jorge hob mahnend eine Hand. „Ich habe nicht gesagt, dass ich abspringe. Wir landen, und ich steige aus. Das ist etwas völlig anderes. Ich habe nicht vor abzuspringen. Weißt du, warum? Ich sag dir, warum: Man fällt, wenn man abspringt. Trolle haben keine Flügel. Gut, du hast recht, Bursche, das Fallen ist nicht das eigentliche Problem. Wir haben da ein weiteres Trollsprichwort, und es geht so: Das Problem ist, dass man eine Weile fällt und dann mit einem Schlag aufhört zu fallen.“

„Nun, das klingt …“

„Ich weiß, wie das klingt. Es klingt extrem weise und durchdacht!“ Jorge packte den nächsten Humpen Bier. „Aber um auf deine dämliche Frage zurückzukommen, Conetto: Ich habe nicht vor, die Grabstadt zu betreten. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich zu meiner eigenen Beerdigung fliege, oder? Ich muss hin, weil das dämliche lyktische Heer vor den Toren Torrlems lagert, kapiert?“

Der Elb nickte hastig. „Wegen Ihres Geheimauftrags!“

Jorge rülpste. „Weißt du was, Conetto? Es gibt da ein schönes Trollsprichwort, und es geht so: Du hast es im Kern erfasst! Und nun gib acht: Der Alkohol tut mir gut, er ist Medizin für meinen vom Fliegen gebeutelten Leib. Stoppe den Zufluss nicht und quatsch mich nicht voll, ich muss mich jetzt auf meinen geheimen Auftrag konzentrieren, über den du kein Wort erfahren wirst, weil er so verflucht geheim ist.“

Die nächsten vier Stunden verbrachte Jorge an der durchsichtigen Quarzglastheke im Bauch einer fliegenden Holzkapsel, wo er seine Panikattacken damit bekämpfte, Bier zu trinken und willkürlich ausgewählten Fluggästen von seinem verflucht geheimen Auftrag zu erzählen.