Cover

Über das Buch

Wie entsteht Macht? Wie wird sie begründet und erhalten? Und in welchem Verhältnis stehen Macht und Zeit? Dies sind die großen Fragen, denen sich Christopher Clark hier widmet.

Wer Macht hat, verortet sich in der Zeit. Er begreift sich als Teil der Geschichte und schafft damit das Geschichtsbild seiner Epoche. Vier solcher Geschichtsbilder betrachtet dieses Buch: das des Großen Kurfürsten von Brandenburg, Friedrichs II. von Preußen, Bismarcks und der Nationalsozialisten.

Geschrieben während der Brexit-Ereignisse, Trumps Präsidentschaft und Putins vierter Amtszeit ist dieses Buch nicht nur ein großes Geschichtswerk, sondern lehrt uns auch viel über unsere eigene Epoche und deren Strukturen von Selbstlegitimation, Machtverständnis und Machterhalt.

Über den Autor

Christopher Clark, geboren 1960, lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Er ist Autor einer Biographie Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Für sein Buch Preußen erhielt er 2007 den renommierten Wolfson History Prize sowie 2010 als erster nicht-deutschsprachiger Historiker den Preis des Historischen Kollegs. Sein epochales Buch über den Ersten Weltkrieg, Die Schlafwandler (2013), führte wochenlang die deutsche Sachbuch-Bestseller-Liste an und war ein internationaler Bucherfolg.

Christopher Clark

VON ZEIT UND MACHT

Herrschaft und Geschichtsbild
vom Großen Kurfürsten bis zu den
Nationalsozialisten

Aus dem Englischen von
Norbert Juraschitz

Deutsche Verlags-Anstalt

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Umschlagmotive: © bpk (NS Adler oben),
© AKG (Preußischer Adler unten)
Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-23163-7
V003

www.dva.de

Für Kate und Justin Clark,
Geschwister für alle Jahreszeiten

INHALT

EINLEITUNG

EINS

Die Geschichtsmaschine

ZWEI

Der Historiker-König

DREI

Steuermann im Strom der Zeit

VIER

Die Zeit der Nationalsozialisten

EPILOG

DANK

ANMERKUNGEN

REGISTER

EINLEITUNG

Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit. Dieses Buch zeigt, was geschieht, wenn zeitliches Bewusstsein durch die Linse der Macht betrachtet wird. Es befasst sich mit den Formen der Geschichtlichkeit, welche die Machthaber sich aneigneten und ihrerseits artikulierten. Mit Geschichtlichkeit oder »Historizität« meine ich keineswegs eine Lehre oder Theorie über den Sinn der Geschichtsschreibung, geschweige denn eine bestimmte Schule der historiographischen Praxis. Vielmehr benutze ich den Begriff in der von François Hartog beschriebenen Bedeutung, um eine Reihe von Annahmen zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft untereinander zu bezeichnen. 1 Diese Annahmen können explizit in sprachlicher Form zum Ausdruck kommen, sie können sich aber auch über kulturelle Entscheidungen, öffentliche Rituale oder über die Verwendung von bestimmten Argumenten oder Metaphern und anderen bildlichen Sprachmitteln äußern, die eine »zeitbezogene Wahrnehmungsstruktur« implizieren, ohne sich offen temporaler Kategorien zu bedienen. 2 Sie können implizit in den Argumenten enthalten sein, die vorgebracht werden, um politisches Handeln zu rechtfertigen oder zu kritisieren. 3 Welche Formen sie auch annehmen, die für Kulturen oder Herrschaftsformen charakteristischen Geschichtlichkeiten werden durch »die Konstitution temporaler Modalitäten und die Selektion dessen [bestimmt], was in ihnen relevant ist«. 4 Daraus folgt, dass die Konfiguration dieser Beziehung wiederum ein bestimmtes Zeitgefühl vermittelt, das eine intuitiv erfasste Form oder Beschaffenheit der Zeit, eine »Zeitlandschaft« besitzt. Wie diese aussieht, hängt davon ab, welche Teile der Vergangenheit als nahe und eng mit der Gegenwart verbunden empfunden und welche als fremd und fern wahrgenommen werden. 5

Die vorliegende Studie nimmt vier Momente in den Blick. Sie beginnt mit dem Streit zwischen Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen (1620–1688), dem Großen Kurfürsten, und seinen Landständen nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Dabei wird gefragt, inwiefern diese Zwistigkeiten mit absolut entgegengesetzten Zeitlichkeiten zu tun hatten; ferner wird deren Einfluss auf die im Entstehen begriffene Geschichtsschreibung Brandenburg-Preußens zurückverfolgt. Die Herrschaft des Kurfürsten war, so meine These, davon gekennzeichnet, dass die Gegenwart als prekäre Schwelle zwischen einer durch katastrophale Gewalt verheerten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft empfunden wurde. Ein Hauptanliegen des Souveräns galt dabei der Befreiung des Staates aus der vielfachen Verstrickung mit der Tradition, um frei unter den verschiedenen Optionen für die Zukunft wählen zu können.

Das zweite Kapitel widmet sich den historischen Schriften Friedrichs II., des einzigen preußischen Monarchen, der eine Geschichte seiner eigenen Ländereien schrieb. Demnach nahm dieser König ganz bewusst Abstand von der konfliktbeladenen Sichtweise des Staates, die am Hof seines Urgroßvaters, des Großen Kurfürsten, gepflegt worden war. Und in eben dieser Distanzierung zeigten sich sowohl die veränderte Konstellation der gesellschaftlichen Macht, auf die sich der preußische Thron stützte, als auch das idiosynkratische Verständnis Friedrichs von seinem eigenen Platz in der Geschichte. Anstelle der nach vorne orientierten Geschichtlichkeit des Großen Kurfürsten erkannte Friedrich, so meine These, nach dem Westfälischen Frieden einen Stillstand oder eine Stasis. Damit machte er sich eine neoklassische Zeitlichkeit des Status quo zu eigen, in der Motive der Zeitlosigkeit und der zyklischen Wiederholung vorherrschten und der Staat nicht mehr Motor des historischen Wandels, sondern eine historisch unspezifische Tatsache und logische Notwendigkeit war.

Das dritte Kapitel untersucht die Geschichtlichkeit Bismarcks, wie sie sich in seinen politischen Argumenten, seiner Rhetorik und seinen Methoden äußerte. Für Bismarck war der Staatsmann ein vom Strom der Geschichte getriebener Entscheidungsträger, dessen Aufgabe darin bestand, das Wechselspiel der von der Revolution von 1848 entfesselten Kräfte zu steuern, während er gleichzeitig die privilegierten Strukturen und die Prärogative des monarchischen Staates bewahrte und schützte, weil ohne diese seiner Meinung nach der Gang der Ereignisse im nackten Chaos zu versinken drohte. Demnach war Bismarcks Geschichtlichkeit zerrissen von einem Spannungsverhältnis zwischen seinem Engagement für den zeitlosen Fortbestand des Staates und den Wechselfällen der Politik und des öffentlichen Lebens. Der Zusammenbruch des von Bismarck geschaffenen Systems im Jahr 1918 zog eine Krise im historischen Bewusstsein nach sich, weil damit eine Form der Staatsmacht zerstört wurde, die zum Brennpunkt und Garanten des historischen Denkens und Bewusstseins geworden war.

Zu den Erben dieser Krise zählten, wie im vierten Kapitel ausgeführt wird, die Nationalsozialisten, die einen radikalen Bruch mit der Vorstellung, Geschichte sei eine endlose »Wiederholung des Neuen«, in die Wege leiteten. Hatte Bismarcks Historizität auf der Annahme gegründet, dass Geschichte eine komplex strukturierte, vorwärtsdrängende Abfolge ständig neuer und nicht vorherbestimmter Situationen sei, stützten die Nazis die radikalsten Ansprüche ihres Regimes auf eine tiefe Identität zwischen der Gegenwart, einer fernen Vergangenheit und einer fernen Zukunft. Das Ergebnis war ein Geschichtlichkeitsregime, das es in Preußen bzw. Deutschland noch nie gegeben hatte, das sich aber zugleich deutlich von den damaligen totalitären Experimenten der italienisch-faschistischen und sowjetisch-kommunistischen Systeme unterschied.

Ziel dieser Studie ist es somit, das in François Hartogs Régimes d’historicité verfolgte Unterfangen umzukehren und stattdessen die Geschichtlichkeit von (einer kleinen Auswahl an) Regimen auszuloten. Zu diesem Zweck könnte man die Art und Weise untersuchen, wie offizielle staatliche Strukturen – Ministerien, militärische Oberkommandos, kurfürstliche und königliche Höfe und Bürokratien – die Zeit strukturierten, wie sie sich selbst in der Geschichte verorteten und wie sie sich die Zukunft vorstellten, doch damit würde man der Frage ausweichen, ob sich der Begriff »Staat« überhaupt eignet, um etwas zu bezeichnen, das über den gesamten Zeitraum, den dieses Buch abdeckt, in der gleichen Bedeutung vorhanden war. Ich habe einen anderen Ansatz gewählt. Mich interessiert in erster Linie, wie diejenigen, die Macht ausübten, ihr Auftreten mit Argumenten und Verhaltensmustern rechtfertigten, die eine ganz spezifische temporale Signatur trugen. In welchem Verhältnis diese Träger der Macht zu den formalen Regierungsstrukturen standen, war von Fall zu Fall unterschiedlich. Der Große Kurfürst übte seine Macht aus dem Innern einer Exekutivstruktur aus, die er nach und nach und weitgehend improvisiert während seiner langen Herrschaft um sich herum aufbaute. Die Herrschaft Friedrichs II. hingegen war von einer drastischen Personalisierung der Macht und von der Semi-Distanzierung des Monarchen von vielen Strukturen geprägt, in denen staatliche Autorität formal angesiedelt war. Bismarck verortete sich in dem unruhigen Raum zwischen der preußisch-deutschen, monarchischen Exekutive und den unberechenbaren Kräften, die in einer postrevolutionären öffentlichen Sphäre am Werk waren. Und die Führungsriege der Nationalsozialisten war geradezu die Nemesis des bürokratischen Staatsaufbaus – eine vehemente Verleugnung des Staates als Vehikel und Ziel des historischen Strebens stand im Zentrum der NS-Geschichtlichkeit.

Die zeitliche Wende in der Geschichtswissenschaft

Zeit – oder genauer die Vielfalt zeitlicher Ordnungen – ist keineswegs ein neues Thema in der historischen Forschung. Heutzutage ist allgemein bekannt, dass Zeit keine neutrale, universelle Substanz ist, in deren Leere sich etwas, das »Geschichte« genannt wird, abspielt, sondern ein bedingtes, kulturelles Konstrukt, dessen Form, Struktur und Konsistenz vielfach variierten. Diese Erkenntnis hat im Laufe der vergangenen 15 Jahre ein so lebendiges und vielfältiges Forschungsfeld entstehen lassen, dass man von einer »zeitlichen Wende« (temporal turn) in der Geschichtswissenschaft sprechen kann, einer Verschiebung der Sensibilitäten, die durchaus vergleichbar mit den Wenden der 1980er und 1990er Jahre ist – eine jener Neustrukturierungen der Aufmerksamkeit, durch die sich die Disziplin der Geschichtswissenschaft immer wieder selbst erneuert. 6

Die zeitliche Wende in heutigen historischen Studien kann auf renommierte philosophische und theoretische Vorläufer verweisen. Der französische Philosoph Henri Bergson vertrat schon in seiner Dissertation von 1889 die Auffassung, dass Zeit als Dimension des menschlichen Bewusstseins nicht homogen, sondern »qualitativ vielfältig« sei; Émile Durkheims Elementare Formen des religiösen Lebens (orig. 1912) legte das Fundament einer Soziologie der Zeit als etwas, das kollektiv erfahren und gesellschaftlich konstruiert wird; in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (orig. 1925) wandte Maurice Halbwachs Durkheims Erkenntnisse auf die gesellschaftliche Erzeugung von Erinnerung an; zwei Jahre später stellte Martin Heidegger in Sein und Zeit die These auf, dass sich die »Seinsverfassung des Daseins auf dem Grunde der Zeitlichkeit« nachweisen lasse; und seit dem Zweiten Weltkrieg haben Literaturtheoretiker und insbesondere Narratologen die temporalen Strukturen von Texten eingehend analysiert. 7

Zu den ersten Historikern, die über die Implikationen dieser theoretischen Strömungen für die Geschichtsschreibung nachdachten, zählt Marc Bloch, der ein kurzes Unterkapitel seines Standardwerks aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Apologie pour l’histoire ou Métier d’historien (deutsch Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers) dem Problem der »historischen Zeit« widmete. Im Gegensatz zur »künstlich homogenen« und abstrakten Zeit der Naturwissenschaften sei, so Bloch, »die Zeit der Geschichtswissenschaft« als »konkrete und lebendige Realität, in der Unumkehrbarkeit ihrer Dynamik rekonstruierte Realität […] das Plasma, in dem die Phänomene verschwimmen, der Ort ihrer Verstehbarkeit«. In ihrem Kern herrsche eine unauflösliche Spannung zwischen Kontinuität und »ständiger Veränderung«. 8 Blochs Überlegungen zur Zeitlichkeit der Geschichte blieben fragmentarisch, aber die Arbeiten von Fernand Braudel, Jacques Le Goff und anderen Historikern in der Tradition der Annales-Schule vertieften und erweiterten diese Annahmen und entwickelten ein klares Bewusstsein für die Vielfalt der zeitlichen Dimensionen und Strukturen. Für Braudel wurde das Verhältnis zwischen den kurzfristigen Störungen, den sogenannten »Ereignissen«, und den langfristigen Kontinuitäten, die Epochen definieren, zu einem zentralen Problem für das Handwerk des Historikers. Le Goff erforschte die unterschiedlichen zeitlichen Strukturen beruflicher, liturgischer und devotionaler Praktiken. 9

Wie aus diesen Überlegungen deutlich wird, sind Geschichtlichkeit (Historizität) und Zeitlichkeit (Temporalität) miteinander verknüpfte, aber nicht identische Kategorien. Im vorliegenden Buch bezeichnet letzterer Begriff das intuitive Gespür eines politischen Akteurs für die Struktur der erlebten Zeit. Wenn Geschichtlichkeit auf einer Reihe von Annahmen zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fußt, so erfasst Zeitlichkeit etwas, das weniger reflektiert und spontaner ist: ein Empfinden des Fortgangs der Zeit. Bewegt sich die Zukunft auf die Gegenwart zu oder entfernt sie sich von ihr? Droht die Vergangenheit, auf die Gegenwart Einfluss zu nehmen, oder fällt sie zurück an den Rand des Bewusstseins? Wie ist der zeitliche Rahmen des politischen Handelns strukturiert, und wie verhält sich der gedachte Zeitfluss zur Neigung der Entscheidungsträger, sie als in »Momente« unterteilt wahrzunehmen? Wird die Gegenwart als Bewegung oder Stillstand empfunden? Was gilt als dauerhaft in den Köpfen derjenigen, die Macht ausüben, und was nicht?

Die Modernisierung der Zeit

Wenn die Annales-Schule die Geschichte verzeitlichte, so hat vor allem ein deutscher Historiker, Reinhart Koselleck, die Zeitlichkeit historisiert. In Vergangene Zukunft, einer Sammlung brillanter Aufsätze zur »Semantik geschichtlicher Zeiten«, untersuchte Koselleck die Geschichte des Zeitbewusstseins und schuf damit eine subtile Palette analytischer Werkzeuge. Im Zentrum seines Projekts stand der Übergang von vormodernen zu modernen Formen des Erlebens und der Wahrnehmung von Zeit. Er erörterte die Veränderungen im Zeitbewusstsein seit der Renaissance, insbesondere Prozesse der kulturellen Säkularisierung, die den Einfluss der biblischen Prophezeiung auf christliche Zukunftsvisionen untergruben. Seine zentrale These war jedoch, dass in der Zeitspanne, die er die »Sattelzeit« nannte – ungefähr die Jahre von 1750 bis 1850 –, eine tiefgreifende Veränderung im westeuropäischen Zeitbewusstsein stattgefunden hat. Dieser Wandel setzte sich aus mehreren Strängen zusammen: In dem Maß, wie sich der Fluss der Zeit, der sich in Ereignissen äußerte, zu beschleunigen schien, vergrößerte sich die gefühlte Distanz gegenüber der Vergangenheit; allgemein gültige Prinzipien machten der Kontingenz Platz; die Autorität der Vergangenheit als Hort der Weisheit und Lehre für die Gegenwart schwand; Schlüsselbegriffe wie »Revolution«, »Klasse«, »Fortschritt«, »Staat« wurden durchdrungen vom Momentum des historischen Wandels; Geschichten, Chroniken und Anekdoten über die Vergangenheit verschmolzen zu etwas Prozesshaftem, Singulärem und Allumfassendem, zu einer einzigen Totalität, zur »Geschichte«, die Hegel theoretisch zu erfassen suchte und die in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten heutiger Universitäten gelehrt wird. Die Folge war eine tiefgreifende Veränderung in der empfundenen Struktur und Gestalt der Zeit: Die rekursiven Zeitstrukturen der vormodernen Gesellschaften wichen einem Konstrukt namens Geschichte, das bislang als eine Abfolge transformativer und unumkehrbarer Ereignisse aufgefasst worden war und künftig als »die unablässige Wiederholung des Neuen« verstanden werden sollte. Die Disruption, Gewalt und Diskontinuität des Revolutionszeitalters und der napoleonischen Zeit hatten Dissonanzen zwischen dem »Erfahrungsraum« und dem »Erwartungshorizont« geschaffen, die zum Sinnbild für die Neuzeit werden sollten. 10

In dem einleitenden Aufsatz zu Vergangene Zukunft hinterfragt Koselleck Albrecht Altdorfers Gemälde Alexanderschlacht (Schlacht bei Issus), ein Bild aus dem Jahr 1529, das den Sieg Alexanders des Großen über die Perser in der Schlacht von Issus 333 v. Chr. zeigt. 11 Wie kam es, fragt Koselleck, dass Altdorfer die Griechen als zeitgenössische Deutsche und die Perser als zeitgenössische Türken darstellte? Warum zeigte das Gemälde Scharen von Männern und Pferden über eine deutsche Gebirgslandschaft verstreut, die mit sichtlich europäischen Gebäuden geschmückt war, obwohl das ursprüngliche Aufeinandertreffen in Kleinasien stattgefunden hatte? Wieso ähnelten die Details in diesem Gemälde so stark zeitgenössischen Darstellungen der Belagerung Wiens durch die Osmanen, die im Jahr 1529, als Altdorfer sein Bild malte, noch im Gange war? Die Antwort war, so Koselleck, dass für Altdorfer die Beziehung zwischen der Schlacht von Issus und der osmanischen Belagerung prophetisch und allegorisch zugleich war. Die erste Schlacht hatte das Ende des Persischen Reiches eingeläutet, wie es in dem prophetischen Traum aus dem biblischen Buch Daniel vorhergesagt worden war. Die zweite schien das Ende des Römischen Reiches (d. h. des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation) anzukündigen, das als der nächste Schritt in dem von Daniels Prophezeiung angedeuteten Zeitplan angesehen wurde. Erst dadurch wurde es möglich, die Zeit so wie Altdorfer zu falten und damit Türken aus dem 16. Jahrhundert über antike Perser zu legen.

Um den Gegensatz zum modernen Zeitbewusstsein zu verdeutlichen, führt Koselleck als Zeugen den Dichter, Kritiker und Gelehrten Friedrich Schlegel an, der, wie der Zufall es will, in den 1820er Jahren das Gemälde Alexanderschlacht betrachtete und einen begeisterten Aufsatz darüber schrieb. Schlegel rühmte Altdorfers Gemälde als »das höchste Abenteuer alten Rittertums«. Koselleck konzentriert sich ganz auf diese Beobachtung: Für Schlegel bestand, allem Anschein nach, eine distanzierende Zeitspanne zwischen sich und dem Gemälde. Damit nicht genug, spürte Schlegel, dass das Gemälde einem anderen Zeitalter angehörte, dem Zeitalter des Rittertums, nicht seinem eigenen. Folglich handelte es sich nicht nur um eine Frage der Menge an verstrichener Zeit, sondern es ging um einen Bruch im Gefüge der Zeit, um eine tektonische Verwerfung zwischen dieser Zeit und einer früheren. Zwischen der Zeit Altdorfers und der Zeit Schlegels, so Koselleck, habe sich etwas ereignet, mit dem paradoxen Ergebnis, dass augenscheinlich eine größere Zeitspanne Schlegel von Altdorfer trennte als Altdorfer von den Taten Alexanders. Die Schlacht von Issus stand mit anderen Worten exemplarisch für ein vormodernes, nicht verzeitlichtes Zeitempfinden und damit für den Mangel an historischem Bewusstsein, wie wir sagen würden. Schlegel hingegen stand stellvertretend für ein modernes Zeitbewusstsein, das die Vergangenheit als fern, überholt und ontologisch losgelöst wahrnahm. 12

Der Einfluss von Kosellecks Werk auf die historische Erforschung der Zeitlichkeit kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Er stellte kühne und originelle Fragen und legte ihre Implikationen mit beeindruckendem Scharfsinn, großer Klarheit und profunder Argumentation dar. Sein Rückgriff auf semantische Veränderungen, um damit epochale Mutationen des Bewusstseins aufzuspüren, war grundlegend. Koselleck entlieh analytische Kategorien aus der Philosophie und Literaturtheorie und entwickelte sie zu Instrumenten weiter, um Prozesse des Wandels zu justieren: Der »Erwartungshorizont« stammte aus der Rezeptionstheorie von Gadamer und Jauß; »Zeitlichkeit«, ein Begriff, der sowohl die Eigenschaft der Zeit (ihre unaufhörliche Bewegung, ihre Beschaffenheit) als auch den Daseinszustand in der Zeit bezeichnet, wurde bei Heidegger entliehen; »Verzeitlichung«, also die Historisierung der Vergangenheit und Gegenwart in der Neuzeit, stammte aus Arthur O. Lovejoys Die große Kette der Wesen; das Konzept der Beschleunigung als Kennzeichen der modernen Empfindsamkeit wurde schon mit Nietzsche in Verbindung gebracht. Doch auch wenn Koselleck diese Kategorien nicht erfand, so »besetzte, füllte und popularisierte« er sie und stellte sie als Instrumente für eine schematische Darstellung der Mutation der zeitlichen Ordnungen im Lauf der Zeit zusammen. Sie alle sind in das Repertoire der zeitlichen Wende eingeflossen. 13

Noch größeren Einfluss hatte Kosellecks Beschäftigung mit dem Übergang von vormodernen zu modernen zeitlichen Ordnungen. 14 Die Literatur des temporal turn hat sich in erster Linie mit der Vermessung dieser Schwelle beschäftigt. Es gibt Studien zur Beschleunigung der Reisen im Zeitalter der Eisenbahn; zur wachsenden Bedeutung von Pünktlichkeit und Verspätung; zum Skandal der »verschwendeten« Zeit als Symptom moderner Zeitregime; zur Kommerzialisierung von immer kleineren Zeitspannen in der Ära des Telegrafen; zum Schrumpfen des Raums durch das Einsetzen des Hochgeschwindigkeitsmassenverkehrs; zum Aufkommen der Nostalgie als charakteristischem Leiden der Moderne. 15 In diesen Studien standen die Heraufkunft der Moderne und die dazugehörige Modernisierung des Zeitbewusstseins im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Dennoch bleibt eine Ungewissheit bezüglich des qualitativen Charakters des Übergangs von der »traditionellen« zur »modernen« Zeitlichkeit. Statt einen festen Satz allgemein gebräuchlicher hermeneutischer Kategorien hervorzubringen, hat die jüngste Literatur zu modernen Temporalitäten ein Dickicht heterogener Metaphern geschaffen. Der Übergang von traditioneller zu moderner Zeitlichkeit wird begrifflich unterschiedlich gefasst: als Prozess der Beschleunigung, der Ausdehnung, Verengung, Erneuerung, Kompression, Distanzierung, Spaltung, Zersplitterung, Entleerung, Vernichtung, Intensivierung und Verflüssigung. 16 Und die Kategorie der »Zeitlichkeit« selbst wurde in verschiedenen Bedeutungen verwendet. In manchen Studien bezeichnet der Begriff einen Erfahrungsbereich, eine Tendenz seitens einzelner Personen oder Gemeinschaften, sich an zyklischen Wegmarken wie Jahreszeiten oder liturgischen Feierlichkeiten zu orientieren, die wahrgenommene Beschaffenheit der Zeit in ihrem Verlauf, Schwankungen bei der erlebten Dauer spezifischer Ereignisse, das Verhältnis zwischen Erfahrung und Erwartung, eine Abweichung in den Rhythmen des privaten und öffentlichen Lebens oder Muster des Zeitmanagements, die mit bestimmten Beschäftigungskulturen assoziiert werden. 17 Andere Studien konzentrieren sich auf »chronosophische« Fragen oder philosophische Reflexionen über die Zeit und ihr Verhältnis zur Geschichte oder allgemein zur menschlichen Existenz. 18

Macht und Zeit

Tendenziell dominierten Veränderungsprozesse ohne Akteur die Literatur zur Zeitlichkeit, deren Narrative häufig in den systemischen und prozesshaften Argumenten der Modernisierungstheorie verankert waren. 19 Aber es gibt auch ausgezeichnete Studien zu der Frage, wie Machtregime in die zeitliche Ordnung eingriffen. So wurde beispielsweise die Verwendung eines Kalenders als Instrument politischer Macht untersucht. Der Übergang vom julianischen zum gregorianischen Kalender in Westeuropa, ein Prozess, der drei Jahrhunderte in Anspruch nahm, war stets eng mit Machtkämpfen verknüpft. 20 Im Habsburger Reich setzte die Thronbesteigung des aufgeklärten, jansenistischen Reformers Joseph II. der traditionellen Dominanz des liturgischen Kreises bei Hofe ein Ende, während die drastische Reduzierung der Feiertage Teile der Bevölkerung entfremdete, die an ihrer traditionellen Frömmigkeit und den geselligen Rhythmen des alten katholischen Kirchenjahres hingen. 21 Am 24. Oktober 1793 nahm der von den Jakobinern kontrollierte Nationalkonvent einen neuen »republikanischen Kalender« an, um auf diese Weise einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und den Beginn einer neuen Ära zu markieren. Hätte der Kalender sich langfristig durchgesetzt, dann hätte die Zehn-Tage-Woche (décade) den Lebens- und Arbeitsrhythmus der Franzosen verändert. Gleichzeitig hätte sie dieser Schritt von den Zyklen des christlichen Kirchenjahrs entfremdet und vom Rest des europäischen Kontinents getrennt. 22

Historiker der Kolonialreiche haben ebenfalls den »engen Zusammenhang« zwischen Zeit und imperialer Macht untersucht – vor allem wie er sich in der Einführung standardisierter Regime der Zeitdisziplin für Arbeits- und Produktionsprozesse manifestierte. 23 Dabei wurde vor allem der teilweise erzwungene Übergang von vor- oder nicht-modernen (ursprünglichen) zu modernen (imperialen oder westlichen) Temporalitäten betont, auch wenn etliche Studien darauf hingewiesen haben, dass trotz des Drucks seitens der Kolonialbehörden indigene Temporalitäten weiter Bestand hatten. 24 Vanessa Ogles meisterhafte Studie zur weltweiten Standardisierung der Uhrzeit offenbarte einen »additiven und unbeabsichtigten Prozess«, in dem die unkoordinierten Bemühungen etlicher Akteure mit einer globalen Verwerfung (dem Zweiten Weltkrieg) und den durch eine neue Infrastruktur (militärische und zivile Luftfahrt) bedingten Anforderungen zusammenfielen, was dann die Einführung einheitlicher Zeitzonen zur Folge hatte. 25 Sebastian Conrad hat deutlich gemacht, wie die Ausweitung und Verstärkung imperialer Macht und die semantischen und kulturellen Veränderungen des 19. Jahrhunderts in einem Wechselspiel »weltweite Veränderungen des Zeitregimes« hervorbrachten. 26

Die Disruption von Machtsystemen von unten kann ebenfalls Veränderungen im Zeitempfinden bewirken, wie Studien zum China der späten Qing-Dynastie gezeigt haben. 27 Die Phase gewaltsamer Unruhen, welche die Taiping-, Nian-, Gelao- und Hui-Rebellionen der 1850er bis 1870er Jahre und die darauffolgenden Vorstöße westlicher Mächte umfasste, habe so tiefgreifende Brüche mit der erinnerten Vergangenheit entstehen lassen, so argumentiert Luke S. K. Kwong, dass sie das historische Bewusstsein veränderten, zumindest innerhalb der kulturellen Elite. Im traditionellen China wurde Geschichte als ein Schatz positiver Beispiele bewahrt, die einen Zustand kosmischer Verbundenheit und harmonischer Regelung der menschlichen Angelegenheiten widerspiegelten. Ereignisse in der Gegenwart wurden im Licht von Analogien aus der Vergangenheit interpretiert. Das hieß keineswegs, dass chinesische Gelehrte und Verwaltungsbeamte außerstande gewesen wären, »spezifische Arten eines linearen Fortschritts« zu konstruieren, aber diese waren, so Kwong, in eine zyklische, extrem rekursive und nicht-lineare Zeitstruktur eingebettet.

Der Einfluss dieser traditionellen Zeitlichkeit wurde erst gebrochen, als gewaltige Wellen sozialer Unruhen und politischer Gewalt die Autorität der kaiserlichen Regierung untergruben. Denn sie durchtrennten den Strang der Kontinuität mit der Vergangenheit und stellten damit das Überleben des Landes und damit auch die Autorität einer Geschichte infrage, die in Herrscherdynastien erzählt worden war. Die altbewährte Praxis, in der historischen Überlieferung nach Lehren zu suchen, fiel in den Augen Kosellecks in dem Moment in sich zusammen, als der Topos der Geschichte als Lehrerin des Lebens in Westeuropa verschwunden war. Die Auffassung, die aktuelle Ära der Zerstörung werde wie in der Vergangenheit irgendwann einem Zeitalter der Restauration und Erlösung Platz machen, schien nicht länger glaubwürdig. Angesichts der in ihren Augen radikalen Neuartigkeit der zeitgenössischen Verhältnisse suchten Intellektuelle der späten Qing-Dynastie nach linearen und entwicklungsorientierten, vom Westen und von den Meiji inspirierten Narrativen, um ein Gefühl der Häufung und Beschleunigung der Ereignisse zu erfassen, die »in einem Vorwärtsdrang in Richtung Zukunft an Dynamik gewannen«. 28

Zu den ambitioniertesten modernen Eingriffen in die zeitlichen Ordnungen zählten jene der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Im Januar 1918 gab die Sowjetunion den julianischen Kalender auf, den Peter der Große im Jahr 1699 übernommen hatte, und ersetzte ihn durch den gregorianischen Kalender, der im Westen allgemein gebräuchlich war. Das Land wurde dadurch um 13 Tage nach vorn katapultiert. Der Aufstieg Stalins zu unumstrittener Herrschaft brachte weitere Initiativen mit sich. Im Jahr 1930 rief Stalin eine neue Fünf-Tage-Woche aus. Es sollte weder einen Samstag noch einen Sonntag geben, lediglich eine Abfolge von fünf Tagen, die mit Zahlen und Farben gekennzeichnet waren: gelb, orange, rot, violett und grün. 29 Dieses Projekt wurde zwar irgendwann als undurchführbar aufgegeben, doch die Sowjetunion startete ein revolutionäres Experiment, welches das Verhältnis der Menschen zur Zeit neu ordnen sollte; sie trachtete danach, eine Zeitlichkeit einzuführen, durch die die Avantgarde der Partei die Beschränkungen der konventionellen »bourgeoisen«, linearen Zeit durch die endlose Intensivierung der Arbeit überwand. 30 Aktuelle Studien zum italienischen Faschismus haben sich auf die Bemühungen faschistischer Intellektueller und deren Propaganda konzentriert, eine neue Zeitlichkeit zu etablieren, in deren Zentrum die Partei selbst als eigentliche historische Kraft stand. 31 Und der Historiker Roger Griffin, der sich mit dem Faschismus in transnationaler Perspektive beschäftigt hat, bezeichnete die Machtübernahme der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland als »Zeitrevolution«. 32 Eric Michaud richtete sein Augenmerk bei der Erforschung des »Nazi-Mythos« auf die paradoxe Beziehung zwischen »Bewegung« und »Bewegungslosigkeit« in der Bildsprache der Nationalsozialisten und stellte dies in Bezug zur Logik der christlichen Eschatologie, nach der sich das Subjekt zwischen der Erinnerung an eine frühere Erlösung (in Form der Auferstehung Christi) und der Erwartung einer künftigen, kollektiven Errettung in einem Schwebezustand befindet. 33 Emilio Gentile hat von einer faschistischen »Sakralisierung der Politik« gesprochen, durch welche die Riten und Bräuche der christlichen Tradition an die Ziele des Mussolini-Regimes angepasst wurden, sodass ein inneres »mythisches und symbolisches Universum« entstand, in dem die zeitlose Universalität einer liturgischen Darbietung auf die kollektive Erfahrung der Politik übertragen wurde. 34 Alle drei totalitären Diktaturen, so gaben Charles Maier und Martin Sabrow zu verstehen, standen für weitreichende Eingriffe, nicht nur in die soziale und politische, sondern auch in die temporale Ordnung. 35

Indem man die Zeitlichkeit als Folge oder Begleiterscheinung von Machtveränderungen darstellt, verlagert sich der Fokus von Veränderungsprozessen ohne Akteur hin zur »Chronopolitik«, zur Untersuchung, wie »bestimmte Ansichten über die Zeit und über die Natur des Wandels« in Prozesse der Entscheidungsfindung eingebunden werden. 36 Und das bedeutet wiederum, nach »der Vorstellung von Zeit und Geschichte« zu fragen, die in verschiedenen Ländern und Epochen den Aktionen und Argumenten der souveränen Macht »Sinn und Legitimität« verliehen hat. 37 Es geht, um mit Charles Maier zu sprechen, um die Frage, »wie die Politik mit der Zeit umgeht« und welche Form der Zeit »von der Politik vorausgesetzt« wird. 38

Kein einziges der im Folgenden erörterten Regime trachtete offiziell danach, die kollektive Erfahrung der Zeit nach Art des französischen Nationalkonvents durch die Einführung eines neuen Kalenders neu zu strukturieren. Aber sie alle fingen bestehende Temporalitäten ein und verstärkten sie selektiv, verwoben sie mit den Argumenten und Darstellungen, mit denen sie sich und ihre Handlungen rechtfertigten.

Zu den vielleicht ungewöhnlichen Merkmalen dieses Buches zählt, dass es eine langfristige Betrachtung bietet, indem es der gleichen angestammten territorialen Einheit (Brandenburg-Preußen) über mehrere aufeinanderfolgende politische Inkarnationen folgt. Dieser Ansatz hat nicht zuletzt den Vorteil, dass er es gestattet, die reflexive, selbst-historisierende Dimension des chronopolitischen Wandels zu erfassen. Staaten haben tiefe Gedächtnisse, und ihre Selbstwahrnehmung hat eine kumulative Logik, selbst wenn ein Regime den Ansprüchen oder Praktiken seines Vorläufers feierlich entsagt. Indem wir die Punkte diachron miteinander verbinden, sind wir somit eventuell imstande, die Umrisse einer »Zeit-Geschichte« zu skizzieren, zumindest innerhalb eines recht engen Bereichs menschlichen Handelns. 39 Der Umstand, dass diese Studie ausgerechnet Deutschland (Preußen) in den Blick nimmt, geht in erster Linie auf die pragmatische Entscheidung zurück, mich auf das Gebiet zu konzentrieren, das ich am besten kenne. Aber Deutschland ist zudem ein besonders interessanter Fall für eine Untersuchung zum Verhältnis zwischen Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit und Macht. Die Häufigkeit und Tiefe der politischen Brüche im deutschen Europa in den vergangenen vier Jahrhunderten gestatten es uns, immer wieder den Einfluss politischer Veränderungen auf das zeitliche und historische Bewusstsein zu beobachten. Im Schlussteil kehre ich zu der Frage zurück, ob an dem Entwicklungsverlauf, der aus diesem Ansatz hervorgeht, etwas spezifisch Preußisches oder Deutsches ist.

Ein weiterer Vorteil des langfristigen Ansatzes besteht darin, dass er es uns ermöglicht, die Beziehung zwischen »Modernisierung« und Zeitlichkeit zu untersuchen. Mehrere aktuelle Studien haben behauptet, dass die von Koselleck mit der sogenannten »Sattelzeit« assoziierten Umbrüche in Wirklichkeit schon in früheren Regimen auszumachen sind: etwa an den Höfen der Stadtstaaten im Italien der Renaissance und im frühneuzeitlichen Deutschland oder sogar im Europa und im Nahen Osten des Mittelalters. 40 Indem man die Schwelle zeitlich nach hinten verschiebt, wird die Teleologie des Paradigmas selbstverständlich nicht grundsätzlich infrage gestellt, falls man dabei einfach im Nachhinein die analytischen Kategorien der Modernisierung auf eine frühere Epoche anwendet. Aber es lohnt sich auch zu fragen, ob wir Kosellecks Typologie der Temporalitäten unbedingt in chronologischer Reihenfolge lesen müssen; eine alternative Sichtweise würde ihn als Theoretiker vielfältiger, paralleler Formen von Zeitlichkeit auffassen. 41

Im vorliegenden Buch versuche ich mich intensiv mit den spezifischen zeitlichen Gefügen und Texturen eines jeden Regimes auseinanderzusetzen. Die daraus resultierende Abfolge pendelt stärker hin und her, ist rekursiver und nicht so linear, wie eine streng sequenzielle und auf Modernisierung basierende Theorie es gestatten würde. Das heißt nicht zwangsläufig, dass es überhaupt keine Modernisierung gab; es könnte schlicht die Schieflage und Kontingenz der Beziehungen zwischen den Machthabern und jenen Prozessen widerspiegeln, für die sich Modernisierungstheoretiker in erster Linie interessieren. Der Große Kurfürst richtete sich an einem aktivistischen Geschichtsverständnis aus, das ihn zum Gegenspieler der zeitgenössischen Verteidiger von Privilegien und Tradition machte. Friedrich II. versuchte, den Prozessen des gesellschaftlichen Wandels entgegenzuwirken, die sein Königreich von innen heraus veränderten, und formulierte eine hochgradig ästhetisierte politische Vision, die von Stillstand und Gleichgewicht geprägt war. Otto von Bismarck passte seine Politik an die politischen und gesellschaftlichen Kräfte an, welche die turbulente Bewegung der Geschichte vorantrieben, hielt aber weiterhin an der Vorstellung des monarchischen Staates als konstanter und alles überragender Staatsform fest, die er, wie er glaubte, aus der Ära Friedrichs geerbt hatte. Und das NS-Regime brach mit all diesen Vorläufern, es verwarf allein schon die Vorstellung einer Geschichte, die aus disruptiven Entwicklungen und Zufälligkeiten besteht, und bettete seine politische Vision in eine tausendjährige Zeitlandschaft ein, in der die ferne Zukunft lediglich das erfüllte Versprechen der fernen Vergangenheit war.

In keiner einzigen der vier Epochen verdrängten die hier untersuchten Temporalitäten der Macht andere Formen des Zeitbewusstseins, auch wenn sie sich in manchen Fällen gegen sie richteten. Während der gesamten Zeitspanne, die in diesem Buch behandelt wird, wurde das politische Leben von einer Pluralität nebeneinander existierender zeitlicher Ordnungen strukturiert. 42 Doch die Zeitlichkeit der politischen Macht, wie sie von den einflussreichsten Akteuren ausgeübt wurde, behielt und behält eine besondere Bedeutung. Sie war der Ort, wo die politischen Begründungen der Macht als Ansprüche an die Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft Ausdruck fanden.

Auch die politischen Bewegungen und Organisationen der Gegenwart beteiligen sich an der Chronopolitik; die Berufung auf imaginäre Zeitlandschaften bleibt eines der wichtigsten Instrumente politischer Kommunikation. Das vorliegende Buch wurde unter dem Getöse und Triumph der Brexit-Kampagne in Großbritannien geschrieben, einer Kampagne, die von dem Anspruch getrieben war, »wieder die Kontrolle zu übernehmen«. Der Brexit-Befürworter Boris Johnson war der Hauptpropagandist dieses Schlagworts, ist aber auch der Autor einer Biographie Winston Churchills (deren Untertitel im Original lautet: »Wie ein Mann Geschichte machte«), in der der ikonenhafte Staatsmann eine frappierende Ähnlichkeit mit Johnson selbst zeitigte. Und die Brexit-Kampagne war beseelt von der Beschwörung einer idealisierten Vergangenheit, in der die »Englisch sprechenden Völker« mühelos die Welt beherrscht hatten. Die Häufigkeit solcher Motive in den Argumenten der Brexit-Befürworter belege, so Duncan Bell, »die mesmerisierende Faszination, die das Empire immer noch auf große Teile der herrschenden Klasse in Großbritannien ausübt«. 43

Der Schock des Brexit-Referendums wirkte im Vereinigten Königreich noch nach, als Donald Trump die amerikanische Präsidentschaftswahl gewann. Trump, dessen urheberrechtlich geschützter Wahlkampfslogan »Make America Great Again« lautete, brachte in das mächtigste gewählte Amt auf dieser Welt eine politische Vision mit, die auf einer scharfen Ablehnung sowohl der neoliberalen Zukunft der Globalisierung als auch der wissenschaftlich begründeten Erwartung des Klimawandels beruht, den Trump als Schwindel bezeichnet, den die Chinesen angeblich dem Rest der Menschheit vorgaukeln. 44 Der einflussreichste Ideologe in seinem Stab, Steve Bannon, hat sich, seit er von seinem Posten entlassen wurde, der esoterisch-historischen Theorie verschrieben, die William Strauss und Neil Howe in einem Buch mit dem Titel The Fourth Turning: What Cycles of History Tell Us About America’s Next Rendezvous with Destiny (New York 1997) skizzierten. Die Autoren behaupten darin, die Geschichte der Nationen verlaufe in 80- bis 100-jährigen Zyklen, unterbrochen von gewaltsamen Phasen der »Umwälzung«, die eine Generation lang anhalten könnten. Ob Präsident Trump selbst sich jemals mit diesen Ideen beschäftigt hat, ist nicht bekannt, aber auch er hat zumindest das herkömmliche amerikanische Geschichtsbild infrage gestellt, indem er als erster Präsident der Neuzeit ganz offen die Vorstellung zurückwies, die Vereinigten Staaten würden einen besonderen und paradigmatischen Platz an der Spitze des geschichtlichen Fortschritts einnehmen. Im Gegenteil sei Amerika, so ließ Trump durchblicken, heute ein rückständiges Land mit einer gespaltenen Gesellschaft und einer kaputten Infrastruktur, dessen Aufgabe es sei, auf eine Vergangenheit zurückzugreifen, wo amerikanische Werte noch unverfälscht und die amerikanische Gesellschaft noch intakt gewesen seien. 45 »Wenn wir gewinnen«, sagte Trump 2016 vor Arbeitern in Moon Township, Pennsylvania, »bringen wir den Stahl zurück, wir werden den Stahl zurück nach Pennsylvania bringen, wie es früher war. Wir geben unseren Stahlarbeitern und unseren Bergleuten die Arbeit zurück. Das tun wir. Wir werden unsere einst großen Stahlunternehmen zurückbringen.« 46 Gleichzeitig hat sein fieberhafter Kommunikationsstil eine Kluft zwischen der hyperschnellen Gegenwart von Twitter und den langsamen, abwägenden Prozessen aufgerissen, die das tägliche Brot der traditionellen, auf verfassungsmäßige Normen geeichten Demokratien und Verwaltungen sind.

In Großbritannien, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, Ungarn und anderen Ländern, die eine Wiedergeburt populistischer Strömungen erleben, werden neue Vergangenheiten konstruiert, um alte Zukunftsvorstellungen zu verdrängen. In ihrem Jubel über den Sieg Donald Trumps glaubte Marine Le Pen, die Anführerin des damaligen Front National (der heute Rassemblement National heißt), zu erkennen, dass sich die Bevölkerung in den Vereinigten Staaten »ihre Zukunft zurückholt«; die Franzosen würden es ihnen nachmachen, prophezeite sie. 47 Überlegungen zu der Frage, wie die Träger und Gestalter politischer Macht in einer kleinen Provinz der Vergangenheit ihre Politik verzeitlicht haben, werden kaum dazu beitragen, den zeitgenössischen Reiz solcher Manipulationen zu mindern, aber sie können uns zumindest helfen, sie aufmerksamer zu lesen.

EINS

DIE GESCHICHTSMASCHINE

Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm. Kupferstich von Pieter de Jode nach einem Porträt von Anselmus van Hulle.

© Martin Meyer, Theatri Europaei Achter Theil […] (Frankfurt/Main, 1693), S. 591. Im Besitz des Autors.

Friedrich Wilhelm, der als der Große Kurfürst bekannt ist, ist der erste Brandenburger Herrscher, von dem zahlreiche Porträts erhalten sind. Die meisten wurden vom Dargestellten selbst in Auftrag gegeben. Sie dokumentieren das sich verändernde Äußere eines Mannes, der 48 Jahre lang das Amt des Regenten innehatte – länger als jedes andere Mitglied seiner Dynastie. Abbildungen aus den frühen Jahren seiner Regierungszeit zeigen eine Ehrfurcht gebietende, aufrechte Gestalt mit einem langen, von dunklem, wallendem Haar umrahmten Gesicht; auf späteren Porträts ist der Körper aufgedunsen, das Gesicht geschwollen und die Haarpracht durch künstliche Locken ersetzt worden. Eines haben jedoch alle Porträts gemeinsam, die zu Lebzeiten entstanden sind: kluge, dunkle Augen, die den Betrachter mit scharfem Blick fixieren. 1 Das hier abgedruckte Bild entstammt einem zeitgenössischen Album mit Bildnissen all jener Fürsten und Gesandten, die an den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden 1648 beteiligt waren. 2

Friedrich Wilhelm setzte die Restauration – genaugenommen die Transformation – der zusammengesetzten Brandenburger Monarchie im Nachspiel des Dreißigjährigen Krieges ins Werk. Unter seiner Herrschaft, die von 1640 bis 1688 währte, erwarb Brandenburg eine kleine, aber ansehnliche Armee, eine Landbrücke durch Ostpommern bis an die Ostseeküste, eine bescheidene Ostseeflotte und sogar eine Kolonie an der Westküste Afrikas. Brandenburg stieg zu einer Regionalmacht auf, wurde zu einem begehrten Bündnispartner und hatte bei Friedensregelungen ein gewichtiges Wort mitzureden. 3

Im Jahr 1667 verfasste Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, eine »Väterliche Ermahnung« für seinen Erben. Das Dokument begann nach Art eines traditionellen fürstlichen Testaments mit Ermahnungen, ein frommes und gottesfürchtiges Leben zu führen, weitete sich aber schon bald zu einem politisch-historischen Traktat aus, wie es in der Geschichte der Hohenzollern noch keinen gegeben hatte. Zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart wurden klare Gegensätze aufgezeigt. Das Herzogtum Preußen, erinnerte der Fürst seinen Erben, habe einst in dem »vnertraglichen zustande« der Vasallenpflicht der Krone Polens geschmachtet; erst der Erwerb der Souveränität über das Herzogtum habe diesem beklemmenden Zustand ein Ende bereitet. »… solches kan nicht alles beschriben werden. Das Archiwum vndt die Rechnungen werden etwas [davon] zeugen.« 4 Der künftige Kurfürst wurde eindringlich aufgefordert, eine, wie man heute sagen würde, historische Perspektive auf die Probleme zu entwickeln, die ihn damals plagten. Ein eifriges Studium des Archivmaterials würde nicht nur zeigen, wie wichtig es war, gute Beziehungen zu Frankreich zu pflegen, sondern auch wie diese mit dem Respekt, »welchen Ihr, als ein Churfurst auf das Reich vndt den kayser haben musset«, in der Balance gehalten werden müssten. Ferner war ein starkes Eintreten für die neue Ordnung zu spüren, die durch den Westfälischen Frieden eingeführt worden war, und dafür, wie wichtig es war, sie notfalls gegen jede Macht oder alle Mächte zu verteidigen, die sich anschicken sollten, sie zu stürzen. 5 Kurzum, es handelte sich um ein Dokument, dessen Schreiber sich seines eigenen Platzes in der Geschichte nur allzu bewusst war. Darüber hinaus war es vom Wissen um die Spannung zwischen kultureller und institutioneller Kontinuität und den Kräften des Wandels aufgeladen.

Um eben diese Spannung geht es im Folgenden. Es ist fraglich, ob der Kurfürst jemals eine kohärente Sichtweise der »Geschichte« entwickelte, im Sinne eines philosophischen Standpunkts zu ihrer Bedeutung oder ihrem Wesen. Er war ein Mann, der sich an Fragen der Macht und Sicherheit orientierte, der nicht zu spekulativen Überlegungen oder zur Erörterung von Grundsatzfragen neigte. 6 Und »Geschichte« im heutigen Sinn, ein Abstraktum im Kollektivsingular, das einen allumfassenden, vielschichtigen Transformationsprozess bezeichnet, kannte man damals noch gar nicht. Das Wort hatte noch nicht den Prozess der Erweiterung und »Verzeitlichung« durchgemacht, der es zu einem der prägenden Begriffe der Moderne machen sollte. 7 Doch der Kurfürst und sein Regime besaßen, wie dieses Kapitel ausführt, etwas Intuitiveres, eine höchst eigenständige und dynamische Form der Geschichtlichkeit, die in dem Gespür dafür wurzelte, dass sich der monarchische Staat an einem exponierten Ort an der Schwelle zwischen einer katastrophalen Vergangenheit und einer Zukunft voller Gefahren befand. Um diese These zu untermauern und ihre Implikationen zu erläutern, werden zunächst die Argumente untersucht, die im Konflikt zwischen der kurfürstlichen Regierung und den vom Adel dominierten Ständen vorgetragen wurden. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Geschichtlichkeit 8