Drogen, Sex und Bio-Keks

Der erste Fall des Max Werger

Maximilian Eigletsberger


ISBN: 978-3-99074-166-5
1. Auflage 2021
Copyright © 2021 Verlag federfrei

Coverdesign: © Getthemax.at
Lektorat: N. Paul

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sowohl die im Buch vorkommenden Personen als auch die Handlungen sind frei erfunden.
Namen und Ähnlichkeiten mit Personen oder tatsächlichen Handlungen sind zufällig und nicht gewollt.

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Inhalt

Danke

 

Mein besonderer Dank gilt

Nina, Cöri, Marco und Christian

für die vielen Tipps und Anregungen

und auch für die Zeit,

die ihr dafür aufgewendet habt.

 

Handelnde Personen

 

Max Werger: Unternehmensentwickler

Sophie Samer: Unternehmensleiterin und Nichte des Firmengründers

Christoph Steinmayr: »Stonie« bester Freund und »Schutzheiliger« von Max Werger

»Sepp« Samer senior: Unternehmensgründer

Truderl: seine allzeit besorgte Ehefrau

Anna Grassler: »Zahnlücke«

Josef Samer junior: Sohn von Sepp senior und Truderl

Dr. Georg Samer: Sohn von Sepp Samer junior und
Vater von Sophie

Doktor »Bridge«: Alois »Loisl« Preiss, Gemeindearzt

Leni: Tochter von Dr. Preiss

»Weiße Adler«: Wirtsmann

»Weiße Adlerin«: Wirtsfrau

Major Baumschlager: Polizeichef

Bernhard Haider: Bezirksinspektor, 2nd Sheriff

Ing. Forstinger: Entwicklungschef von Samer &
Söhne

Mario Kronlachner: Vertriebsleiter von Samer & Söhne

Oberst Hrniczek: SOKO-Chef

Fabian Bosmann: SOKO-Agent

Kathi: loyale und unbezahlbare Chefsekretärin von Sepp Samer senior

Christiano Ronaldo: Sophies Perserkater

 

Und last but not least in einer ganz kleinen Rolle: Babykater Lionel Messi.

Prolog

 

Heiliger Bimbam! Warum passiert das immer mir! Natürlich hätte ich wissen müssen, dass ich rein informationstechnologisch gesehen kein Steve Jobs bin, aber gleich so ein Fiasko! Zwei Tasten auf der Tastatur zu viel gedrückt – und schon war es geschehen. Gedrückt ist vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen.

Also um bei der Wahrheit zu bleiben: Ich bin beim Aufsuchen einer bequemeren Sitzposition im Büro meines neuen Klienten versehentlich am Kaffeebecher angestoßen und habe die abzusehenden fatalen Folgen kurz vor dem ultimativen Einschlag auf der besagten Tastatur mit einem kühnen Manöver zu verhindern versucht. Dabei fast die gesamte EDV in Gefahr gebracht. Aber kurz gesagt: Die Tastatur ist heil geblieben. Punkt für mich.

Warum aber auf dem Bildschirm die Datei mit dem Hinweis »Streng vertraulich« aufgetaucht ist, ist mir aus oben erwähnten Gründen nicht klar. Punkt gegen mich.

Natürlich bin ich von Berufs wegen sehr neugierig und das mir dargebotene Material schien nicht ganz sauber zu sein. Nachträglich aber muss ich sagen, es wäre definitiv gescheiter gewesen, die gesamte EDV im Kaffee zu versenken und einem Titanic-Schicksal zu überantworten.

Damals habe ich leider nicht so weitreichend gedacht. Heute bin ich gescheiter.

 

Kapitel 1

Der Anruf

 

Der Anruf eines Kollegen erreichte mich an einem Montagnachmittag. Das mit dem Montag weiß ich deswegen so genau, weil ich mir dachte: »Aha, Montag ist Barnaby-Zeit«. Der englische Chief Inspector stellte mit seinen Fällen seit geraumer Zeit meine Montagabendunterhaltung dar. Nicht dass Sie jetzt denken, ich sei so ein klassischer Couch-Potato! Nein, weit gefehlt. Na ja, so weit auch wieder nicht.

Aber zurück zum Inhalt des Telefonats mit meinem Kollegen. Er erzählte mir von einem Unternehmen, das gerade in der Expansionsphase steckte und daher ein genaues betriebliches Unternehmenskonzept benötigte. Export und Ausbau der Vertriebswege als Schwerpunkt. Klang gut, klang interessant. Klang deshalb gut, weil ich als Unternehmensentwickler Spezialist für solche Projekte war. Klang interessant, weil ich sowieso gerade ein kleines Umsatzloch zu stopfen hatte. Und nachdem besagter Kollege gerade keine Kapazitäten frei hatte, habe er an mich gedacht.

»Weißt eh, wir sind doch Freunde.«

 

Und da hätte es bei mir schon klick machen müssen. Ein Branchenkollege, der Aufträge vermittelt? Sapperlot! Offensichtlicher geht es nicht! Aber wie gesagt: Die Sache mit dem kleinen Budgetloch ...

 

Ein Termin zu einem Kennenlerngespräch mit dem Geschäftsführer des Unternehmens war schnell vereinbart. Man freue sich schon auf den Termin, weil mein Kollege in den allerhöchsten Tönen von mir gesprochen habe. Und da haben wir es schon wieder: Ich bin extrem empfänglich auf mir entgegengebrachtes Lob und Huldigungen. Kein Schutzschild, der mich dabei umgibt. Keine mahnende Stimme, die zur Vorsicht rät. Keine Schleuder, die mich kurzfristig aus dem verbalen Sonnenschein katapultiert.

Also auf ins südlichste Bundesland unseres schönen Landes. Und weil es gerade Mitte Juni und für die Zeit entsprechend heiß war, zu den beruflichen Selbstdarstellungsunterlagen auch Badehose, Sonnenöl und Badetuch eingepackt. Für einen Sprung in einen erfrischenden See. Zur Abkühlung und Erfrischung nach harten Verhandlungen. Damals konnte ich ja auch noch gar nicht wissen, dass mir bei diesem Auftrag sowieso abwechselnd kalt und heiß werden würde. An wohltuende Erfrischungen gar nicht zu denken.

 

Kapitel 2

Das Kennenlernen

 

Gegen Mittag traf ich bei der Samer & Söhne Biomanufaktur GmbH & Co. KG ein. Ein Unternehmen, spezialisiert auf die Produktion biologischer Lebensmittel. Und meine ersten Gedanken, die ich bei der Sicht auf den Fuhrpark der Chefetage hatte, konnten widersprüchlicher zum Unternehmenszweck nicht sein. Statt umweltfreundlicher Vehikel, kraftstrotzende und Benzin verschlingende Statussymbole. Nicht dass ich dagegen Einwände hätte, aber so konträre Zurschaustellung von Einstellung und Unternehmensphilosophie hatte ich selten gesehen.

Der Eindruck verstärkte sich beim Eintritt in das pompöse, fast protzige Empfangsbüro.

Eine platinblonde Schönheit, bei der auf den ersten Blick auch nicht alles biologisch war, raubte mir kurzzeitig meine Souveränität und erst recht die Sinne. Der leichte Zwischenraum bei ihren Vorderzähnen brachte mich vollends aus der Fassung. So viel Klischee hatte ich nicht erwartet. Sie erinnerte mich ein bisschen an Ornella Muti. (Ja, an die Ornella Muti die mit »Azzurro« Celentano im Film »Der gezähmte Widerspenstige« gar unfein umgegangen ist!) Ich bin auch, oder Gott sei Dank, nur ein Mann.

 

Jaja werden Sie jetzt sagen, wohl ein bisschen zu viel Sonne erwischt im Cabriolet. Ein bisschen zu viel Phantasie. Aber nein, es ist genauso, wie ich es sage. Punkt. Da müssen Sie mir jetzt schon vertrauen.

 

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, flötete sie mir einstudiert entgegen.

Ja, wie? Ich hätte da schon eine Idee. Aber jetzt ging es um big Business.

»Also, ja, äh, ich bin Max Werger und habe einen Termin bei Herrn Samer junior.«

»Ah, Herr Werger! Sie werden schon erwartet. Folgen Sie mir bitte.«

Und folgen ist das, was ich sowieso am besten kann. Also folgte ich der engen Jeans und der weißen, weit ausgeschnittenen Bluse und fand mich kurz darauf in einem Büro wieder, das größer war als meine ganze Wohnung. Jetzt fragte ich mich schon, wie all das zum Slogan des Unternehmens »Die Natur ist unsere Familie«, passt. Na ja, ich war ja nicht hier, um moralische Bedenken zu äußern, sondern um diesem Pomp noch weitere Nahrung in Form von erweiterten Märkten und Umsätzen zuzuführen.

Mein Gesprächspartner ließ mich warten. Ein Spiel, das ich schon lange kannte. So wird die Rangordnung definiert. Da der Kunde. Dort der Lieferant. Da der Zahler. Dort der Empfänger.

Dieses Spiel spielte ich besser. Ich unterrichtete diese Strategien sogar. Also, lass mich ruhig warten. Das wird teuer. Eine halbe Stunde später ein erneutes entschuldigendes Lächeln der Empfangszahnlücke mit der Frage, ob ich noch einen Kaffee wünsche. Nein, wollte ich nicht, dachte ich mir und sagte Ja, weil sie mich gar so nett gefragt hatte. Wenn das so weiterginge, würde ich vor lauter Koffeinzufuhr drei Tage im Bett
stehen.

In diese Gedankenspiele platzte unvermittelt der Herr des Hauses. Ist schon ein bisschen alt, der Junior, dachte ich mir, wurde aber sogleich eines Besseren belehrt, da sich mein Gegenüber als Vater und Firmengründer vorstellte.

»Mein Sohn«, meinte der Senior nach einer kurzen, aber dafür sehr herzlichen Begrüßung, »mein Sohn lässt sich entschuldigen, da er seinen Rückflug aus Frankfurt verpasst hat.«

Er, also der Vater, werde mich mit den Einzelheiten des beabsichtigten Projekts vertraut machen, die finanziellen Rahmenbedingungen abhandeln und, wenn möglich, mich gleich den handelnden Personen der Unternehmensleitung und des Marketings vorstellen. Zuvor aber sollten wir uns noch gemeinsam bei einer Tasse Kaffee ein bisschen kennenlernen. Es gehe um die zwischenmenschliche Chemie. Schon witzig, so ein Terminus bei einem Unternehmen der gar so natürlichen Biobranche.

»Sie trinken doch Kaffee?«

»Nein, jetzt nicht«, dachte ich. Und sagte Ja. Denn: Was tut man nicht alles, um die Gesprächsatmosphäre zu lockern? Zahnlücke brachte uns zwei Tassen Kaffee, dieses Mal schon mit kleinen in der Firma hergestellten Dinkelkeksen angereichert.

Senior Samer erzählte mir die Unternehmensgeschichte, verwies auf seinen Status als Pionier der Biobranche und unterstrich diesen Anspruch noch mit dem Hinweis auf einen ausführlichen Artikel in einer bekannten Zeitung, wo er als »Biopapst« gefeiert wurde. Zum Beweis legte er mir den fein säuberlich gerahmten Zeitungsartikel samt großformatigem Bild vor. Ich dachte mir: »Interessant, so ein großes Bild in so einer kleinen Zeitung.« Darauf zu sehen: Herr Samer senior im Gespräch mit der damaligen Landwirtschaftsministerin unserer schönen Republik. Ich hörte ihm gerne zu, weil ich zum einen gar nicht müde und zum anderen von der offenen Art meines Gastgebers gefesselt war. Er erzählte und erzählte.

Plötzlich stand Zahnlücke vor uns und ich schrie ganz unkontrolliert: »Nein!«, was sowohl Herrn Samer als auch die blonde Empfangsdame erschreckt aufblicken ließ. Aber nachdem ich merkte, dass es diesmal nicht um eine weiteres Kaffeeangebot ging, kratzte ich ganz souverän und eloquent die Kurve, indem ich auf das Bild in der Zeitung tippte und sagte:

»Nein! Das ist doch die Frau ... na, wie heißt sie noch?«

Ja, genau! Also, dieses Mal ging es nicht, wie bereits erwähnt, um weitere Verköstigung, sondern um die Anfrage nach wohlverdientem Dienstschluss. Natürlich gab Herr Samer seinen Segen dazu. Kurz bevor jedoch Zahnlücke das Büro verließ, drehte sie sich um und meinte:

»Wenn Sie noch Kaffee möchten, in der Thermoskanne ist noch genügend drinnen.«

Und da war es wieder: das Nein-Denken und das Ja-danke-Sagen.

Kaffeetechnisch bestens ausgestattet und versorgt, verbrachten wir noch zwei weitere Stunden im Gespräch und der Blick auf die Uhr verriet, dass heute keine weiteren Projektdetails mehr besprochen werden konnten. Darum begab ich mich in Begleitung und auf Einladung von Herrn Samer in den nahegelegenen Gasthof »Weißer Adler«. Und war wie so oft erstaunt, wie kreativ Wirtsleute bei der Namensfindung ihrer Gaststätten sein konnten. Über Generationen hinweg.

Herr Samer war im »Weißen Adler« kein Unbekannter, da bereits beim Eintreten in die rustikale Gaststube der Wirt ein Glas zur Hand nahm und Bier einschenkte. Vom Stammtisch dröhnte uns ein geselliges »Habidere, Sepp« entgegen. Also der Sepp – wie sich herausstellte der Herr Samer – und ich nahmen am Stammtisch Platz. Der Sepp stellte mich seinen Freunden und Stammtischkollegen vor. Einer nach dem anderen reichte mir die Hand zum Gruß. Kernige Burschen und nicht mehr ganz nüchtern. Noch heute bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie mir meine Hand brechen oder doch nur schütteln wollten. Was soll’s! Drei Bier später beantwortete ich die Frage nach einer weiteren Halben schon regionskonform mit einem lässigen »Sihalih« und erntete dafür anerkennendes Schulterklopfen, was die Frage »Wollen sie mir die Schulter brechen oder mich doch nur loben?« wieder aktuell werden ließ.

Nach der fünften halben Bier und dem Verzehr eines deftigen »Wildererpfandls« beschloss der Sepp dann den Weg nach Hause anzutreten. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen, neun Uhr. Ich blieb noch an der hauseigenen Bar hängen, da ich sowieso in einem der sechs schmucken und laut Hausprospekt »urigen« Gästezimmer untergebracht war. Das mit urig war so eine Sache. Ein zum Kleiderschrank unfunktionierter Bauernkasten mit religiösen Motiven. Ein knarrendes Doppelbett und eine Dusche, die mit einem Plastikvorhang vor möglichen Wasserspritzern nach außen gesichert war. Bei jeder Berührung im nassen Zustand klebte der Vorhang auf meinen, verzeihen Sie den Ausdruck, Arschbacken fest. Ich mag das gar nicht. Nein, eigentlich hasse ich das sogar! Heiliger Bimbam.

Da saß ich nun ganz allein an der idyllischen Hausbar und hörte aus den überdimensionierten Boxen Schlagermusik, die mich dem Alkohol immer näherbrachte, als ich plötzlich im Augenwinkel ein bekanntes Gesicht sah. Eigentlich war es weniger das Gesicht als der Rest der Erscheinung, die mir so bekannt vorkam. Zahnlücke! Eng umschlungen mit einem leicht illuminierten Verehrer. Als auch sie mich wahrnahm, stieß sie den Galan zur Seite und kam schnurstracks auf mich zu. Da war es wieder, dieses Lächeln.

»Hallo, was machst du denn um diese Zeit noch da?«, fragte sie mich und schwang die hautenge Jeans auf den freien Barhocker neben mir.

Du? War mir etwas entgangen?

»Magst noch was trinken? Einen Biofeigenschnaps? Ist eine Spezialität des Hauses. Aus Kroatien. Kaffee hast heut’ eh schon genug.«

Wieder dieses Lächeln. Und ohne meine Antwort abzuwarten, bestellte sie zwei Doppelte und dazu noch zwei Seidel Bier.

»Ich bin übrigens die Anna«, sagte sie und mit einem funkelnden Blitzen in ihren Augen fügte sie ansatzlos und ganz kampfbereit hinzu: »Und wenn du glaubst, du kannst dich bei uns im Betrieb einimischen und was verändern, Leit außihau’n und so, da warad’s gscheiter, du haust glei wieder ab. Und jetzt ziag ned so an Fotz. Prost!«

Heiliger Bimbam! Was war jetzt das? Während ich noch darüber nachdachte, verschwand Anna mit ihrem Verehrer unter dem Gelächter und dem anerkennenden Jubel der noch spärlich verbliebenen Gäste im Nirgendwo. Und aus den Lautsprecherboxen klang schicksalsschwanger: »Der Puppenspieler von Mexiko war einmal fröhlich ...«

 

Kapitel 3

Die Nichte

 

Ich weiß nicht, ob es am Biofeigen, an den fünf Halben und drei Seideln oder an der verbalen Attacke von Anna lag, aber mir ging es am nächsten Morgen gar nicht gut. Also rein physisch betrachtet. Die Kombination aus Kopfweh und Magenschmerzen ist definitiv kein guter Ratgeber für eine geschäftliche Besprechung.

 

Und jetzt denken Sie nicht einmal daran! Auch ein Kaffee kann in so einer Situation nicht helfen!

 

Pünktlich um neun Uhr traf ich im Verwaltungsgebäude der Samer & Söhne Biomanufaktur ein.

Ich war gespannt, wie Zahnlücke mich empfangen würde. Aber siehe da, nicht Anna, sondern eine Kollegin nahm mich in Empfang.

»Hallo, Herr Werger. Ich bin Sophie Samer. Ich werde jetzt mit Ihnen einen informativen Rundgang durch das Unternehmen machen, damit Sie einen ersten Eindruck bekommen. Um 12 Uhr treffen Sie sich mit Herrn Samer senior und Herrn Samer junior im ›Weißen Adler‹ zum Mittagessen und zur Besprechung. Ich habe dafür das Extrastüberl reserviert. Ist das so in Ordnung für Sie?«

Too much information! Hilfe! Also der Reihe nach: »Sind Sie die Tochter von Herrn Samer?«

»Nein, ich bin die Nichte, also Herr Samer junior und mein Vater sind Brüder. Herr Samer senior ist mein Großvater. Mein Vater ist sozusagen einer der ›Söhne‹ im Firmennamen. Hat aber mit der Firma nichts zu tun. Ist eine lange Geschichte. Darüber werden Sie noch einiges hören. Aber glauben Sie nur die Hälfte!«

Too much information! Jetzt war der Moment, wo ich doch ganz gerne Kaffee gehabt hätte. Und obwohl gerade erst einmal angedacht, wurde mir eine Tasse angeboten.

Ich mochte Sophie jetzt schon. Mit ihren langen gelockten hellbraunen Haaren, dem freundlichen Lächeln, ihren großen, wachen Augen und ihrer offenen Art war sie ein echtes Kon­trastprogramm zu ihrer Kollegin. Und in ihrem dunklen Hosenanzug mit hochgeschlossener Bluse und den flachen Pumps sah sie aus wie eine sprichwörtlich graue Maus.

Meine Betriebsführung startete in der Produktionshalle, wo unzählige Mitarbeiter fleißig damit beschäftigt waren, der steigenden Nachfrage nach den Samer-&-Söhne-Produkten Herr zu werden.

Computergesteuerte Anlagen standen im Gegensatz zur werblichen Kommunikation. »Natur pur, von Computern gesteuert«, ging es mir durch den Kopf. Alles clean. Steril. Musste so sein. Sophie Samer erklärte mir routiniert die einzelnen Produktionsschritte bis hin zur Warenkontrolle und dem Expedit und unter den streng beobachtenden Augenpaaren der Belegschaft wanderten wir weiter und gelangten in die Entwicklungsabteilung.

»Hier werden unsere neuen Produktideen kreiert und im Labor auch die Qualitätskontrollen durchgeführt. Es ist sozusagen das Herzstück des Unternehmens. Der Markt ist stetig auf der Suche nach neuen Produkten. Und wir liefern sie.«

Der Chef der Entwicklungsabteilung wurde mir kurz vorgestellt, wir schüttelten uns die Hände und schon ging es eine Etage weiter. Dass wir diesen Teil des Unternehmens nur mit eigenen Zugangscodes erreichen konnten, war selbstredend.

 

Übrigens: Habe ich schon erwähnt, dass es um mein körperliches Wohlbefinden nicht gerade bestens bestellt war? Und habe ich auch schon erwähnt, dass der stete Temperaturwechsel in den einzelnen Abteilungen von kühl bis tropenheiß variierte? Nein? Was soll’s. Vielleicht interessiert Sie das auch gar nicht. Also weiter im Text.

 

Eine lautstarke Auseinandersetzung im nahen Aufenthaltsraum nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag. Ich konnte zwar aufgrund der mir fremden Sprache, in der dieses verbale Gefecht ausgetragen wurde, nicht verstehen, worum es sich handelte. Dennoch war die Aggression, die diese Auseinandersetzung begleitete, für mich deutlich spürbar. Vom Lärm, der durch einhergehende Handgreiflichkeiten entstanden war, alarmiert, trat ich in den Aufenthaltsraum ein. Zwei überraschte Augenpaare starrten mich entgeistert an. Wie auf Kommando setzten sich die beiden Kontrahenten versöhnlich und einträchtig an einen Tisch und begannen ihre Jause zu verzehren. Nichts mehr von der feindseligen Atmosphäre, die ich noch Sekunden vorher verspürt hatte.

»Hallo, haben verlaufen? Wollen Kaffee?«, fragte mich dann auch noch der eine der beiden, bevor mich Sophie Samer aus dieser etwas peinlichen Lage befreite.

 

Und »Nein« dachte ich mir, »ich will keinen Kaffee«. Und ja, bei diesem Nein blieb’s.

 

Der Rundgang blieb von weiteren Zwischenfällen verschont. Wir klopften an diverse Bürotüren, ich wurde vorgestellt, »Hallo« und weiter. Und wirklich erstaunlich, meine körperliche Verfassung verbesserte sich von Minute zu Minute.

Nachdem wir letztendlich auch die Marketingabteilung ins­piziert hatten und ich noch kurz über den sinnigen Spruch an der Pinnwand, »Anfänger machen Fehler, Könner produzieren Katas­trophen«, nachdachte, mahnte mich meine Führerin zur Eile. In einer halben Stunde sollten wir uns beim »Weißen Adler« einfinden.

Aber vorher musste ich noch eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben. Ich hatte zwar keinen Tau, was denn so vertraulich wäre, aber ich unterschrieb. Und da fiel mir auf, dass viele der Mitarbeiter und -innen (Ja, ja speziell für alle Genderliebhaber und -innen!) Sophie stets ein freundliches Lächeln schenkten, während sie mich ganz ungeniert von oben bis unten durchscannten. Von früher wusste ich, dass ich in meiner Funktion als Unternehmensberater anfangs oft mehr als Totengräber denn als Heilsbringer gesehen wurde, aber so ungeniert hatte man mir das noch nie gezeigt. Ich schenkte diesem Umstand keine weitere Beachtung und ging mit Fräulein Samer, wie Sophie respektvoll genannt wurde, zum Parkplatz, um die Fahrt zum mittägigen Meeting anzutreten.

Plötzlich hörte ich über den Vorplatz aus einem Lautsprecher:

»Herr Werger, bitte ins Büro kommen!«

Die Stimme klang leicht verzerrt, dennoch konnte ich ganz deutlich hören, dass es sich um Annas Stimme handelte. Also machte ich kehrt, nicht ohne vorher die mahnenden Worte von Sophie Samer zu vernehmen, die zur Eile drängte.

»Bin gleich wieder zurück«, versprach ich und war schon auf dem Weg ins Büro.

Dort empfing mich Anna.

»Ich habe vom Zwischenfall im Aufenthaltsraum gehört und ich bitte Sie, bei der Besprechung nichts davon zu erwähnen. Und auch nichts über unsere Begegnung von gestern Abend.«

»Heiliger Bimbam«, dachte ich mir, jetzt sind wir wieder per Sie. Und der Biofeigen meldete sich auch wieder in meiner Erinnerung und störte mein langsam zurückgewonnenes Wohlbefinden.

»Alles klar«, machte ich noch auf lässig und war schon auf dem Weg zum Parkplatz. Dort angekommen, wurde ich Ohrenzeuge eines längeren Telefonats von Fräulein Samer. Ich nutzte die Zeit, um auf meinem Smartphone die E-Mails zu checken, und stieß auf eine aktuelle Info im Net: Österreichisches Unternehmen als Drahtzieher eines internationalen Bio-Fälscher-Syndikats? Aufmerksam las ich den Bericht. Ohne dabei konkrete Namen und Daten in Erfahrung zu bringen. So ein Zufall. Ich erzählte Sophie Samer von dem Artikel. Sie hatte davon bereits Kenntnis. Also noch nicht sehr lange. Genauer gesagt, erst seit dem eben geführten Telefonat. Und an ihrer vornehmen Blässe im Gesicht abzulesen, war sie jetzt auch nicht weit von einem kreislaufmäßigen Totalausfall entfernt.

 

Kapitel 4

Der Vertrag

 

Im »Weißen Adler« war Krisenstimmung.

Spür- und greifbar.

Wir wurden vom Wirt sofort in das reservierte Extrastüberl durchgewinkt. Vater und, wie ich vermutete, Sohn Samer junior würdigten sich keines Blickes. Nach kurzer Zeit wurde ich dem Junior vorgestellt. Der hatte sich rasch gefasst und schüttelte mir die Hand. Nicht unsympathisch, der Typ. Marke »cooler Hund«.

Die Stimmung war sehr angespannt und ich war scheinbar der Einzige, der keine Ahnung hatte von dem, was gerade vorging. Sophie, wieder zu Kräften gekommen, bestellte einen Biofeigen und leerte das Stamperl mit einem Schluck.

Jetzt kam wieder Farbe in ihr Gesicht. Der zweite stellte den gesunden Teint ihrer Hautfarbe wieder restlos her.

Samer junior, jetzt ganz seriöser Geschäftsmann, erzählte mir Details über die Geschäftsfelder des Unternehmens, dozierte über Exportanteile und wies auf meine Aufgaben bei einer eventuellen Zusammenarbeit hin. Jetzt lag es nur noch an den finanziellen Rahmenbedingungen, die wir noch vor dem Auftragen des ersten Menügangs abstecken sollten. Es wurde nicht viel verhandelt und schon waren wir uns einig.

Und da war er wieder, oder vielmehr: war es nicht, dieser Schutzschild, der mich in solchen Situationen beschützen sollte. Wir schlugen nach altem Pferdehändlerbrauch ein und besiegelten so die Zusammenarbeit.

Schriftliche Ausführungen der getroffenen Vereinbarungen wurden auf später verschoben.

 

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich ein sehr vertrauensvoller Mensch bin? Nein? Wahrscheinlich weil mir die Auswirkungen dieser Wesensart manchmal schon selber peinlich sind.

 

Doch in diesem Fall war ich mir ganz sicher, dass ich richtig lag. Zumal sich herausstellte, dass Vater, Sohn, Enkeltochter und Nichte zu gleichen Teilen am Unternehmen beteiligt und verfügungsberechtigt waren. Jaja, Sophie, du hast mich überrascht.

Die Stimmung lockerte sich, die Nachspeise beschloss das üppige Menü und bei einem Espresso für mich und drei Biofeigen für meine neuen Geschäftspartner beendeten wir das Meeting. Kein Wort über den Artikel. Bis, ja, bis Herr Samer senior ganz vertrauensvoll und fast verschwörerisch mit der Ansage kam:

»In Zeiten wie diesen müssen wir ganz fest zusammenhalten!«

Und mir stellte sich die Frage: Reden wir wirklich nur von Expansion, Export und Stabilität? Oder war ich jetzt Teil einer viel größeren Sache?

»Gibt es noch Fragen?«, stellte Samer junior in den Raum.

»Ja«, dachte ich mir. »Nein«, sagte ich. Wir vertagten auf den späteren Nachmittag in der Firma und verabschiedeten uns.

Mein Budgetloch schien gestopft. Mein Mund blieb jedoch ob vieler offener Fragen weit offen.

 

Kapitel 5

Blöder Zufall

 

Ich verbrachte die zwei mir verbleibenden Stunden bis zu unserem nächsten Treffen auf meinem Zimmer im »Weißen Adler«. Öffnete den Gürtel meiner Hose, der ob des opulenten Mittagessens etwas stramm saß, und atmete erst einmal richtig durch. Einerseits freute es mich, dass die Zusammenarbeit so schnell und unkompliziert beschlossen worden war, andererseits ließ mich der Artikel des Internets nicht mehr los. Was, wenn das Unternehmen Samer & Söhne in diesen Fall verwickelt war? Warum hatten Vater und Sohn Samer bei unserem Eintreffen im Gasthaus so vehement gestritten? Es ließ mir einfach keine Ruhe.

Am Laptop versuchte ich die Seite im Internet noch einmal aufzurufen. Das WLAN im »Weißen Adler« stellte sich aber als recht flügellahm heraus. Und irgendwann musste ich beim Warten auf eine funktionierende Verbindung dann doch dem »Power-Napping« zum Opfer gefallen sein. Ein lautes Klopfen an der Zimmertür riss mich abrupt aus meinen Träumen.

»Hallo! Hallo! Herr Werger! Alles in Ordnung?«, hörte ich die aufgeregte Stimme von Sophie Samer vor meiner Tür.

»Ja, ich komme gleich!«

Und so blieb mir die Peinlichkeit nicht erspart, zwanzig Minuten später den wartenden Samers, inklusive des mich zum Abholen beorderten Fräulein Sophie, zu erklären, dass mich ein Anruf eines meiner Kunden so lange in Anspruch genommen und ich die Zeit einfach übersehen hatte. Ich entschuldigte mich und verkaufte diese Geschichte so gut, dass ich selbst schon überlegte, mit welchem Kunden ich telefoniert hatte.

Den Rest des Nachmittags verbrachten wir mit der Unterzeichnung der Vereinbarung, die wir mittags beschlossen hatten, und mit der Übergabe von Unterlagen, die für meine Arbeit wichtig waren. Alles in allem ein normales Meeting ohne nennenswerte weitere Vorkommnisse. Samer junior verabschiedete sich nach zwei Stunden als Erster mit dem Hinweis, er müsse morgen früh in die Bundeshauptstadt zu einem Gespräch mit führenden Vertretern eines großen Lebensmittelkonzerns, und verließ die Runde. Sophie wollte noch etwas Privates erledigen und Herr Samer senior wanderte ab in Richtung Truderl. Truderl war, wie sich herausstellte, seine Ehefrau, die in steter Sorge um den ewig zu hohen Blutdruck ihres Gatten lebte.

Nachdem ich den Nachmittag sowieso verschlafen hatte und dementsprechend fit und tatendurstig war, holte ich mir noch die Genehmigung ein, mich im Büro der Marketingabteilung zwecks Fact-Findings umzusehen.

Natürlich war das Büro schon verwaist und ich schaute mich erst einmal kurz um. Die Regale waren gefüllt mit den unterschiedlichsten Fachbüchern und Ordnern. Die Aufschriften wie Belegmuster, Zeitungen, Prospektmuster etc. waren mir sehr vertraut und ich widmete mich vorerst dem Ordner mit der Aufschrift »Samer & Söhne Konzept neu«. Dabei fiel mein Blick auf die jedes Kreativbüro zierende Kaffeemaschine mit der unwiderstehlichen Aura von George Clooney. Eine goldene Kapsel später saß ich wieder an einem Schreibtisch und vertiefte mich in die Lektüre des Konzeptes. Lässig ließ ich mich in den Bürostuhl zurückfallen, legte meine Beine auf den Schreibtisch und fühlte mich unbeobachtet. Und dann passierte es. Durch die eingenommene Sitzposition war ich außer Reichweite meiner Kaffeetasse. Beim Versuch diese zu erreichen, rutschte der Bürostuhl plötzlich unter meinem Hintern weg, ich kippte nach vorne – und den Inhalt der Tasse Richtung Tastatur. Beim Versuch zu retten, was noch zu retten war, schaffte ich es akrobatisch die Tasse abzufangen. Dabei stützte ich mich offensichtlich auf der Tastatur auf. Am Bildschirm erschien in großen Lettern: Streng vertraulich! So ergab es sich, dass ich im Besitz von Informationen war, die ich gar nicht haben wollte. Aber es war zu spät. Auf gut 25 Seiten des Ordners mit dem passenden Namen »Münchhausens Biobox« waren Gesprächsprotokolle aufgelistet, Adressen und Namen angeführt und Zahlen in schwindelerregenden Höhen dokumentiert.

 

Natürlich werden Sie jetzt sagen: selber schuld! Hätte ja nicht so neugierig sein müssen. Und ja muss ich sagen, Sie haben Recht. Aber auch wieder nicht. Denn es ist schon von Vorteil, zu wissen, worauf man sich einlässt. Und wer von Berufs wegen sowieso immer neugierig ist und alle Informationen wie eine Küchenrolle aufsaugt, der kann nicht einfach die Escape-Taste drücken.

 

Heiliger Bimbam. Wo war ich da hineingeraten! Mitten in meine seelische Erschütterung platzte zu allem Überfluss auch noch die Putzfrau ins Zimmer herein, erschrak sich höllisch bei meinem Anblick und stieß einen lauten Schrei aus. Dies wiederum erschreckte mich und ich schaffte, was ich schon einmal verhindern konnte: George Clooney ergoss sich über die PC-Tastatur. »What else«, fiel mir noch ein und ich verließ mit hochrotem Kopf das Büro. Nicht ohne jedoch vorher den Stecker des PCs zu ziehen.

 

»Spurenvernichtung«, würden Sie jetzt wieder sagen. Schutzvorkehrung nenne ich das.

 

Ziemlich aufgekratzt nahm ich in der »White-Eagle-Bar« noch ein Beruhigungsvierterl zu mir. Und ich gebe es nicht gerne zu, aber – dazu muss ich nun einmal stehen – ich schnorrte mir von der gelangweilten Lady hinter der Bar, die an diesem Abend einer nicht allzu anstrengenden Arbeit nachging, eine Zigarette. Sie erzählte mir noch, dass sie diesen Job sowieso nur vorübergehend mache, doch ich hörte ihr nicht richtig zu. War zwar nicht sehr respektvoll, aber meine Gedanken drehten sich im Kreis.

»Hallo Max, du hier? Warst du noch im Büro? Hast du etwas Interessantes entdeckt?«, vernahm ich von der Seite und erkannte zweifelsfrei die Stimme von Zahnlücke.

Ich fühlte mich ertappt. Fragte mich insgeheim, woher sie diese Info schon haben konnte, und ging zum Angriff über.

»Hätte es etwas Interessantes zu entdecken gegeben? Irgendetwas, was ich nicht wissen sollte? Etwas, wo ich mich nicht einmischen soll?«

Ja, das hatte gesessen. Und es machte mich frei. 1:1 würde ich sagen. 1:1 für mich.

»Na, da ist einer aber nachtragend! Komm, nehmen wir ein Friedensschnapserl!«

Und da war es wieder: »Nein«, dachte ich. Und »Ja« sagte ich. Nach dem 5. Friedensgetränk zeigte der Alkohol Wirkung. Nicht nur bei mir. Auch bei Anna. Ich nannte sie jetzt Anni, weil wir in der Zwischenzeit auch schon zum Tanzen übergegangen und ganz vertraut waren. Eng umschlungen bewegten wir uns im Rhythmus der Musik und waren atemlos. Hilfe! Ihr Lächeln und ihre blonde Mähne, von allem anderen einmal abgesehen, raubten mir den letzten Verstand.

»Hast was Interessantes g’funden?«, lispelte sie mir lasziv ins Ohr, das sie mit ihren Zähnen zu beknabbern begann, dass es mir die Gänsehaut aufzog. Und siehe da, obwohl schon ein bisschen dings, fand ich urplötzlich meinen imaginären Schutzschild. Denn ich sagte: »Nein.« Und »Ja« dachte ich. So kann’s gehen.

Apropos gehen: Ich verabschiedete mich von Anni mit einem unverbindlichen Busserl auf die Wange und ließ sie sichtlich ratlos stehen. Das klingt jetzt vielleicht hart, aber noch eine Drehung zu Andrea Bergs »Du hast mich tausendmal ...« mehr und ich hätte Sachen gestanden, die ich erst erfinden hätte müssen. Ich drehte mich noch einmal um, aber da sah ich Anna nur noch kurz, wie sie die Bar verließ. Jetzt war ich ein bisschen stolz auf mich, aber auch wieder nicht. Denn an Einschlafen war nicht zu denken. Und wach zu sein ist zu zweit definitiv besser.

 

Kapitel 6

Weiße Sneakers

 

Aber das mit dem Wachsein war dann sowieso eine andere Sache. Nachdem ich mich der Gefahr des Entdecktwerdens charmant entzogen hatte, ging ich hinauf in mein – wie bereits erwähnt – »uriges« Gästezimmer.

»Hab’ ich das Licht nicht abgedreht?«, dachte ich noch verwundert, als ich durch den Türspalt einen hell erleuchteten Lichtstrahl sah. Das war’s dann aber auch.

Denn im selben Moment drehte mir jemand mit einem harten Gegenstand das Licht ab. Das Letzte, was ich noch mitbekam, waren der Einschlag eines funkelnden Blitzes und strahlende Sterne. Ich weiß jetzt nicht mehr so genau, ob es wirklich so war oder ob ich es mir eingebildet hatte. Schlimm war es auf jeden Fall: Im Übergang zur Bewusstlosigkeit hörte ich noch von weiter Ferne: »Ein Stern, der deinen Namen ...«

Das Erste was ich nach meiner Rückkehr ins Dasein sehen konnte, waren drei Gesichter, die sich über mich beugten. Eines davon erkannte ich aufgrund der buschigen Augenbrauen als die des »Weißen Adlers«, also des Wirts. Das zweite Gesicht war mir fremd. Und das dritte, ja das dritte Gesicht erkannte ich zweifelsfrei anhand des Zahnzwischenraums.

»Das hätte leicht ins Auge gehen können«, dozierte der »Weiße Adler« und fügte noch einen hinzu: »Wer’s nicht vertragt, soll’s auch nicht tun!«

Was nicht tun? Hallo, so war es nicht! Mich so derart in Misskredit gebracht zu sehen brachte meine Gehirnwindungen, wenn auch stotternd, wieder auf Trab.

»Es war nicht der Alkohol! Ich habe einen Schlag auf den Kopf gekriegt«, versuchte ich Situation und Image zu retten.

»Alles klar. Gehirnerschütterung. So ein Einschlag auf der Treppe geht halt nie spurlos vorüber«, hörte ich Gesicht Nummer zwei, seines Zeichens Gemeindearzt, noch brachial-diagnostisch von sich geben.

Von einer Fahrt ins 25 Kilometer weit entfernte Krankenhaus zur genauen Untersuchung hielt er nichts. Er verordnete mir absolute Bettruhe und riet mir, mich am nächsten Morgen in seiner Praxis einzufinden. Gut, dass der Doktor an diesem Abend seine Bridge-Partie im »Weißen Adler« gehabt hatte. Schlecht aber, dass er zu diesem Zeitpunkt schon mehr Biofeigen intus hatte, als der hippokratische Eid vertragen konnte. So gesehen war es ein Segen, dass gerade Anna mir jetzt Gesellschaft leistete. Kopfschüttelnd kühlte sie meine zusehends wachsende Beule mit vom Wirt zur Verfügung gestellten Eisbeuteln. Und ich muss zugeben, ich habe mich schon wohlgefühlt bei dieser Pflege, auch wenn es in meinem Kopf jetzt zuging wie in einem Bienenschwarm. Während ich langsam die Wirkung der zwei Aspros herbeisehnte, fiel mein Blick unversehens auf die weißen Sportschuhe von Anna. Hatte ich nicht genau diese Sneakers unter dem erleuchteten Türspalt vorbeihuschen gesehen? War Anna in meinem Zimmer gewesen? Was hatte sie gesucht? Hatte mir ihr Freund von gestern Abend eine über die Rübe gedonnert? Und wo zum Teufel war mein Laptop! Trotz der einschläfernden Wirkung der Tabletten von Doktor Bridge geriet ich in Panik.

»Nur nicht einschlafen«, dachte ich mir.

Ich war mit Anna alleine im Zimmer. Jetzt hatte ich Angst. Aber auch die konnte nicht verhindern, dass ich ins Land der Träume abdriftete.

Erwacht bin ich dann am Morgen mit einem Brummschädel und einem fast gefühllos gewordenen rechten Arm. Woher Ersterer kam, war mir klar. Die Ursache meiner Armtaubheit lächelte mich in Form meiner Krankenschwester an. Anna erzählte, sie sei noch einige Zeit an meinem Bett gesessen und dann auch eingeschlafen. Dabei dürfte sie auf meinem Arm Platz gefunden haben. Daher also das taube Gefühl.

 

Ich bin mir zwar nicht mehr ganz sicher, und darum nageln Sie mich auch nicht fest, aber mir war, als hätte Anna bei dieser Erklärung ihre Gesichtsfarbe ein bisschen verändert. Ein ganz nettes Mädchen.

 

In diesem Moment hätte ich mich wahrscheinlich in sie verlieben müssen. Wenn, ja, wenn da nicht die weißen Sportschuhe gewesen und mein Laptop verschwunden wären.