Zum Inhalt

Die junge Graphikerin Birgit lernt während einer Reise nach Paris den faszinierenden und geheimnisvollen Reinhard kennen und verliebt sich prompt in ihn. Die Sache hat jedoch einen Haken, denn Birgit ist bereits seit Jahren mit Victor liiert. Da sie ihren Lebensgefährten nicht verlieren will, entscheidet sie sich, ihre romantischen Gefühle für Reinhard in eine platonische Freundschaft umzuwandeln. Nichtsahnend forciert sie einen gemeinsamen Urlaub im spanischen Finisterre, wobei sie neben Victor und vier weiteren Freunden auch Reinhard einlädt, was sich bald schon als schwerer Fehler erweist. In einem alten Landhaus an der Atlantikküste, fernab jeglicher Zivilisation, spitzt sich die Situation bald schon dramatisch zu.

Birgits naiver Wunsch, beide Männer irgendwie unter einen Hut zu bekommen, wird zunehmend zum Problem – und zwar für alle Beteiligten. Die mehr oder weniger offen ausgetragenen Machtkämpfe beider Kontrahenten erfassen allmählich auch die anderen Reiseteilnehmer und vergiften somit die zuvor noch unbeschwerte Urlaubsatmosphäre. Aufgrund der völlig isolierten Lage des Ferienhauses an einer Steilküste, sowie der herbstlichen Witterung, entsteht für alle Beteiligten zunehmend der Eindruck eines bedrückenden Kammerstücks, welches lediglich über eine einzige Kulisse verfügt: Die jungen Leute werden förmlich zu Gefangenen des Hauses, aber auch von Reinhards undurchsichtigen Machenschaften.

Mit wachsendem Unbehagen muß Birgit feststellen, daß Reinhard keineswegs der sympathische und liebenswürdige junge Mann ist, den sie zuvor in Paris kennengelernt hat; vielmehr entpuppt er sich allmählich zu einem manipulativen und destruktiven Menschen. Mehr noch: Als sie schließlich erkennen muß, daß dieser sich sogar an der psychischen Grenze dessen zu bewegen scheint, was man im Allgemeinen als „normal“ bezeichnet und daß er sogar vor Gewaltanwendung nicht zurückschreckt, ist es bereits zu spät.

Der Autor verfasste diesen Roman bereits im Jahre 1991. „Finisterræ“ wurde nach der alten Rechtschreibung (vor 1996) lektoriert.

Der Autor

© Patrick Karez, 1999

Patrick Karez wurde in den Siebziger Jahren als Kind Prager Eltern in Deutschland geboren. Nach seiner Matura lebte er zehn Jahre lang in Paris, wo er an der Université de Paris-Sorbonne in Kunst- und Architekturgeschichte s.c.l. promovierte und als Kunstkritiker für eine dem französischen Ministerium für Kultur anhängige Institution tätig war. In diesem Rahmen publizierte er bereits mit Mitte Zwanzig – so etwa Kunstkritiken, Übersetzungen aus dem Tschechischen, Englischen und Französischen – und verfasste nebenher kontinuierlich belletristische Texte. Nach seinem Studium ging er für ein Vierteljahr nach Südostasien, lebte ferner für mehrere Jahre in Budapest, Rom, New York und Wien, wo er sieben Jahre lang als Mitarbeiter für die Österreichische Nationalgalerie Belvedere samt anhängigen Häusern tätig war. Das 19. Jahrhundert und die Kunst der Jahrhundertwende zählen zu seinen Forschungsschwerpunkten. So stammen etwa aus der Feder des Autors u.a. die beiden Romanbiographien „Gustav Klimt“ (erschienen im November 2014 im acabus Verlag, Hamburg; 4. Auflage 2020; russische Ausgabe bei Molodaya Gvardiya, Moskau, 2019) sowie „Egon Schiele“ (erschienen im September 2016, im acabus Verlag, Hamburg). Nach seinen Romanen „Schwartz auf Weiss“ (2004, publiziert 2018), „Diva – Whatever happened to Martha Kűlföldi“ (1999/2019), „Reinthal“ (2020) und „Rochade“ (2001/2021), legt der Autor nun den bereits im Jahre 1991 verfassten Roman „Finisterræ“ vor.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 1991/2021 Dr. Patrick Karez

Cover/Layout: Patrick Karez & Roman Bitzinger

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783753488929

Inhaltsverzeichnis

1

Früher ist sie gern verreist, auch wenn es nur für einige Tage war, denn damals glaubte sie noch daran, daß eine jede Reise, so kurz sie auch sein möge, einschneidende Erlebnisse und Veränderungen mit sich bringen würde. Sie träumte von Zeitmaschinen oder von Apparaten, die den Reisenden in Sekundenbruchteilen ans andere Ende der Welt befördern könnten, um ihm somit die Strapazen der Reise und die schleichende Gewöhnung an den Zielort zu ersparen.

Im Laufe der Jahre dann, begann es ihr immer schwerer zu fallen eine Reise in Angriff zu nehmen - und obwohl sie daheim vor Langeweile und Stumpfsinn nicht mehr ein noch aus wußte, wehrte sie sich doch stets gegen jede Art Einladung, die einen Ortswechsel mit sich führen sollte. Erstaunlicherweise stieg ihre Unlust und ihr Widerwille gegen diese Einladungen proportional zu ihrer Einsamkeit und den damit verbundenen Depressionen.

Glücklicherweise war es ihr bisher noch ein jedes Mal gelungen, sich aufzuraffen und die Haustür hinter sich zuzuziehen - dennoch war es die letzten Male verdammt knapp gewesen; und ihre selbst auferlegte Einsamkeit hatte bereits damit begonnen, sich ihr langsam um den Hals zu legen.

Genauso hatte sie sich auch gegen diese Reise gesträubt - doch trotz ihrer Angst vor einer Enttäuschung, hoffte sie insgeheim auch diesmal wieder auf ein einschneidendes Erlebnis oder sogar auf eine Veränderung…

2

Stöhnend schleppte sich der Zug durch die tiefe Narbe, die man Ende des letzten Jahrhunderts durch den nördlichen Teil der Stadt geschlagen hatte. Zu beiden Seiten der Geleise ragten die einst weiß getünchten Häuserwände empor, wild verschachtelt und eng aneinander geschmiegt. Mit ihren kleinen Flur- und Toilettenfenstern, zumeist durch hölzerne Fensterläden gegen den Eisenbahnlärm verschlossen, wirkten sie beinahe wie übergroße Fischerhäuser an einer Steilküste im Mittelmeer.

Das Geflecht aus Stromkabeln, Drähten, Masten und genieteten Stahlbrücken über dem Zug wurde immer dichter, um sich schließlich über der Gare du Nord zu einem atemberaubenden, verglasten Gewölbe aufzublähen. Birgit liebte ein jedes Mal die Einfahrt in die Bahnhöfe dieser Stadt, die hier noch großartige Kathedralen waren, und deren gläsernes und gußeisernes Rankenwerk filigran und transparent die glatt polierten Marmorsäulen und Sandsteinsockel überspannte.

Doch spätestens in der Métro verstummte ihre Schwärmerei. Alle zwölf Stationen lang wurde sie kräftig durchgeschüttelt in hoffnungslos überfüllten Waggons, zu jeder Jahreszeit permanent überheizt, im Angesicht einer anonymen Masse von Menschen, die vom Arbeitsplatz nach Hause befördert wurden. Allesamt grau, ausdruckslos. Ihr blindes Starren und stummes Fingernägelkauen wurde lediglich vom monotonen Geschrei der Bremsen und Schienen übertönt.

Wie sie diese Menschen immer dafür gehaßt hatte, daß sie willenlos dieser Stadt und ihrem rücksichtslos mahlenden Getriebe zum Opfer fielen! Es hatte sich nichts verändert. Deprimiert stieg sie mit ihnen aus dem Loch in der Erdoberfläche und war wieder ein Teil von ihnen.

3

Rosettas zerstörte Frisur wies darauf hin, daß sie erst jetzt, gegen 17 Uhr, ihr Schlafzimmer verlassen hatte.

Salut, ma biche!“, rief sie mit verhaltenem Enthusiasmus aus und begrüßte ihre deutsche Freundin mit der obligatorischen, stilgerechten „bise“.

Ohne Umschweife führte sie Birgit gleich hindurch in ihr Schlafzimmer, welches ganz am anderen Ende der großzügigen Wohnung lag, und bahrte sich dort, ganz „Maria-Theresia-like“, mitten in ihrem geräumigen französischen Doppelbett auf - wobei sie die vielen, teilweise auch auf dem Parkett herumliegenden Kissen zu einer stattlichen Rückenlehne drapierte; einem Thron nicht ganz unähnlich. Birgit, die sich gnädigerweise an den Rand des Bettes setzen durfte, hatte anfangs einige Schwierigkeiten mit der abgestandenen, von Zigarettenrauch geschwängerten Luft dieses Gemachs - doch bald schon gewöhnte sie sich, wohl oder übel, daran.

Erst vor einem halben Jahr hatte sie ihre ehemalige Studienfreundin zuletzt gesehen, dennoch erschrak Birgit darüber, wie verbraucht und leer diese aussah. Ohne sich auch im mindesten über das derzeitige Befinden ihrer Freundin - oder zumindest über den Verlauf ihrer Reise - erkundigt zu haben, verfiel Rosetta sogleich in einen einzigen, unendlichen Monolog, eine Art Zwiegespräch mit sich selbst, bei dem es im Grunde genommen keines real existierenden Gegenübers bedurft hätte. Ein Glas Pernod („Um diese Uhrzeit!“, dachte Birgit) lässig in der Linken schwenkend, stieß Rosetta also in fetten, diffusen Blasen ihre unendlichen Geschichten über diesen und jenen aus - allesamt Personen, die Birgit nicht kannte, weshalb sich das Gespräch um so zermürbender für sie gestaltete. Rasch wurde ihr klar, daß sich Rosettas gesamter, leerer Lebensrhythmus um einen halben Tag verschoben hatte, daß diverse Tanzclubs und Nachtlokale ihr neues Betätigungsfeld bildeten, während der hellichte Tag ausschließlich der körperlichen Erholung diente.

Angewidert sah Birgit sich in dem abgedunkelten Zimmer um und begann sich allmählich zu fragen, was sie hier überhaupt verloren hatte… Die Zeit heilt wohlweislich nicht nur alle Wunden - darüber hinaus scheint sie einen auch vergessen zu lassen, wie öde und nervtötend doch manche Menschen sind. Für Birgit, die sich selbst als „emanzipierte Künstlerin“ verstand (beziehungsweise als: „unabhängige schaffende Natur“, wie sie sich gern, dem Understatement willen, nach Außen hin bezeichnete), stellte Rosetta geradezu den „Anti-Typ“ ihrer selbst dar: Völlig angepaßt, keine bahnbrechenden (beziehungsweise nicht einmal eigene!) Gedanken anstrengend, war Rosetta in ihren Augen das klassische weibliche Opfer. Egal, ob als treueste Konsumentin aller nur erdenklicher Frauenzeitschriften mit ihren unzähligen Diät-, Einrichtungs- und Schminktips, ob als „Fashion-Victim“ oder als „unterwürfiges Weibchen“, verkörperte Rosetta in Birgits Augen jene passive Opferrolle, die sie selbst doch so sehr verabscheute. Offensichtlich schien Rosetta jedoch, während einiger, äußerst rarer „lucidi intervalli“, ihre Situation zu erkennen und darunter zu leiden. Doch anstelle sich freizuschaufeln und aus eigener Kraft eine so dringend benötigte Metamorphose einzuleiten, begnügte sie sich damit, lediglich die Interessante, Stolze und Unabhängige zu mimen - was ihr bei unwissenden Außenstehenden mitunter auch erstaunlich gut gelang - ihr jedoch in Bezug auf ihre Freundin Birgit (die sich übrigens selbst stets von dieser Freundschaft distanzierte!) lediglich verständnisloses Kopfschütteln - wenn nicht sogar grobe Ablehnung - eintrug.

„Pffff!“, machte Rosetta, während sie in einem langen Atemzug (der wohl zugleich ihren Erschöpfungszustand als auch ihre momentane Souveränität ausdrücken sollte) den beißenden Rauch ihrer filterlosen Gitane ausstieß.

Alles in allem war sie ein guter Mensch, dachte Birgit - und obwohl Rosettas Welt von ihrer eigenen unerreichbar weit entfernt lag, sozusagen durch Lichtjahre von ihr getrennt wurde, verstanden sich die beiden jungen Frauen (so weit das bei Frauen eben möglich ist) im Großen und Ganzen recht gut.

Während ihrer Jugend hatte Rosetta sogar einmal einige Semester lang studiert. Zumindest war sie an einer Hochschule eingeschrieben gewesen. Das Übliche: Betriebswirtschaftslehre, das große Sammelfaß für die Unzahlen jener, die zwischen zwei Stühlen geboren wurden - den Stuhl der gemeinen Dienstleistung ebenso weit von sich entfernt wie den Thron der Muse, welchen diese ihnen im entscheidenden Moment unter dem Hintern fortgerissen hatte… Kunst hat sie immer schon „total gut“ gefunden (allerdings erst, nachdem sie dieses lästige Fach in der Schule hinter sich gebracht hatte) - nein, es war vielmehr das „Organisatorische“ an der Kunst (ein Paradoxon, das Birgit stets zur Weißglut brachte!), das sie angeblich so sehr faszinierte. Selbstverständlich hat auch Rosetta in ihrem jungen Leben bereits einmal einen Akt zu zeichnen versucht - und auch einen unförmigen Klumpen Ton hat sie bereits dann und wann zwischen ihren kleinen, ungeschickten Fingern gehalten - aber eigentlich genügte es ihr, sich lediglich unter ‚Schaffenden’ aufzuhalten.

Die finanzielle Situation ihres Elternhauses machte ihr diese leere Lebensführung problemlos möglich - und nicht zuletzt das unglaubliche Erbe, welches sie nach dem Tode ihrer Großmutter angetreten war. Allesamt rechtschaffene Leute, Landwirtschaft, Handel, einfach und gut.

Dennoch profitierten alle Beteiligten in Birgits Freundeskreis von dieser Verbindung: Rosetta für ihren Teil erkaufte sich jene gewisse „Besonderheit“, die ihr ansonsten niemals zuteil werden könnte - und die anderen, die wiederum durch Welten vom Mammon getrennt waren, hatten die Möglichkeit zu reisen, zu arbeiten, auszustellen, Nachforschungen zu betreiben - kurzum: Rosetta half, das Geld, das nur allzu oft auf unfruchtbarem Boden liegt, gerecht, und zu einem guten Zweck, „auf die andere Seite“ zu bringen.

Böse Stimmen behaupteten, daß etwa die Aufführung von Jacopos „Messe in C-moll“, vergangenen Winter in Paris, und ebenfalls zwei von Birgits ersten großen Bildbänden, lediglich Rosettas finanziellem Einfluß zu verdanken gewesen seien… Als ob das Geld die magische Essenz wäre, die selbst den kargesten Felsboden zu einer sinnesbetörenden Blüte treibt! Wenn es also nur Rosettas Geld war, welches den anderen zum Erfolg verhalf - wieso verhalf es dann nicht ihr selbst (oder denen, die es besitzen) dazu, eine „Missa in C-minor“ oder die beiden Bildbände zu erschaffen? Geld ist nicht der Motor - es ist lediglich der Projektor, wie Birgit fand.

Triumphierend räkelte sich Rosetta auf ihrem „Bett-Thron“.

„Die Zeit, in der diese Stadt mir Angst eingeflößt hat, ist nun ein für allemal vorbei“, verkündete sie stolz, während sie mit ihrer ewig zitternden Zigarette Kreise in der Luft malte, „Ich habe es inzwischen geschafft! Die Besitzerin vom „Prestige“, Sandrine, merkt mich immer als Erste auf ihren Gästelisten vor, im „Harem“ wird mir und meiner Begleitung stets die VIP-Lounge reserviert - und sogar die Türsteher vom „Le Paradis“ winken mich vor all den anderen Wartenden mit einem Augenzwinkern durch!“

Sie tat Birgit aufrichtig leid, wie sie sich so vor ihr aufbäumte, denn sie war bei weitem nicht die erste, die mit vielen Träumen in diese Stadt gekommen- und letztendlich an ihr zerbrochen war. Birgit hatte selbst miterleben können, wie weitaus stärkere Menschen als Rosetta in den Strudel der Oberflächlichkeit geraten waren, um darin zu ertrinken. Es ärgerte sie zu sehen, wie sehr sich ein Mensch, der in seinem Heimatland ein Muster an Gewissenhaftigkeit und Verläßlichkeit gewesen war, zunehmend auf sein Minimum an geistiger Strapazierfähigkeit reduzierte - und so wagte sie es, die Frage nach Rosettas täglichen Pflichten aufzuwerfen, die diese zu Anfang noch so überzeugend vertreten hatte. Wie erwartet, schien Rosetta diese Frage zu ärgern - und da Birgit sich in der Rolle des personifizierten Gewissens unwohl zu fühlen begann, versuchte sie ein neues Gesprächsthema anzuschneiden.

Aber was konnte sie denn schon von sich selbst erzählen? Seit Monaten hatte sie keinen einzigen Auftrag mehr erhalten - und außerdem dienten ihr hellichte Tage sowie dunkelste Nächte in gleichem Maße zur körperlichen Erholung. Zur körperlichen Erholung vom absoluten Nichtstun. (Birgit war nicht nur eine jener ewig Suchenden und ewig Unzufriedenen - sie war darüber hinaus auch eine jener sich stets Verleugnenden. Es war typisch für ihren Menschenschlag, daß sie anderen gerne Moralpredigten hielt und ihnen Ratschläge gab, wie diese doch ihr Leben besser gestalten könnten. Sie selbst aber, war weit davon entfernt, ihr eigenes Leben im Griff zu haben. Vielleicht reagierte sie gerade deshalb so negativ auf Menschen wie Rosetta, weil jene weniger Anforderungen an das Leben zu stellen schienen als sie selbst - und deshalb ihrer Meinung nach wohl auch glücklicher sein mußten als sie selbst.)

„Bist Du denn glücklich?“, fragte Birgit denn ohne Umschweife und konnte mitverfolgen, wie Rosetta sich plötzlich, einem Hefekuchen gleich, vor ihr aufblähte, um bereits im nächsten Augenblick wieder in sich zusammenzufallen. Gott sei Dank antwortete Rosetta in ihrer Unbedarftheit nicht mit der rhetorischen Frage, sondern lieferte sich ihrer Freundin schutzlos aus. Seufzend legte sie ihr plötzlich, nach einer schier unglaublichen Kehrtwende von 180 Grad, die ganze Sinnlosigkeit ihres Alltags dar, behauptete, daß dieses Ungetüm von Stadt derart viel böte, daß man sich letztendlich für gar nichts entscheiden- und aus diesem Grunde wie versteinert, als hypnotisiertes Kaninchen vor der Schlange sozusagen, „überhaupt nichts mehr machen“ könne. Und da sie ja in einem halben Jahr wieder zurück nach Deutschland gehen müsse, wo das geregelte Leben mit seinen quälenden Verpflichtungen von neuem seinen Lauf nehmen würde, wolle sie sich hier „nochmal so richtig austoben“. Es gefiel ihr nicht, als Birgit ihre persönliche Auffassung von Amüsement und sinnvollem Zeitvertreib zu definieren begann, und beendete deshalb das Gespräch mit den Worten:

„Jetzt weiß ich wieder, weshalb ich Dich nicht mehr einladen wollte: Jedesmal, wenn Du zu Besuch kommst, machst Du mich fertig - und ich komme mir hinterher wie die saublöde Bauernmagd vor, die hier im Ausland ordentlich auf den Putz haut, bevor sie dann nach einem Jahr wieder brav zu ihrem Kuhstall zurückkehrt!“

Mit Genugtuung folgte Birgit ihr ins Badezimmer und feuerte sie innerlich an, sich zu hassen und unattraktiv zu finden. Die Falten auf der leicht vorgewölbten Stirn und rings um die Augen waren vorher ebenso dagewesen wie das Kleid, das sich satt um die Hüften spannte - aber vor ihrer beider Augen begann der Spiegel Rosetta auszulachen und grotesk zu verzerren.

Der Schlag ging allerdings auch prompt gegen Birgit los, denn Rosetta entschloß sich kurzerhand zu einer ihrer gefürchteten Diäten, die, egal ob Obst-, Wasser-, Reis- oder sonstwelche Diät, im monatlichen Turnus, je nach aktueller Mode und dem Diktat diverser Frauenzeitschriften, bei ihr zu (freilich recht erfolgloser) Anwendung fanden. Diesmal jedoch entschied sie sich gleich zur radikalen Nulldiät - die Selbstkasteiung erforderte es wohl - und somit machte sie auch Birgit den Aufenthalt zunehmend zur Hölle, indem sie absolut nichts aß, folglich auch nicht für ihren Gast kochte, und mit jeder Stunde sichtlich gereizter und aggressiver wurde. Birgit, die sich bald in die Ecke getrieben fühlte, flehte ihre Freundin inständig an, die Diät wenigstens für die Dauer ihres Aufenthaltes zu unterbrechen, doch Rosetta machte ihr ohne Umschweife klar, daß ihr momentan mehr an ihrer Diät als an Birgits Aufenthalt läge. Somit hatten sich, aufgrund der einfachsten Waffen, die einem „angepaßten Weibchen“ wohl zur Verfügung stehen, die Machtverhältnisse zwischen diesen beiden ungleichen Freundinnen gehörig verschoben.

Jedesmal, kurz bevor sie beide das Haus verlassen wollten (inzwischen war es Birgit, die sich nach Etablissements wie dem „Prestige“ oder dem „Le Paradis“ sehnte!), begann Rosetta wie wild ihre Garderobe zu wechseln - um schließlich, der Hysterie nahe, zu Bett zu gehen.

Da war sie nun in ihre eigene Falle geraten: Birgit, die Stolze; Birgit, die Erhabene; Birgit, die Überhebliche. Ihre alleinigen Spaziergänge in der Stadt, die denen eines verzweifelten Hamsters in dessen Laufrad glichen, begannen sie bald schon zu Tode zu langweilen - und so entschloß sie sich, am nächsten Tag wieder abzureisen.

Rosetta war von Birgits Entscheidung geradezu entsetzt - und so flehte sie ihre Freundin an, bei ihr zu bleiben, da sie ihre Einsamkeit derzeit angeblich nicht allein ertragen könne. Als Rosetta sich aber weiterhin wie eine Spinne in ihrem Schlafzimmer einschloß, war es für Birgit eine regelrechte Erlösung, als sie zufällig in einer Seitenstraße des Boulevard Saint-Germain mit Jacopo, einem italienischen Bekannten, zusammenstieß. Er hatte sich seit ihrer gemeinsamen Studienzeit an der hiesigen Universität kaum verändert - und wie so viele ihrer damaligen ausländischen Bekannten war auch er anscheinend hier in Paris steckengeblieben. Wie alle anderen hatte er es sehr eilig, lud sie aber dennoch ein, heute bei ihm zu Abend zu essen, wo sie seine deutschen, französischen und italienischen Freunde, allesamt Musiker wie er, kennenlernen sollte.

4

Jacopo lebte in einer der ärmeren Gegenden der Stadt - irgendwo zwischen den Métrostationen Parmentier und Goncourt - und Birgit hatte einige Mühe, seine Wohnung ausfindig zu machen. Obwohl Jacopo inzwischen durchaus erste Erfolge als Musiker und Komponist feierte, bewohnte er dennoch das beengende Einzimmerappartement seiner Studienzeit.

Kaum daß Birgit den mit rötlichem Holz getäfelten Wohnraum betreten hatte, dessen Wände über und über mit diversen Musikinstrumenten aus allen Epochen verhangen waren, traf sie prompt der durchdringende Blick eines jungen Mannes, der am Kopfende der großen Tafel Platz gefunden hatte. Nachdem sie allen Anwesenden (außer ihr war keine einzige Frau zugegen) vorgestellt worden war, wies man Birgit den freien Platz zur Rechten eben jenes jungen Mannes an, dessen starrer Blick keine Sekunde von ihr abgelassen hatte. Sofort war ihr die ungewöhnliche Form seiner Augen aufgefallen, die sie, in ihrer völlig geraden, horizontalen Ausrichtung, an die Augen eines Ziegenbocks erinnerten. Noch nie zuvor war sie einem Menschen mit derart ungewöhnlichen Augen begegnet - und sie fragte sich die ganze Zeit, ob ihr dieser Mensch nun sympathisch oder unsympathisch sei... Zumindest aber bereitete er ihr ein gewisses Unbehagen - ja, er flößte ihr mitunter sogar regelrecht Angst ein.

„Gestatten, Reinhard“, stellte er sich ihr noch einmal selbst vor; und es verwunderte sie, daß er Deutscher war wie sie selbst - hätte sie ihn doch ob seiner dunklen Erscheinung eher als einen Franzosen oder gar Italiener eingeschätzt. Obwohl er ihr anfangs ein deutliches Unbehagen eingeflößt hatte, verband die beiden doch vom ersten Augenblick an eine merkwürdige Komplizenschaft - ja, sogar ein seltsames Gefühl der Zusammengehörigkeit. Ihrer beider Fragen und Antworten waren von Anfang an erstaunlich direkt - und ohne die Absicht ein bestimmtes Thema zu diskutieren, verfingen sie sich ohne jegliche Umschweife beim Thema Kunst. Er war Jurist - und deshalb erstaunte es sie um so mehr, mit welchem Fachwissen und mit welch profunder Kenntnis der Details er die Diskussion führte. Er sei ebenfalls ein großer Kunstfreund und -kenner – und so kam es, daß sie sich gleich für den nächsten Tag verabredeten, um eine der großen Kunstausstellungen der Stadt zu besuchen.

Schon nach ihrer ersten Unterhaltung war Birgit fasziniert von der einschlagenden Macht seiner Bildung und seines scharfen Verstandes. Seine Aussagen und Antworten erschienen ihr zwar oftmals fremdartig und ein wenig am Thema des Gesprächs vorbei führend, dennoch war ein jeder seiner Aussprüche wohlüberlegt. Er war ein stiller, offensichtlich introvertierter Mensch, wie Birgit fand, der stets einige Sekunden verstreichen ließ, bevor er seine Antworten mit der tödlichen Präzision einer Stichwaffe mitten ins Gespräch stieß.

Das Gelächter und die Gespräche um sie herum verschwammen zusehends, bis schließlich Jacopo den Wall ihrer konzentrierten, jedoch den anderen gegenüber unhöflichen Isolation durchbrach:

„He, ihr beiden Teutonen!“, rief er aus, während er ihnen sein eigenfabriziertes Dessert entgegen hielt, „Würdet ihr uns vielleicht die Ehre erweisen, euere Tuschelei auf den unbedeutenden Rest unserer kleinen Runde auszuweiten? Jetzt habe ich euch beide schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, und was macht ihr: Schlingt in aller Geistesabwesenheit mein vorzügliches dîner herunter und würdigt eueren armen alten Jacopo keines einzigen Blickes!“

In der Tat hatten weder Reinhard noch Birgit den weiteren, feuchtfröhlichen Verlauf ihrer kleinen Tischgesellschaft registriert. Jacopo, dessen Wangen vom Wein bereits leicht gerötet waren, begann mit seinen Händen die Brille in seinem Gesicht zu suchen, um sich dann, mit einigen Startschwierigkeiten, den Weg zum Grammophon zu bahnen. Sie mußte lachen, denn mit seinem im Verhältnis zum restlichen Körper viel zu großen Kopf und mit seinem dunklen Sakko, das er wohl in der Kinderabteilung für Kommunionkleidung gekauft haben mußte, wirkte er geradezu wie ein Pinguin oder vielmehr wie eine vermenschlichte Ente aus irgend einem Zeichentrickfilm. Er hatte eine alte verkratzte Aufnahme von Bizets Carmen hervor gekramt, die er beim Auflegen offensichtlich durch weitere Schrammen bereicherte. Nachdem er sich wieder sicher bei ihnen eingefunden hatte, schenkte ihm niemand mehr sonderliche Beachtung, so daß Birgit sich in ein Gespräch mit ihrem linken Tischnachbarn, einem Italiener, vertiefte. Mit Müh und Not konnte sie dabei in Erfahrung bringen, daß dieser derzeit, im Fache der Musikwissenschaft, an der Universität zu Oxford promovierte. Als sie ihn wegen seines unverzeihlichen Französischs bat, Englisch zu sprechen, verstand sie plötzlich überhaupt nichts mehr. Aufs Geratewohl nickte sie in regelmäßigen Abständen ein „Ja“ in die Konversation - oder, wenn sich seine Miene entsprechend verfinsterte, gerade so, als sei er mit ihrer Zustimmung nicht zufrieden, warf sie schnell ein geschütteltes „Nein! Nein!“ ein, das ihn aber ebenfalls nicht sonderlich zu befriedigen schien.

Völlig auf die Bewegungen seiner Lippen konzentriert, fiel ihr beinahe das Glas aus der Hand, als plötzlich bei der Habanera eine durchdringende Sopranstimme sämtliche Gläser und Fensterscheiben im Raum erzittern ließ. Jacopo war es in der Zwischenzeit gelungen, einen Stuhl zu erklettern, um in aufrechter Haltung sein „L’amour, l’amour, l’amour, l’amour!“ in einem derart perfekten Sopran und schwellenden Crescendo in den begrenzten Raum zu schmettern, daß es ihnen allen Hören und Sehen verschlug. Jacopos Freunde, vermutlich allesamt Musikwissenschaftler, Dirigenten und Musiker, stimmten spontan in allen nur erdenklichen Stimmlagen ins „L’amour est un oiseau rebelle“ ein, so daß bald alle Anwesenden einen stattlichen Chor bildeten. Die Brillanz und die perfekte Harmonie ihrer Darbietung ließ darauf schließen, daß sie alle eine Stimmausbildung genossen hatten, und daß dies hier nicht der erste gemeinsame „Auftritt“ war. Selbst Reinhard, den Birgit eher für einen introvertierten Typen gehalten hatte, gab einen vollen, durchtrainierten Bariton zum besten. Später erzählte er ihr, er sei nebenberuflich Kapellmeister, soweit das sein Beruf als Anwalt zeitlich zuließ.

Plötzlich öffnete sich, zeitgleich mit den Toréadors, die Tür - und ein hagerer junger Mann betrat, die musikalische Einführung geschickt nutzend, in gespielt majestätischer Pose, die Nase steil erhoben, die Lippen schürzend und den Blick starr irgendwo auf die hintere Zimmerdecke gerichtet, den Raum.

„Tourette!“, rief Jacopo aus, „Wie schön, daß Du doch noch gekommen bist!“ - und nach einer kurzen Pause, während jener junge Mann, keineswegs seine starre Haltung aufgebend, die Runde machte, um barmherzig seine bises zu verteilen: „Wo in Gottes Namen hast Du Dein ‚Über-Ich’ gelassen?“

„Mein Über-Ich?“, stieß jener mit gespielter Entrüstung aus, „Du meinst wohl eher: mein ‚Es’!? Keine Angst: Das kommt gleich noch - falls es sich inzwischen, auf dem Weg hierher, nicht selbst hinfortanalysiert hat!“

Ein boshafter Zug machte sich in seinem Gesicht breit, welches von zwei riesigen blauen Porzellanpuppenaugen und einer großen Adlernase dominiert wurde. Auf seinen Kopf hatte er irgendwie eine etliche Nummern zu kleine Schirmmütze gezwängt, über seinen krummen Rücken hing eine schwarze glatte Lederjacke auf einem zitronengelben Hemd mit langem spitzen Kragen, so daß Birgit ausrief: „Seht an! Der Wolf im Wespenpelz!“

Seine großen himmelblauen Augen, die oft den starrstupiden Blick einer aufblasbaren Gummisexpuppe annehmen konnten, füllten sich mit satanischem Entzücken: „Iiih! Mein ‚Unter-Ich’! Was machst Du denn schon wieder hier?“

Lachend lief sie zu ihm herüber und drückte ihm einen herzlichen Kuß auf seine samtweiche Wange, den er mit gespieltem Ekel abzuwehren versuchte.

Da öffnete sich hinter ihm die Wohnungstür erneut, und eine weitere exotische Gestalt betrat schüchtern den Raum.

„Oh nein: Es hat sich nicht abschütteln lassen!“, rief Tourette kichernd aus. Ihnen allen war sofort klar, daß Tourette seinen Bruder Midinette mit Absicht irgendwo auf dem Weg hierher abgeschüttelt hatte, um sich selbst somit einen effektvolleren Soloauftritt zu ermöglichen und um Midinette anschließend zu seinem Objekt des Spottes werden zu lassen.

Midinette schien ein trauriger Abklatsch seines jüngeren Bruders zu sein. Unglücklich stand er mit seinem eingefallenen Mausgesichtchen neben der Tür, und unter seiner betont männlich geschnittenen Lederjacke trug er ein orangefarbenes Hemd aus den 70’ern, das dem seines Bruders an Häßlichkeit in nichts nachstand. Höchstwahrscheinlich hatte Tourette selbst ihm zuvor dieses Outfit verpaßt, um sich nun über den ansonsten so prüden und wohlgekleideten Bruder totzulachen, der in dieser Aufmachung in der Tat wie eine frustrierte Barbiepuppe im Supermannkostüm wirkte.

Kaum jemand konnte mit dem Zynismus der beiden etwas anfangen - und viele fühlten sich durch sie sogar beleidigt. Aber wer sie besser kannte, der wußte, daß sich hinter ihrer vulgären, obszönen und boshaften Schale ein äußerst liebenswürdiger Kern verbergen konnte. Im Allgemeinen waren sie als die „siamesischen Zwillinge“ - beziehungsweise als die beiden „Unzertrennlichen“ (jene Papageienart, die angeblich nur im Doppelpack überleben kann) - bekannt. Doch auch weitaus phantasievollere Bezeichnungen, zumeist von Midinette und Tourette selbst geprägt, waren in regelmäßig wechselndem Turnus im Umlauf. Hierzu zählte unter anderem die derzeitige Benennung als Sigmund Freuds „Ich und Es“, die jedoch auch manchmal mit der älteren Betitelung als „Materie und Anti-Materie“ abwechseln konnte. Da sie sich selbst, seit Jahren schon, offiziell als „Midinette dé Rangée“ und „Tourette dé Mésurée“ vorstellten, wußten nur die wenigsten überhaupt ihre wahren Namen, Michael und Thomas, die sie hier in Paris wohl aufgrund ihres allzu deutschen Klanges irgendwann abgelegt hatten. Wie sie stets gerne hervorhoben, waren sie die einzigen Söhne eines „preußischen Generals“, der sie gleich beide an den Teufel verloren hatte - und die mit ihrer Homosexualität alles andere als zimperlich umgingen. Thomas alias Tourette sei dabei angeblich derjenige gewesen, der seinem älteren Bruder Michael diesbezüglich die Augen geöffnet hatte. Stets versuchte er, „einen richtigen Kerl“ aus ihm zu machen - was jedoch bei Michael alias Midinette, der eher den intellektuell-femininen Part übernahm, zumeist schiefging. Und das nicht selten, wie zum Beispiel bei der heutigen Transaktion mit der Lederjacke, durch Tourettes spöttisches Zutun: denn wieder einmal war aus seinem eigenen Projekt, den timiden Bruder als einen „Marlon Brando“ in Szene zu setzen, lediglich eine billige, unglaubwürdige „Marlona Branda“ hervorgegangen...

Traf man jedoch irgendwo per Zufall nur einen der beiden an (was höchst selten war), so wunderte man sich über die beinahe engelhafte Friedfertigkeit eines jeden Individuums, welches nur bei gemeinsamen Auftritten die Kraft zur Bösartigkeit aus der Verbindung mit dem anderen schöpfte. Man hatte den Eindruck, daß der eine ohne den anderen gar nicht existieren konnte - und dieser Eindruck wurde zudem durch die Tatsache genährt, daß sich beide ein einziges Appartement teilten, worin sie in den Augen der anderen eine undurchsichtigmakabere Beziehung führten.

Obwohl sie garantiert bei jedem größeren Anlaß anzutreffen waren, lebten sie doch in Isolation und gemeinsamer Einsamkeit, in die sie sich irgendwann einmal selbst gedrängt hatten, und aus der sie nun nicht mehr herausfanden. Ihre ursprüngliche Waffe gegen Anfeindungen und Beleidigungen, der Zynismus, führte nun systematisch dazu, einen jeden zu vergraulen, so schlecht- oder wohlgesonnen er ihnen auch sein mochte. Je mehr sie sich aber gemeinsam in die Isolation drängten, desto größer wurde ihre Frustration und ihre Bösartigkeit. Es war ein Teufelskreis, an dem sie früher oder später scheitern mußten.

Obwohl sie nach Freunden und Gleichgesinnten suchten, wiesen sie diese gleichzeitig wieder zurück. Birgit liebte und schätzte sie beide sehr, denn niemand sonst brachte es jemals fertig, sie durch seine gewollte Peinlichkeit derart zum Lachen zu bringen wie diese beiden schrägen Vögel. Während ihrer gemeinsamen Studienzeit hier in Paris hatte sie oft Rat oder Trost bei dem einen oder anderen gesucht. Geschah es aber, daß sie auf beide gleichzeitig stieß, wurde aus dem netten Beisammensein bald ein bösartiger Kampf, in dem die beiden eine derart starke, verletzende Einheit zu bilden verstanden, daß Birgit oft fliehen mußte, um nicht in Stücke gerissen- und ebenfalls ein Opfer ihres Reiches, der Depression, zu werden. In größerer Gesellschaft wiederum, waren sie höchst amüsant - und so bogen sich auch am heutigen Abend alle Beteiligten vor Lachen.

Als Midinette, der wahrscheinlich aus Scheuheit nicht wagte einzutreten und bei Tische Platz zu nehmen, immer noch in voller Montur, mit verschränkten Armen, rücklings gegen den abgerundeten Holzpfosten des Treppenaufgangs ins Obergeschoß lehnte, bemerkte Jacopo höflich: „Möchtest Du Dich nicht auf einen Stuhl setzen?“

Entweder um seinen Bruder zu verteidigen - oder aber um ihn, im Gegenteil, der Lächerlichkeit preiszugeben (denn das konnte man bei den beiden nie so genau wissen), bemerkte Tourette rasch: „Keine Angst - die müßte sich schon aufs Centre Pompidou setzen, um überhaupt etwas zu spüren!“

Lediglich Reinhard, der Birgit die ganze Zeit über keinen Moment aus den Augen gelassen hatte, schien jedoch von „Midinettes und Tourettes Tunten-Zirkus“, wie er es später definierte, wenig beeindruckt. Demnach war er auch der erste, der sich bei allen Anwesenden empfahl und das Haus verließ.

5

Am nächsten Morgen erzählte Birgit ausführlich von den gestrigen Begebenheiten, und Rosetta war verärgert, daß Birgit sie nicht ebenfalls eingeladen hatte. Als Birgit sie nun jedoch bat, sie und Reinhard ins Museum zu begleiten, hatte Rosetta plötzlich „noch etwas Wichtiges zu erledigen“. Aber noch bevor Birgit das Haus verließ, fiel irgendwo in der Wohnung eine Tür ins Schloß: die Tür zu Rosettas Schlafzimmer...

Reinhard erwartete sie bereits auf dem sonnenüberfluteten Platz vor dem Musée d’Orsay. Angesichts des schönen Frühlingswetters fiel es Birgit ein wenig schwer, eine überfüllte und stickige Ausstellung in Angriff zu nehmen.

„Guten Morgen, Reinhard. Gut geschlafen?“

Sie deutete, nachdem er bejaht hatte, auf das große Portal, über welchem ein reich verziertes Plakat die derzeitige Art-Nouveau-Ausstellung verkündete:

„Sollen wir?“

Nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hatten, erwiderte er:

„Falls es nicht zu lange dauern wird, könnten wir vielleicht anschließend irgendwo in der Sonne zu Mittag essen - oder zumindest einen Kaffee trinken?“

Offensichtlich hatte auch er sich bereits in Gedanken mit der weiteren Planung ihres gemeinsamen Tages beschäftigt, und Birgit freute sich darüber, daß sein Interesse an ihrer Gesellschaft über den reinen Besuch der Ausstellung hinausging.

Die Säle waren wider ihres Erwartens ungewöhnlich leer und still - nur einige junge Kunststudenten und kleine Grüppchen aufgedonnerter Gattinnen pensionierter Industrieller hatten sich hier zu dieser frühen Morgenstunde eingefunden. Die Ausstellung beherbergte eine Fülle von Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen und Architekturmodellen bekannter Künstler der Jahrhundertwende und vermittelte dem Besucher somit ein lebendiges und facettenreiches Bild der damaligen Kunst- und Kulturszene.

Mit Reinhard an ihrer Seite wurde dieser Museumsbesuch zu einem unvergeßlichen Erlebnis. Seine Bemerkungen und Erläuterungen erschienen Birgit derart geistreich und unterhaltend zugleich, daß sie ihn aufrichtig zu bewundern begann. Sie hatte nicht das Gefühl, einem Unbekannten gegenüberzustehen, zumal einem spröden Paragraphenreiter, sondern vielmehr einem Kunsthistoriker - oder gar einem Künstler - denn er gab die Dinge um sie herum mit einer derartigen Poesie und einem Feingefühl wieder, als hätte er täglich mit ihnen zu tun - beziehungsweise als würde sein Geist sie selbst erschaffen.

Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein kleiner Saal, der bis auf einige versenkte Scheinwerfer, die das Kunstobjekt in ein unwirkliches, grünes Licht tauchten, völlig abgedunkelt war. In der Mitte des Raumes stand auf einem schwarzen Podest der komplette Eingang einer Pariser Metrostation von Hector Guimard aus dem Jahre 1900.

„Schau Dir das an...“, flüsterte Reinhard ehrfürchtig, „Und dann schau Dir diese gräßlichen Dinger an, mit denen sie heutzutage das gesamte Straßenbild der Städte verschandeln!“

In Gedanken versuchte Birgit sich eine zeitgenössische, grell gekachelte U-Bahn-Station auf diesem feierlichen Podest vorzustellen.

„Damals herrschte noch ein völlig unschuldiges, romantisierendes Bild von der Industrie“, flüsterte er ihr zu, „Sieh Dir nur die Bahnhöfe aus dieser Zeit an... oder selbst die Fabrikbauten! Wieso sind wir heutzutage nicht mehr dazu fähig, technischen Fortschritt und Funktionalität mit Ästhetik und Tradition zu verbinden? Seit dem Kriege wird alles zunehmend einfacher, handlicher und pflegeleichter - welch Verhöhnung der Menschheit! Sind wir etwa einfach? Sind wir etwa handlich und pflegeleicht? Wenn man uns weiterhin mit Kunststoff- und Einwegprodukten den Sinn für Ästhetik und Tradition abtötet, dann werden wir wirklich eines Tages einfach, handlich und pflegeleicht sein: ein Heer verwöhnter, naturfremder und bezugsloser Zyniker, Neurotiker und Psychopathen, die ihre äußere Anpassung durch eine innere Selbstzerstörung kompensieren werden!“

Er schrie die letzten Sätze förmlich heraus - und obwohl sie ihm im Grunde Recht geben mußte, war Birgit erstaunt, sogar verängstigt, welch Übermaß an Wut und Aggressivität unter seiner so perfekt und absolut selbstdiszipliniert wirkenden Oberfläche brodelte. So plötzlich und unerwartet der Sturm auch aufgezogen war, genauso schnell verzog er sich wieder. Mit einem ähnlich verklärten Blick wie zu Anfang des Ausbruchs flüsterte er: „Diese Formen, diese Bewegungen... sind es noch Pflanzen oder sind es schon Tiere? Diese hoch aufgereckten, wild verschlungenen Kreaturen, die zu beiden Seiten des Eingangs wachen, beinahe bedrohlich... aber dennoch, wie einst die Sirenen Odysseus, den Menschen mit ihrem geheimnisvollen rotorangenen Leuchten becircend, um ihn in ihr unterirdisches Reich zu locken... in eine andere Welt mit anderen Regeln und Mächten... den Hades.“

Ein schöner Diskurs, fand Birgit, aber etwas an Reinhards Stimme hatte ihr nicht gefallen. Zischelnd und schmeichelnd stellte sie im Halbdunkel eine instinktive Gefahr für sie dar. Aus diesem Grunde war sie erleichtert, als sie den Saal verließen, und als sie Reinhard nun endlich wieder bei natürlicher Beleuchtung sehen konnte...

6

Nachdem sie in einem kleinen Restaurant zu Mittag gegessen hatten, entschlossen sie sich zu einem Spaziergang entlang des Flusses. Das Sonnenlicht war für diese Jahreszeit ungewöhnlich intensiv, und die goldenen Strahlen tanzten auf den Wellen. Kleinere und größere Schiffe tuckerten an ihnen vorbei, während sie auf dem Kopfsteinpflaster der Uferböschung entlang schritten. Hinter den bereits dicht belaubten Kronen der Kastanienbäume erhoben sich auf der gegenüberliegenden Flußseite die glänzenden Dächer des ehemaligen Königsschlosses, und kleine bunte Gestalten ruhten sich in den Schatten der Bäume aus, lasen, schliefen, oder winkten den vorbeiziehenden Schiffen zu. Hoch über ihren Köpfen spannten sich anmutig eiserne, bald darauf steinerne Brücken über das grün schimmernde Wasser. Die Fassaden der zum Fluß schauenden Gebäude bogen sich zu ihnen hinab - alt, schlicht, von der Sonne gebleicht. Ihr einziger Schmuck waren prächtig gestaltete schmiede- und gußeiserne Balkone und Geländer, die sich dunkel von den Wandflächen absetzten. Die Dächer aus Schiefer oder silbernem Titanzink waren so hochgewölbt wie umgedrehte Schiffsrümpfe, jeweils abgetrennt durch eine in die Höhe gezogene Wand, deren Ende durch rottönerne Kaminrohre bekrönt wurde.

Reinhard und Birgit diskutierten ohne Unterlaß. Unangenehme Gesprächspausen, wie sie so oft bei sich gegenseitig nicht bekannten Menschen entstehen, konnten erst gar nicht aufkommen, denn keiner von ihnen hatte das Gefühl, sich mit einem Fremden zu unterhalten. Die jeweiligen Fragen und Antworten waren ihnen auf diese Weise derart vertraut und beinahe vorhersehbar, daß Birgit das Gefühl erhielt, einen fehlenden Teil von sich wiedergefunden zu haben. Es war, als spräche sie mit sich selbst - wobei diese, ihr vorher unbekannte, Hälfte ihrer selbst mittlerweile ein eigenes Leben führte, aber dabei dennoch stets in Abhängigkeit zu ihrem ursprünglichen Ich blieb.

Inzwischen hatten sie die kleine steinerne Brücke überquert und befanden sich auf einer der beiden Inseln, die mitten im Stadtgebiet den Fluß teilten. Die Insel wurde von einer prächtigen Kathedrale beherrscht, deren Frontfassade wegen ihrer fehlenden Turmspitzen für gotische Verhältnisse zu massiv, beinahe kubisch wirkte. Die späte Nachmittagssonne traf sie frontal mit ihrem rötlichen Schein, so daß haarfeine schwarze Schatten die Vielzahl filigraner Steinmetzarbeiten hervortreten ließen - und gegen Tagesende hatte sich diese Westfassade in ihrer Gesamtheit zu einer einzigen glühenden Goldschmiedearbeit verwandelt. Das große runde Auge über dem Hauptportal reflektierte die Zeit und erzählte dem Betrachter Geschichten und Legenden von der Stadt, als diese sich noch dicht an die Mauern der Kathedrale schmiegte und die Grenzen der kleinen Insel noch nicht zu überschreiten wagte.

Sie gingen an den weit ausladenden Strebepfeilern vorbei, durchquerten den kleinen sandigen Park hinter dem Chor, um über eine weitere Brücke auf die nächste Insel zu gelangen. Zahlreiche Cafés und Restaurants reihten sich wie Perlen an einer Schnur entlang der Uferpromenade auf. Die Menschen an ihren Tischen genossen den herrlichen Ausblick auf die Stadt und deren letztes Aufglühen in der roten Abendsonne. Von Gesprächsfetzen, Gelächter und Geklapper von Geschirr begleitet, stiegen sie die steinernen Treppen hinab, um sich auf dem noch immer erwärmten Basaltpflaster der Uferböschung niederzulassen.

Reinhard zog sich die Schuhe aus und tauchte seine Füße in das dunkle, eiskalte Wasser.

„Herrlich!“, sagte er leise und legte seine Strümpfe neben den Schuhen auf den Steinplatten aus, „Vorgestern früh habe ich Süddeutschland verlassen und somit den Winter gegen den Frühling eingetauscht.“

„Auch hier hatten letzte Woche noch längst nicht alle Bäume ausgetrieben“, erwiderte sie, „Die Platanen und die Robinien lassen sich ja immer am längsten bitten.“

Reinhard blickte versonnen auf das schwarze Wasser. Schließlich begann er leise seine Lippen zu bewegen - so, als spräche er ein Gebet:

„Ich habe kahle Wälder durchquert, bin über schneebedeckte Höhenzüge und brachliegende Felder gefahren... eine schwarzbraune vereiste Landschaft, aus der alles Leben gewichen zu sein schien...“, er zog seine Füße aus dem kalten Wasser zurück, „Dann habe ich geschlafen, tief und lange... Und als ich erwachte, war ich in einem anderen Land, in einer anderen Zeit... Etwas muß in dieser Nacht mit dem Zug geschehen sein... Ein Zeitsprung... Ich hatte mit einem Mal die dunklen, gefrorenen Wälder hinter mir gelassen, und fuhr nun durch satte grüne Weiden mit wogenden Narzissen; rauschende Kronen mächtiger Eichen und Pappeln schnitten die ins Abteil fallende Sonne in rhythmische Streifen - ein ewiger Wechsel von Schatten, Licht, Schatten, Licht... Von Abdrücken des Lebens und von lebensspendender Kraft...“

Er sprach langsam und leise. Es war, als rezitiere er ein ihr unbekanntes, aber dennoch vertrautes Gedicht. Noch nie zuvor hatte sie einen Menschen kennengelernt, dessen Gedanken derart poetisch, abstrakt und zugleich melancholisch waren - und sie begann sich zu fragen, wer er wirklich war, was er hinter all seinen vielschichtigen Persönlichkeiten wirklich fühlte, wußte, verbarg. Sie spürte, daß er sie schätzte, vielleicht sogar mehr als das. Vielleicht. Sie gab ihm Hoffnung. Die Begegnung mit ihr war der Zeitsprung gewesen, dessen war sie sich sicher. Aber, so fragte sie sich, stellte sie die „lebensspendende Kraft“ oder lediglich einen „Abdruck des Lebens“ für ihn dar?

„Bist Du oft einsam?“, fragte sie intuitiv - und er lachte. Er lachte sein typisches Lachen, mit Hilfe seines Mundes und seiner Stimmbänder - doch seine Augen blieben stets starr und prüfend. Sie konnte sein Lachen zwar deutlich hören - aber sein geöffneter Mund schien die enttäuschten und gequälten Augen dabei zu verspotten. Es war das Gesicht eines Opfers und seines Täters zugleich, wie Birgit fand. Es erregte ihr Mitleid und ihre größte Furcht. Es war längst nicht mehr das Gesicht eines Menschen, so dachte sie, es erschien ihr vielmehr wie die Fratze des Wissens und des abgrundtief Bösen. Sie konnte diesem durchdringenden Blick nicht länger standhalten und schlug ihre Augen nieder.

„Tz... ‚einsam’! Was ist schon die Einsamkeit?“, murmelte er vor sich hin, „Doch schließlich nur das eigene Unvermögen zum Glück! Einsam ist lediglich derjenige, der die Spielregeln des Lebens immer noch nicht gelernt hat und den das Leben deswegen andauernd bestraft. Nein: Einsamkeit ist etwas für Versager. Und ich bin kein Versager!“

„Oh!“, unterbrach Birgit ihn mit betroffener Miene, „Das wollte ich auch gar nicht behaupten! Ich wollte lediglich...“

„Na, dann denk vorher ein bißchen besser nach, bevor Du derartige Fragen stellst!“, der Ton seiner Stimme hatte sich inzwischen verändert und flößte Birgit Unbehagen ein, „Nur wer keinen Sinn in seinem Leben sieht, der gibt freilich vor seiner Zeit auf und sucht in seiner Einsamkeit, die ja nichts weiter als eine Isolation von der Welt, sozusagen ein frühzeitiger Tod zu Lebenszeit, ist, Zuflucht. Bin ich etwa Deiner Meinung nach ein Mensch, für den das Leben keinen Sinn ergibt?“

„Aber nein, Reinhard, ich bitte Dich!“, Birgit war völlig außer sich, „Nimm doch meine Worte von vorhin nicht so ernst! Ich hatte lediglich das Gefühl, daß Du ein Mensch bist, der sehr zurückgezogen lebt. Das kann man doch auch durchaus positiv bewerten, oder etwa nicht?“

„Die Sinnlosigkeit ist eine sehr geschickte Jägerin“, bohrte er dennoch weiter, „sie hat in dieser Welt, die eine rein materielle geworden ist, Tausende Möglichkeiten, um sich unerkannt zu verstecken und sich somit hinterrücks an ihre Opfer heranzuschleichen.“

Birgit spürte, daß sie da vorhin mit ihrer leichtfertigen Frage verbotenes Terrain betreten hatte. Sie hatte eine Tür in Reinhards Inneren aufgestoßen, die offensichtlich für andere tabu war.

„Ich gebe jetzt Deine Frage von vorhin wieder an Dich zurück:“, Reinhards Gesicht glich nun der teuflischen Fratze eines Spielers, „Siehst Du in Deinem Leben einen Sinn?“

„Na ja...“, stotterte sie verlegen. Er hatte sie offensichtlich in eine Falle gelockt.

„Was ist überhaupt die Sinnlosigkeit?“, er schien ihren gelähmten und schockierten Zustand geradezu auszukosten, „Was ist in Deinen Augen sinnlos?“

Sie verspürte nichts sehnlicher als den Wunsch, dieses Thema zu beenden.