Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Copyright
Das Buch
Die Polizei jagt den ersten Serienmörder des Landes, doch bei ihren Ermittlungen tappt sie völlig im Dunkeln. Das erhöht den Druck auf Kommissarin Katrine Bergman und ihr Team ungeheuer, denn der Täter ist ein pädophiler Psychopath, der im Glauben ist, er sei Peter Pan. Bei seinen Opfern, die er kurz vor ihrem Geburtstag nachts aus ihren Kinderzimmern entführt, hinterlässt er ein Abziehbild mit einem Motiv aus der Pan-Geschichte. Als erneut ein Junge aus Maja Holms Nachbarschaft entführt wird, schaltet sich die junge Ärztin in die Ermittlungen ein. Es gelingt ihr, die Identität des Täters auszumachen. Sie alarmiert die Polizei, doch der Täter hat Maja längst im Visier. Sie allein könne den entführten Jungen retten. Wenn sie zu einem Treffen mit Peter Pan bereit ist. Maja willigt ein …
Der Autor
Michael Katz Krefeld, 1966 geboren, wohnt in Kopenhagen und Berlin. Er arbeitet als Creative Producer bei einer TV-Gesellschaft. Daneben schreibt er Drehbücher für namhafte dänische Fernsehserien. Nach Die Anatomie des Todes, das in Dänemark als »Bestes Debüt 2008« ausgezeichnet wurde, legt er mit Die Geisel seinen zweiten Kriminalroman um Maja Holm vor.
Weitere Informationen über Mikael Katz Krefeld und seine Bücher unter www.michaelkatzkrefeld.dk
1
Es war gegen drei Uhr morgens, als der dunkelblaue Ford Transit durch das Villenviertel rollte. Søren Rohde umfasste mit beiden Händen den untersten Teil des Lenkrads. Er hatte absichtlich die Scheinwerfer ausgeschaltet. Als er in den Krystalvej einbog, fuhr er bis zur Nummer fünfzehn und hielt dort an. Er stellte den Motor ab und blieb im Dunkeln sitzen. Es war eine mondlose Nacht, nur die Straßenlaternen warfen ein fahles Licht auf den Asphalt. Søren stieg aus dem Wagen und schloss lautlos die Tür. Er war schmächtig gebaut und gerade zweiundvierzig geworden, sah aber wegen seiner Stupsnase und dem blonden, engelhaften Haar wesentlich jünger aus.
Die Luft war warm und knochentrocken. Eine weitere der vielen Tropennächte dieses Sommers. Søren spürte, wie ihm sein T-Shirt am Rücken klebte. Eigentlich war es viel zu warm, um die grüne Windjacke darüber zu tragen, doch er hatte seine Gründe.
Er ging um den Wagen herum und bemerkte die zerquetschte Kröte auf der Straße. Sie lag auf dem Rücken, die Eingeweide quollen aus ihr heraus. Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass er sie womöglich überfahren hatte. Aber der Kadaver war bereits eingetrocknet, es musste also früher am Tag geschehen sein.
»Armer Herr Kröterich«, murmelte er und ging die Auffahrt hinunter.
Durch seine Beobachtungen wusste Søren, dass die Backsteinvilla von einem älteren Ehepaar bewohnt wurde. Er wusste auch, dass die beiden an diesem Morgen mit ihrem Hyundai samt Wohnwagen in den Urlaub gefahren waren. Doch war er weder an ihnen noch ihrem Haus interessiert. Vielmehr war es das Loch in der Gartenhecke, auf das er es abgesehen hatte.
Seine Finger tasteten im Dunkel, ehe er die teils zugewachsene Öffnung fand. Geschmeidig kroch er hinein und drang in geduckter Haltung in den angrenzenden Garten vor, ohne das kleinste Geräusch zu verursachen oder Fußabdrücke auf der trockenen Erde zu hinterlassen. Auf der anderen Seite angekommen, wischte er sich vorsichtig seine Hände sauber, holte die roten Gummihandschuhe aus der Innentasche seiner Jacke und zog sie an. Sie spannten sich stramm um seine Finger – ein Gefühl, das ihm außerordentlich gut gefiel. Er nahm ihren Talkumgeruch wahr. Es war ein seltsamer Duft, und er fühlte sich vollkommen sicher.
Vor ihm lag das weiß gestrichene Haus. Er hatte sich absichtlich von hinten genähert, um nicht von der Straße aus gesehen zu werden, die an die Vorderseite angrenzte. Niemand hatte ihn kommen sehen, und was noch wichtiger war: Niemand würde sehen, wie er mit seiner Beute wieder verschwand. Er blickte zum Fenster im ersten Stock hinauf. Wie erwartet war es gekippt. Der mit historischen Flugzeugen gemusterte Vorhang bewegte sich sacht in der sanften Brise.
Søren überquerte die ausgebleichte Rasenfläche und schlich zur Garage hinüber. An der Rückseite hing eine Leiter, die er mitnahm. Er trug sie zum Haus, drehte sie um und lehnte sie unmittelbar unterhalb des Fensters im ersten Stock an die Hausmauer. Vorsichtig kletterte er zum Fenster hinauf, schob seinen Zeigefinger in den schmalen Spalt und löste die Fensterhaken.
»Als hätte der Atem kleiner Sterne sie gelöst«, flüsterte er.
Auf der gegenüberliegenden Seite des schmalen Kinderzimmers lag ein kleiner Junge in seinem Bett und schlief. Søren schlängelte sich an dem Mobile mit Modellflugzeugen vorbei, das von der Decke baumelte. Es war ein hübsches Zimmer. An den hellblauen Wänden hingen Poster mit Comicfiguren. Er gab acht, dass er nicht versehentlich auf eines der auf dem Boden verstreuten Spielzeuge trat. Er beugte sich über den Jungen und sog seinen Geruch ein. Ein süßlicher Duft stieg aus der Wärme des Bettes auf. Søren biss sich in die Wangen, bis ihm Tränen in die Augen stiegen. Bis sein Begehren langsam wieder verschwand.
In einer fließenden Bewegung ließ er seine Hand dicht am Gesicht des Jungen vorbeistreichen. Eine giftgrüne Staubwolke stob von seinem Handgelenk auf. Søren lächelte stolz. Noch die kleinste Bewegung führte er genau so aus, wie er geplant hatte. Die feuchten Perlen der zerstäubten Flüssigkeit legten sich auf Nase und Mund des Jungen. Er inhalierte die Flüssigkeit im Schlaf und gab ein leises Niesen von sich.
»Gesundheit«, flüsterte Søren und setzte sich behutsam auf die Bettkante. Im Haus war es vollkommen still. Er hörte das Ticken des Micky-Maus-Weckers auf der Kommode. Nach ein paar Minuten schüttelte Søren vorsichtig den Fuß des Jungen.
»Oliver … Oliver, bist du wach?«, fragte er leise. »Oliver …?«
Oliver drehte sich auf die Seite, blinzelte und setzte sich halb auf. Søren sah ihm in die Augen. Er konnte nicht beurteilen, ob die Substanzen bereits ihre Wirkung entfalteten oder ob die Pupillen des Jungen deshalb so groß waren, weil er in diesem Moment einen Fremden in seinem Zimmer erblickte.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte Søren. Oliver starrte ihn schweigend an.
»Ich habe ein Geschenk für dich«, fuhr Søren fort.
Oliver blickte zur Tür hinüber. Er wollte aufstehen, aber dazu war ihm zu schwindelig. »Mama …«, stieß er mit erstickter Stimme aus.
»Pst!« Søren hielt ihm den Zeigefinger an die Lippen. »Wir wollen die Erwachsenen da nicht mit reinziehen, Oliver. Du weißt doch, dass man Erwachsenen nicht trauen kann.«
Olivers Blick war matt. Er schluckte den Speichel hinunter, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. »Wer … Wer bist du?«
»Ich bin Peter Pan«, antwortete Søren lächelnd.
»Du … siehst aber nicht aus wie Peter Pan«, entgegnete Oliver.
Søren lachte in sich hinein und flüsterte: »Das ist nur, weil wir noch nicht in Nimmerland sind.«
Oliver versuchte, den Kopf zu heben. »Was machst du … in meinem Zimmer?«
»Ich suche nach meinem Schatten. Kennst du denn nicht die Geschichte von Peter Pan?« Søren verschränkte die Arme und lächelte verschmitzt.
»Doch, aber das ist doch nur ein Märchen.«
»Märchen können auch wahr werden. Sonst wäre ich ja nicht hier.
Oliver rieb sich die Augen. »Was willst du von mir?«
»Nur Gutes, Oliver«, antwortete Søren und strich ihm zärtlich über die Stirn.
»Woher weißt du, wie ich heiße?«
»Ich kenne die Namen aller Kinder.«
»Mein Kopf fühlt sich so komisch an.«
»Das ist Glöckchen, die darin summt.« Søren kitzelte ihn leicht am Bauch, und Oliver konnte nicht anders als ein bisschen zu kichern. »Träumst du denn nicht davon, fliegen zu können?«
Oliver schaute ihn überrascht an. »Jeden Tag, warum?«
Søren bemerkte, dass Olivers Pupillen nun extrem vergrößert waren. Die Substanzen wirkten wie gewünscht.
»Warum kommst du dann nicht mit mir nach Nimmerland?«
»Nimmerland? Wo ist das?«
»Beim zweiten Stern rechts und dann immer geradeaus, bis zum morgigen Tag.«
»Braucht man dazu nicht einen Piloten…schein?« Er schien stolz darauf, ein so seltenes Wort zu kennen.
»Nein, Oliver, das braucht man nicht in Nimmerland. Dort kann man tun und lassen, was einem gefällt. Und weißt du, was das Beste ist?«
»Nein.«
Søren beugte sich vor, formte die Hände zu einem Trichter und flüsterte Oliver etwas ins Ohr. Oliver warf Søren einen raschen Blick zu und wirkte immer noch erstaunlich klar im Kopf. »Wir wollen Piraten töten?«
»Jeden Einzelnen von ihnen, auch Käpt’n Hook, ihren Anführer. Kennst du Käpt’n Hook?«
»Ich hab schon von ihm gehört.«
Søren runzelte die Stirn. »Vergiss alles, was du über ihn gehört hast. Er ist noch viel schlimmer – schlimmer sogar als der Teufel.«
»Als der Teufel?«
»Aber ja, sogar seine eigenen Männer fürchten ihn. Und die haben normalerweise vor gar nichts Angst.«
»Aber will er dann nicht auch uns töten?«
Søren schüttelte den Kopf.
»Nicht, wenn wir in Nimmerland sind. In Nimmerland hat das Böse keine Macht. In Nimmerland sind es die Kinder, die bestimmen.«
»Wirklich?«
»Da kannst du dich drauf verlassen«, versicherte Søren. »Komm, lass uns aufbrechen.«
Oliver sah plötzlich nachdenklich aus. »Ich glaube, dass darf ich nicht.«
»Ach natürlich, ich hatte ja ganz vergessen, dass du noch ein kleiner Junge bist.« Søren knirschte mit den Zähnen.
»Ich bin nicht klein! Ich bin schon neun Jahre alt.«
Søren zuckte die Schultern. »Wir sind noch vor dem Morgengrauen wieder da. Wenn du mitkommst, habe ich ein Geschenk für dich.«
»Was für ein Geschenk?«
»Das darf ich dir leider nicht erzählen, ehe du nicht Ja gesagt hast.«
Oliver konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Na gut, wenn wir ganz schnell wieder zurück sind …«
Søren zog den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück nach unten und steckte die Hand in die Innentasche. Er zog ein kleines, in Leder gebundenes Buch heraus. Peter Pan stand auf dem Umschlag. Er schlug das Buch auf; zwischen den Seiten lag ein ausgebleichtes Blatt mit Glanzbildern, die allesamt Peter-Pan-Motive zeigten.
»Die sind sehr alt und sehr wertvoll. Unersetzlich, wenn du verstehst.«
Oliver nickte ernst.
»Wenn du dich richtig entscheidest, kannst du nach Nimmerland mitkommen und dein Geschenk erhalten«, sagte Søren.
»Woher weiß ich, was das Richtige ist?«
»Man muss in sein Herz hineinblicken, Oliver. Dann kann man sich nicht irren.«
Der Junge sah Søren unschlüssig an und blickte dann auf die Glanzbilder. Offenbar hatte er Schwierigkeiten, sie richtig zu erkennen. Dann deutete er auf eines der Motive. Es zeigte Peter Pan, der sich in die Luft erhob.
Sørens Gesicht leuchtete auf. »Pack deine Tasche, denn jetzt brechen wir auf nach Nimmerland.«
Die Frühnachrichten im Radio widmeten sich der Hitzewelle, deren Ende weiterhin nicht in Sicht sei. Eine ungewöhnliche Verschiebung des Jetstreams sei für die Hitze verantwortlich, die nun schon über drei Monaten andauere. Der Nachrichtensprecher sagte, ein weiterer älterer Mitbürger sei den hohen Temperaturen zum Opfer gefallen. Insgesamt belaufe sich die Anzahl der Todesopfer durch Dehydrierung auf vierzehn Personen. Danach wurde über den Brand eines Einfamilienhauses in einem Villenviertel berichtet. Ausgelöst worden sei er durch einen Unkrautverbrenner, den der Hausbesitzer trotz des allgemeinen Feuerverbots benutzt habe.
»Zum letzten Mal, Ollie, steh endlich auf!«, rief Olivers Mutter,eine korpulente Frau in den Dreißigern.
Sie öffnete den Kaltwasserhahn der Küchenspüle und wusch sich den Rote-Bete-Saft von den Händen. Danach verschloss sie die Tupperdose mit dem frisch geriebenen Rohkostsalat und drehte sich zu ihrem Mann um, der am kleinen Esstisch in der Küche saß.
»Könntest du vielleicht raufgehen und ihn holen?«
Olivers Vater schaute verschlafen von seiner Schale Cornflakes auf. Er war unrasiert und trug ein zerknittertes, schief zugeknöpftes Hemd. Am Ende des Tisches standen eine Flagge und ein paar Geschenke. »Ist doch sein Geburtstag, Jette. Ich fahre ihn nachher zur Schule.«
»Und schnappst dir zwei Tage nacheinander das Auto? Kommt nicht infrage. Oliver, kommst du jetzt endlich!«
»Wie lange dauert denn diese Abmagerungskur noch?«, murmelte ihr Mann.
»Das ist eine Diät, und die dauert noch genau so lange, wie es mir passt.«
Sie durchquerte die Küche und eilte zur Treppe, die in den ersten Stock führte. Mit vier raschen Sprüngen hatte sie den oberen Treppenabsatz erreicht. An Olivers Tür klebte ein Zettel mit der Aufschrift Betreten verboten. Sie ignorierte den Zettel und öffnete die Tür. Im Zimmer war es erstaunlich kühl – sehr ungewöhnlich nach einer weiteren Tropennacht. Vor allem da sie Oliver eingeschärft hatte, nachts niemals das Fenster offen zu lassen; ganz gleich, wie warm es draußen war. Nicht in diesen Zeiten. Sie blickte zum Bett in der Ecke hinüber. Die Decke war zur Seite geschlagen, das Bett leer. Jette schnappte nach Luft. Warum war er nicht da? Sie spürte ihr Herz pochen. Wie ein schwerer Kolben, der von innen gegen ihren Brustkasten schlug. Als sie sich im Zimmer umsah, fiel ihr Blick auf die flatternde Gardine. Die Zugluft setzte das Mobile mit den Modellflugzeugen leicht in Bewegung. Das Fenster musste unter allen Umständen geschlossen bleiben. Sie hastete zum Fenster und schlug die Gardine zur Seite. Das Fenster stand sperrangelweit offen.
Sie blickte in den Garten hinunter und sah die zurückgelassene Leiter auf dem verdorrten Rasen. Jetzt wusste sie, was geschehen war. Jettes qualvoller Schrei schreckte ihren Mann in der Küche auf.

Der Fennec-Helikopter mit Tarnanstrich schwebte im letzten Tageslicht über die Baumkronen. Die hintere Tür stand offen; der lärmende Fahrtwind und das Knattern der Rotorblätter erfüllten das Cockpit. Der Polizeibeobachter saß in der Türöffnung und trug einen Kopfhörer. Er hatte freie Sicht über den Wald und die angrenzenden Wiesen. Mit bloßem Auge konnte er die Mitglieder der Heimatschutztruppe ausmachen, die eine lange Kette gebildet hatten und das Gelände durchkämmten. Ihr schleppender Gang verriet, dass die ganztägige Suche bei brütender Hitze sehr kräftezehrend gewesen war. Der Beobachter richtete den Blick auf das Terrain zu seinen Füßen. Er nahm die Wärmebildkamera zur Hand und spähte in Richtung Wald. Zwischen den Bäumen leuchteten rote Konturen. Die Hundestaffel war tief in den Wald eingedrungen. Durch die thermografische Bildwiedergabe sahen die Hunde wie Gespenster aus, die zwischen den Bäumen umhertanzten. Hinter ihnen gingen die Hundeführer. Der Beobachter gab dem Piloten ein Zeichen, weiter nach Osten in Richtung Küste zu fliegen. Er rief die Einsatzleitung und meldete ihren neuen Kurs.
»Verstanden Flugobs 1, Ende.« Polizeirätin Katrine Bergman legte das Funkgerät auf das Dach ihres schwarzen Ford Mondeo.
Sie hatte die Einsatzleitung auf dem Parkplatz am Westwald postiert. Das große Aufgebot an Streifenwagen hatte viele Schaulustige angezogen; der Parkplatz war schon am Morgen ordnungsgemäß abgesperrt worden.
Sie trocknete sich den Schweiß von der Stirn und fuhr sich mit der Hand durch ihre dunklen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare.
»Gibt es etwas Neues von P1 im Villenviertel?«
Kriminalkommissar Tom Schæfer schüttelte missmutig den Kopf. Er war ein kleiner, blassgesichtiger Mann Ende dreißig mit melancholischen Augen, deren linkes ein wenig nach unten hing. »Noch nicht. Sie befragen immer noch die Nachbarn. Die Zeitungsausträger konnten leider auch nichts berichten.«
»Es muss doch irgendjemanden geben, der einen Jungen im Pyjama gesehen hat, der zudem seine Schultasche dabeihatte.«
Tom wich ihrem Blick aus und nickte bloß.
»Wie weit seid ihr noch vom Wald entfernt, Henrik?«
Sie warf dem übergewichtigen Mitglied der Heimatschutztruppe einen fragenden Blick zu. Trotz der großen Wärme war seine Uniform pflichtschuldig zugeknöpft.
»Bis zum Sonnenuntergang werden wir mit den Wiesen fertig sein«, versicherte er.
»Ausgezeichnet.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete die topographische Karte, die auf der Kühlerhaube ausgebreitet lag. Ihr schwarzes T-Shirt verriet, wie durchtrainiert sie war. Die Gebiete, die sie in den letzten Tagen durchkämmt hatten, waren schraffiert. Nun konzentrierten sie sich auf den nördlichen Teil des Waldgebiets. »Was ist mit dem Wald?«
Der Leiter der Hundepatrouille kniff die Lippen aufeinander. »Es ist ein sehr großes Areal, außerdem werden die Hunde langsam müde.«
»Ich will nicht, dass er noch eine weitere Nacht dort liegt. Wenn es sein muss, zieht die Hunde der Antiterroreinheit hinzu.«
»Gehen wir immer noch davon aus, dass er noch am Leben ist? Ich meine, die anderen Jungen …«
»Oliver lebt, und wir werden ihn finden, okay?«
Sie sah nacheinander die Männer an, die sich um sie gruppiert hatten. Alle nickten ihr zu. Im nächsten Moment dröhnte ein Hubschrauber über ihren Köpfen. Er hatte die Sonne im Rücken und sah aus wie ein kreisender Geier, der seine Beute ins Visier nimmt.
»Unser Heli ist doch über dem Fjord, oder?«, brüllte Katrine gegen den Lärm an.
»Das ist der Hubschrauber von TV 2«, entgegnete Tom.
»Sorg dafür, dass sie sofort wieder verschwinden. Wenn sie es nicht freiwillig tun, dann schieß sie ab.«
Tom zögerte eine Sekunde, dann nickte er und lief zum nächsten Streifenwagen, um das Polizeipräsidium zu verständigen. Der Hubschrauber hatte inzwischen wieder an Höhe gewonnen.
Katrines Funkgerät knatterte. »Hundestaffel 1 an Einsatzleitung.«
Sie nahm das Funkgerät vom Dach. »Hundestaffel 1, was gibt’s?«
Es war der Einsatzleiter der ersten Hundestaffel. »Wir haben ihn … Wir haben den Jungen gefunden.« Katrine kannte ihn als erfahrenen Beamten, dennoch hatte seine Stimme einen erstickten Klang. »Komm her, und sieh es dir selber an. Ein paar hundert Meter nördlich der Einsatzleitung. Am Waldsee.«
Das meterhohe Schilf wiegte sanft in der Abendbrise. Die Dämmerung senkte sich über den ausgetrockneten Waldsee. Katrine kam gemeinsam mit ihrem Leuten am Fundort an. Die Hundeführer hielten ihre Hunde an der Leine. Pfeifende Geräusche drangen durch den Wald. Das war kein gutes Zeichen. Ein solches Pfeifen war nur zu hören, wenn es nach Tod roch.
Katrine bat Tom, ihr zu folgen. Gemeinsam gingen sie den Trampelpfad entlang, der durch das Schilf führte. Sie bewegte sich mit äußerster Vorsicht, um etwaige Spuren nicht zu verwischen. Ein Summen kam ihnen entgegen, wie von Hunderten kleiner Hubschrauber. Plötzlich blieb Katrine stehen. Vor ihr war das Schilf heruntergebogen und gab eine kleine Lichtung frei. Oliver ruhte auf einem Lager, das aus abgerissenen Gräsern bestand. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet. Er trug einen Pyjama. Die Schultasche lag wie ein Kissen unter seinem Kopf. Katrine trat zu ihm und ging in die Knie. Seine Augen waren geschlossen, das Gesicht wie Pergament, das im bläulichen Abendlicht schimmerte. Die Wärme hatte den Leichnam, den die Fliegen begierig umschwirrten, mürbe gemacht. In Wahrheit war dies momentan der einzige Lichtblick. Die schlüpfenden Maden würden dem Pathologen helfen, den Todeszeitpunkt festzustellen. Sie erkannte deutlich die Flecken an Olivers Hals. Er war erwürgt worden, kein Zweifel. Sie betrachtete seine gefalteten Hände. Katrine zog einen Kugelschreiber aus der Tasche. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt, und sie wusste, dass man die Finger in diesem Stadium nicht mehr voneinander trennen konnte. Stattdessen schob sie den Kugelschreiber vorsichtig unter den Händen hindurch und zog das Glanzbildchen mit dem Peter-Pan-Motiv hervor. Es entsprach genau denjenigen, die sie bei den anderen Opfern gefunden hatte.
»Wieder derselbe Täter?«, fragte Tom. Er ließ erschöpft die Arme hängen. Das meterhohe Schilf machte ihn kleiner als er war.
Auf dem Rückweg durch das Schilf instruierte sie Tom, welche Techniker sie aus den verschiedenen Abteilungen haben wollte.
Als sie aus dem Schilf herauskamen, ging sie zum Einsatzleiter der Hundestaffel.
»Hat Ingeman immer noch diese hässliche Promenadenmischung?«
»Den Spermaschnüffler? Ja, der erfreut sich bester Gesundheit.«
»Würde der auch hier was finden, und wenn es nur die geringsten Spuren sind?«
»Der Köter würde sogar Samenflecken auf einer Nonne erschnuppern.«
»Dann bring ihn hierher. Wenn unser Täter auch nur den kleinsten Tropfen verloren hat, dann will ich, dass der bei uns im Labor landet.«
Tom kam zu ihr. »Normalerweise hinterlässt er doch überhaupt keine Spuren.«
Katrine zuckte die Schultern. »Vielleicht haben wir diesmal ja mehr Glück.« Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen. »Ingeman wird die Lichtung als Erster durchsuchen. Noch vor den Rechtsmedizinern, vor den Technikern oder irgendjemandem sonst, habt ihr das verstanden?«
Alle nickten.
»Tom, du übernimmst hier die Leitung, bis ich wieder da bin.«
»Wo willst du hin?«
Sie wandte den Blick ab. »Zu Olivers Eltern, um ihnen zu sagen, dass ihr Sohn nicht zurückkommen wird.«
Katrine stapfte allein durch den Wald, während die Beamten ihr nachblickten. Drei Jungen waren in ebenso vielen Monaten getötet worden. Seit dem Einsetzen der großen Hitze. Obwohl die Sonne untergegangen war, herrschte immer noch eine brütende Wärme.
2
Maja begrüßte Annbrit und Carsten im Eingangsbereich.
»Hallo und herzlichen Glückwunsch«, sagte Annbrit.
Die Kindheitsfreundin und ihr Mann waren die letzten Gäste, die eintrafen. Maja war froh darüber, nicht noch mehr Leute umarmen zu müssen. Vor allem, weil sie so schwitzte und sich selbst riechen konnte. Aber auch, weil ihr schwangerer Bauch jede Form des körperlichen Kontakts erschwerte. Als wollte man sich auf die Wange küssen, ohne darin einig zu sein, auf welcher Seite man anfängt, und stattdessen nur die Nasen aneinanderreibt.
»Was hast du für einen wundervollen Bauch und was siehst du fabelhaft aus!«
»Danke«, entgegnete Maja, die sich eher unbeweglich und fett vorkam.
»Maaaja, wir brauchen Apfelessig!«, rief ihre Mutter aus der Küche.
Der festliche Empfang aus Anlass ihrer abgeschlossenen Facharztausbildung entwickelte sich immer mehr zu einem Alptraum. Von diesem Tag an hatte Maja es schwarz auf weiß, dass sie eine eigene Praxis betreiben durfte, doch am liebsten hätte sie sich selbst in ärztliche Behandlung begeben.
Sie blickte zu Stig hinüber, der in diesem Moment auf den Flur trat. Er hatte zur Feier des Tages ein weißes Hemd angezogen, seine strubbeligen Haare aber standen wie immer in alle Richtungen ab.
»Stig, mein Schatz, könntest du meiner Mutter ein bisschen unter die Arme greifen?« Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Viel zu warm war es hier, viel zu viele Leute waren gekommen, sie hatte Sodbrennen und Hitzewallungen und musste zu allem Überfluss auf die Toilette.
Stig gab Annbrit und Carsten die Hand. »Hallo und herzlich willkommen«, sagte er mit breitem norwegischen Akzent.
»Stig, meine Mutter …« Maja sah ihn flehentlich an.
Er küsste sie rasch auf die Stirn. »Tut mir leid, aber deine Mutter hat mir den Aufenthalt in der Küche strengstens verboten. Jetzt sorge ich erst mal dafür, dass ihr was zu trinken bekommt.«
Er führte Annbrit und Carsten auf die Terrasse zu den übrigen Gästen.
»Maaaajaa! Wir brauchen immer noch Apfelessig!« Die Stimme ihrer Mutter hatte sich eine Oktave nach oben geschraubt.
Maja hatte Mühe, sich im engen Flur umzudrehen, und watschelte in die Küche.
»Könntest du dich zumindest heute ein bisschen zusammennehmen?«
Ihre Mutter kniete vor dem Herd und blickte erstaunt auf.
»Wie meinst du denn das?« Sie trug Topfhandschuhe an beiden Händen und sah aus, als wären ihr Flossen gewachsen. Angesichts ihrer feuerroten Haare hätte man meinen können, ein Pinguin stünde in Flammen. »Das Rezept ist schließlich nicht von mir, sondern von einem Sternekoch. Deshalb brauchen wir auch mehr Essig für die Marinade.«
Ihre Mutter hatte entschieden zu viel Freizeit, und Maja graute es bereits, wenn sie nur daran dachte, wie es erst nach der Entbindung sein würde.
»Lass uns doch einfach mit dem Essen anfangen, Mama. Das Büffet auf der Terrasse ist schon einen Kilometer lang. Wer braucht da noch Schweinefilet im Pelzmantel?«
»Im Speckmantel!«
»Sag ich doch.«
»Außerdem stehen draußen erst die Antipasti, mein Schatz! Nein, nein, das Hauptgericht muss unbedingt sein, und zum Dessert gibt es …«
»Was auch immer! Bei dieser Hitze … will doch niemand … ein Schwein essen.«
Maja glaubte, sich übergeben zu müssen. Mal wieder. Ihre Ärztin und Freundinnen hatten ihr versichert, dass die Übelkeit nach drei Monaten verschwinden würde. Alle hatten gelogen.
Wenn sie nur den penetranten Bratengeruch loswurde und auf die Terrasse ging, dachte sie, würde der Brechreiz nachlassen. Sie schaffte es nur bis zur Gästetoilette.
Das Stimmengewirr der vielen Gäste summte durch die laue Sommernacht und verband sich mit der Musik, die Stig von der Stereoanlage aus steuerte. Das Büffet wurde im Handumdrehen geplündert, und selbst das ummantelte Spanferkel musste dran glauben.
Maja stand am Gabentisch und packte die Geschenke aus. Sie hatte nichts gegessen, aber die Antihistaminika halfen gegen die Übelkeit. Sie waren das einzige Medikament, das sie noch einnahm. Rohypnol, Ephedrin und sämtliche Morphinpräparate gehörten der Vergangenheit an. Was einzig und allein an der Schwangerschaft lag. Ihr früherer Missbrauch, den sie als »Berufskrankheit« verbucht hatte, war einem hemmungslosen Konsum von Kinder-Milchschnitten gewichen.
»Was für ein gelungenes Fest, Maja«, sagte ihre Mutter, während sie mit zwei leeren Schüsseln an ihr vorbeiging.
»Danke, Mama … Für alles.«
Sie tauschten einen kurzen Blick, ehe die Mutter im Haus verschwand. Sie schaute über die Gästeschar hinweg. Es war wirklich ein gelungenes Fest, das erste im neuen Haus. In ihrem gemeinsamen neuen und wunderbaren Haus, das im Herzen des Viertels lag, in dem sie groß geworden war. Mit Fachwerk und Stockrosen. Die Rosen waren zwar der großen Hitze zum Opfer gefallen, aber das machte jetzt nichts.
Außer den alten Freunden und engsten Familienangehörigen hatte sie ihre Kollegen eingeladen. Sowohl die, mit denen sie in Dr. Keld Skouboes Praxis zusammenarbeitete, also auch diejenigen aus den verschiedenen Krankenhausabteilungen, die sie im Rahmen ihrer Ausbildung durchlaufen hatte. Die meisten hatten ihre Kinder mitgebracht, so dass der Garten bis zum dahinter entlangfließenden Bach voller Menschen war. Sie hoffte, dass der kleine Walther in ihrem Bauch etwas von dem munteren Treiben mitbekam. Walther die Walnuss, wie sie ihn nach dem ersten Ultraschallbild genannt hatten. Walther, nach ihrem toten Großvater, den sie immer noch vermisste. Und Walnuss, weil er auf dem grobkörnigen Ultraschallbild eben mehr als alles andere wie eine Walnuss ausgesehen hatte.
»Das ist von mir und Hans Henrik.«
Jeanette nickte dem Kästchen zu, das Maja in der Hand hielt. Maja war zu sehr in Gedanken gewesen, um sich mit seinem Inhalt zu beschäftigen – bis jetzt. »Ach, vielen Dank … Ein elektrisches Messer.«
Sie drehte das Kästchen aufmerksam hin und her.
»Das war Hans Henriks Idee. Eigentlich sollte es ein Witz sein.«
Als Jeanette lächelte, offenbarte sie eine große Lücke zwischen den Vorderzähnen.
»Ein Messer von einem Gerichtsmediziner, wie passend«, entgegnete Maja und stellte das Kästchen zurück auf den Gabentisch.
Sie kannte Jeanette seit der Grundschule. Die größte Leistung ihres Lebens bestand darin, einen Mann mit passendem Geldbeutel geheiratet zu haben, wenngleich diese Leistung dadurch ein wenig gemindert wurde, dass Maja die beiden miteinander verkuppelt hatte.
»Hans Henrik bedauert sehr, dass er nicht mitkommen konnte, aber er hat gerade mit dieser schrecklichen Sache zu tun.«
Maja legte keinen Wert auf die Fortsetzung der Geschichte und nickte bloß, während sie ihre Hand nach dem nächsten Geschenk ausstreckte.
»Das ist jetzt schon das dritte Mal. Hans Henrik sagt, bei solchen Verbrechen an Kindern kommt man nie darüber hinweg.«
Alle Gäste, die in der Nähe waren, scharten sich sofort um Jeanette. »Ist er an dieser Peter-Pan-Sache beteiligt?«, fragte ein älterer Oberarzt aus der Psychiatrie.
Jeanette nickte bedeutungsschwer. »Er sieht sich die Leiche vor Ort an, draußen im Westwald, wo sie den Jungen gefunden haben.«
Der Oberarzt hob die Brauen. »Sind sie denn sicher, dass es sich erneut um denselben Täter handelt?«
Jeanette senkte die Stimme.
»Das ist alles streng vertraulich. Aber Hans Henrik hat vorhin angerufen und erzählt, dass sie eins dieser kleinen Bilder gefunden haben.«
»Ein Glanzbildchen?«
Jeanette nickte. »Wieder mit Peter-Pan-Motiv. Und wisst ihr, was das Schlimmste ist?« Jeanette blickte von einem zum anderen, ehe sie fortfuhr: »Es war sein Geburtstag, genau wie beim vorigen Jungen.«
Die Zuhörer schienen zu schaudern.
Maja hörte nicht hin. Es ärgerte sie, dass Jeanette die Morde in ihr Haus gebracht hatte. Den ganzen Sommer hindurch hatte sie es vermieden, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Was schwer genug fiel, da die Morde in aller Munde waren. Jeden Tag veröffentlichten die Medien weitere makabre Details. Der Täter hatte alle seine Opfer betäubt, ehe er sie sexuell missbrauchte und erwürgte. Mittlerweile hatte er drei Jungen auf dem Gewissen und war offiziell zum ersten Serienmörder Dänemarks erklärt worden.
»Haben sie denn noch keine anderen Spuren gefunden?«, erkundigte sich der Oberarzt.
»Nein. Hans Henrik sagt, der Täter ist außerordentlich gerissen. Aber natürlich geben sie die Hoffnung nicht auf.«
»Keine Blut- oder Speichelspuren?«
»Nichts, nicht mal Sperma.«
»Vielleicht sollten wir Hans Henrik und allen Mördern jetzt eine kleine Pause gönnen«, sagte Maja und lächelte diplomatisch.
Jeanette warf ihr einen verlegenen Blick zu. »Entschuldige, ich wollte die Stimmung nicht verderben.«
»Ist schon gut. Schau dir lieber an, was ich bekommen habe«, entgegnete Maja, um das Thema zu wechseln. Sie hielt den Kerzenleuchter von Georg Jensen hoch. Jeanette und die anderen nickten und lächelten pflichtschuldig. Kurz darauf strömten sie wieder in den Garten, um ihre Gespräche fortzusetzen.
Maja blickte ihnen beklommen nach. Die Mordfälle machten ihr Angst. Sich vorzustellen, dass sie in dem Viertel geschahen, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, war mehr als unheimlich. Dabei war sie doch gerade hierher zurückgezogen, weil sie Walnuss dieselbe Sicherheit und Geborgenheit geben wollte, die sie selbst erlebt hatte. Ausgerechnet hier. Auf denselben Straßen und Wegen, auf denen sie früher herumgetobt hatte. Wo sie das Fahrradfahren gelernt und Himmel-und-Hölle gespielt hatte. Wo sie Flemming H. geküsst hatte, um ein Karamellbonbon zu bekommen. Und jetzt trieb hier ein Mörder sein Unwesen.
Sie konnte wieder den Bach riechen. Er hatte nicht gerochen, als sie das Haus gekauft hatten, sondern sich nur idyllisch um den Garten gewunden. Doch die Hitze hatte das Algenwachstum explodieren lassen. Sie vermisste ihre Antihistaminika. Ein Gin Tonic wäre allerdings noch besser gewesen.
Es war drei Uhr nachts, als sich die letzten Gäste verabschiedeten. Maja und Stig standen in der Tür des Kinderzimmers im ersten Stock. Er hielt sie von hinten umfasst. Obwohl sie sich schwitzig und klamm fühlte, war es schön, ihn zu spüren.
»Glaubst du, dass du schlafen kannst?«
Maja zuckte die Schultern. Sie fürchtete bereits, dass die angekündigte Tropennacht sie wachhalten würde.
Das Kinderzimmer war der einzige Raum, der schon fix und fertig war. Frisch gestrichen und möbliert wartete er auf seinen Bewohner. Der Rest des Hauses war immer noch eine einzige Baustelle.
»Wie schön, dass wir bei dem Wetter so lange draußen feiern konnten.«
Stig nickte und küsste ihren Nacken.
»Ich hab mir gedacht, mein Schatz, vielleicht sollten wir doch auf die Handwerker zurückgreifen«, sagte Maja.
»Damit hier siebenundzwanzig Polacken rumlaufen? Schönen Dank auch. Dann mach ich das lieber alleine.« Sie hörte ihm an, dass er betrunken war.
»Aber hast du denn nicht zu viel mit deinem Buch zu tun?«
»Doch, natürlich.«
»Okay«, entgegnete sie und starrte regungslos vor sich hin. Auf was für ein Riesenprojekt hatte sie sich da nur eingelassen? Haus. Eigene Praxis. Kind. Mann.
»Woran denkst du?«
Sie seufzte. »Nichts Besonderes.«
»Komm schon!«
Sie drehte sich zu ihm um. »Ob wir miteinander glücklich werden.«
»Sind wir das nicht schon?«
Sie nickte. »Doch, aber manchmal werde ich eben ein bisschen unsicher. Es geschehen so viele Veränderungen. Und alles geht so furchtbar schnell …«
Er drückte sie an sich. »Ich bin mir sicher, dass wir alles schaffen werden.«
»Hast du Jeanettes Stilettos gesehen?«, fragte Maja. »Die dumme Kuh hat überall ihre Abdrücke hinterlassen. Stilettos auf Privatfesten sollten gesetzlich verboten werden. Egal ob sie draußen oder drinnen stattfinden.«
Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Am anderen Ende der Stadt saß Søren in seinem Lieferwagen und schaute durch die Windschutzscheibe. Er betrachtete die dunkle Villa, die vor ihm lag. Sie war erst kürzlich modernisiert worden und erinnerte ihn mit ihren glasierten Dachziegeln und der frisch verputzten Fassade an eine Torte. Er hatte den Sitz ganz zurückgestellt, damit er nicht von der Straßenbeleuchtung erfasst wurde. Trotz seiner Erregung saß er bewegungslos da und atmete ruhig und gleichmäßig. Er konnte das Haus spüren. Vernahm es in seinem Inneren. Er rief sich all seine Zimmer ins Gedächtnis und wusste, wie sie von innen aussahen. Er hätte im Dunkeln durch das Haus gehen können, ohne ein einziges Mal gegen Möbel oder Wände zu stoßen. Hätte lautlos von Raum zu Raum schleichen können, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen. Das Leben hatte ihn gelehrt, unsichtbar zu bleiben. So ließ man ihn in Frieden.
Er kannte die Bewohner des Hauses, die er observiert hatte. Kannte ihren Tagesablauf. Wusste, wann sie zur Arbeit oder zur Schule gingen, wann sie aßen und wo jeder von ihnen schlief.
Bald würde Pan wieder fliegen, zum Fenster des Kinderzimmers hinein. Auf der Suche nach seinem Schatten. Es gab so viele verlorene Jungen in dieser Welt, und er wünschte sich brennend, sie alle nach Nimmerland mitzunehmen. Das hatten sie verdient. Dieser Gedanke machte ihn glücklich.
3
In ihrem silberfarbenen vierradgetriebenen Mercedes ML 500 bog Maja auf den Parkplatz vor dem Ärztehaus ein. Im Radio lief Donna Summers’ alter Hit »Hot Stuff«. Sie rollte durch die Reihen parkender Autos, bis sie ihren persönlichen Stellplatz erreicht hatte. Die heiße Luft flimmerte über dem Asphalt, der sich leicht gewellt hatte. Sie liebte ihr neues, für ein kleines Vermögen geleastes Auto. Von den Kollegen der Unfallambulanz wusste sie, dass Größe alles bedeutete, wenn man bei einem Verkehrsunfall mit heiler Haut davonkommen wollte. Wenn Walnuss erst mal auf der Welt war, sollte er so hoch über den anderen Verkehrsteilnehmern in seinem Kindersitz thronen, dass ihm nichts passieren konnte. Und einfach von der Straße drängen würde sie auch keiner.
Gerade wollte sie routinemäßig auf ihr Parkfeld einschwenken, als sie überrascht auf die Bremse treten musste. Ein schwarzer Ford Mondeo stand auf ihrem Platz. Am liebsten hätte sie ihn einfach beiseitegeschoben, stattdessen drehte sie eine Runde über den gesamten Platz und war schließlich gezwungen, in größtmöglicher Entfernung vom Eingang zu parken.
Um den letzten kühlen Hauch der Klimaanlage zu genießen, wartete sie kurz, ehe sie ausstieg. Im Büro hatte sie nur einen kleinen Tischventilator, und der gab Maja höchstens das Gefühl, jemand würde ihr warm ins Gesicht rülpsen. Ein weiterer brütend heißer Tag stand ihr bevor.
Im dritten Stock winkte Maja den beiden Sekretärinnen am Empfang zu. Sie trugen beide ein Headset, notierten die Termine des heutigen Tages und schienen vor Hitze bereits umzukommen, weshalb sie nahe an den Ventilator herangerückt waren, den sie sich teilten. Die Sekretärin, die näher an der Tür saß, winkte kurz zurück.
In diesem Moment kam Alice am gegenüberliegenden Ende des Raumes aus der Teeküche. Alice war eine zierliche Dame Ende sechzig. Sie trug ein elegantes Kostüm und erinnerte an eine gealterte Grace Kelly. Maja hoffte inständig, einst mit der gleichen Würde zu altern wie Alice.
»Vielen Dank für dein wunderbares Fest. Wir haben uns großartig amüsiert«, sagte Alice mit ihrer affektierten Stimme, während sie Maja entgegenkam.
»Ich habe für die vielen Geschenke zu danken«, entgegnete Maja.
Bei Maja angekommen, nahm sie sie vorsichtig in den Arm. Alice duftete angenehm nach frisch gebrühtem Kaffee und Chanel No.5.
Alice war bereits seit einem Menschenalter mit Skouboe verheiratet, und alle in der Praxis wussten, dass Dr. Skouboes Erfolg einzig und allein Alice organisatorischem Talent und Geschäftssinn geschuldet war. Darum war es auch Alice und nicht Skouboe selbst, mit der Maja derzeit Verhandlungen über ihre zukünftige Partnerschaft führte.
»Ist Skoubi noch nicht da?«, fragte Maja.
»Der spricht gerade mit der Polizei.«
Maja runzelte die Stirn. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
»Ach, sicher nur eine Routinebefragung. Soweit ich weiß, geht es um diese furchtbare Sache, von der die Zeitungen täglich berichten.«
Maja runzelte die Stirn. »Was haben wir denn damit zu tun?«
»Sie haben nach den Patientenakten gefragt, mehr kann ich nicht sagen«, antwortete Alice und zuckte die Schultern.
Maja biss sich in die Lippe.
»Ich hab Kräutertee für dich und die Mädchen gekauft, der wird dir guttun.« Alice drehte sich um und ging zu den Sekretärinnen.
»Danke«, entgegnete Maja und rührte sich nicht vom Fleck.
Das Erste, was Maja sah, als sie ihr Büro betrat, war ein großer Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch. Obwohl die Blumen von heute waren, ließen sie bereits die Köpfe hängen. Sie las die beigefügte Karte. Der Strauß war von allen Kollegen in der Praxis. Sie zählte sechzehn Unterschriften. Alle gratulierten zu Majas »Diplom«. Aus Spaß hatten sie hinzugefügt, dass sie sich nun mächtig bei ihr einschmeicheln würden, nachdem sie doch jetzt eine so wichtige Person geworden sei. Maja schossen Tränen in die Augen. Für solche Gesten war sie derzeit einfach zu emotional. Sie verfluchte ihre Hormone, die ein Eigenleben zu führen schienen. Am Nachmittag wollte sie Kuchen zum Kaffee kaufen – oder vielleicht doch lieber Eis bei der Hitze?
In diesem Moment klopfte es an der Verbindungstür zu Skouboes Büro. Dr. Skouboe kam mit strahlendem Lächeln herein. Trotz seines fortgeschrittenen Alters hielt er sich gut. Sein sonnengebräuntes Gesicht verriet, dass er inzwischen mehr Zeit auf seiner Segeljacht als in seiner Arztpraxis verbrachte.
»Hallo, Maja, wir brauchen deine Hilfe. Sag mal, weinst du etwa?« Er schaute sie besorgt an.
Sie wischte sich rasch die Tränen weg. »Nein, nein, das ist nur die Zugluft.«
Sie lächelte Skouboe an und blickte zu den Beamten in Zivil hinüber, die ebenfalls in ihr Büro getreten waren.
»Du hast von Computern doch etwas mehr Ahnung als ich«, sagte Skouboe, was die Untertreibung des Jahres war. Skouboe schrieb alles mit der Hand. Die Sekretärinnen hatten anschließend die Aufgabe, seine Klaue zu entziffern und die Patientenakten im Computer zu vervollständigen.
»Vielleicht könntest du unseren Freunden von der Polizei ein bisschen behilflich sein.«
Die Beamtin gab Maja die Hand. »Polizeirätin Katrine Bergman.«
Maja erkannte sie sofort wieder, obwohl sie sich seit Ewigkeiten nicht gesehen hatten. Der kühle Blick, den Katrine Bergman ihr zuwarf, signalisierte, dass auch sie sich an Maja erinnerte. Doch keine von beiden ging darauf ein.
»Tom Schæfer, Kriminalkommissar«, sagte ihr Kollege und gab Maja ebenfalls die Hand.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.
Katrine Bergman räusperte sich. »Wir ermitteln derzeit in einer Reihe von Mordfällen, in denen die Gerichtsmediziner bei den Opfern bestimmte Wirkstoffe nachweisen konnten. Daher würden wir unsere toxikologischen Befunde gern mit Ihren Patientenakten abgleichen.«
Maja verschränkte die Arme vor der Brust. »Das sind sehr private Daten.«
»Die richterliche Genehmigung liegt vor«, entgegnete Katrine Bergman.
Maja warf Skouboe einen fragenden Blick zu. Er nickte bestätigend, worauf sich Maja wieder an die Polizeirätin wandte. »Darf ich fragen, was Sie damit bezwecken?«
Der Blick von Katrine Bergman zeigte sehr deutlich, dass sie es nicht gewohnt war, solche Fragen zu beantworten, doch sie lächelte höflich. »Wir vermuten, dass der Täter seine Opfer mit Medikamenten vergiftet hat, die ihm selbst verschrieben wurden.«
Maja sah sie beunruhigt an. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass einer unserer Patienten der Mörder ist?«
»Möglicherweise«, antwortete Katrine trocken.
Tom Schæfer lächelte beruhigend. »Wir untersuchen alle Arztpraxen und Notaufnahmen im ganzen Bezirk. Die Chance, dass wir gerade hier etwas finden, ist also nicht besonders groß. Dennoch müssen wir auf Nummer sicher gehen.«
Maja schaute zwischen den beiden hin und her. Sie sahen müde aus, als litten sie schon seit längerer Zeit unter Schlafmangel. Sie selbst sah nach einem aufreibenden Tag auch nicht besser aus. Außerdem wirkten sie ein bisschen frustriert, als glaubten sie selbst nicht an den Erfolg ihrer Ermittlungen. »Das muss eine sehr anstrengende Arbeit sein«, sagte Maja.
»Ja, wir haben alle Hände voll zu tun«, entgegnete Katrine Bergman und gab Maja rasch eine Liste mit den Präparaten, nach denen sie suchten. Maja erkannte den mürrischen Unterton wieder, den Katrines Stimme immer schon gehabt hatte.
Sie nahm die Liste, setzte sich an den Computer und tippte ihr Passwort ein.
»Maja ist ein Genie, wenn’s um solche Sachen geht«, bemerkte Skouboe und trat näher an sie heran.
Maja überflog das Papier mit dem Briefkopf des Rechtsmedizinischen Instituts. Es war ein Bericht, der das Ergebnis von drei individuellen toxikologischen Untersuchungen zusammenfasste. Die Präparate, die gefunden wurden, waren Maja sehr vertraut. Als Erstes wurde Flunitrazepam genannt, besser bekannt als Rohypnol. Es handelte sich um ein Beruhigungsmittel, das schnell abhängig macht. Der Wirkstoff wird vom Körper rasch aufgenommen und führt zu heftigen Reaktionen. Während der Rausch anhält, vergessen die Konsumenten in der Regel sämtliche Sorgen.
Maja gab das entsprechende Suchwort ein.
»Wenn wir nur nach Flunitrazepam suchen, wird die Liste sehr lang sein.«
Skouboe warf einen Blick auf die Liste und nickte.
»Das ist richtig. In den Vororten wimmelt es nur so von Workaholics, die Beruhigungsmittel nötig haben.«
»Gut, wenn es möglich ist, dann kombinieren Sie eben gleich verschiedene Begriffe. Dann können wir uns das später sparen«, sagte Katrine Bergman.
»Okay«, entgegnete Maja und sah sich die anderen Präparate an, die bei den Opfern nachgewiesen worden waren. Das nächste kannte sie aus ihrer Zeit in der Notaufnahme. Natriumoxybat – im Volksmund auch als Fantasy oder Liquid Ecstasy bezeichnet – war die meistbenutzte Substanz bei Sexualdelikten unter Drogeneinfluss. Sie hat sowohl euphorisierende als auch halluzinatorische Wirkung und macht ihre Opfer vollkommen willenlos. Maja schauderte bei dem Gedanken, der Täter könnte den von ihm entführten und ermordeten Kindern diese Substanz eingeflößt haben.
»Ich glaube, es gibt keinen Grund, auch nach Natriumoxybat zu suchen.«
»Warum nicht?«, fragte Katrine.
»Obwohl der Wirkstoff in einer ganzen Reihe von Medikamenten gegen Narkolepsi vorhanden ist, werden im Bericht so hohe Dosierungen genannt, dass sie unmöglich von diesen Medikamenten stammen können.«
»Woher sollen sie sonst stammen?«
Maja zuckte die Schultern. »Ich glaube, der Täter hat den Stoff auf der Straße gekauft. In konzentrierter Form.«
»Wie er zum Beispiel in Fantasy vorkommt?«, fragte Tom Schæfer.
Maja nickte. »Ja, das ist sehr gut möglich.«
Er zog einen Block aus der Tasche und machte sich Notizen. »Was ist mit dem letzten Präparat?«
»Ja, das ist interessant. Clozapin wird in der Regel bei psychischen Erkrankungen wie etwa Schizophrenie verschrieben.«
»Haben Sie irgendeine Idee, warum der Täter dieses Mittel einsetzen sollte?«, fragte der Kommissar.
Katrine Bergmans Mundwinkel zuckten. Wahrscheinlich hielt sie die Frage für überflüssig, ließ Maja jedoch antworten.
»Clozapin hat dieselbe abstumpfende Wirkung wie Rohypnol. Vielleicht deswegen.«
Sie tippte Clozapin ein und suchte in der Patientendatei. Von den gut dreitausend Patienten, die im Ärztehaus registriert waren, passte das von ihr vorgegebene medizinische Profil auf hundertsechsundsiebzig Personen.
»Angesichts der Tatsache, dass alle Opfer sexuell missbraucht wurden und neunundneunzig Prozent aller Serienmörder männlich sind, können wir die weiblichen Patienten ruhig ausschließen«, sagte Katrine.
Nachdem Maja die Frauen aussortiert hatte, blieben immer noch dreiundachtzig Kandidaten übrig. Sie klickte auf Drucken und drehte sich mit ihrem Stuhl halb herum. »Sie können den Ausdruck am Empfang abholen.«
»Vielen Dank für die Hilfe«, sagte Tom Schæfer.
Katrine Bergman nickte Maja kurz zu. »Ja, danke … und willkommen zu Hause«, fügte sie kühl hinzu.
Maja nickte bedächtig zurück. Immer noch dieselbe Zicke, dachte sie. Dieselbe Katrine.
Als die beiden Beamten aus der Tür waren, drehte sich Skouboe zu Maja um. »Scheint ja eine ziemliche Kratzbürste zu sein. Kennst du sie etwa?«
Maja atmete tief durch und schüttelte den Kopf. »Nein … Das heißt ja, wir sind zusammen auf die Grundschule gegangen.«
Skouboe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wie würde ich mich freuen, wenn ich noch so alte Freunde hätte. Aber ich glaube, meine Klassenkameraden sind schon alle unter der Erde.«
Maja lachte. »So alt bist du nun auch wieder nicht«, entgegnete sie und kam mit Mühe auf die Beine. Dieser Bauch. Diese Hitze. Sie glaubte zu zerfließen.
»Ja, vielleicht hast du recht. Zumindest bin ich derzeit beweglicher als du«, entgegnete er lachend und ging wieder in sein Büro.
Sie stieß das Fenster auf. Draußen stand die Luft. Die Panoramafenster waren wie ein Brennglas, hinter dem sie langsam gegrillt wurde.
Draußen erblickte sie Katrine und ihren Kollegen, die in diesem Moment zu dem schwarzen Ford Mondeo schlenderten, der auf ihrem Stellplatz stand. Es überraschte Maja nicht im Geringsten, dass es Katrine war, die dort geparkt hatte. Es überraschte sie allerdings, dass sie eine Anstellung bei der Polizei gefunden hatte. Noch dazu in einer Führungsposition. Sie konnte sich noch bestens daran erinnern, wie Katrine mit ihrer Bande Furcht und Schrecken auf dem Schulhof verbreitet hatte. Damals verkniff man es sich lieber oder suchte sich einen Busch, statt die Toiletten aufzusuchen, die von der Bande kontrolliert wurden. Und sie wusste noch genau, zu welchen Gemeinheiten Katrine imstande gewesen war.
Maja und Stig fuhren die Hauptstraße hinunter. Sie waren auf dem Weg zu Monas muffigen Matratzen, wie sie den Geburtsvorbereitungskurs im Nachbarschaftshaus getauft hatten. Heute fand er das letzte Mal statt, was ihnen sehr recht war, da ihnen Mona mit ihrer infantil-pädagogischen Art gewaltig auf die Nerven ging. Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, hatte aber ein wenig an Kraft verloren. Es war gegen sechs Uhr abends, und die Leute kamen allmählich wieder auf die Straße, als kehrten sie nach einer wohlverdienten Siesta zurück. Doch sobald die Dämmerung hereinbrach, würden sie wieder in ihren Häusern verschwinden, die Haustür verriegeln und sich vergewissern, dass alle Fenster hermetisch geschlossen waren.
Sie blickte kurz zu Stig hinüber, der im Ekstra Bladet blätterte. Auf der Titelseite waren die drei ermordeten Jungen abgebildet. Dazwischen befand sich ein schwarzer Kasten mit einem weißen Fragezeichen darin. »Wer ist der Nächste?«, lautete die Überschrift. »Warum hast du diese Zeitung gekauft?«, zischte sie.
Stig zuckte die Schultern. »Um dänisch zu lernen.«
Sie schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
»Hattest du einen schönen Arbeitstag«, fragte er lächelnd.