Die kanonischen Horen - horae canonicae

Stunde Uhrzeit andere Bezeichnungen
Matutina Mitternacht Vigilien, Nocturnus
Laudes 3 Uhr Morgenlob
Prima 6 Uhr Erste Stunde
Tertia 9 Uhr Dritte Stunde
Sexta 12 Uhr mittags Sechste Stunde
Nona 15 Uhr Neunte Stunde
Vespera 18 Uhr Abendgebet
Completorium 21 Uhr Nachtgebet

V

Der vierte Engel

Am Morgen nach der Hinrichtung kam ich zu spät ins Skriptorium. Fra Bosi schaute mich schief an, machte mir aber keine Vorwürfe. Irgendjemand hatte das kaputte Fenster repariert; keine spontanen Besuche mehr von Gabriele, auf die ich mich hätte freuen können. Ich hatte noch ein paar libri mit den Abgaben für das Fest Mariä Himmelfahrt zu vervollständigen, doch jedes Mal, wenn ich nach einer Feder griff, erstand blitzartig ein Bild vom Prozess vor meinen Augen – Giovanni de’Medici mit zusammengebissenen Zähnen, die angespannten Sehnen, die oberhalb des Kragens am Hals deutlich hervortraten, während er Gabriele beobachtete, der sein vernichtendes Zeugnis ablegte. Ein Mann wie Giovanni de’Medici konnte Ärger machen, selbst nach seinem Tod. Ich spürte die nahende Gefahr wie dunkle Wolken, die sich vor einem Gewitter auftürmen.

Meine Erinnerungen an den Prozess waren beunruhigend, die Rückblenden auf die Hinrichtung jedoch noch schlimmer. Immer wieder sah ich vor mir, wie Giovannis Beine nach einem Halt suchten, als der Holzblock unter ihm weggestoßen wurde, und wie er allmählich immer bleicher wurde. Ich war davon überzeugt, dass es monatelang Stoff für meine Albträume liefern würde.

Nachdem ich die libri mit den letzten Schnörkeln versehen hatte, legte ich die Feder nieder. Ich blieb am Pult sitzen und dachte nach. Meine Gedanken wanderten zu Nathaniel, der mich am Nachmittag zum Tee einlud und mit einer Erstausgabe von Henry James empfing. Ich dachte an die Verabredung zum Kaffee mit Donata, an die Unbeschwertheit unserer Gespräche. Sie muss sich gewundert haben, warum ich verschwunden war, ohne mich zu verabschieden.

Mir hatte es hier gefallen – ich hatte Arbeit gefunden, neue Freunde und Mitstreiter und auch etwas nicht Greifbares, eine überraschend angenehme Mittelalterlichkeit. Natürlich hatte ich auch Gabriele gefunden, und die Freundschaft mit ihm hatte etwas unleugbar Anziehendes. Aber reichte das, um mit meinem alten Leben zu konkurrieren? Und selbst wenn, mit den angenehmen Seiten dieser fremden Zeit gingen die drohende Pest und das schreckliche Gefühl der Machtlosigkeit einher, das mich angesichts der bevorstehenden Vernichtung befiel, und nun der gehängte Medici, gegen den Gabriele ausgesagt hatte und der womöglich gefährliche Freunde hatte. Ich musste zurück. Aber wie?

Ich reinigte meine Federn und ordnete den Stapel Pergament auf dem Pult. Gab es da etwas, das mir entgangen war, ein Schlüsselmoment, das meine Reise durch die Zeit umkehren könnte? Ich war in den Duomo zurückgegangen; das hatte nichts genützt. Ich hatte meine Schritte zurückverfolgt, im Geiste. Als ich fortging hatte ich Gabrieles Tagebuch gelesen – das erschien mir als vielversprechende Brücke in die Vergangenheit, aber ich konnte mir nicht vorstellen, ihn zu bitten, mir seine privaten Aufzeichnungen zu zeigen. Auf jeden Fall schien das Tagebuch wie eine Einbahnbrücke, wenn es denn überhaupt eine Brücke war – die Vergangenheit war durch Gabrieles Niederschrift für mich lebendig geworden, aber die Gegenwart würde es nicht. Was gab es noch? Ich war im Museo gewesen. Das Museo … wo ich Gabrieles Gemälde des heiligen Cristophorus gesehen hatte. Die Erinnerung bescherte mir eine Gänsehaut. Hatte es etwas mit dem Gemälde zu tun, mit dem Umstand, dass ich mich darin gesehen hatte, ein Gemälde, das unsere beiden Zeiten verband? Wo konnte ich ein anderes Gemälde von Gabriele finden, auf dem ich dargestellt war? Der Gedanke traf mich wie ein Elektroschock: gleich draußen vor dem Ospedale. Meinen neuen Plan im Kopf, machte ich mich auf den Weg zum Eingang. Zeit für eine weitere Lektion in Kunstgeschichte.

Draußen stand Gabriele hoch oben auf seiner Bühne mit einem Pinsel in der Hand. Er hatte das Abbild der Jungfrau Maria fertiggestellt, und ihr Körper hatte eine Leichtigkeit, als habe der Maler aus einer himmlischen Quelle geschöpft. Doch diese himmlische Gnade war mit einer für ein mittelalterliches Gemälde überraschenden menschlichen Emotion verbunden. Sie wirkte beklommen, ängstlich, ihre irdische Existenz zu verlassen, aber zugleich hingezogen zu dem, was sie erwartete. Gabriele arbeitete nun an den Engeln. Sie umringten Maria beschützend, die Flügel emporgestreckt und golden glänzend. Drei Engelsgesichter waren vollendet, und Gabriele malte das vierte. Zunächst verstellte sein Körper den Blick auf das Bild, an dem er arbeitete. Als er den Arm mit dem Pinsel senkte, blieb mir das Herz stehen – ich spürte die Pause, die Stille, dann etwas verzögert den nächsten Schlag; das Blut strömte wieder. Ich sah das schwarze, glatte Haar des vierten Engels, die graublauen Augen und langgliedrigen Hände. Er sah genau so aus, wie ein mittelalterlicher Engel aussehen sollte und wäre in jedem Fresko des vierzehnten Jahrhunderts zu Hause gewesen. Aber alle, die mich kannten, würden das Modell erkennen. Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg, und die Eile, die ich noch im Skriptorium empfunden hatte, ließ nach, während ich dort stand und zusah. Der Gedanke, dass das Gemälde mich in die Zukunft transportieren könnte, erschien mir jetzt, da ich davorstand, albern. Und nicht einmal wünschenswert.

Gabriele nahm den Pinsel vom Putz und legte den Kopf schief, um zu mir herunterzuschauen. Er hob die Stimme, damit er von oben zu verstehen war. »Wartet Ihr schon lange? Ich bedaure, dass ich so vertieft war und Euch nicht vorher bemerkt habe.«

»Ich bin gerade erst gekommen!«, rief ich zurück und reckte den Hals. »Sehe ich wirklich so aus?«

Gabriele lachte. »Ihr stellt die außergewöhnlichsten Fragen. Sagen wir so, Ihr liefert Inspiration. Genügt das?«

»Vorerst.«

»Signora, ich würde gern länger mit Euch reden, aber der trocknende Putz ruft mich, und die warme Sonne treibt zur Eile.«

»Ich muss auch zurück ins Skriptorium«, sagte ich enttäuscht.

»Falls Ihr nicht übermäßig zu tun habt, würde ich mich freuen, wenn Ihr mir auf dem Gerüst Gesellschaft leistet.«

An dem Tag hatte ich weniger zu tun als sonst. »Wie komme ich hinauf?« Wieder hörte ich Gelächter von oben. Gabriele legte seinen Pinsel ab und stieg rasch von der Bühne, bis er neben mir stand. Aus der Nähe konnte ich die feinen Schweißspuren sehen, die auf seinem gebräunten Gesicht glitzerten, und das Leinenhemd klebte feucht an seinen muskulösen Armen.

»Ich führe Euch«, sagte er, »aber passt auf, wohin Ihr tretet. Ich möchte Euch nur ungern aufgrund eines Unfalls auf einem Gerüst verlieren, da wir uns doch erst seit Kurzem kennen und der Engel, der an Euch erinnern soll, erst halb gemalt ist.«

»Ich bin gerade meiner ersten Berührung mit dem Tod entronnen, dank Euch. Ein zweites Mal möchte ich lieber nicht riskieren«, sagte ich.

Gabriele hielt mir die Hand hin, um mir zu helfen, und es gelang mir, trotz meines hinderlichen Rockes hinter ihm her- und auf das Gerüst zu klettern. Ich setzte mich auf die Bühne und versuchte, nicht über den Rand zu schauen. Gabriele wandte sich wieder der Mauer zu, um seine Arbeit fortzusetzen.

Ich lauschte den gedämpften Geräuschen von unten, die eine schwache Brise zu uns heraufwehte. Einmal läuteten die Glocken des Doms, um das Vergehen der Zeit anzuzeigen, aber ich war in das Gemälde vertieft, das vor meinen Augen entstand – die leichte Rötung auf den Wangen des vierten Engels, die sanfte Biegung des Halses, der in einem blauen Kleid verschwand, die Geste der Hände, mit der er die Jungfrau nach oben geleitete. Gabrieles linke Hand strich über den Putz, während er malte, um zu fühlen, ob der intonaco bereit war für seine Pinselstriche. Er malte mit bedächtiger Anmut, obwohl er den Abschnitt unbedingt vor Sonnenuntergang beenden musste. Das erinnerte mich an den gedämpften, wohlüberlegten Rhythmus eines chirurgischen Eingriffs. Aber er schuf Wesen aus Farbe, oder aus einer rätselhaften Kombination aus Pigmenten und dem, was in seinem Herzen und seiner Seele wohnte. Ich hatte Menschen repariert, hatte sie nicht mit Pinselstrichen gemacht.

Gabriele hielt inne und legte seine Werkzeuge ab. »Ich muss eine kurze Pause einlegen und hinuntersteigen. Mein Geist ist zufrieden, wenn ich den ganzen Tag male, aber mein Körper braucht Zuwendung.«

»Manchmal denke ich, schade, dass es überhaupt einen Körper gibt«, erwiderte ich wehmütig. »Seine Bedürfnisse stören.«

»Aber die Freuden und Möglichkeiten dieses beschränkten Körpers bewahren auf wundersame – wenn auch schmerzliche – Weise unsere Menschlichkeit. Oder nicht?« Er sagte es so leise, dass ich mich schon fragte, ob ich es überhaupt hören sollte.

Guido Baldi beobachtete Accorsi und diese Schreiberin, als sie vom Gerüst herunterstiegen und im Eingang des Ospedale verschwanden. Der Maler war mit der Hure zusammen, die Baldis Stellung im Skriptorium an sich gerissen hatte. Das Gold des Weinhändlers hatte ihm den Anreiz gegeben, zum Ospedale zurückzukehren; für Wein, Würfelspiel und Fleisch bedurfte es eines beträchtlichen Budgets.

Wie traurig wäre es, wenn der Maler von seiner hohen Bühne stürzen müsste. Ein Gerüst konnte ziemlich instabil sein – er hatte schon oft von solchen Unfällen bei Künstlern gehört. Sehr, sehr traurig. Baldi fragte sich, ob die Schreiberin nach ihrer Pause mit Accorsi zurückkehren würde. Er hoffte es. Auch wenn der Weinhändler nur an einem Opfer interessiert war, dachte Baldi für sich, es wäre eine saubere Sache, zwei Probleme auf einen Schlag zu lösen. Noch einmal schaute er sich das Gebilde an, das sich vor ihm erhob. Schöne Engel, dachte er, schade nur, dass sie nicht vollendet werden. Bei einem Engel kniff er die Augen zusammen, denn das Gesicht kam ihm bekannt vor, aber vielleicht hatte er zu Mittag etwas zu viel Wein getrunken.

Iacopo de’Medici vertraute seiner neuen Anwerbung nicht. Wie konnte er? Einem Mann, der so leicht zu überreden war, jemanden umzubringen, durfte man nicht über den Weg trauen. Es war leichter gewesen, als er gedacht hatte, zu erklären, was getan werden sollte, und Baldi die Soldi zu geben, damit er dafür sorgte, damit er die Aufgabe zuverlässig erledigte. Aber sein Vater hatte ihm gesagt: »Du musst die Arbeit derjenigen, die du in deinen Dienst stellst, überwachen, sonst nutzen sie deine Abwesenheit aus.« Im Grunde seines Herzens schrak er davor zurück, das Ziel seines Plans mitzuverfolgen, aber er überwand sich und suchte eine Stelle, an der er das gesamte Gerüst nebst allen, die hinaufkletterten, im Blick hatte.

Mein Vater würde mit Vergnügen zuschauen, dachte Iacopo, und obwohl er wusste, dass er seinen Vater achten sollte, selbst im Tode, drehte sich ihm bei dem Gedanken der Magen um. Ich werde beobachten, um sicher zu sein, dass es getan wird, und zwar gut. Aber ich werde mich nicht daran erfreuen, meinen Feind in den Tod stürzen zu sehen. So stellte er sich außer Sichtweite, den Blick nur widerwillig auf den Ort des Geschehens gerichtet.

Nachdem ich vom Gerüst gestiegen war, begab ich mich in die Küche des Ospedale, in der ein Stück gelber Käse und eine Handvoll kleiner lila Pflaumen ein köstliches Mahl ergaben. Ich warf einen Blick ins leere Skriptorium und kam zu dem Entschluss, dass ein paar weitere freie Stunden nicht schaden würden. Draußen war Gabriele bereits auf die Bühne geklettert und arbeitete am Haar des Engels. Irgendwie gelang es ihm, Schwarz so aussehen zu lassen, als beherberge es in seinen Tiefen tausend andere Farben.

Ich schaute am Gerüst hinauf und beobachtete die Wolken, die dahinter vorbeizogen. Es war gerade so, als bewegte sich das Gerüst selbst. Ich schüttelte den Kopf, um die Täuschung abzuschütteln, und mir war schwindelig. Selbst als ich nach unten schaute, hielt das Gefühl an, als neigte sich der Boden unter meinen Füßen.

Ein hohes Heulen setzte in meinen Ohren ein, und der Nachgeschmack der Pflaumen in meinem Mund wurde stärker. Als die Geräusche wie gewohnt in den Hintergrund traten, wurde mir endlich klar, dass es sich um einen neuerlichen Anfall handelte. Ich atmete langsamer und zwang mich, meinen Blick zu fokussieren. Gewöhnliche Menschen schlenderten über die Piazza und gingen ihren Geschäften nach. Aber als ich wieder auf das Gerüst blickte, sah ich im Geist vor mir, wie Gabriele fiel, die Gliedmaßen ausgestreckt, vorbei an den Holzbalken auf die Pflastersteine am Boden. Gleichzeitig mit dieser Vision überkam mich eine Woge der Zufriedenheit, die jemand empfand, der ihn in den Tod stürzen sah. Aber Gabriele war noch dort oben und malte, als gäbe es die Welt nicht. Der Wind hatte sich gelegt, aber das Gerüst schwankte. Ich rief zu ihm hinauf.

»Ist alles in Ordnung da oben?« Er war in seine Arbeit vertieft und hörte mich nicht. »Messer Accorsi!« Er ließ fallen, was er gerade in Händen hielt – ich hörte es klappern, als seine Werkzeuge aufprallten –, er wirbelte herum und schaute zu mir herab. Mir kam es seltsam vor, ihn Accorsi zu nennen, obwohl er in meinem Kopf doch Gabriele war.

»Stimmt etwas nicht?«

»Kommt herunter!«

Er zögerte. Die meisten Menschen hätten zumindest gefragt, warum, doch Gabriele nickte und begann, seine Ausrüstung zusammenzupacken. Das Heulen in meinen Ohren wurde lauter, bis ich fast nichts mehr hören konnte. »Bitte, beeilt Euch!«

Er ließ seine Werkzeuge liegen und begann, herunterzuklettern. Er hatte es erst zur Hälfte geschafft, als die Bühne über ihm sich allmählich neigte. Dann vernahm ich das echte Knacken von splitterndem Holz, als die Verbindungen des Gerüsts nachgaben, und danach passierte alles in grausamer Zeitlupe. Im Fall griff Gabriele mit einer Hand nach einem hölzernen Stützpfosten, während das Gebilde, das er so sorgfältig errichtet hatte, wie ein riesiges, aus der Balance geratenes Mikadospiel zusammenbrach. Mit dumpfem Schlag traf er auf dem Boden auf, und die Bretter der Plattform krachten nur wenige Fuß von seinem Kopf entfernt zu Boden.

Plötzlich stand ich neben Gebriele, der mit dem Rücken auf dem Straßenpflaster lag. Er hatte die Augen geschlossen, und ich war mit nicht sicher, ob er atmete. Sein Gesicht war blass. Sieh hin, bevor du handelst – jahrelange Ausbildung hatte mich das gelehrt. Gabrieles Kopf hatte eine natürliche Haltung. Gut. Ich suchte nach Atmung. Eine, zwei, drei Sekunden. Komm schon, atme. Da: Seine Brust hob und senkte sich ein Mal. Luftwege, Atmung frei. Jetzt der Kreislauf. Vorsichtig fühlte ich nach dem Puls an seinem Handgelenk – kräftig und gleichmäßig – und spürte die beruhigende Wärme seiner Haut. Seine Finger krümmten sich und entspannten sich wieder – nicht gelähmt. Seine Füße bewegten sich in den weichen Lederstiefeln. Vier Gliedmaßen funktionierten: umso besser. Ich suchte in seinem Gesicht nach Wachsamkeit. Wenn er nun nie wieder aufwachte? Ich habe vielleicht fünf Sekunden hingeschaut, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. In dem Augenblick übernahm meine nicht ärztliche Seite das Kommando.

Ich schloss die Augen und flüsterte aus dem Bauch heraus ein Gebet. Nimm ihn mir nicht weg; das ertrage ich nicht. Niemals. Ich glaubte zu versinken und nie wieder an die Oberfläche zu kommen, Jahrhunderte von jeglicher Vertrautheit und Trost entfernt, ohne in Zeit und Raum verankert zu sein. Ich machte die Augen wieder auf.

Gabrieles Mundwinkel bogen sich nach oben. Hatte ich laut gesprochen? Seine Augen blieben geschlossen.

»Messer Accorsi? Es kann nicht sein, dass Ihr lächelt.«

Die grauen Augen öffneten sich. Gleich große Pupillen, rund, bei Lichteinfall rasch kleiner werdend. Die schnelle Beurteilung kam unwillkürlich.

»Ich lächle, eigenartig«, sagte er und richtete seinen Blick auf mein Gesicht. »Warum weint Ihr?« Da begann ich tatsächlich zu schluchzen. »Ich weiß nicht, wie Ihr darauf kamt, mich zu retten, aber ich glaube, ich verdanke Euch mein Leben, Beatrice Alessandra Trovato.«

Ich erklärte es ihm nicht. »Dann sind wir ja quitt«, erwiderte ich und keuchte zwischen Schluchzern, die in Gelächter mündeten.

Gabriele wurde auf schnellstem Wege in die Krankenstation des Ospedale gebracht, und ich ging wieder ins Skriptorium, um zu arbeiten, doch das war verständlicherweise unmöglich. Clara kam in regelmäßigen Abständen vorbei, um mich über den neuesten Stand zu unterrichten, und gegen Ende des Tages verkündete sie, man habe Gabrieles Gesundheitszustand für so gut befunden, dass er nach Hause gehen konnte. Das freute mich zu hören, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass jemand versucht hatte, ihn umzubringen, jemand, dessen boshafte Absicht ich am eigenen Leib gespürt hatte, als das Gerüst begann zusammenzustürzen. Ich verließ das Skriptorium und ging früh zu Bett.

In der Nacht träumte ich von meinem früheren Leben. Ich war im OP und entfernte neben Linney ein Meningiom an der Großhirnsichel. Linney stand neben mir, kompetent und ruhig. Für mein voriges Leben war es eine völlig normale Situation, doch im Traum war mir extrem unbehaglich zumute, ein Gefühl, etwas Wichtiges versäumt zu haben. Ich versuchte, Linney zu sagen, was nicht stimmte, doch sie hörte mich nicht. Dann war ich wach und lag schwer atmend und nass geschwitzt in meinem schmalen Bett im Ospedale. Zum ersten Mal, seit ich im vierzehnten Jahrhundert weilte, war ich zutiefst erleichtert darüber, wo ich war.

*

Am nächsten Tag kam Clara atemlos mit einer weiteren Botschaft ins Skriptorium: Umiltà wollte mich auf der Stelle im pellegrinaio sehen, dem Saal, in dem ich an meinem ersten Tag im mittelalterlichen Ospedale den Mann mit Pocken gesehen hatte. Ich wusch mir die Tinte von den Händen und folgte Clara.

Umiltà erklärte. »Ein junger Priester – ein gewisser Fra Bartolomeo – wird wegen seiner Wunden behandelt. Er spricht wirr durcheinander, aber ich glaube, er fragt nach Euch.«

»Warum um alles in der Welt sollte er das tun?«

»Ich bin ebenso verblüfft wie Ihr, Beatrice, aber in seltenen Momenten, wenn er klar denken kann, ruft er nach der großen Frau mit rabenschwarzem Haar und meerblauen Augen.« Sie zog mich hinter sich her zu einer Pritsche, auf der dieser Mann mit geschlossenen Augen und einem blutigen Verband um den Kopf lag. Ich hoffte, dass keine Hirnmasse darunter hervorquoll; selbst eine erfahrene Neurochirurgin wäre überfordert, so etwas unter mittelalterlichen Voraussetzungen zu behandeln. Ich erkannte sein Gesicht – der stumme Mann, in dessen Gedanken ich eingedrungen war, der Priester, der Giovanni de’Medici zum Galgen geleitet hatte.

Wäre der Kopfverband nicht gewesen, hätte er auch nur schlafen können. Mit seinen geröteten Wangen und seinem dünnen hellbraunen Haar sah er aus wie ein Pfirsich.

»Er wurde bei der Hinrichtung von der Menge niedergetrampelt«, sagte Umiltà, »und die Wärter haben ihn hierhergebracht.« Der Priester begann zu stöhnen, machte die Augen aber nicht auf.

»Ich werde ihm noch mehr Laudanum verabreichen, Suor Umiltà.« Ein älterer Mann in rotem, mit weißem Pelz besetzten Gewand trat an ihre Seite. Der Arzt hielt eine dünne Glasflasche gegen das Licht und spähte auf die gelbliche Flüssigkeit darin.

»Das ist Dottore Agnolo di Boccanegra«, stellte Umiltà ihn mir vor, »ein höchst angesehener Arzt, in Paris ausgebildet. Wir haben großes Glück, ihn hier zu haben. Und das hier« – Umiltà wandte sich mir zu – »ist unsere neue stellvertretende Schreiberin, Beatrice Trovato.« Ich fragte mich, wie es im Paris des vierzehnten Jahrhunderts wohl aussehen mochte. Dottore Boccanegra verbeugte sich kurz vor mir, bevor er wieder in die Flasche schaute.

»Die Farbe seines Urins kündet von seiner Störung. Laudanum wird seinen fiebrigen Zustand beruhigen und seine Körpersäfte ins Gleichgewicht bringen.«

»Noch nicht«, entgegnete ich, und alle schauten mich verwundert an. »Das könnte seinen Zustand verschlechtern, bei einer Kopfverletzung. Und Ihr wüsstet auch nicht, wie es ihm geht, wenn Ihr ihn weiterhin ruhigstellt.«

»Habt Ihr Erfahrung mit der Heilkunst, Signora?« Der Mann mit dem Fläschchen rümpfte die Nase, als hätte ich länger kein Bad genommen, was stimmte. Ich musste mir wohl rasch etwas Plausibles einfallen lassen.

»Mein verstorbener Gemahl hatte ein ähnliches Leiden«, log ich, »und das Laudanum schwächte seine Sprachfähigkeit in den letzten Stunden seines Lebens. Er war nicht in der Lage, seine letzte Beichte abzulegen.« Sie schauten mich verständnisvoll an.

Der Arzt wechselte den Verband, und ich erblickte eine Prellung am Kopf des jungen Priesters mit einer leichten Schwellung unter der Haut. Mir gefiel die Lage nicht – direkt an seiner Schläfe, über der mittleren Hirnhautarterie. Wenn dort eine Fraktur saß, stünde ihm ein rasch expandierendes Epiduralhämatom bevor – eine linsengroße Ansammlung von Blut zwischen dem Schädel und dem Gehirn –, und wenn sie nicht behandelt würde, wären Koma und Tod die Folge. Er war blass, sein Atem ging unregelmäßig. Nicht gut. Heimlich streckte ich eine Hand aus, um seinen Puls zu fühlen – langsam. Auch nicht gut. Nachdem der Verband erneuert worden war, sah er zwar sauberer aus, aber in meinen Augen schlechter. Er stöhnte nicht mehr, und als ich ihn unbemerkt in den Arm kniff, zog er ihn weder fort, noch zuckte er. Ich sah zu, wie der Arzt ihn untersuchte und riss mich zusammen, um nicht die Führung zu übernehmen. Der Priester hatte die verdächtigen Anzeichen für erhöhten intrakraniellen Druck – etwas schwoll an oder sammelte sich in seinem starren Schädel. Und wenn dieser Druck nicht abgelassen wurde, würde der Mann womöglich nie wieder aufwachen. Wie konnte ich eingreifen? Ich hatte keine Instrumente, keinen Anästhesisten und keine Autorität, was mich am meisten entmutigte.

»Er hat nach mir gefragt?«

»Er hat Euch in einem Moment der Klarheit beschrieben, vor der dritten Dosis Laudanum«, sagte Umiltà. Bevor ich überlegen konnte, was ihn dazu gebracht haben könnte, trat das Stimmengewirr im überfüllten pellegrinaio plötzlich in den Hintergrund, und ich spürte das Pochen von heftigen Kopfschmerzen, einen unerträglichen Druck, wie eine Zange die beide Schläfen zusammendrückte. Und ich wusste mit der Sicherheit, die ich durch all die Stunden im OP erlangt hatte, dass sich unter der gewölbten Schädeldecke des Priesters Blut sammelte. Noch ein paar Minuten, und es wäre vorbei. Ich zog mich aus dem Kopf des Priesters zurück, noch taumelnd unter dem Eindruck der Qualen.

Zum Teufel mit fehlender Autorität – ich musste etwas tun. »Dottore Boccanegra«, sagte ich, »habt Ihr ein …« Ich wollte eine Kraniotomie durchführen, doch diese Terminologie würde hier nicht greifen. Ich versuchte mich an meinen Kurs »Geschichte der Medizin« während meines Studiums zu erinnern, bis es mir einfiel. »Habt Ihr eine Trephine?«

Boccanegra zog die Augenbrauen hoch. »Diese Schreiberin weiß mehr über Medizin als die meisten Frauen ihresgleichen.«

Ich griff zurück auf meine alte Ausrede. »Mein Gemahl ist auf diese Weise gestorben. Aber man hätte ihn retten können, hat man mir gesagt, wenn der Augur rechtzeitig an seinem Schädel angewandt worden wäre …« Ich warf einen verstohlenen Blick auf das Gesicht des Priesters und fragte mich, ob sich nun unter einem der Augenlider die Pupille weitete, da der für die Kontraktion verantwortliche Nerv durch das Hämatom zerdrückt wurde.

Boccanegra rieb sich mit einer Hand das Kinn. »In manchen Fällen kann eine Verletzung des Schädels und seines zarten Inhalts nur mittels einer Öffnung behoben werden, wie Ihr sie beschreibt.« Ich hielt die Luft an, aber meine Gedanken überschlugen sich. Komm schon, entscheide dich, Dottore, bevor wir ihn verlieren. »Dieses Verfahren liegt jedoch häufiger im Tätigkeitsbereich des Militärarztes.« Boccanegra sagte das in einem überheblichen Tonfall, als stellte er sich weit über einen Chirurgen, aber etwas an seiner Haltung warf in mir die Frage auf, ob diese Selbstgewissheit echt war. Wenn ich Boccanegra überreden könnte, mir die Führung zu übertragen, müsste ich wissen, was er dachte. Ich nahm den direkten Weg. Es war erstaunlich leicht, in seinen Kopf zu schlüpfen und zu finden, was ich brauchte, und sobald ich seine Gedanken lesen konnte, lachte ich beinahe laut auf. Der Mann war völlig entsetzt. Er hatte noch nie eine Schädelöffnung vorgenommen, hatte überhaupt noch nie operiert. Ich hatte die größere Erfahrung von uns beiden. Wenn ich Hilfe anbot, musste er sie annehmen.

»Dottore, meine Kenntnisse sind natürlich Eurer beachtlichen Erfahrung weit unterlegen … aber ich habe in den letzten verzweifelten Stunden meines Mannes dem Chirurgen bei dem Eingriff assistiert, was ihm das Leben gerettet hätte, wäre er rechtzeitig vorgenommen worden. Wenn ich Euch assistiere, können wir diesem jungen Priester vielleicht ein ähnliches Schicksal ersparen.« Schließlich nickte Boccanegra, und ich wusste, die Erleichterung auf seinem Gesicht bildete ich mir nicht nur ein. Aus seiner Arzttasche zog er ein chirurgisches Messer, einen Handbohrer, der mit einer Holzkurbel bedient wurde, und einen entsetzlich aussehenden Meißel. Primitiv zwar, aber scharf: Die Geräte mussten reichen. Sterilisation war offenbar keine Option, doch während Boccanegra sich die Stirn mit einem weiten Ärmel abwischte, nahm ich heimlich einen Weinkrug von einem Tisch und tauchte die Geräte hinein. Ich hoffte, der Alkoholgehalt in dem mit Wasser verdünnten Wein wäre so hoch, dass er etwas taugte.

Ich trat vor und brachte den Kopf des Priesters in die richtige Stellung. Meine Hand griff begierig nach dem Messer, mit dem ich in mir vertrauter Manier durch die Haut an der Schläfe schnitt und dann den Lappen aufklappte, um den Knochen freizulegen. Boccanegra ließ mich erstaunlicherweise gewähren. Er tupfte mit einem Tuch das Blut von der Haut, während ich den Bohrer nahm und zunächst ein Loch, dann ein zweites bohrte. Unser Patient krümmte sich nicht einmal, als ich einen Ring aus Löchern in seine Schädeldecke bohrte, die ich dann mit dem Meißel verband, wobei winzige Knochensplitter aus der Wunde flogen. Als die Knochenklappe sich anhob, glaubte ich fast, das Zischen entweichenden Drucks zu hören, wie aus einem angestochenen Reifen. Da war es, das Gerinnsel, mit dem ich gerechnet hatte, vermischt mit frischem dickflüssigem Blut. Ich schöpfte es in eine Schale fürs Aderlassen, die Boccanegra auf seinem Instrumententablett hatte. Boccanegra, kompetent, obwohl er mit der Materie nicht vertraut war, fand die offene Stelle, stoppte die Blutung und hielt fest, bis sie aufhörte. Ich nähte sie zu, und wir setzten den Knochen wieder ein, dann schlossen wir die Hautklappe. Boccanegra nähte die Wunde mit Nadel und Darmseite.

Ich trat zurück, während Boccanegra sich umdrehte und einen Verband suchte. Ich beobachtete den Priester und zählte seine Atemzüge. Eins, zwei, drei … regelmäßiger jetzt. Ich spähte unter seine Augenlider – die Pupillen zum Glück gleich groß.

Boccanegra übernahm wieder die Führung. »Der gute Priester muss sich jetzt ausruhen. Ich werde ihn zur Ader lassen und ihm dann Laudanum verabreichen. Danke, Monna Trovato, dass Ihr als Laie in dieser ernsten Sache assistiert habt.« Ich hob an, um zu protestieren – der Prister hatte schon genug geblutet –, aber ich wollte meine unverlangte medizinische Autorität nicht zu weit treiben. Ich warf noch einen Blick über die Schulter, als wir den pellegrinaio verließen, und sah, wie der dottore ein weiteres Tablett mit übel aussehenden Instrumenten bereitstellte.

Am nächsten Tag stattete ich Bartolomeo einen Besuch ab. Ich hatte über die hohe Überlebensrate nach einer Schädelöffnung gelesen, die seit der Steinzeit praktiziert wurde, hatte es aber kaum glauben können, bis jetzt.

Der Priester schaute mich mit großen Augen an, als ich auf seine Pritsche zuging. »Der Geist der Kathedrale, der mir zur Hilfe eilt«, sagte er. »Dank sei der Heiligen Jungfrau dafür, dass sie Euch geschickt hat.« Ich gab mir nicht die Mühe, ihn zu korrigieren.

»Wie geht es Euch?«

»Ich kann mich an nichts mehr erinnern, nachdem ich den Messer de’Medici hab hängen sehen.«

»Das ist nichts Ungewöhnliches nach einem Schlag auf den Kopf.«

»Wirklich?« Er wirkte erleichtert. »Ich hatte Angst, ein Teufel habe meine Seele geraubt. Aber mithilfe der Jungfrau, die uns alle behütet, und Euch, ihrer Botschafterin des Heilens, bin ich wieder gesund.« Sorgenvoll verzog er das Gesicht. »Der Angeklagte hat nicht bereut vor seinem Tod. Ich habe mit meinen eifrigsten Gebeten versagt, und er ist in die Hölle hinabgestiegen, verdammt bis in alle Ewigkeit, während ich machtlos danebenstand und ihn nicht an Gottes Seite zu bringen vermochte.«

»Er war ein Mörder.«

»Meine Aufgabe war es, seine Seele in den Himmel zu bringen.«

»Ich glaube, niemand hätte diese Seele von ihrem Weg abbringen können. Vielleicht haben Eure Bemühungen ihm Qualen erspart.«

»Eure Worte sind mir ein Trost«, sagte der Priester ernsthaft, und seine Miene veränderte sich so plötzlich wie die eines Kindes. »Die Jungfrau selbst hält Euch in ihrem Herzen.«

»Ich bete darum, dass es stimmt, aber ich bin nur eine Schreiberin. Danke für das Kompliment.«

»Es ist kein Kompliment, Monna …«?

»Beatrice Alessandra Trovato. Und ich bin wirklich nur eine Schreiberin.« Ich schenkte ihm ein Lächeln. Er war offensichtlich ein sehr netter, wenn auch äußerst sensibler junger Mann.

»Pater Bartolomeo der Schüchterne, so nennen sie mich. Aus gutem Grund.« Er lächelte ironisch. »Seit dem Augenblick, als ich Euch durch den Duomo laufen sah, wusste ich, dass Ihr ein Geist seid, der mit einer himmlischen Aufgabe auf die Erde geschickt wurde.« Bevor ich ihn fragen konnte, was er damit meinte, tauchte Boccanegra an seiner Seite auf. Ich machte einen Knicks und entfernte mich. Als ich den pellegrinaio verließ, fiel mir ein, was Bartolomeo gesagt hatte. Konnte es sein, dass er an jenem Abend meine Ankunft im vierzehnten Jahrhundert mit angesehen hatte?

Jedes Mal, wenn ich ihn in den nächsten Tagen wieder besuchte, schlief Bartolomeo, oder er war in Gesellschaft eines Betreuers. Ich gab mich der Hoffnung hin, dass er vielleicht einen Schlüssel zu meiner Rückkehr in meine eigene Zeit besaß, so unschuldig er auch erscheinen mochte. Das letzte Mal, als ich zu ihm ging, war die Pritsche leer. Umiltà sagte mir, der Priester sei zum Dom zurückgekehrt, wo er wohne und arbeite.

Am nächsten Morgen ging ich zur Messe in den Dom. Ein runzliger, spindeldürrer Priester stand auf der Kanzel und hielt eine Predigt, die ebenso nichtssagend war wie sein Gesicht. Nachdem der Gottesdienst beendet war, schlenderte ich umher und warf einen Blick in die Seitenkapellen. Endlich entdeckte ich Bartolomeo, der im Gebet versunken vor einem Altar kniete. Er schaute auf, als ich vorbeiging.

»Ich wollte Euch nicht stören«, sagte ich.

»Leider bin ich sehr anfällig für Störungen, Signora, und meinen Gebeten mangelt es an Ausdauer. Deshalb bin ich heute hier, statt auf der Kanzel.« Er rieb sich dabei über den Kopf, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich im Nu. »Die Sonne ist heute Morgen so herrlich, nicht wahr? Ich habe mir vorgestellt, dass ich auf einem Lichtstrahl zu diesem Fenster hinausreite und ihm zu seinem himmlischen Ursprung folge.« Er lachte, ein zwitschernder, kindlicher Laut, und deutete auf ein leuchtendes Buntglasfenster. War er auch schon vor der Kopfverletzung so gewesen?

Unwillkürlich verfiel ich in meine alte Routine und versuchte das Ausmaß seiner Amnesie zu erörtern. »Erinnert Ihr Euch, wie Ihr Euren Kopf verletzt habt?«

»Die Einzelheiten weiß ich nicht mehr. Wart Ihr anwesend, Signora?« Er starrte ins Leere. »Eure Erscheinung hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich hielt Euch für einen Dämon, von der Nacht entfesselt, als ich in meinen Gebeten versagte, mit denen ich unsere Stadt vor dem Bösen bewahren wollte. Aber jetzt begreife ich Eure segensreiche Bestimmung.« Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf, als ich mich an die Stimme erinnerte, die das nächtliche Stundengebet sang an jenem ersten Abend, an dem ich in Sienas Duomo aufwachte.

»Was wisst Ihr noch aus der Nacht?«

»Ich hörte Schritte im Kirchenschiff und sah eine Gestalt, die durch die großen Türen des Doms verschwand – heute weiß ich, dass Ihr es wart. Dann betete ich intensiver in der Hoffnung, dass mein hilfloses Gestammel nicht unerwünschten Geistern die Tür geöffnet hatte.«

»Ich bin kein Geist«, sagte ich mit Nachdruck. Aber das war ein interessanter Gedanke. Hatten seine Gebete – oder das Versagen seiner Gebete – einen Spalt in der Mauer geöffnet, die eine Zeit von der anderen trennte? Ich erfand eine realistischere Geschichte für ihn. »Nach der Komplet bin ich in der Kirchenbank eingeschlafen und vom Klang des nächtlichen Stundengebets wieder aufgewacht.« Ich wollte noch mehr Auskünfte aus ihm herauslocken, dieser Verbindung zu meiner alten Zeit. »Habt Ihr jemals zuvor solche Erscheinungen erlebt, Pater?«

»Noch nie, Signora. Doch meine Stunden, die ich in Andacht mit dem Heiligen Geist verbrachte, haben meinen Blick für die Welt jenseits der unseren geschärft, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich mir Wesen aus dem Jenseits zeigten.«

»Ich bin kein Wesen aus dem Jenseits.« Das stimmte nicht ganz; vielleicht war es besser, ihm auf seinem eigenen Terrain zu begegnen. »Pater, meint Ihr, der Dom ist eine Art Portal, durch das Geister ein und aus gehen – so wie ich zum Beispiel?«

»Der Mensch ist das Portal, nicht der Ort.«

Seine Bemerkung hatte eine scharfsinnige Klarheit, die mich erschütterte. »Welcher Mensch?«

Der Priester sprach mit leiser, melodischer Stimme, die beinahe ein Singsang war. »Der Dom kann trotz all seiner Pracht nicht die Liebe Gottes beherbergen, ohne ein menschliches Element als Gefäß, und Gott muss durch die Handlungen von Heiligen und Menschen tätig werden. Wo Herz und Seele ein und aus gehen, bewirkt die göttliche Gegenwart ihre Wunder. Die Mystiker dienen als Eingang, durch den Gott mit unserer bescheidenen Welt kommuniziert. Sie tragen jederzeit und überall das Göttliche in ihren Herzen und Seelen. Ihr zum Beispiel scheint nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Oder an eine bestimmte Zeit, was das betrifft«, fügte er hinzu, als Nachsatz gewissermaßen.

Nach dieser beunruhigenden Feststellung schloss er die Augen. »Ich bin so müde, Signora, ich muss einen Moment meinen Kopf ablegen.« Er verneigte sich und verließ die Kapelle. Kurz darauf ging ich auch. Als ich den Hof überquerte, fragte ich mich, ob er einer Sache auf der Spur war. Doch wenn es der Mensch war und nicht der Ort, der eine Rolle spielte, sollte ich dann nicht in der Lage sein, jederzeit nach Hause zu gehen?

Das Eigentümlichste an meiner Begegnung mit dem Priester war, dass sie überhaupt stattgefunden hatte. Nach meiner bisherigen mittelalterlichen Erfahrung gab es nur selten vertrauliche Unterhaltungen zwischen Männern und Frauen. Ungestört war man fast nie, und Privatgemächer durften nicht betreten werden. Gabriele und ich waren zusammen auf dem Gerüst gewesen, doch das war in aller Öffentlichkeit, und er hatte gearbeitet, nicht geplaudert.

Ich fragte mich weiterhin, ob Gabriele wohl an mir interessiert wäre, wenn ich weder eine bedürftige Waise noch ein Modell für einen Engel wäre, doch da ich über mittelalterliche Verhaltensweisen nur wenig wusste, war es schwer zu sagen. Die größte Herausforderung war Gabriele selbst; ich war noch nie jemandem begegnet, der so schwer zu deuten war. Meine Versuche, seine Gedanken zu lesen – entweder auf normalem oder auf meinem paranormalen Weg –, schlugen wiederholt fehl. Mein Abbild, das unter seinen Pinselstrichen an der Fassade eines der berühmtesten Gebäude in Siena erblühte, hätte ein Beweis für sein Interesse sein können, aber Gabriele schien seinem Gemälde mehr Aufmerksamkeit zu schenken als seinem Modell.

Anfang der zweiten Septemberwoche war Gabrieles Fresko schon weit gediehen, und ich arbeitete an einem Angebot, wobei ich mich auf Notizen des vom Rektor bevorzugten Notars stützte. Das Dokument war adressiert an einen Wollhändler namens Girolamo Lugani, dessen Firma in Genua neue Gewänder für das Personal des Ospedale und bestickte Altartücher für die Kirche Santa Annunziata liefern sollte. Lugani war auf dem Weg nach Siena, und der Vertrag musste fertig sein, bevor der Händler eintraf. Die Hälfte des Dokuments hatte ich fertiggestellt, als von draußen ein Hämmern hereindrang – gedämpft, da das Fenster inzwischen repariert war. Ich ging hinaus, um zu sehen, was los war. Gabriele war wieder vor dem Skriptorium am Werk, diesmal mit einer Gruppe von Zimmerleuten.

»Ich habe nicht die Muße, das hier eigenhändig wieder aufzubauen, da die Jungfrau und der Rektor mich zur Eile antreiben«, sagte er, als ich die drei Arbeiter, die er zum Wiederaufbau des Gerüsts mitgebracht hatte, erstaunt betrachtete.

»Ihr traut Eurer eigenen Arbeit nicht?«

»Ich vermute, ebenso wie Ihr, dass meine Arbeit nicht fehlerhaft war.«

Ich schaute ihn fragend an. »Woher wisst Ihr, was ich denke?«

In dem Augenblick tippte ein Arbeiter ihm auf die Schulter. Gabriele entschuldigte sich mit einem Schulterzucken bei mir und folgte dem Mann zum Gerüst. Widerwillig ging ich zurück zu meiner Korrespondenz mit dem Wollhändler.

In den nächsten Tagen hatte Bosi ständig eine finstere Miene und korrigierte alles, was ich tat, mindestens drei Mal. Selbst die unerschütterliche Umiltà war zappelig, redete schnell und vergaß, ihre langen Sätze zu beenden. Auch ich wurde allmählich nervös und fragte mich, ob ich wohl die Gelegenheit bekam, diesen Lugani kennenzulernen, und war mir nicht sicher, ob ich es wollte.

Ich hatte die Tür des Skriptoriums geschlossen, um mich zu konzentrieren. Jeder Fehler bedeutete, die ganze Seite neu zu schreiben, weshalb ich mir die größte Mühe gab, gleich beim ersten Mal alles richtig zu machen. Als es an der Tür klopfte, fuhr ich zusammen.

»Wer ist da?«

Die Stimme wurde durch das Holz gedämpft. »Gabriele Accorsi.« Ich sprang auf, stolperte über meinen Rock und öffnete die Tür. Gabriele stand auf der Schwelle und hatte ein Paket in der Hand. »Guten Tag, Signora. Ysabella bedauert, dass es so lange gedauert hat, Euch das Kleid zurückzugeben.«

Gabriele reichte mir das Paket. Meine Hand streifte die seine, als ich das Kleid entgegennahm, und ich zog mich instinktiv zurück. Ich hatte ihn seit dem Sturz vom Gerüst nicht mehr berührt, und da war er nicht bei Bewusstsein gewesen.

»Danke – ich werde Euch das blaue zurückgeben. Soll ich es vorher noch waschen?«

»Ysabella und mein Onkel bitten Euch, es zu behalten, wenn es Euch passt.«

»Das Kleid ist wunderschön. Ich wünschte, ich könnte Eurer Familie etwas dafür geben, aber das, was ich besitze, hat keinen großen Wert.«

»Dass Ihr in unser Leben getreten seid, war Belohnung genug, Signora.« Mir fiel alles Mögliche ein, das ich hätte sagen können, aber nichts war angemessen. »Darf ich Euch kurz um Eure Aufmerksamkeit bitten, Monna Trovato? Ich möchte mit Euch über eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse sprechen, aber ich möchte Euch nicht von Eurer Arbeit abhalten.«

»Ich brauchte ohnehin eine Pause. Wollt Ihr Platz nehmen?« Ich zog einen zweiten Hocker neben meinen, und wir setzten uns.

Gabriele griff in den Beutel, der an seinem Gürtel hing, und zog etwas Kleines heraus, das in seiner Hand verschwand. Als er sie öffnete, wurde mein Mund trocken. Zwei stählerne Sicherheitsnadeln glitzerten auf seiner Handfläche – damit hatte ich nach meinem Zusammenstoß mit dem Sittenpolizisten mein Taschentuch an das Mieder des grünen Kleides gesteckt.

»Monna Trovato … würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich Euch mit dem Vornamen anspreche?«

»Wie Ihr wollt. Kann ich dann Gabriele zu Euch sagen?«

»Gewiss, nennt mich Gabriele«, antwortete er. »Beatrice, ich fürchte, Ihr wart nicht ehrlich zu mir. Ich respektiere Eure Privatsphäre, aber Euer Schweigen erlaubt mir nicht, Euch so zu beschützen, wie es mir möglich wäre.« Früher hätte ich gesagt, dass ich keinen Schutz brauche, aber jetzt war ich mir nicht sicher. »Edle Frau, könnt Ihr offen zu mir sein? Ich kann verstehen, wenn Ihr lieber schweigen wollt und nur Gott Eure Gebete hören soll.«

»Ich habe gebetet«, sagte ich leise.

»So wie ich.« Gabriele ließ sich nicht ablenken. »Diese Geräte gehören Euch, nicht wahr? Sie sind fein gearbeitet, und das Material ist mir unbekannt. Ich habe noch nie dergleichen gesehen und wäre sehr überrascht, wenn es in Lucca gefunden worden wäre.«

»Die sind nicht aus Lucca.«

»Und seid Ihr aus Lucca, Beatrice? Oder ist dieser Teil Eurer Geschichte ebenso fraglich wie Euer rätselhafter Gemahl?«

Gabriele wartete ohne eine Spur Ungeduld auf die Antwort. Es fiel mir leichter, auf Gabrieles Hände zu schauen, die auf dem Tisch ruhten, als in sein Gesicht. Er hatte lange, anmutige Finger, die Haare auf seinen Armen waren von der Sonne gebleicht und zeichneten sich hell vor seiner gebräunten Haut ab. Unter seinen Fingernägeln waren Farbspuren zu sehen, Reste von Engeln in der Entstehungsphase.

»Ich bin nicht aus Lucca, nein.« Ich hoffte nur, er würde glauben, dass ich von sehr weit weg kam. Edelstahl war im vierzehnten Jahrhundert noch nicht erfunden. Vielleicht dachte Gabriele, die Sicherheitsnadeln wären aus Silber, aber ihre Form hatte zu der damaligen Zeit nicht ihresgleichen.

»Ich gehe davon aus, dass Ihr sie noch braucht, da sie an Eurem Kleid befestigt waren?« Gabriele hielt mir die Sicherheitsnadeln wieder auf der ausgestreckten Hand hin, bis ich sie mir nahm. »Es wäre mir eine Ehre, wenn ich Euch helfen könnte, Beatrice. Womöglich verstehe ich nicht alles, was Ihr zu sagen habt, aber ich werde Euch nicht verurteilen, und ich werde für Euer Wohlergehen alles tun, was in meiner Macht steht. Ich stehe Euch zu Diensten.«

Ich konnte ihm nicht sagen, woher ich kam, wer ich war, was ich wusste. »Danke«, sagte ich stattdessen, und das Schweigen, das ich nicht ausfüllte, nahm immer mehr Raum zwischen uns ein. Schließlich erhob sich Gabriele, verneigte sich kurz und ließ mich mit Ser Luganis Vertrag und den Sicherheitsnadeln in meiner Hand allein.

Umiltà und Bosi schienen beide ungewöhnlich nervös in Bezug auf den Kaufvertrag, den ich aufsetzte. Lugani hatte seinen Stammsitz in Genua, besaß aber in vielen Städten Außenposten. Er war ein berühmter Geschäftsmann, dessen in Brokat gefasste und fein gewobene Wollstoffe für ihre Qualität bekannt waren, und seine Monopolstellung auf den regionalen Handelsrouten sorgte dafür, dass alle bestrebt waren, ihn zufriedenzustellen. Das Ospedale hatte eine Menge Vereinbarungen mit Mächtigen aller Art: wohlhabende Barone und Landbesitzer, Handelsbankiers, Kunstmäzene, Stadtbeamte, hochrangige Geistliche – und ich hatte an vielen ihrer Verträge gearbeitet. Doch Lugani übte selbst in absentia einen außergewöhnlichen Einfluss aus. Als ich das Angebot des Rektors anhand meiner Notizen niederschrieb, fiel ein Schatten über die Seite. Bosi stand hinter mir, das Gesicht in noch tiefere Sorgenfalten als sonst gelegt.

»Ist meine Arbeit nicht zufriedenstellend?« Bosi hatte seit den ersten Wochen meiner Anstellung noch nie etwas so genau überprüft. Er war mit der Kopie eines Stundenbuchs für einen wohlhabenden Mäzen des Ospedale beschäftigt, sonst hätte er den Vertrag selbst übernommen. Stattdessen schwebte er über mir wie eine Gewitterwolke.

»Noch nicht«, antwortete Bosi mürrisch. »Aber irgendein Fehler wird gefunden, ein Anhaltspunkt, den Ser Lugani zu seinem Vorteil nutzen wird.«

»Das klingt, als wäre Lugani ziemlich … anspruchsvoll«, sagte ich, wobei ich das Wort vorsichtig wählte, während ich die letzte Zeile auf der Seite fertigstellte.

»Lugani bekommt alles, wonach er die Hände ausstreckt, was man als Zeichen seines Erfolgs betrachten kann. Gott obliegt die Entscheidung, ob dieser Erfolg den Mann in den Himmel bringt, wenn sein Leben zu Ende ist.« Mit dieser ominösen Feststellung verließ Bosi das Skriptorium.

Bevor die Woche zu Ende war, traf Girolamo Lugani mit einer Entourage aus fattori ein – das Äquivalent einer Finanzabteilung in der mittelalterlichen Toskana: Geschäftsbuchführer, Notare und Buchhalter – sowie einer Horde gepflegter Bürogehilfen, sogenannten garzani, der niedrigste Rang auf der Geschäftsleiter. Im Ospedale brach hektische Betriebsamkeit aus. Meine fertiggestellte Arbeit wurde mir aus den Händen gerissen, nachdem der Notar sie überprüft hatte. Ich war Lugani nicht persönlich begegnet, da es keinen Grund gab, mich ihm zu präsentieren. Clara gab die Information weiter, er habe eine besondere Vorliebe für Süßigkeiten, und die Küche überschlug sich, gezuckerte Mandeln, Vanillecreme mit Honig und gelierte, mit Puderzucker bestreute Früchte vorzubereiten. Als ich an der Küche vorbeikam, schmeckte die Luft geradezu süß.

Jedes Mal, wenn ich durch das Haupttor des Ospedale ging, warf ich einen verstohlenen Blick auf das Fresko, das allmählich Form annahm. Gabriele hatte Überstunden gemacht, und man hatte ihm einige Helfer vom Ospedale zur Seite gestellt, die ihm zur Hand gingen. Sie kletterten auf das Gerüst und brachten ihm Mahlzeiten sowie die Werkzeuge und Pigmente, die er brauchte. Er war kurz vor Tagesanbruch auf der Bühne und kam herunter, wenn es dunkel wurde. Ich sah ihn nur von unten, wenn ich vorbeiging. Wir hatten nicht mehr miteinander gesprochen, nachdem er mir die Sicherheitsnadeln gebracht hatte, und ich wusste nicht, wie ich das Schweigen brechen sollte, da ich erneut seinen freundlichen Vorschlag abgelehnt hatte, mich ihm anzuvertrauen.

Mangels direkten Kontakts beobachtete ich, wie seine Himmelfahrt Form annahm. Die vier Engel schauten bewundernd auf die Jungfrau und hoben sie himmelwärts, die Bewegung war förmlich zu spüren. Drei Engel glitzerten prächtig, ihr helles Haar mit Blattgold in Licht getaucht. Der vierte Engel bildete einen starken Kontrast, das Haar war so schwarz, dass es endlose Tiefe vermittelte. Das Gesicht des dunklen Engels ließ ein verborgenes, tödliches Geheimnis erahnen, etwas Unfassbares und Düsteres hinter dem ruhigen Blaugrau seiner Augen. Niemand erwähnte mir gegenüber unsere Ähnlichkeit, aber ich war trotzdem verlegen und vermied es, zu lange auf das Gemälde zu schauen, wenn andere in der Nähe waren. Demzufolge hatte ich nur selten das Vergnügen, Gabrieles Werk ausgiebig zu betrachten.

*

Anfang der dritten Septemberwoche kam Umiltà kurz nach der Prime ins Skriptorium. Selbst zu der frühen Stunde war das Sonnenlicht so hell, dass ich schreiben konnte, doch die Sommerhitze ließ nach, und abends wehte eine kühle Brise, die den Herbst ankündigte. Gerade dieser Jahreszeitenwechsel hatte mich immer ein wenig melancholisch gestimmt, ein Gefühl, das sich nun verstärkte, da der Kalender auf den Ausbruch der Pest zuraste. Ich war dem Mysterium, wie ich dieses Jahrhundert wieder verlassen konnte, genauso wenig auf der Spur wie am Tag meiner Ankunft, und ich konnte weder mich noch meine Umgebung vor der sich nähernden Katastrophe bewahren.

Als Umiltà eintrat, hatte ich mich gerade an meine neue Aufgabe gesetzt. Lugani wollte eine Kopie von Dantes Paradiso, und mir war aufgetragen worden, innerhalb von einer Woche eine neue Ausgabe zu erstellen. Ich bemerkte Umiltà erst, als sie direkt vor mir stand.

»Ich bin noch nicht annähernd fertig«, sagte ich und schaute von dem Gesang auf, den ich gerade abschrieb.

»Ser Lugani möchte Euch kennenlernen«, sagte sie mürrisch.

Die Kürze ihres Satzes beunruhigte mich. »Warum?«

Umiltà verzog das Gesicht. »Messer Luganis Schreiber ist auf der Reise von Genua hierher an der Ruhr gestorben, und der Händler braucht auf der Stelle einen Ersatz.«

»Ihr habt mich vorgeschlagen?« Ich war entsetzt. Ich versuchte, dem vierzehnten Jahrhundert zu entkommen, und mich von Siena zu entfernen war wenig hilfreich. Es hatte keinen Zweck, vor der Pest davonlaufen zu wollen, da sie sich über ein Gebiet verbreiten würde, das eines Tages Italien und der Rest der Welt wäre.

»Natürlich nicht. Aber Ser Lugani hat von Eurer Existenz erfahren und wünscht persönlich einzuschätzen, ob Ihr für die Stellung geeignet seid.«

»Und wenn ich meine Arbeitsstelle nicht wechseln will?«