Der Doktortitel
zwischen Wissenschaft,
Prestige und Betrug
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage als E-Book, November 2016
entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2016
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover: Stephanie Raubach, Berlin unter Verwendung eines Motivs von thinkstock (475884746)
Grafiken: Steffi Lorenz, Anna Catharina Hofmann, Freiburg
eISBN 978-3-86284-365-7
Einführung
Stationen in der Geschichte des Promovierens
Die ersten doctores
Eine wachsende Zahl von Universitäten
Die ersten Doktorinnen
Die Universität wird zur staatlichen Anstalt
Die Einführung des Dr. habil.
Das Promotionsrecht für Technische Hochschulen
Die politische Instrumentalisierung des Doktortitels
Die Doktorandenlawine
Die ersten Plagiatsskandale?
Promovieren heute: Abläufe, Verfahren, Rahmenbedingungen
Wer promoviert?
Was sind die Voraussetzungen für eine Promotion?
Was ist das Ziel einer Promotion?
Wer darf eine Doktorarbeit betreuen?
Wie lange dauert eine Doktorarbeit und wie viele Doktorarbeiten werden abgebrochen?
Welche Form und welchen Umfang hat eine Promotion?
Wie wird die Doktorarbeit bewertet?
Was bedeutet die »Verschulung« der Promotion?
Problemfelder
Der Doktortitel als Prestigeobjekt und Karrierevorteil
Zu wenig und zu viel Zeit an der Universität
Viel zu kurze und viel zu lange Doktorarbeiten
Forschen im stillen Kämmerlein
Politische Kleinstaaterei und zersplitterte »Promotionslandschaft«
Die Plage mit den Plagiaten
Von Promotionsberatern und anderen »Helfern«
Kriminalfälle oder: Der kurze Weg vom Schummler zum Verbrecher
Folgen: Eine schlampige/plagiierte Promotion ist kein Kavaliersdelikt
Auswege und Lösungsansätze
Qualitätssicherung der Promotion – die Meinung des Wissenschaftsrats und der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin
Wie machen es die Anderen? Eine kleine Reise durch die Promotionslandschaft
Die Zukunft der Promotion in Deutschland – zwölf Forderungen
Nachwort
Anhang
Anmerkungen
Lektüreempfehlungen
Übersicht über in Deutschland, Österreich und der Schweiz verliehene Doktorgrade
Über den Autor
Es war eine jener Nächte gewesen, die man als Arzt am liebsten schnell wieder vergisst: Auf der Intensivstation musste ein Herzinfarktpatient betreut werden, zwei Stockwerke höher war ein alter Mann mit einer schweren Gallenkolik zu versorgen und später ging es um einen Patienten mit lang anhaltenden asthmatischen Beschwerden. Der anschließende Tagdienst war auch recht anstrengend, und so war ich froh, als ich nach 32 Stunden Dienst die Klinik endlich verlassen durfte. Doch nach Hause konnte ich nicht. Ich hatte noch einen Termin im Notariat zu erledigen, weil ich ein paar Tage zuvor zum Vorsitzenden eines Sportvereins gewählt worden war.
Nachdem mir der Notar einen langen Vortrag über den entsprechenden Verwaltungsakt gehalten und mich ermahnt hatte, mit Vor- und Nachnamen sowie mit Doktortitel zu unterschreiben (was ich bis dato nie getan hatte), durfte ich schließlich nach Hause fahren und mich ins Bett legen. Doch kaum war ich ein wenig eingenickt, wurde ich schon wieder geweckt – es sei bei der notariellen Beglaubigung etwas schief gelaufen, hieß es, als ich das Telefongespräch entgegennahm. So setzte ich mich wieder ins Auto, um erneut die 25 Kilometer zum Notariat zu fahren. Der Notar erklärte mir bei meiner Ankunft, meine Unterschrift sei nicht vollständig; denn man müsse immer mit Titel unterschreiben, der Doktortitel gehöre in Deutschland zum Namen dazu – das habe er mir schon vor zwei Stunden erklärt. Auf meinen Einwand, ich hätte doch meine Unterschrift in der gewünschten Form geleistet, machte er mich darauf aufmerksam, dass ich mit »Dr. Dr.« zu unterschreiben hätte und fügte, ohne eine Miene zu verziehen, hinzu: »Wer hat, der hat«. Um die Angelegenheit schnell zu erledigen, widersprach ich ihm nicht. Denn dass der Doktortitel in Deutschland und seinen Nachbarländern ein akademischer Grad, aber kein Namensbestandteil ist, war ihm wohl während seiner juristischen Ausbildung entgangen.
Welche – nicht selten unangemessen große – Bedeutung außerhalb der Universität man hierzulande dem Doktortitel zumisst, wird auch deutlich, wenn man die politischen Ereignisse der letzten Jahre rekapituliert: Während die Bundeswehr in Afghanistan mehr als einmal in gefährliches Fahrwasser zu geraten schien, stürzte der verantwortliche Minister nicht etwa darüber, dass er falsche militärpolitische Entscheidungen getroffen hatte, sondern er musste 2011 zurücktreten, weil er seinen Doktortitel offensichtlich mit unlauteren Mitteln erworben hatte. Und auch der Wissenschaftsministerin Annette Schavan, die den tiefen Fall des Freiherrn Karl-Theodor zu Guttenberg noch oberlehrerhaft kommentiert hatte, wurde zwei Jahre später der Doktortitel entzogen, weil sie bei der Abfassung ihrer Dissertation nicht korrekt zu Werke gegangen sein soll. Ihre Karriere als Ministerin endete damit ebenfalls. Im Jahr 2015 verhedderte sich zu Guttenbergs Nach-Nachfolgerin Ursula von der Leyen schließlich wegen ihrer Doktorarbeit in Widersprüche und Plagiatsvorwürfe. Ihre Heimatuniversität hat ihr im März 2016 bescheinigt, zwar fehlerhaft zitiert, aber kein bewusstes Fehlverhalten an den Tag gelegt zu haben.
Politische Karriere und Doktortitel gehören gar nicht so selten zusammen: 2005 besaß jeder sechste Bundestagsabgeordnete einen Doktortitel, sechs Jahre später war es sogar jeder fünfte (115 Personen), der sich mit den beiden offensichtlich heiß begehrten Buchstaben schmücken konnte.1 Derzeit sitzen im Parlament 118 Abgeordnete, die über mindestens einen Doktortitel verfügen.2 In der seit 2013 amtierenden Bundesregierung verfügt genau die Hälfte der Kabinettsmitglieder über einen Doktortitel (Angela Merkel, Thomas de Mazière, Barbara Hendricks, Gerd Müller, Wolfgang Schäuble, Frank-Walter Steinmeier, Ursula von der Leyen, Johanna Wanka), in der schwarz-gelben Vorgängerregierung waren fast alle Mitglieder promoviert – zumindest zu Beginn.
Dass unlautere Verhaltensweisen von höchsten politischen Repräsentanten beim Erwerb des Doktortitels kein rein deutsches Phänomen sind, bewiesen auch ein ungarischer Staatspräsident und ein rumänischer Ministerpräsident, die wegen betrügerischer Machenschaften rund um ihre Doktortitel schwere politische Stürme zu bestehen hatten: Der Ungar Pal Schmitt musste schließlich seinen Hut nehmen und das Präsidentenpalais verlassen, und der Rumäne Victor Ponta gab nach langem Hin und Her im Herbst 2015 sein Amt auf, wobei er nicht nur über diverse Korruptionsvorwürfe, sondern eben auch über seine obskure Doktorarbeit gestolpert war.
In der Öffentlichkeit hat sich dank der Berichterstattung über spektakuläre Fehltritte bekannter Politiker mittlerweile der Eindruck festgesetzt, dass das Plagiieren das einzige Problem im Zusammenhang mit einer Doktorarbeit darstelle und auf die fehlende charakterliche Eignung des oder der Entlarvten zurückzuführen sei. Dass diesen Sündenfällen aber strukturelle Probleme des Promotionswesens zugrunde liegen, wird zu wenig diskutiert. Mit der Akademisierung der Gesellschaft, die beispielsweise von der OECD ausdrücklich gewünscht wird, steigt auch die Nachfrage nach Titeln – ein Prozess, der sich voraussichtlich noch beschleunigen wird. Dass viele Promovenden am Existenzminimum herumkrebsen, dass ihre Betreuer oft völlig überlastet und nicht selten auch nicht besonders interessiert an ihren Schützlingen sind, dass sich deshalb Doktorarbeiten oft über viel zu viele Jahre hinziehen und so massiv Lebenszeit verschwendet wird, dass zahlreiche Promotionsvorhaben am Ende scheitern, weil die universitären Strukturen an einigen Hochschulen völlig antiquiert sind, dass man nicht einmal genau weiß, wie viele Doktoranden es hierzulande gibt – all das wird ausgeblendet, wenn das Problem »Promotion« auf das Stichwort »Plagiat« reduziert wird. In puncto Doktorarbeit liegt vieles im Argen. Guttenberg & Co. sind dabei nur das Symptom tiefer liegender, in der Regel nur wenig bekannter Ursachen.
Grundsätzlich sind beim Thema Promotion zwei Aspekte zu unterscheiden, von denen der erste – die gesellschaftliche Problematik – die Öffentlichkeit deutlich mehr interessieren dürfte als der zweite – die inneruniversitären Probleme, die den Betrug erleichtern, aber auch zahlreiche Doktoranden an ihrem Promotionsvorhaben verzweifeln und schließlich scheitern lassen.
Die gesellschaftliche Problematik liegt, was den deutschsprachigen Raum angeht, sicherlich in der allgemeinen Überbewertung des Doktortitels. Daraus resultiert der Massenandrang auf die Promotion, der wegen der Überforderung der Universitäten dazu führt, dass zahlreiche Promotionsvorhaben »extern«, und damit berufsbegleitend durchgeführt werden – mit Blick auf die weitere außeruniversitäre Karriere. Die Doktorarbeit ist also in solchen Fällen nur noch Mittel zum Zweck (nämlich des Titelerwerbs) und dient weder der universitären Qualifikation noch dem Erwerb wissenschaftlicher Erkenntnis. Im Zusammenhang damit stehen die »neuen« Geschäftsfelder der »Promotionsberater« und die zunehmende Tendenz zu Betrug und Plagiat.
Inneruniversitär ist der Massenandrang auf die Promotion deshalb als problematisch zu bewerten, weil es in der Regel an den Universitäten keine Folgestellen für die vielen Promovierten gibt. So entstehen problematische Erwerbsbiografien, gesellschaftliches Potenzial und öffentliche Mittel werden unnötig gebunden. Und dank schlecht geführter Statistiken weiß man häufig nicht einmal, wie lange die Promotion in den verschiedenen Feldern dauert und wie die Bezahlung funktioniert, ob es überhaupt eine Bezahlung gibt oder welche anderen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Doktorvater und Doktorand bestehen.
Bisher entsteht häufig der Eindruck, dass die Folgen etwa eines Plagiats nur auf den Verfasser oder die Verfasserin selbst zurückfallen. Das ist falsch. Ich möchte vielmehr deutlich machen, dass die Unordnung im Promotionswesen erhebliche Folgen für Wissenschaft und Gesellschaft insgesamt hat. Wenn wir eine Wissensgesellschaft sein wollen, müssen wir an diesem zentralen Element wissenschaftlicher Ausbildung grundlegend etwas ändern.
Um dies zu erreichen, muss man aber von staatlicher Seite zunächst einmal die Datenlage hinsichtlich der Promotion verbessern; die Schätzungen, wie viele Promovenden es derzeit in Deutschland gibt, schwanken bedenklich – zwischen 140 000 und 200 000. (Davon wird später noch ausführlich die Rede sein, siehe Kapitel »Promovieren heute«.)
Ein wichtiger Grund für die Unsicherheit bezüglich der Statistiken dürfte in erster Linie in der Vielzahl der Institutionen liegen, die hierzulande die Hochschulpolitik steuern und Datenmaterial generieren: Vom Bundesbildungsministerium über die 16 Länderministerien bis hin zur Kultusminister- und zur Hochschulrektorenkonferenz, vom Wissenschaftsrat über das vom Bund und den Ländern finanzierte Hochschulinformationssystem HIS mit der Abteilung »Hochschulentwicklung« bis zum Statistischen Bundesamt reicht die Liste der am Thema Promotion beteiligten Organisationen und politischen Einrichtungen – ganz zu schweigen von den Hochschulen und ihren Institutionen selbst. In Abbildung 1 ist die grundsätzliche Struktur des Promotionswesens in Deutschland grafisch dargestellt.
Am Ende der Hierarchie steht als wichtigstes Gremium, das Behörde im Sinne des jeweiligen Landeshochschulgesetzes ist, der Promotionsausschuss. Wie gering allerdings das Interesse zahlreicher Beteiligter – von der Öffentlichkeit ganz zu schweigen – am Funktionieren des Promotionswesens selbst ist, habe ich als langjähriger Vorsitzender eines Promotionsausschusses nur zu oft erleben müssen: Während der 13 Jahre, in denen ich dieses Amt an der Bergischen Universität Wuppertal innegehabt habe, habe ich nie auch nur eine Anfrage von Seiten des HIS oder der genannten weiteren außeruniversitären Institutionen bekommen. Auch inneruniversitär hat sich das Interesse meist in engen Grenzen gehalten. Neben dem Fachbereichsrat und gelegentlich dem Rektorat oder der Verwaltung hat sich niemand in größerem Maße für die Arbeit des Promotionsausschusses interessiert. Hätte ich nicht die Promovenden zu Beginn ihrer Arbeit an der Dissertation selbst daran erinnert, dass sie sich an der Universität einzuschreiben hätten, wäre der Verwaltung sicherlich so mancher Gebühren-Euro durch die Lappen gegangen.
Abbildung 1: Struktur des Promotionswesens in Deutschland
In diesem Buch sollen zunächst die wichtigsten Stationen in der Geschichte des Promovierens geschildert werden, bevor es im zweiten Kapitel (»Promovieren heute«) um Abläufe, Verfahren und Rahmenbedingungen geht. Im dritten Kapitel stehen die unterschiedlichen Problemfelder im Vordergrund. Vor dem Hintergrund der Plagiatsdebatte widmet sich das vierte Kapitel der Frage, warum eine schlampige beziehungsweise plagiierte Promotion kein Kavaliersdelikt ist. Im letzten Kapitel schließlich werden Aspekte der Qualitätssicherung behandelt und der Frage nachgegangen, wie es eigentlich in anderen Ländern um das Promovieren bestellt ist. Zwölf Forderungen zur Zukunft der Promotion in Deutschland runden schließlich das Thema ab.
1999 unterzeichneten 29 europäische Bildungsminister im italienischen Bologna eine Erklärung, in der das zweistufige Bachelor-Master-System als zukünftiges Studienmodell im europäischen Raum festgeschrieben wurde. Ob die an diesem historischen Ort versammelten Politiker allerdings alle wussten, dass am selben Ort genau 780 Jahre zuvor der erste Doktorgrad der Geschichte verliehen worden war, muss dahingestellt bleiben. Denn es waren die Bologneser scholares (von lat. schola = Schule, gemeint sind also Schüler beziehungsweise Studenten), die sich im Jahr 1200 als erste Europäer mit ihren magistri (Plural von lat. magister = Meister, Lehrer) zu einer universitas (lat. = Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden) zusammengeschlossen und aus ihrer Mitte einen Rektor gewählt hatten. Im weiteren Verlauf dieses ersten Bologna-Prozesses, der fast zwei Jahrzehnte dauerte, hatte man eine Promotionsordnung entworfen und sie durch Papst Honorius III. bestätigen lassen. Nur wenig später vollzog sich in Paris ein ähnlicher Prozess, als dort die Gemeinschaft der scholares und der magistri durch den französischen König Philipp II. ebenfalls als das anerkannt wurde, was wir heute unter einer Universität verstehen. Erst knapp anderthalb Jahrhunderte später wurde auch im deutschen Universitätsraum die erste Promotion vollzogen, als in Prag – die dortige Universität war 1348 als erste deutschsprachige Hochschule gegründet worden – am 12. Juni 1359 ein Theologe sein Doktordiplom ausgehändigt bekam.
Zwischen professores (lat. = öffentlicher Lehrer) und scholares gab es damals drei Hierarchieebenen, die man an ihrer Tracht mit Mützen und Talaren leicht identifizieren konnte:
Baccalaurei (zusammengesetzt aus dem mittellat. bacalis = beerenreich und laurus = Lorbeer, also sinngemäß jemand, der mit beerenreichem Lorbeer bekränzt ist) wurden die Studenten genannt, die den untersten akademischen Grad nach Abschlüssen in den drei freien Künsten Dialektik, Grammatik und Rhetorik (Trivium) erworben hatten. Sie wurden als Hilfslehrer eingesetzt, die den Magistern bei ihren Lehrveranstaltungen zur Hand gehen durften.
Den Grad eines Magisters (eigentlich lat. magister artium = Lehrer der Künste) erwarb man im Mittelalter nach Abschluss eines Studiums aller sieben freien Künste. Das waren zusätzlich zu denen des Triviums noch Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Musik (Quadrivium). Der Magister berechtigte dazu, unter Anleitung durch einen Doktor Lehrveranstaltungen und praktische Übungen abzuhalten.
Das Doktorat (von lat. docere = lehren) schließlich war verknüpft mit der Lehrbefähigung, der Erlaubnis, selbstständig Lehrveranstaltungen anzubieten.
Damit existierte seinerzeit eine ähnliche Dreiteilung der akademischen Hierarchieebenen, wie sie mit der Bolognareform durch Bachelor und Master wieder eingeführt wurde.
Der wohl berühmteste doctor im ausgehenden Mittelalter beziehungsweise der beginnenden Neuzeit war Martin Luther. Im Januar 1505 schloss der gerade 21 Jahre alt Gewordene an der Universität Erfurt sein Studium mit dem magister artium ab und wurde im Oktober 1512 zum doctor der Theologie promoviert. Später übernahm er eine Professur an der 1502 gegründeten Universität Wittenberg.
Die Zahl der wissenschaftlichen Hochschulen im deutschen Sprachraum war zu dieser Zeit schon stark angewachsen; denn auf Prag folgten Wien (1365), Heidelberg (1386), Köln (1388), Erfurt (1389), Würzburg (1402), Leipzig (1409), Rostock (1419), Greifswald (1456), Freiburg im Breisgau (1457), 1459/60 Basel, Ingolstadt (1472; diese Universität wurde 1826 nach München verlegt), Trier (1473), Mainz und Tübingen (1477), Frankfurt an der Oder (1498) und eben Wittenberg (1502). Bis zum Jahr 1800 kamen noch einmal knapp doppelt so viele Universitäten hinzu, von denen einige allerdings heute nicht mehr existieren – wie etwa Helmstedt, Braunsberg oder Dillingen.
Vom 16. Jahrhundert an kam es zu einer teilweisen Entmachtung der bis dato in der Regel autonomen Universitäten, etwa dadurch, dass Kaiser und Könige für sich das Promotionsrecht in Anspruch nahmen und zum Teil Kandidaten promovierten, die keine Prüfung abgelegt hatten. Heute findet sich diese sehr problematische Tradition in veränderter Form in der so genannten Ehrenpromotion wieder (siehe Kapitel 2). Gleichzeitig verschafften sich die Universitäten, um sich finanziell über Wasser halten zu können, neue Einnahmequellen, indem sie für Prüfungen Gebühren erhoben.3 Dies führte zur Korrumpierung der scholares beziehungsweise professores und zur Promotion mäßig begabter oder völlig ungeeigneter Kandidaten.4
In der Zeit des beginnenden Aufstiegs von Preußen zur europäischen Großmacht im 18. Jahrhundert wurde dort zum ersten Mal eine Frau zum Dr. med. promoviert. 154 Jahre, bevor in Preußen Frauen zum Medizinstudium zugelassen wurden, schaffte es die Quedlinburgerin Dorothea Erxleben, ein Doktorexamen zu absolvieren. Ihr Vater hatte sie mit ihrem Bruder in Medizin unterrichtet und sich für sie verwendet, weil er der Meinung war, sie sei in der Lage, als vollwertige Ärztin tätig zu sein, was die in Preußen gültige Medizinalordnung nur promovierten und approbierten Ärzten erlaubte. Nachdem er in allen Instanzen gescheitert war, wandte er sich an den preußischen König Friedrich II. – mit dem Erfolg, dass Dorothea nach Abgabe ihrer Dissertation zur Promotion zugelassen wurde. Am 6. Mai 1754 prüften sie fünf Professoren zwei Stunden lang, wobei das Protokoll vermerkt, dass sie alle Fragen »in lateinischer Sprache mit solcher gründlichen Accuratesse und modesten [bescheidenen] Beredsamkeit geantwortet, daß wol wenige Candidati mit derselben in Vergleichung können gesetzt werden«.5 Die nächste Frau, die im deutschen Sprachraum einen Doktortitel erhielt, war Marianne von Siebold Heidenreich, die 1817 an der Universität in Gießen mit einer Arbeit über die »Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter und über Bauchhöhlenschwangerschaften insbesondere« promoviert wurde.6 Bis zum Jahr 1900 wurde auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs lediglich sechs weiteren Frauen die Doktorwürde verliehen.
In der Schweiz, die in Sachen Frauenstudium wesentlich fortschrittlicher war als Deutschland, wurde 1867 der Russin Nadeschda Prokofjewna Suslow als erster Frau eine medizinische Doktorwürde zugesprochen, während die Polin Stefanija Wolicka ebenfalls in Zürich 1875 als erste Frau die philosophische Doktorwürde erhielt. Die Braunschweiger Schriftstellerin Ricarda Huch schließlich wurde 1892 als erste Deutsche an der Universität Zürich mit einer historischen Dissertation promoviert, und 1897 wurde an derselben Hochschule Rosa Luxemburg der Doktortitel verliehen, nachdem sie ab 1889 zunächst Mathematik und Naturwissenschaften und später Jura studiert hatte. In Deutschland erhielten ab 1874 erstmals mehrere Frauen einen naturwissenschaftlichen Doktorgrad, und zwar alle in Göttingen, bevor 1895 Heidelberg, 1899 Berlin und ein Jahr später Breslau nachzogen.
In Preußen konnten sich Frauen in den medizinischen Fakultäten erst zum Wintersemester 1908/09 einschreiben und regulär studieren und damit auch promoviert werden.
Einen scharfen Einschnitt erlebte das deutsche Universitätswesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation unterging und dabei auch einige Universitäten – wie etwa Helmstedt, Wittenberg oder das erst im 20. Jahrhundert wiedergegründete Bamberg – geschlossen wurden. 1809 begannen mit der Gründung der Berliner Universität die Maßstäbe setzenden Humboldt’schen Reformen des preußischen Universitätswesens. Der Schriftsteller und Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt (1767–1835) forderte vor allem die Beseitigung jedweder Einflüsse von außen auf die Universität. Damit propagierte er die reine Wissenschaft als Mittel zur Suche nach der Wahrheit – frei von religiösen, staatlichen und wirtschaftlichen Interessen – ein Ruf, der heute im Zeitalter der drittmittelbasierten Forschung wieder vermehrt erschallen sollte.
Bis zu dieser Zeit war die erfolgreiche Promotion hauptsächlich die Anerkennung von Leistungen in der Lehre gewesen, wobei die disputatio (lat. = Verteidigung, gemeint ist die Verteidigung wissenschaftlicher Thesen in einem Streitgespräch) die Hauptrolle spielte, in deren Verlauf nachgewiesen werden sollte, dass der Kandidat in der Lage war, Wissen in einem bestimmten Fachgebiet zu sammeln, einzuordnen und an seine Studenten weiterzugeben. Von nun an trat mehr und mehr die Forschung in den Vordergrund des universitären Interesses, was dazu führte, dass sich auch die Anforderungen an die Promotion änderten. Stand bis dahin die erwähnte disputatio im Vordergrund des Verfahrens, so trat nun die dissertatio (von lat. für Auseinandersetzung, Erörterung) hinzu, eine wissenschaftliche Schrift, die zunächst nur mehrere Seiten umfasste, bis sie schließlich zur heutigen Doktorarbeit wurde, die mehrere Hundert Seiten stark sein kann. Hatte früher die Lehre im Vordergrund der Promotion gestanden, wurde es nun mehr und mehr die Forschung, die den akademischen Qualifizierungsprozess dominierte.
In dieser Umbruchsphase verfügten die Universitäten über keine Vermögenswerte mehr, von denen sie leben konnten – das heißt, sie waren einzig und allein von staatlichen Zuwendungen abhängig.7 Auch die Gerichtsbarkeit über ihre Mitglieder war an staatliche Stellen übergegangen. Das Promotionsrecht, zu dem sich auch das Recht, Doktortitel ehrenhalber zu verleihen, gesellt hatte, wurde allerdings während aller politischen Umbrüche niemals in Frage gestellt.
An dieser Stelle muss betont werden, dass sämtliche Universitäten im deutschen Sprachraum zu dieser Zeit recht kleine Institutionen waren. Selbst eine für damalige Verhältnisse große Universität wie die Leipziger Alma Mater nahm während des 18. Jahrhunderts jährlich nur etwa 400 Studenten auf. Noch 1930 waren in Leipzig nur etwas mehr als 6000 Studenten eingeschrieben. 2015 waren es mehr als 28 000. Von 1709 bis 1809 wurden in der dortigen Theologischen Fakultät 122 sowie in der Juristischen und der Medizinischen Fakultät jeweils 464 Kandidaten promoviert. Damit erfolgten in den drei Fakultäten während dieser Zeitspanne nicht einmal zehn Promotionen pro Jahr! In der mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät sah es mit etwa 30 Promotionen pro Jahr nur wenig anders aus.8
Erst gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Doktortitel in Deutschland und seinen Nachbarländern so populär, dass man begann, Universitäten als »Doktorfabriken« zu bezeichnen. So schildert der Schriftsteller Ernst Toller in seiner autobiografischen Skizze »Eine Jugend in Deutschland« die Verhältnisse an der Universität Heidelberg, an der er im Anschluss an sein Auslandsstudium in Frankreich und ein kurzes Zwischenspiel an der Münchner Universität auf Einladung von Max Weber gegen Ende des Ersten Weltkriegs eingeschrieben wurde. »In Deutschland gehört es zum guten Ton, in allen Lebenslagen ›Doktor‹ zu sein […]. Die Heidelberger Fakultät hat den Ruf einer Doktorfabrik. Des alten gutmütigen Professor Gothein Fragen, die sich seit Jahrzehnten wiederholen, sind sorgfältig von ›Einpaukern‹ notiert, nebst richtigen Antworten werden sie den bedürftigen Studenten verkauft. Ich hole mir bei Gothein ein Doktorthema, er schlägt mir ›Schweinezucht in Ostpreußen‹ vor.«9
Wiederum an der Universität Leipzig beispielsweise stieg die Zahl der jährlichen Promotionen zwischen 1865 und 1930 von etwa 100 auf knapp 500, mit Spitzen von über 700 am Vorabend des Ersten Weltkrieges und über 800 in den 1920er Jahren10 – und das bei lediglich 6000 Studenten, die an der sächsischen Alma Mater eingeschrieben waren. In Preußen wurden bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges jährlich bis zu 1571 Promotionen (im Jahr 1930) durchgeführt.11
Für die Geschichte der Promotion in Deutschland war auch die Einführung der Habilitation im Verlauf des 19. Jahrhunderts bedeutsam. Der Doktortitel verlor dadurch seine Funktion als letzter Schritt auf dem Weg zur Professur und als höchste akademische Qualifikation. Waren bis dahin doctores auf Lehrstühle berufen worden, so schien die stürmische naturwissenschaftlich-technische Entwicklung einen weiteren Qualifikationsschritt erforderlich zu machen, um das wissenschaftliche Fundament der Kandidaten zu verbessern.
Zunächst durften sich nur Männer habilitieren, doch nach dem mit dem Ende des Ersten Weltkriegs einsetzenden gesellschaftlichen Umbruch wurde das Privileg 1920 auch auf Frauen ausgedehnt.12 In der heute gültigen Habilitationsordnung der Universität Wuppertal, die hier als typisches Beispiel herangezogen werden soll, heißt es in § 1: »Die Habilitation dient dazu, die Befähigung des Bewerbers förmlich nachzuweisen, ein wissenschaftliches Fach des Fachbereichs […] in Forschung und Lehre selbständig zu vertreten.«13 Die Habilitation (aus dem lat. habilis = geschickt, fähig) ist die Voraussetzung zur Verleihung der venia legendi (lat. = Lehrbefugnis). Dazu muss eine Habilitationsschrift vorgelegt werden, die von der Thematik und vom Umfang her wesentlich breiter angelegt ist als die Doktorarbeit.
Ähnlich wie bei der Doktorprüfung auch, folgt ein wissenschaftliches Kolloquium mit einem Vortrag des Kandidaten und einer Diskussion. Schließlich soll eine Lehrveranstaltung zeigen, dass der Kandidat auch in der Lehre selbstständig tätig werden kann. Nach erfolgreicher Prüfung wird der Titel »Dr. habil.« verliehen, das heißt bei Medizinern der Dr. med. habil., bei Naturwissenschaftlern der Dr. rer. nat. habil. etc. Der Titelzusatz »habil.« ist Ausdruck der nunmehr festgestellten Lehrbefähigung. Auf Antrag entscheidet der Fachbereich beziehungsweise die Fakultät dann über die Lehrbefugnis. Dabei wird das Fach definiert, in dem der Kandidat künftig lehren darf. Nach erfolgreicher Überprüfung wird ihm dann der Titel »Privatdozent« verliehen. Damit ist allerdings keine Stellenzusage verknüpft, sondern nur eine Verpflichtung: Er muss nämlich künftig mindestens zwei Semesterwochenstunden in der Lehre tätig sein und darf (und sollte) Doktoranden betreuen. Nur wenn er während des nun folgenden Zeitraums von mindestens fünf (häufig aber auch sechs, sieben oder acht) Jahren zeigt, dass er weiter erfolgreich forscht, in der Lehre tätig ist und Promovenden zur Doktorprüfung führen kann, kann auf Antrag der dafür zuständigen Gremien entschieden werden, ob ihm die Universität nach Anhörung des Fachbereichs/der Fakultät den Titel »außerplanmäßiger Professor« verleiht.