Andrea Wulf
Alexander von Humboldt
und die Erfindung der Natur
Aus dem Englischen übertragen
von Hainer Kober
C. Bertelsmann
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Die Originalausgabe ist 2015 unter dem Titel The Invention of Nature. The Adventures of Alexander von Humboldt – The Lost Hero of Science bei John Murray, London, erschienen.
© 2015 by Andrea Wulf
© 2016 für die deutsche Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt
Karten: Rodney Paull
Bildredaktion: Dietlinde Orendi
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-19550-2
V008
www.cbertelsmann.de
Für Linnéa (P. o. P.)
Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann.
Johann Wolfgang von Goethe
Inhalt
Karte: Humboldts Reise durch Amerika
Karte: Humboldts Reise durch Venezuela
Karte: Humboldts Reise durch Russland
Prolog
TEIL I
AUFBRUCH: Erste Ideen
1 Anfänge
2 Fantasie und Natur: Johann Wolfgang von Goethe und Humboldt
3 Auf der Suche nach einem Ziel
TEIL II
ANKUNFT: Sammlung der Ideen
4 Südamerika
5 Die Llanos und der Orinoco
6 Über die Anden
7 Chimborazo
8 Politik und Natur: Thomas Jefferson und Humboldt
TEIL III
RÜCKKEHR: Sichtung der Ideen
9 Europa
10 Berlin
11 Paris
12 Revolutionen und Natur: Simón Bolívar und Humboldt
13 London
14 Sich im Kreis drehen: Maladie Centrifuge
TEIL IV
EINFLUSS: Verbreitung der Ideen
15 Rückkehr nach Berlin
16 Russland
17 Evolution und Natur: Charles Darwin und Humboldt
18 Humboldts Kosmos
19 Dichtung, Wissenschaft und Natur: Henry David Thoreau und Humboldt
TEIL V
NEUE WELTEN:
Entwicklung der Ideen
20 Der größte Mann seit der Sintflut
21 Mensch und Natur: George Perkins Marsh und Humboldt
22 Kunst, Ökologie und Natur: Ernst Haeckel und Humboldt
23 Schutz und Natur: John Muir und Humboldt
Epilog
ANHANG
Dank
Eine Bemerkung zu Humboldts Veröffentlichungen
Zur Textgestalt
Abkürzungen
Anmerkungen
Quellen und Bibliografie
Register
Bildteil
Prolog
Sie krochen auf allen vieren einen hohen, schmalen Grat entlang, der an manchen Stellen nur fünf Zentimeter breit war. Der Pfad, wenn man ihn denn so nennen konnte, war voller Sand und loser Steine und entsprechend rutschig. Links unter ihnen lag eine steile Felswand, die mit Eis überzogen war und glitzerte, wenn die Sonne durch die dichte Wolkendecke brach. Der Blick nach rechts, wo es 300 Meter steil nach unten ging, war nicht viel besser. Hier waren die dunklen, fast senkrecht abfallenden Wände mit Felsvorsprüngen übersät, die wie Messerklingen hervorragten. 1
Einer hinter dem andern bewegten sich Alexander von Humboldt und seine drei Begleiter vorsichtig Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Ohne die richtige Ausrüstung und geeignete Kleidung war es eine gefährliche Kletterpartie. In dem eisigen Wind waren ihre Hände und Füße taub geworden, geschmolzener Schnee hatte ihre dünnen Schuhe durchweicht, und in ihren Haaren und Bärten hingen Eiskristalle. Gut 5000 Meter über dem Meeresspiegel mussten sie regelrecht darum kämpfen, in der dünnen Luft zu atmen. Die scharfkantigen Felsen zerfetzten die Sohlen ihrer Schuhe, und ihre Füße begannen zu bluten.
Es war der 23. Juni 1802. Alexander von Humboldt und seine Gefährten bestiegen den Chimborazo, einen spektakulären erloschenen Vulkan in den Anden, der sich wie eine riesige Kuppel in fast 6500 Metern über dem Meeresspiegel erhob, etwa 150 Kilometer südlich von Quito im heutigen Ecuador. Damals glaubte man, der Chimborazo sei der höchste Berg der Welt. Kein Wunder, dass ihre Träger so große Angst hatten, dass sie an der Schneegrenze davongelaufen waren. Der Gipfel des Vulkans war in dichten Nebel gehüllt, trotzdem hatte Humboldt darauf bestanden, die Besteigung fortzusetzen.
Seit drei Jahren reiste Alexander von Humboldt durch Lateinamerika und drang dabei tief in Gebiete vor, die bis dahin nur wenige Europäer betreten hatten. Besessen von der Idee, wissenschaftliche Beobachtungen zu machen, hatte der Zweiunddreißigjährige eine Unmenge der besten Instrumente aus Europa mitgebracht. Für die Besteigung des Chimborazo hatte er den größten Teil seines Gepäcks zurückgelassen, aber ein Barometer, ein Thermometer, einen Sextanten, einen Künstlichen Horizont und ein sogenanntes Zyanometer zur Messung der »Bläue« des Himmels eingepackt. Auf dem Weg zum Gipfel holte Humboldt immer wieder mit tauben Fingern seine Geräte heraus und stellte sie auf abenteuerlich schmale Felsvorsprünge, um Höhe, Schwerkraft und Feuchtigkeit zu messen. Akribisch notierte er außerdem sämtliche Arten, auf die sie stießen – hier ein Schmetterling, dort eine winzige Blume. Alles hielt er in seinem Notizbuch fest.
Auf 5500 Metern fanden sie eine letzte winzige Flechte, die sich an einen Felsbrocken krallte. Dann verschwanden alle Spuren organischen Lebens; in dieser Höhe gab es keine Pflanzen oder Insekten mehr. Selbst die Kondore, die ihre früheren Besteigungen begleitet hatten, waren verschwunden. 2 Als der Nebel alles um sie herum in einen leeren und fast unheimlichen Raum verwandelte, fühlte Humboldt sich der bewohnten Welt vollkommen entrückt. »Wir waren wie in einem Luftballon isoliert.« 3 Dann lichtete sich der Nebel plötzlich und gab den Blick auf den schneebedeckten Gipfel des Chimborazo frei, der in den blauen Himmel ragte. Ein »großartiger Anblick« 4 , war Humboldts erster Gedanke, doch dann bemerkte er die gewaltige Gletscherspalte, die sich vor ihnen auftat – 20 Meter breit und 200 Meter tief. 5 Und es führte kein anderer Weg zur Spitze. Nach Humboldts Messung befanden sie sich in einer Höhe von 5917,16 Metern 6 , also keine 300 Meter unter dem Gipfel.
Humboldt und seine Gefährten besteigen einen Vulkan.
Wellcome Library, London: Alexander von Humboldt, Vues des Cordillères, 2 Bde. (1810–1813)
Noch nie war jemand so hoch gestiegen, und noch nie hatte jemand so dünne Luft geatmet. Als er nun am vermeintlich höchsten Punkt der Welt stand und auf die Bergketten schaute, die sich unter ihm ausbreiteten, begann Humboldt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Die Erde erschien ihm als ein riesiger Organismus, in dem alles mit allem in Verbindung stand – eine mutige, neue Sicht der Natur, die noch immer beeinflusst, wie wir heute unsere Umwelt sehen und begreifen.
Humboldt, der von seinen Zeitgenossen als der bekannteste Mann der Welt nach Napoleon bezeichnet wurde, 7 war einer der faszinierendsten und beeindruckendsten Menschen seiner Zeit. 1769 in eine wohlhabende preußische Adelsfamilie hineingeboren, verzichtete er auf seine Privilegien, um herauszufinden, was es mit der Welt auf sich hat. Als junger Mann begab er sich auf eine fünfjährige Entdeckungsreise durch Lateinamerika, setzte seine Existenz viele Male aufs Spiel und kehrte mit einer neuen Sicht auf die Welt zurück. Die Expedition prägte sein Leben und Denken und machte ihn weltberühmt. Er lebte in Großstädten wie Paris und Berlin, fühlte sich aber genauso an den entlegensten Zuflüssen des Orinoco oder in der Kasachensteppe an der russischen Grenze zur Mongolei zu Hause. Im Laufe seines langen Lebens wurde er zum Mittelpunkt der wissenschaftlichen Welt, schrieb an die fünfzigtausend Briefe und erhielt mindestens doppelt so viele. Wissen, so Humboldts Überzeugung, musste geteilt und ausgetauscht werden und allen Menschen zur Verfügung stehen.
Er war aber auch ein Mann der Widersprüche. Als erbitterter Gegner des Kolonialismus unterstützte er die Revolution in Lateinamerika, war aber gleichzeitig Kammerherr zweier preußischer Könige. Er bewunderte die Vereinigten Staaten für ihr Ideal von Freiheit und Gleichheit, kritisierte sie aber fortwährend, weil sie die Sklaverei nicht abschafften. Sich selbst nannte er einen »halben Amerikaner« 8 , verglich die Vereinigten Staaten aber gleichzeitig mit einem »Cartesianischen Wirbel, alles fortreißend, langweilig nivellierend« 9 . Er war selbstbewusst, sehnte sich aber ständig nach Anerkennung. Man bewunderte sein enormes Wissen, fürchtete aber gleichzeitig seine scharfe Zunge. Humboldts Bücher wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und waren so populär, dass die Menschen sich um die ersten Exemplare rissen; und doch starb er als armer Mann. Er konnte arrogant und abweisend sein, aber auch sein letztes Geld für einen jungen Wissenschaftler in Not opfern. Sein Leben war ausgefüllt mit Reisen und nie endender Arbeit. Stets war er auf der Suche nach Neuem und nicht zufrieden, wie er sagte, wenn er nicht »drei Dinge zugleich« tat. 10
Humboldt wurde für sein Wissen und sein wissenschaftliches Denken hochgeachtet und war dennoch kein Gelehrter im Elfenbeinturm. Wenn er von seinem Schreibtisch und seinen Büchern genug hatte, stürzte er sich in größte Abenteuer, die seinem Körper das Äußerste abverlangten. Tief wagte er sich in die geheimnisvolle Welt des venezolanischen Regenwalds hinein, und in den Anden kroch er in schwindelnder Höhe auf schmalen Felsvorsprüngen entlang, um die Flammen im Inneren eines aktiven Vulkans zu betrachten. Noch mit sechzig Jahren machte er sich auf eine mehr als 15000 Kilometer lange Entdeckungsreise zu den entlegensten Winkeln Russlands und war belastbarer als seine jüngeren Begleiter.
Einerseits war er fasziniert von wissenschaftlichen Instrumenten, von Messungen und Beobachtungen, andererseits trieb ihn der Zauber der Natur an. Selbstverständlich musste die Natur vermessen und analysiert werden, aber er glaubte auch, dass wir die Natur durchaus mit Sinnen und Gefühlen erfassen sollten. Er wollte in den Menschen die »Liebe zur Natur« 11 wecken. In einer Zeit, als andere Wissenschaftler nach universellen Gesetzen suchten, schrieb Humboldt, die Natur müsse erlebt und gefühlt werden. 12
Humboldt hatte die Gabe, sich noch nach Jahren an winzigste Einzelheiten erinnern zu können: die Form eines Blattes, die Beschaffenheit des Erdbodens, eine Temperatur, die Gesteinsschichten eines Felsens. Sein außerordentliches Gedächtnis ermöglichte ihm, Beobachtungen zu vergleichen, die er in der ganzen Welt gemacht hatte und zwischen denen mehrere Jahrzehnte oder Tausende von Kilometern lagen. Humboldt sei in der Lage, »bei jedem Gedanken gleichsam die ganze Reihe aller Erscheinungen in der ganzen Welt zu durchlaufen« 13 , wie ein Kollege später sagte. Während andere mühsam ihre Erinnerungen durchstöbern mussten, hatte Humboldt – »dessen Augen natürliche Teleskope & Mikroskope sind« 14 , wie der amerikanische Schriftsteller und Dichter Ralph Waldo Emerson voller Bewunderung sagte – jedes Stückchen Wissen und jede Beobachtung sofort zur Hand.
Ausbreitung der Pflanzen in den Anden
Wellcome Library, London: Heinrich Berghaus, The Physical Atlas (1845)
Als Humboldt, erschöpft vom Aufstieg, schließlich auf dem Chimborazo stand, ließ er seine Umgebung auf sich wirken. Hier wechselten sich verschiedene Vegetationszonen ab. In den Tälern hatte er Palmen- und schwüle Bambuswälder durchquert, wo bunte Orchideen die Bäume umschlangen. Weiter oben hatte er Nadelhölzer, Eichen, Erlen und strauchartige Berberitzen gesehen, ähnlich denen, die er aus europäischen Wäldern kannte. Daran schlossen sich alpine Pflanzen an, wie er sie in den Schweizer Bergen gesammelt hatte, und Flechten, die ihn an die Arten vom nördlichen Polarkreis und in Lappland erinnerten. Noch nie hatte jemand Pflanzen so betrachtet. Humboldt registrierte sie nicht in den engen Kategorien des Klassifikationssystems, sondern nahm sie als Lebensformen eines bestimmten Standorts und Klimas wahr. Er begriff die Natur als eine globale Kraft mit einander entsprechenden Klimazonen auf verschiedenen Kontinenten: Das war damals ein radikales Konzept, und noch heute prägt es unser Verständnis der Ökosysteme.
Humboldts Bücher, Tagebücher und Briefe verraten einen visionären Denker, der seiner Zeit weit voraus war. Er erfand die Isotherme – die Temperatur- und Drucklinien, die wir heute auf unseren Wetterkarten sehen – und entdeckte den magnetischen Äquator. Er war auch der Erste, der von Vegetations- und Klimazonen sprach, die sich rund um den Globus schlängeln. Vor allem aber hat Humboldt unseren Blick auf die Natur revolutioniert. Überall erkannte er Verbindungen. Nichts, noch nicht einmal den winzigsten Organismus, hat er separat betrachtet. »In der großen Verkettung der Ursachen und Wirkungen«, sagt Humboldt, »darf kein Stoff, keine Thätigkeit isoliert betrachtet werden.« 15 Mit dieser Erkenntnis erfand er das »Netz des Lebens« – den Begriff der Natur, wie wir ihn heute verstehen.
Betrachtet man Natur nun als Netz, wird offensichtlich, welchen Gefahren sie ausgesetzt ist. Alles hängt mit allem zusammen. Wenn ein Faden gezogen wird, kann sich das ganze Gewebe auflösen. Nachdem er 1800 sah, welche verheerenden Schäden koloniale Plantagen am Valenciasee in Venezuela angerichtet hatten, warnte Humboldt als erster Wissenschaftler vor den dramatischen Folgen des vom Menschen verursachten Klimawandels. 16 Durch Abholzungen war das Land dort unfruchtbar geworden, der Wasserstand des Sees war gefallen, und nach dem Verschwinden des Buschwerks hatten heftige Regenfälle die Böden von den umliegenden Berghängen gewaschen. Als Erster wies Humboldt darauf hin, dass der Wald die Atmosphäre mit Feuchtigkeit anreichern und kühlen könne – und sprach von der großen Bedeutung der Bäume für die Wasserspeicherung und den Schutz vor Bodenerosion. 17 Er warnte davor, dass die Menschen sich in die Natur einmischten und dies unvorhersehbare Folgen für »kommende Geschlechter« haben könnte. 18
In der Erfindung der Natur folge ich den unsichtbaren Fäden, die uns mit diesem außerordentlichen Mann verbinden. Humboldt beeinflusste viele der größten Denker, Künstler und Wissenschaftler seiner Zeit. Thomas Jefferson nannte ihn »eine der schönsten Zierden unseres Zeitalters« 19 . Charles Darwin schrieb: »Nichts hat meinen Eifer je so heftig entfacht wie die Lektüre von Humboldts Personal Narrative« 20 , und erklärte, ohne Humboldt hätte er sich weder an Bord der Beagle begeben noch die Ideen für die Entstehung der Arten entwickelt. Die Romantiker William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge brachten beide Humboldts Naturbegriff in ihren Gedichten zum Ausdruck. Sogar Henry David Thoreau, Amerikas meistverehrter Naturschriftsteller, fand in Humboldts Büchern eine Antwort auf sein Dilemma, wie man Dichter und Naturforscher zugleich sein kann; Walden wäre ohne Humboldt ein ganz anderes Buch geworden. Simón Bolívar, der Revolutionär, der Südamerika von der spanischen Kolonialherrschaft befreite, nannte Humboldt den »Entdecker der neuen Welt« 21 , und Johann Wolfgang von Goethe erklärte, Humboldt habe ihm an einem einzigen Tag mehr Wissen vermittelt, »als hätte ich Jahre verlebt« 22 .
Am 14. September 1869 wurde weltweit Alexander von Humboldts hundertster Geburtstag gefeiert. In Melbourne und Adelaide wie in Buenos Aires und Mexico City ehrten viele Redner Humboldt vor zahllosen Zuhörern. 23 Bei Festakten in Moskau wurde Humboldt als »Shakespeare der Wissenschaften« 24 bezeichnet, und im ägyptischen Alexandria feierten die Teilnehmer unter einem von Feuerwerk erleuchteten Himmel. 25 Die größten Veranstaltungen aber fanden in den Vereinigten Staaten statt. Von San Francisco bis Philadelphia und von Chicago bis Charleston gab es Straßenumzüge, opulente Festessen und Konzerte. 26 In Cleveland gingen achttausend Menschen auf die Straße, in Syracuse schlossen sich fünfzehntausend einem Festzug an, der mehr als anderthalb Kilometer lang war. 27 Präsident Ulysses Grant besuchte die Humboldt-Feier in Pittsburgh, wo zehntausend Besucher die Stadt lahmlegten. 28
In New York City säumten Flaggen die Kopfsteinpflasterstraßen. Das Rathaus war in Fahnen gehüllt, und ganze Häuser verschwanden hinter riesigen Plakaten, die Humboldts Gesicht zeigten. Sogar die Schiffe, die draußen auf dem Hudson River vorbeizogen, waren mit bunten Girlanden geschmückt. Am Morgen folgten Tausende zehn Musikkapellen, die von der Bowery über den Broadway zum Central Park marschierten, um einen Mann zu ehren, »dessen Ruhm keine Nation für sich beanspruchen kann«, wie die New York Times auf ihrer Titelseite verkündete. Am frühen Nachmittag hatten sich fünfundzwanzigtausend Zuschauer im Central Park eingefunden, wo eine große Humboldt-Büste aus Bronze feierlich enthüllt wurde. Am Abend, bei Einbruch der Dunkelheit, setzte sich ein Fackelzug mit 15000 Menschen in Bewegung, der unter bunten chinesischen Laternen durch die Straßen zog. 29
Stellen wir uns vor, sagte ein Redner, »er stünde auf den Anden« und ließe seinen Geist über allem schweben. 30 In jeder Rede, wo auch immer auf der Welt, wurde betont, Humboldt habe einen »inneren Zusammenhang« zwischen allen Teilen der Natur gesehen. 31 In Boston erläuterte Emerson den Würdenträgern der Stadt, dass Humboldt ein »Weltwunder« 32 gewesen sei. Sein Ruhm, so die Daily News in London, sei »in gewisser Weise eng mit dem Universum selbst verbunden« 33 . In Deutschland gab es Festveranstaltungen in Köln, Hamburg, Dresden, Frankfurt und vielen anderen Städten. 34
Die größte deutsche Feier fand in Berlin statt, Humboldts Heimatstadt, wo trotz sintflutartiger Regengüsse achtzigtausend Menschen zusammenkamen. Alle Büros und Behörden blieben an diesem Tag geschlossen. Trotz des Regens und kalten Windes dauerten die Reden und Gesänge viele Stunden. 35
Heute kennen viele Deutsche Alexander von Humboldt nur als Entdeckungsreisenden und Naturforscher, der ein paar Jahre durch Südamerika reiste, und die meisten Engländer und Nordamerikaner haben noch nie von ihm gehört. Aber obwohl viele von Humboldts Ideen heute außerhalb der Universitäten fast vergessen sind – zumindest in der englischsprachigen Welt –, prägen sie noch immer unser Denken. Während sich in den Bibliotheken der Staub auf seinen Büchern sammelt, stoßen wir doch überall auf seinen Namen – vom Humboldt-Strom, der an den Küsten von Chile und Peru vorbeifließt, bis hin zu Dutzenden Denkmälern, Parks und Bergen in Lateinamerika: etwa die Sierra Humboldt in Mexiko oder der Pico Humboldt in Venezuela. Eine Stadt in Argentinien, ein Fluss in Brasilien, ein Geysir in Ecuador und eine Bucht in Kolumbien – alle sind sie nach Humboldt benannt. [1] 36
In Grönland gibt es das Kap Humboldt und den Humboldt-Gletscher; Gebirgszüge tragen seinen Namen in Nordchina, Südafrika, Neuseeland und in der Antarktis, Flüsse und Wasserfälle in Tasmanien und Neuseeland, Parks in Deutschland. Und in Paris gibt es eine Rue Alexandre de Humboldt. Allein in Nordamerika tragen vier Verwaltungsbezirke, dreizehn Städte, diverse Berge, Buchten, Seen und Flüsse seinen Namen, außerdem der Humboldt Redwoods State Park in Kalifornien und Humboldt-Parks in Chicago und Buffalo. Aus Nevada wäre beinahe der Staat Humboldt geworden, als der Verfassungskonvent den Namen in den 1860er-Jahren diskutierte. 37 Fast dreihundert Pflanzen und mehr als hundert Tiere heißen wie er – unter anderem die kalifornische Humboldt-Lilie (Lilium humboldtii), der südamerikanische Humboldt-Pinguin (Spheniscus humboldti) und der fast zwei Meter lange räuberisch-aggressive Humboldt-Kalmar (Dosidicus gigas), der im Humboldt-Strom anzutreffen ist. Auch etliche Mineralien dieses Namens gibt es – von Humboldtit bis Humboldtin, und auf dem Mond gibt es ein Gebiet, das als Mare Humboldtianum bezeichnet wird. Nach Humboldt sind mehr Orte benannt als nach irgendjemandem sonst. 38
Ökologen, Umweltschützer und Naturschriftsteller orientieren sich an Humboldts Ideen, wenn auch in den meisten Fällen, ohne es zu wissen. Rachel Carsons Stummer Frühling beruht auf Humboldts Vorstellung von der Vernetzung der Natur. Auch die berühmte Gaia-Theorie von der Erde als lebendigem Organismus, die von dem britischen Wissenschaftler James Lovelock in den 1970er-Jahren entwickelt wurde, weist eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Humboldts Gedanken auf. Als dieser von der Erde als einem »durch innere Kräfte bewegten und belebten Naturganzen« 39 sprach, kam er Lovelock um mehr als einhundertfünfzig Jahre zuvor. Das Buch, in dem Humboldt seinen neuen Entwurf beschrieb, nannte er zwar Kosmos, ursprünglich aber hatte er Gäa als Titel erwogen (dann allerdings verworfen). 40
Die Vergangenheit prägt uns. Nikolaus Kopernikus zeigte uns unseren Platz im Universum, Isaac Newton erklärte die Naturgesetze, Thomas Jefferson formulierte unsere Vorstellungen von Freiheit und Demokratie, und Charles Darwin bewies, dass alle Arten von gemeinsamen Vorfahren abstammen. Alle diese Überlegungen haben unser Verständnis der Welt maßgeblich mitgestaltet.
Humboldt vermittelte uns einen Begriff von der Natur selbst. Ironischerweise sind uns seine Ideen inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir oft vergessen, von wem sie stammen. Aber wir sind immer noch mit ihm verbunden: durch seine Gedanken und die vielen Menschen, die er beeinflusst hat. Wie ein Band verknüpft uns sein Naturbegriff mit ihm selbst. Am Ende läuft alles bei ihm zusammen.
Die Erfindung der Natur ist mein Versuch, Humboldt zu finden. Es war eine Reise um die Welt, die mich unter anderem zu Archiven nach Kalifornien, Berlin und Cambridge führte. Ich habe Tausende von Briefen studiert, bin aber auch Humboldts Spuren gefolgt. In Jena habe ich die Ruinen des Anatomieturms besichtigt, in dem er viele Wochen hindurch Tiere sezierte, und in Ecuador entdeckte ich in 4000 Metern Höhe auf dem Antisana, während vier Kondore über uns kreisten und eine Herde wilder Pferde uns umringte, die baufällige Hütte, in der Humboldt im März 1802 eine Nacht verbracht hatte.
In Quito hielt ich Humboldts spanischen Originalpass in Händen – jenes Papier, das ihm erlaubte, durch Lateinamerika zu reisen. Als ich in Berlin die Kartons öffnete, die seine Aufzeichnungen enthielten – wunderbare Sammlungen und Kollagen mit Tausenden von Blättern voller Skizzen und Zahlen –, begriff ich endlich, wie er gedacht hatte. Näher an zu Hause, in der British Library in London, verbrachte ich viele Wochen damit, Humboldts veröffentlichte Bücher zu lesen, einige so riesig und so schwer, dass ich sie kaum auf den Tisch heben konnte. In Cambridge studierte ich Darwins Exemplare von Humboldts Büchern – und zwar die, die auf einem Regal neben seiner Hängematte auf der Beagle standen. Auf ihren Seiten wimmelte es von Darwins Bleistiftanmerkungen. Als ich in diesen Büchern las, hatte ich das Gefühl, ein Gespräch zwischen Darwin und Humboldt zu belauschen.
Im venezolanischen Regenwald lag ich nachts wach und horchte auf die seltsamen Schreie der Brüllaffen; in Manhattan, wo ich alte Manuskripte in der New York Public Library las, erlebte ich Hurrikan Sandy. Ich bewunderte in dem kleinen Ort Piòbesi, vor den Toren von Turin, das alte Herrenhaus mit seinem Turm aus dem 10. Jahrhundert, wo George Perkins Marsh Anfang der 1860er-Jahre Teile seines Werks Man and Nature schrieb – ein Buch, das von Humboldt’schen Ideen angeregt worden war und zur Grundlage der amerikanischen Umweltschutzbewegung wurde. Im tiefen Neuschnee umrundete ich Thoreaus Walden Pond und wanderte durch den Yosemite-Nationalpark, wo ich mich an den Satz von John Muir erinnerte: »Der einfachste Weg ins Universum führt durch eine Waldwildnis.« 41
Der aufregendste Moment meiner Recherche war, als ich den Chimborazo bestieg, jenen Berg, der Humboldts Vorstellung von Natur so grundlegend beeinflusst hat. Als ich die kahlen Hänge hinaufkletterte, war die Luft so dünn, dass mir jeder Schritt wie eine Ewigkeit erschien – ich kam nur langsam voran, während sich meine Beine anfühlten, als wären sie aus Blei und irgendwie von meinem Körper losgelöst. Mit jedem Schritt wuchs meine Bewunderung für Humboldt. Er hatte mit einem verletzten Fuß den Chimborazo erklommen (und auf jeden Fall nicht in so bequemen und festen Wanderschuhen, wie ich sie trug), beladen mit Instrumenten und mit vielen Zwischenstopps, um Messungen vorzunehmen.
Das Ergebnis meiner Entdeckungsreise durch Landschaften und Briefe, durch Gedanken und Tagebücher ist das vorliegende Buch. Die Erfindung der Natur ist mein Versuch, Humboldt wiederzuentdecken und dazu beizutragen, dass er den ihm gebührenden Platz im Pantheon der Natur und der Wissenschaften wieder einnimmt. Es ist auch der Versuch zu begreifen, woher unser heutiges Verständnis von Natur und Umwelt kommt.
1 Noch heute tragen viele deutschsprachige Schulen in Lateinamerika alle zwei Jahre Sportwettkämpfe aus, die Juegos Humboldt heißen – Humboldt-Spiele.
TEIL I
AUFBRUCH: Erste Ideen