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Als Ravensburger E-Book erschienen 2016

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2016 Ravensburger Verlag GmbH

Lektorat: Gabriele Dietz
Illustrationen: Carolin Liepins
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, unter Verwendung von Motiven von © Hi-jang/Thinkstockphoto; © Annykos/Thinkstockphoto; © nnnnae/Thinkstockphoto sowie Illustrationen von Carolin Liepins

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47765-4

www.ravensburger.de

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Mens sana in corpore sano – dieser Leitspruch stand in goldenen Buchstaben über dem Eingang des vornehmen Internats Schloss Heidesand. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper hieß das, wie jeder Schüler übersetzen konnte. Nach den Ansichten der Gründer des Internats genügte es nicht, nur den Geist zu schulen. Sie waren sich sicher – wie schon die alten Lateiner –, dass auch der Körper trainiert werden musste, damit aus Kindern selbstbewusste Erwachsene wurden. Deshalb legte das Internat nicht nur Wert auf Mathematik, Deutsch, alte und neue Sprachen und die Naturwissenschaften. Auch Sport stand im Zentrum der Ausbildung, dazu die verschiedensten Kunstdisziplinen. Auch moderne. Schloss Heidesand war kein verstaubtes Internat, wie es in alten Büchern auftaucht. Die Regeln waren streng, aber wer sich an sie hielt, der konnte eine Menge fürs Leben lernen.

Normalerweise fühlte Hannah sich hier pudelwohl. Doch gerade marschierte sie mit gesenktem Kopf durch die Flure des Internats. Dieser Tag war irgendwie verhext! Zuerst der blöde Mathetest. Doktor Martins hatte ihn unangekündigt schreiben lassen, als „Zünglein an der Waage“, wie er sich ausgedrückt hatte. Gestelzt wie immer. Das sollte bedeuten, wenn jemand zwischen zwei Noten stand, würde der Test entscheiden. Hannah stand zwischen zwei Noten. Zwischen Vier und Fünf. Der Test hatte sie völlig auf dem falschen Bein erwischt. Mit anderen Worten: Sie hatte ihn verhauen, das spürte sie. Bis zu den Zeugnissen waren es nur noch knapp drei Wochen …

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Dann hatte auch noch Nicole, diese Zicke, sie bei der Abgabe der Hefte mal wieder mit ihrem typisch abweisenden Blick angesehen. Hochnäsig lächelnd. Nicole ließ Hannah bei jeder Gelegenheit spüren, dass sie ihrer Meinung nach nicht hierhergehörte. Schloss Heidesand war ein Eliteinternat. Nur die Reichsten der Reichen schickten ihre Kinder auf diese Schule. Die Lehrer waren erstklassig, der Unterricht modern, die Klassen klein und die Ausstattung der Klassenzimmer auf dem neusten Stand der Technik. Vor allem aber waren die Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler hoch. Einige von ihnen waren auf Heidesand, weil sie an normalen Schulen „versagt“ hatten, wie Frau Direktor Malmedee oft genug betonte. Die Eltern fürchteten, dass ihre Sprösslinge anderswo keine Chance auf einen Abschluss hatten. Andere Eltern wollten sich um ihre Pflichten drücken und ihre Kinder möglichst wenig zu Gesicht bekommen.

Hannahs Eltern gehörten zu keiner der beiden Kategorien. Zu den Reichsten der Reichen schon mal gar nicht. Ihr Vater hatte eine kleine Buchhandlung, wo ihn Kunden eigentlich nur beim Lesen störten. Hannahs Mutter arbeitete in einem Blumenladen. Ihre Jobs machten ihnen Spaß, aber viel Geld kam nicht dabei herum.

Also musste Hannah selbst das teure Schulgeld bezahlen, nämlich mit ihrem großen Talent. Mathe hasste sie, in Altgriechisch und Latein kam sie mit, in Bio, Geschichte und Deutsch war sie ziemlich gut und Englisch liebte sie. Doch die Fächer, in denen ihr Können herausstach, waren genau die Schwerpunkte auf Schloss Heidesand: Schauspiel, Tanz, Musik.

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Hannah hatte sich schon immer für alles interessiert, für das man eine Bühne brauchte. Ihre Eltern hatten sie von klein auf mit zu den unterschiedlichsten Aufführungen genommen. Zum Ballett und ins Theater, sogar Opern fand Hannah einigermaßen erträglich. Am tollsten aber waren eindeutig die Musicals. Von diesen Shows war Hannah von Anfang an völlig begeistert gewesen. Schon mit fünf Jahren übte sie zu Hause vor dem Ankleidespiegel Tanzschritte, ganze Choreografien dachte sie sich selbst aus. Bald sang sie auch dazu und führte vor Verwandten und Nachbarn ihre eigenen Shows auf. Sogar Eintrittskarten hatte Hannah dafür gebastelt und verkauft. Eine davon hatte sie immer noch in ihrer Geldbörse, als Glücksbringer. Dieses kleine Stück Papier sollte Hannah immer daran erinnern, sich richtig ins Zeug zu legen, um ihren großen Traum wahr zu machen: Schauspielerin in einem Musical zu werden. Doch das war nicht leicht. In der Kleinstadt, in der sie lebte, gab es für so etwas keine Ausbildungsmöglichkeit. Hannah belegte an der Volkshochschule Kurse, die sie kaum weiterbrachten. Im Gemeindezentrum gab es eine Jazz-Tanz-Gruppe, immerhin. Hannah war schon mit zehn Jahren der heimliche Star der Truppe. Sie hatten ein paar umjubelte Auftritte auf einer Karnevalsfeier und beim Sportfest. Aber mehr passierte nicht. Hannah musste sich damit abfinden, dass aus dem Traum nichts werden würde. Nach ihrer Schulzeit würde sie zu alt sein, um noch den Anschluss zu kriegen.

In Gedanken versunken, betrat Hannah den Speisesaal von Schloss Heidesand. Sie wollte nur eine Kleinigkeit essen, schließlich hatten sie direkt im Anschluss an die Mittagspause Probe. Vollgestopft würde sie die komplizierten Figuren nicht hinbekommen. So hatte sie sich angewöhnt, reichlich zu frühstücken und sich abends, nach dem anstrengenden Training, den Teller richtig zu füllen. Wer etwas leisten wollte, brauchte schließlich Power.

Hannah stellte sich an der Salattheke an. Auch das Essen hier war von einer ganz anderen Qualität als in einer normalen Schulküche. Die Gerichte waren meistens richtig lecker, fast wie in einem Restaurant. Was für ein Glück, dass sie in diesem Internat gelandet war – von Mathe abgesehen!

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Vor einem knappen Jahr hatte ihre Mutter in einer Illustrierten von Schloss Heidesand gelesen. Natürlich war ausgeschlossen gewesen, dass Hannah dort angemeldet werden konnte. Die Jahresgebühr war höher als der Verdienst ihrer Eltern. Doch am Ende des Berichts hatte noch eine kleine Notiz gestanden. Ein Satz nur, der Hannahs Leben eine neue Richtung gab: Pro Jahr wird ein Stipendium vergeben, Bewerbungen an blablablubb.

Noch am gleichen Tag setzte Hannah ein Bewerbungsschreiben auf. Das Abschlusszeugnis der fünften Klasse war zum Glück hervorragend gewesen und auch für die sechste Klasse bescheinigten die Lehrer ihr im Voraus gute Noten. Doch darauf kam es dem Prüfungsausschuss von Schloss Heidesand nur am Rande an. Das Stipendium sollte an außergewöhnliche Talente im Bereich Schauspiel, Tanz, Musik vergeben werden, wie es in den Unterlagen hieß. Hannah legte ihre Urkunden und Teilnahmebestätigungen aller Kurse, die sie besucht hatte, hinzu. Und eine verwackelte Aufnahme vom Auftritt der Jazz-Tanz-Gruppe im Gemeindehaus. Sie entschuldigte sich mehrmals in dem Schreiben für die Qualität, aber sie hatte eben keine anderen Beweise für ihr Können.

Zu Hannahs Erstaunen schien der Ausschuss Hannahs Talent auch so erkannt zu haben. Denn zwei Wochen später flatterte die Einladung zum Vorspielen ins Haus. Hannah probte mit dem Leiter ihrer Gruppe, bis ihr die Füße schmerzten. Sie gönnte sich keine Pause, sie sang, tanzte und übte eine kurze Szene aus einem Theaterstück ein. Am Tag der Prüfung hatte sie Magenschmerzen. Und als sie das Schloss betrat, fühlte sie sich noch schlechter: klein und dumm und wie ein Bauerntrampel vom Land. Genau so, wie Nicole sie heute noch behandelte. Alles war so vornehm auf dem Schloss. Die Lehrer trugen geschmackvolle Kleidung, die Männer Anzüge, die nicht seit zwanzig Jahren aus der Mode waren, die Frauen schicke Kostüme wie leitende Angestellte in großen Unternehmen.

Die Räume waren ruhig, die Möbel stilvoll. Zehn Mitbewerberinnen saßen im Gang, dazu ein Junge. Keiner sprach ein Wort. Hannah hätte allen gegönnt, das Stipendium zu bekommen. Doch es gab ja nur eins und das wollte sie!

Sie kam als Letzte an die Reihe, auch das noch. Als sie die Bühne sah, wurde sie noch nervöser. Die Technik war vom Feinsten, sie bekam sogar ein Kopfmikrofon. Doch kaum setzte die Musik ein, die Hannah mitgebracht hatte, war es mit dem Lampenfieber vorbei. Sie sang, tanzte und sprang über die Bühne, als würde sie vor tausend Zuschauern auftreten. Sie gab alles, schraubte ihre Stimme in die Höhe, ohne dass sie zitterte, schwang die Beine und gab insgesamt eine gute Figur ab, wie sie fand. Als die Musik verklang, blieb es einen winzigen Augenblick still. Dann klatschten die vier Mitglieder des Ausschusses. Das hatten sie auch bei den anderen Kandidaten getan, wie Hannah durch die Tür gehört hatte. Doch sie war sich ganz sicher, es hatte nicht annähernd so begeistert geklungen wie nun bei ihr.

Hannah behielt recht. Sie und ihre Mutter wurden sofort in das Büro von Frau Direktor Malmedee geführt, um alle nötigen Formulare auszufüllen.

„Willst du das wirklich?“, hatte ihre Mutter noch einmal gefragt. Schließlich würde ihre Tochter dann beinahe das ganze Jahr von ihren Eltern getrennt sein. Aber Hannah nickte.

„Es ist mein großer Traum, Star in einem Musical zu werden, Mama, das weißt du doch“, hatte sie geantwortet.

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Die Direktorin hatte unmerklich gelächelt. Ob sie die Einstellung ihrer neuen Schülerin dumm und unreif fand oder selbstbewusst und ehrgeizig, wusste Hannah bis heute nicht. Jedenfalls konnte sie zu Beginn des neuen, ihres siebten Schuljahres, auf Schloss Heidesand anfangen. Und noch etwas war neu: Max, der Junge, der vorgetanzt hatte, wurde ebenfalls genommen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Schlosses waren zwei Stipendien vergeben worden.

Hatte Hannah anfangs noch Respekt vor dem Geld ihrer Mitschüler, so legte sich dies schnell. Außer von Nicole wurde sie von allen ganz normal behandelt. Lena, mit der Hannah sich das Zimmer teilte, war schon nach der ersten Woche ihre Freundin und kurz darauf ihre allerbeste Freundin aller Zeiten geworden. Der Unterricht, auch wenn er viel länger dauerte, als an Hannahs alter Schule, machte meistens Spaß. Außer heute.

„Chinesische Gemüsepfanne“, bestellte Hannah bei der Frau hinter der Theke, während sie sich schon einen Teller Salat nahm. „Halbe Portion.“

Vor ihr drehten sich drei Jungs um.

„Wie nennst du mich?“, sagte einer von ihnen mit ernstem Gesicht. „Halbe Portion?“

Hannah schluckte. Sie war in Gedanken noch komplett bei dem bescheuerten Mathetest gewesen. Deshalb hatte sie ihn gar nicht bemerkt. Gabriel. Gabriel, der sie gerade mit seinen blauen Augen anstarrte, die tief waren wie Bergseen. Gabriel war der coolste Typ des ganzen Internats.

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Er ging in die neunte Klasse, zwei Jahre über Hannah. Seine Haut war im Winter so braun gewesen, als käme er gerade aus einem Urlaub in der Karibik. Was auch stimmte, wie Hannah erfahren hatte. Seine Eltern hatten ihre Yacht dort an einem Atoll liegen, dessen Namen sie nicht mal aussprechen konnte. Für Gabriel hingegen war diese Yacht so etwas wie der zweite Wohnsitz. Ach, Gabriel! Wie sehr hatte sie sich gewünscht, einen Grund zu finden, um ihn anzusprechen. Und jetzt das!

„Nein, ich, äh …“, stammelte Hannah und kam sich gleich noch dümmer vor. „Ich, also, ich habe nicht zu dir halbe Portion gesagt, sondern zu der Küchenhilfe.“

Gabriel verschränkte die Arme vor der Brust. „Du nennst die Küchenhilfe eine halbe Portion? Wie kommst du dazu?“, erkundigte er sich ernst. „Man muss höflich zu seinen Angestellten sein, das wussten schon die alten Römer!“

Die beiden Jungs neben Gabriel sahen Hannah grimmig an.

Hannah versuchte zu lachen. Dabei rutschte der Salatteller immer weiter an den Rand ihres Tabletts.

„Ähm, äh, nein!“ Hannah spürte, wie sie knallrot wurde. Ihr Gesicht glühte. Hätte jemand den Raum verdunkelt, wäre sie ohne Probleme zu finden gewesen. „Also, ich meine …“

Weiter kam sie nicht. Gabriel prustete als Erster los, seine beiden Kumpels stimmten ein.

„Lass dich nicht verarschen, Mädchen“, sagte Gabriel.

„Schon gar nicht von einer halben Portion wie Gabriel“, feixte einer der Freunde.

Hannah schluckte. Vor ihren Augen begann es zu flimmern. Sie wollte sich schnellstens verdrücken. Dabei stolperte sie jedoch und der Salat rutschte von ihrem Tablett, der rotbraune Balsamessig kleckerte über Gabriels nagelneue, schneeweiße Sneakers.

„Uups, ’tschuldigung“, stotterte sie und wurde noch stärker rot. „Das … das wollte ich wirklich nicht.“

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Hannahs erster Impuls war, den Speisesaal auf der Stelle zu verlassen. Doch ihr Magen protestierte alleine schon bei dem Gedanken. Das Tanztraining gleich würde hart werden, sie brauchte Energie. Also flüchtete sie mit ihrem Tablett und hockte sich mit bebendem Herzen an einen Tisch in der hintersten Ecke. Mit ihrer halben Portion. Vor Wut ballte sie die Fäuste unter dem Tisch. „So ein Arsch!“, murmelte sie wütend. Schimpfwörter waren am Internat streng verboten. Aber das hier musste raus!

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Hannah stieß die Gabel in den Reis, als hätte der sie beleidigt. Gabriel stand noch immer an der Ausgabetheke. Wie ein begossener Pudel versuchte er, seine Schuhe von Gurkenscheiben, Salatblättern und Bohnen zu säubern. Am Ende zog er sie einfach aus, pfefferte sie in den Mülleimer und ging barfuß nach draußen. Seine beiden Kumpels warfen Hannah einen grimmigen Blick zu, dann folgten sie Gabriel.

„Dem hast du’s aber gegeben“, sagte eine Stimme. „Darf ich?“

Ein Tablett wurde auf den Tisch gestellt. Hannah nickte und sah auf. Es war Stella aus ihrer Klasse. Eigentlich eher ein Mauerblümchen, das nie den Mund aufkriegte und bei gar nichts mitmachte. Vielleicht aber auch, weil niemand sie jemals fragte? Stella war einfach zu uncool. Jetzt aber hatte Hannah nicht die Kraft, sie mit einer erfundenen Geschichte abzuwimmeln. Sie fühlte sich einfach obermies. Sie nickte.

Stella schob ihr Tablett neben Hannahs und setzte sich.

„Endlich zeigt’s dem mal jemand“, sagte sie. „Der ist so furchtbar arrogant.“

„Ja“, murmelte Hannah. Und so süß …, dachte sie.

Sie hatte es verbockt. Der Tag war eben verhext. Jetzt hatte sie auch noch Stella am Hals.

Die sagte nichts mehr, sondern aß schweigend ihre Pizza Hawaii. Natürlich ordentlich mit Messer und Gabel. Stella tat nie etwas, das sich nicht gehörte, noch nicht einmal Pizza mit der Hand essen.

Hannah beeilte sich, fertig zu werden. Man stieg nicht gerade im Ansehen, wenn man mit Stella zusammen war.

„Ich muss jetzt“, sagte sie. Noch während sie sich die letzte Gabel Gemüse in den Mund schob, sprang sie auch schon auf. Nur weg aus diesem Saal des Grauens!

Hannah verließ das Schloss und lief auf das Nebengebäude zu, wo die Schlafräume lagen. Sie wollte die Schulsachen wegbringen und ihre Sporttasche holen. Bis zur Probe blieben ihr noch ein paar Minuten. Sie hoffte sehr, Lena auf dem Zimmer anzutreffen.

Aber Lena war nicht da. Traurig stellte Hannah ihren Rucksack unter die Garderobe.

Die Zimmer für die Schüler waren alle gleich geschnitten. Unter einem hohen Fenster standen zwei Schreibtische nebeneinander. Von hier aus konnte man am Schloss vorbei auf den See sehen. Es war ein traumhafter Blick, leider waren ihre Augen aber meistens auf Bücher und Hausaufgaben gerichtet, wenn Hannah und Lena hier saßen. Computer waren auf den Zimmern nicht erlaubt, dafür gab es einen EDV-Raum. Links und rechts von den Tischen stand je ein Schrank und ein Regal über Eck. Daneben die Betten. Am Fußende der Betten war Platz für ein größeres eigenes Möbelstück.

Hannah hatte einen fetten Sitzsack von zu Hause mitgebracht. Darauf passten sie auch zu zweit. Lena hatte ihre E-Gitarre vor ihrem Bett aufgebaut. Sie wollte eine Band gründen, sobald sie mit der Schule fertig war. Die Texte, die sie schrieb, hätten zum sofortigen Rausschmiss aus dem Internat geführt …

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Hannah schaltete ihr Smartphone ein. Auf dem Schulgelände waren Handys strengstens verboten, sie mussten ausgeschaltet in den Taschen bleiben. Am liebsten sahen es die Lehrer, wenn alle elektrischen Geräte auf den Zimmern blieben. Wer während einer Klassenarbeit mit Handy und Co. erwischt wurde, bekam wegen Mogeln sofort einen Schulverweis. Auch wenn das Ding aus gewesen war. Die Lehrer wussten eben genau, wie gut ihre Schüler mit diesen Geräten umgehen und sich fehlende Informationen im Internet beschaffen konnten.

Eine Nachricht war eingegangen. Lena hatte geschrieben:

Hi, allerbeste Freundin aller Zeiten! Bin noch in der Förderstunde Latein. Sehen uns gleich bei der Musical-Probe. Und dann musst du mir beim Aussuchen helfen. Welches Kleid soll ich nehmen?

Hannah schüttelte verwundert den Kopf. Kleid? Aussuchen? Was meinte Lena? Sie gingen oft zusammen shoppen, klar, und berieten sich. Was die eine nicht mochte, kaufte die andere nicht. Meistens war es allerdings sowieso Lena, die kaufte. Hannah bekam nicht mal ein Viertel von dem Taschengeld, das Lena zur Verfügung hatte. Trotzdem machten ihre gemeinsamen Touren irre Spaß. Besonders im Crazy Cool, einem kleinen Laden, der nicht die üblichen Sachen hatte. Wenn man da Klamotten kaufte, konnte man sicher sein, dass sie auf der nächsten Party nicht die halbe Schule anhatte.

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Aber von einer Tour in die Stadt am heutigen Nachmittag hatte Lena nichts erwähnt. Hannah hatte auch gar keine Zeit, und Lena eigentlich auch nicht. Und außerdem: Kleid? Lena trug eigentlich ausschließlich Hosen oder Röcke und T-Shirts.

Hannah packte ihre Tasche und wollte gerade gehen, als sie den Katalog auf Lenas Bett entdeckte. Auf dem Cover war eine Frau um die vierzig in einem golden glitzernden Abendkleid. Sie hatte sich bei einem Mann im schicken dunkelblauen Anzug eingehakt. In der einen Hand hielt sie ein Glas Sekt – wohl eher Champagner –, in der anderen einen hochhackigen Schuh. Sie lachte über das ganze Gesicht. Offenbar hatte man dazu allen Grund, wenn man dieses Kleid kaufte.

Aber was wollte Lena mit so einem Katalog? Verwirrt schlug Hannah wahllos eine Seite auf. Die Kleider, die die Models trugen, waren alle sehr vornehm – und atemberaubend teuer.

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Sie versuchte, sich Lena in einem dieser Fummel vorzustellen oder gar sich selbst, und musste lachen. Nein, absolut nicht ihr Stil. Vom Preis einmal ganz abgesehen, würde sie sich niemals so ein Kleid kaufen. Diese Schnitte! Überhaupt, die ganze Ausstrahlung dieser Dinger war überhaupt nicht ihr Geschmack. Voll altbacken und nur für alte Leute.

Hannah warf den Katalog wieder auf Lenas Bett. Sie dachte nach. Hatte Lena ihr vielleicht schon erzählt, dass sie auf eine Hochzeit eingeladen war? Lenas Bruder war zweiundzwanzig, aber, soweit Hannah wusste, nicht in festen Händen. Nein, sie war sich wieder sicher, Lena hatte keine große Familienfeier erwähnt.

Hannah nahm ihre Tasche und schloss das Zimmer ab. Auf dem Hof kamen ihr Jerome und Basti entgegen. Sie grüßten lässig. Jerome und Basti teilten sich ein Zimmer, sie gingen in Hannahs Klasse und gehörten eindeutig zu den Coolen. Manchmal hatte Hannah den Eindruck, Basti hielt sich gerne in ihrer Nähe auf. Auch jetzt spürte sie einen Blick auf sich. Basti? Oder doch von Jerome? Hannah ging weiter. Königinnen drehen sich nicht um, schoss es ihr durch den Kopf. Trotzdem dankte sie den beiden in Gedanken. Das miese Gefühl, das sie Gabriel und seiner ultralustigen Aktion zu verdanken hatte, war mit diesen Blicken verschwunden.

Im Umkleideraum traf sie endlich Lena. Die Freundinnen umarmten sich herzlich. Schließlich hatten sie sich fast vierzig Minuten nicht gesehen. Acht Mädchen drängelten sich in dem kleinen Raum. Der Kurs Musical II war für Schüler verschiedener Klassen offen, auch einige Achtklässlerinnen nahmen teil. Sammy, Maja, Karla. Hannah begrüßte auch sie mit Umarmungen, allerdings wesentlich kürzeren.

Lena war bereits umgezogen. Sie hatte eine pinkfarbene, hautenge Gymnastikhose an, dazu ein schlabberiges T-Shirt mit einem Eis darauf und dem Spruch: Too cool for you.

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Hannah beeilte sich, in ihre Klamotten zu kommen, eine weite graue Trainingshose und ein geripptes Top. Beide trugen spezielle Tanzschuhe, die den Fuß bei Sprüngen und Drehungen unterstützen und Verletzungen verhindern sollten.

Sie gingen auf die Bühne. Die Scheinwerfer waren schon an. Jetzt im Frühsommer war das eigentlich nicht nötig, aber ihre Lehrerin Madame Clodell bestand darauf. „Für Atmosphäre“, erklärte sie stets mit ihrem französischen Akzent, der auch in ihren zehn Jahren an einem Musical-Theater am Broadway in New York nicht ganz verschwunden war.

Hannah dehnte sich, dann ging sie in den Spagat. Sie legte sich flach nach vorn auf den Boden und spürte, wie ihre Muskeln sich ihrem Willen unterwarfen. Lena setzte sich breitbeinig neben sie und umfasste abwechselnd mit ihren Händen den linken, dann den rechten Fuß.

„Und?“, erkundigte sie sich. „Hast du dir den Katalog angesehen?“

Hannah kam langsam nach oben und legte sich auf den Rücken. Sie ließ das rechte Bein kreisen, als würde sie Fahrrad fahren.

„Ja. Ist das ein Scherz?“

Lena lachte. „Scherz?“

Hannah rollte mit den Augen. „Du willst wirklich so ein Ding anziehen?“, fragte sie fassungslos.

„Klar!“, schwärmte Lena. „Wir werden wie Prinzessinnen aussehen.“

Hannah verstand kein Wort. Sie ging in die Hocke und ließ die Beine abwechselnd nach hinten schnellen.

„Wir? Äh, habe ich irgendwas vergessen?“, hakte sie nach. „Wird deine Mutter fünfzig?“

Jetzt lachte Lena. „Meine Mutter ist bereits im letzten Jahr fünfzig geworden. Und im Jahr davor auch und davor auch. Was hat das mit den Kleidern für den Ball zu tun?“

Hannah rutschte näher an Lena heran. Nicole war auf die Bühne gekommen und hatte sich direkt neben sie gesetzt. Wahrscheinlich wollte sie Hannah mit ihrem tollen superteuren Ganzkörperstretchanzug neidisch machen. Dabei sah sie darin aus wie ein Wiener Würstchen im Urlaub.

„Der Ball, mein Gott!“, stöhnte Lena auf, als würde Hannah sich extra dumm stellen. „Unser Abschlussball!“

Hannah runzelte die Stirn. „Was für ein Abschlussball?“

Lena stützte die Hände in die Hüften. „Sag bloß, du weißt wirklich nichts von unserm Ball?“

Hannah schüttelte den Kopf. Nicole lachte. „So was gibt es aufm Dorf nicht“, ätzte sie. „Da gibt’s nur Almabtrieb der Kühe. Häng dir doch einen Melkschemel um, Hannah!“

Hannah hätte Nicole am liebsten eine runtergehauen. „Du warst auch schon mal witziger, Nicole“, giftete sie zurück. „Ich komme nicht vom Dorf, sondern aus einer Stadt mit zwölftausend Einwohnern. Kühe kenne ich nur aus dem Biobuch.“

Sie drehte sich wieder zu Lena um.

Die zwinkerte ihr zu. „Am Ende jedes Schuljahres findet hier im Schloss der große Abschlussball statt. Nur für die Schüler der Mittel- und Oberstufe, natürlich“, klärte sie Hannah auf. „Wir dürfen also das erste Mal dabei sein.“

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Lena schloss die Augen und faltete die Hände vor der Brust, als hätte sie gerade das leckerste Stück Torte ihres Lebens gegessen. „Es wird traumhaft werden!“

Tausend Fragen schossen Hannah durch den Kopf. Doch bevor sie noch eine einzige loswerden konnte, erschien Madame Clodell im Raum. Sie klatschte dreimal in die Hände.

„Alle auf Position!“, kommandierte sie. „Wir steigen ein bei die Stelle in zweiter Akt. Mustafa ist auf die Knie. Er bittet Hannah, seine Frau zu werden. Aber Hannah liebt schon Jakob.“

„Genau!“, rief Jakob und hob die Hand. Alle lachten. Nur von Madame Clodell fing sich der Klassenclown einen finsteren Blick ein.

Dann legten sie los. Hannah und Mustafa aus der Achten spielten im zweiten Akt die Hauptrollen. Die restlichen Jungs um Jakob, Levi und Noah waren Mustafas Straßengang. Sie sprangen nach dem Liebesgeständnis in den Vordergrund und machten Hip-Hop-Moves. Mustafa reihte sich ein, aber sosehr sie sich auch abstrampelten, Hannah blieb bei ihrem „Nein!“.

Alles klappte hervorragend, obwohl Hannahs Tag doch bisher so mies verlaufen war. Aber wenn sie auf die Bühne trat, verschwand alles andere aus ihrem Kopf. Nicole und Lena hatten heute nur kurze Auftritte, was Nicole sichtlich wurmte. Schließlich wollte sie doch den Jungs aus der Achten ihren Würstchenanzug vorführen.

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Nach zwei Stunden harter Arbeit entließ Madame Clodell ihr Team, nicht ohne jedem noch einmal ein paar Stellen vorzutanzen, die ihrer Meinung nach noch verbessert werden sollten.

Hannah staunte jedes Mal, wie biegsam ihre Trainerin war und wie der Rhythmus von ihrem Körper Besitz zu ergreifen schien. Madame Clodell hätte auch in der Rolle eines Kieselsteins die Bühne gerockt.

„Vielen Dank, meine Lieben!“, verabschiedete sie sich, koppelte ihren MP3-Player von der Anlage ab und ging.

„Die ist der Wahnsinn“, schwärmte Hannah. „So zu werden wie sie, das ist echt mein Ziel.“

Nicole stieß geräuschvoll die Luft aus. „Tssä, so viel üben kannst du gar nicht!“

Hannah nickte Lena zu. Eigentlich zogen sie sich immer hier in der Kabine um, aber für heute hatten sie genug dumme Sprüche gehört.

Erst als sie auf ihrem Zimmer waren, fing Hannah an zu fragen. „Also, was ist das für ein Ball?“, wollte sie wissen. Ihr Blick fiel auf die lachende Frau auf dem Katalog. Sie sah aus, als käme sie aus einer ganz anderen Welt.

Lena schien da ganz anderer Meinung. In ihren Augen funkelte es, sobald das Wort Ball fiel.

„Der Abschlussball ist das größte Fest, das es hier auf dem Schloss gibt.“ Sie stutzte. „Es wundert mich, dass die Malmedee bei deiner Aufnahme nichts davon erwähnt hat.“

In Hannahs Erinnerung flackerte es kurz auf. Es konnte tatsächlich sein, dass die Direktorin bei der Anmeldung über den Ball erzählt hatte. Doch an dem Tag hatte Hannah vor lauter Aufregung kaum zuhören können.

„Na ja“, fuhr Lena fort. „Den Ball gibt es auf jeden Fall schon seit über hundert Jahren. Es ist Tradition, dass die Schüler ab der Klasse sieben daran teilnehmen.“

Hannah nickte. „Cool, wird bestimmt ’ne Supersause.“ Sie dachte an Gabriel. Vielleicht kam sie ihm bei den neusten Hits aus den Charts zufällig näher. Auf der Tanzfläche konnte man sich ja unauffällig anschleichen.

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„Nix cool!“, unterbrach Lena ihre Gedanken. „Tradition! Wir tanzen zu zweit, so wie früher. Hauptsächlich Wiener Walzer. Und dazu tragen wir solche Kleider.“ Sie hielt Hannah den Katalog vor die Nase.

Hannah lachte. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Sie riss ihrer besten Freundin aller Zeiten den Katalog aus der Hand. „Du willst dich wirklich so verkleiden?“

Lena winkte ab. „Ach, du wieder!“, sagte sie gut gelaunt. „Mann, das ist eben was ganz anderes. Alle kommen so, das ist voll romantisch.“

Hannah warf sich auf ihr Bett. „Nee, ohne mich“, widersprach sie. „Ich finde das echt affig. So rennt meine Oma rum, wenn sie in die Oper geht, aber ich doch nicht.“

Lena warf Hannah ihr Kissen an den Kopf. „Klar, Mensch, wenn du so in die Disco gehst, dann lachen dich alle aus. Aber wenn alle mitmachen …“ Sie zwinkerte Hannah zu. „Auch Gabriel natürlich.“

Lena fummelte an ihrem Handy herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.

„Hier!“ Sie hielt Hannah ihr Smartphone hin und zeigte ihr ein Foto. Gabriel in einem feinen Anzug. Er sah umwerfend aus! Im Hintergrund erkannte sie Carmen und Alicia aus der Neunten. Sie wirkten wie Prinzessinnen, die auf ihre Kutsche warteten. Und ehrlich gesagt überhaupt nicht spießig und altmodisch.

„Ich weiß nicht“, murmelte Hannah.

„Aber ich weiß!“, sagte Lena fröhlich. „In coolen Klamotten kannst du das ganze Jahr rumlaufen, Hip-Hop tanzen auch. Aber einen Ball, den gibt’s nur einmal im Jahr. Und wir sind das erste Mal dabei!“

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Hannah wälzte sich auf ihrer Matratze herum. „Muss man?“

Lena schüttelte den Kopf. „Nee, zwingen können sie dich nicht. Aber ich wüsste von keinem, der freiwillig weggeblieben wäre. Vor zwei Jahren kam ein Mädchen sogar mit Gipsbein.“

Hannah seufzte tief. „Das ist echt nichts für mich, Leni. Ihr kennt alle so traditionelle Fest und Empfänge von zu Hause. Aber ich …“

Lena sprang auf und blitzte ihre allerbeste Freundin aller Zeiten. „Unsere Dorfschönheit ist wohl nicht da, was“, sagte sie mit hoher Stimme. „Ist das Kleid beim Melken schmutzig geworden?“

Hannah lachte. „Das würde Nicole original so sagen.“ Sie setzte sich auf. „Also gut, du hast mich überredet.“

Dann aber fiel ihr siedend heiß etwas ein. Sie tanzte gern und gut und konnte die wildesten Tänze. Auf jeder Tanzfläche war sie ein Hingucker. Aber von Tänzen wie Samba, Rumba, Tango oder gar Wiener Walzer hatte sie nicht die leiseste Ahnung.

„Ich kann nicht mal Walzer tanzen“, stammelte sie. „Lena, das wird nichts.“

Lena winkte ab. „Du kennst doch unser Internat“, widersprach sie. „Hier wird an alles gedacht. Ab nächsten Montag kommt Herr Ricken ins Schloss. Dreimal die Woche leitet er einen Kurs in den klassischen Tänzen. Für Anfänger oder Fortgeschrittene, die seit letztem Jahr alles wieder vergessen haben. Gabriel, Basti und Jerome kommen auf jeden Fall auch.“

Hannah nickte.

Lena verzog plötzlich das Gesicht. „Kostet allerdings dreißig Euro pro Woche.“

Hannah ließ sich rückwärts auf die Matratze fallen. „Dann wird nichts draus. Ich bin pleiter als pleite“, gestand sie. „Die Jahreskarte fürs Freibad hat mich gekillt. Und dann das neue Smartphone …“

Das hatte hauptsächlich Oma bezahlt. Die fiel zum Anpumpen also auch aus.

Lena grübelte einen Moment. „Ich kann dir leider gerade auch nichts leihen, aber …“ Ihre Gesichtszüge hellten sich auf. „Aber ich hätte zwei Jobs für dich. Du musst dich allerdings für einen entscheiden, denn sie wären beide an den gleichen Nachmittagen.“

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Hannah führt den Hund der Köchin aus. Dreimal die Woche. Allerdings ist Franz-Ferdinand der störrischste Dackel, der jemals geschnüffelt hat. Wenn du dich auch fürs Hundesitten entschieden hättest, klicke hier.

Hannah sortiert Kleider im Crazy Cool ein. Allerdings muss sie dafür ihren Schülerausweis fälschen, denn der Besitzer stellt nur Vierzehnjährige ein. Wenn du ebenfalls diesen Job angenommen hättest, klicke hier.

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Hannah brachte kein Wort heraus. Lena, die allerbeste Freundin aller Zeiten hatte ihr nicht geholfen. Und das gerade, als sie ihren Beistand am nötigsten hatte. Ohne groß nachzudenken, nahm sie Johannes an die Hand und stapfte mit ihm über die Wiese. Franz-Ferdinand lief fiepend hinter ihnen her.

„Hannah!“, rief Lena noch, doch Hannah tat so, als höre sie es nicht.

Nach zweihundert Metern fing Johannes laut an zu lachen.

„Hey, du musst nicht so ziehen, ich komme auch freiwillig mit.“

Jetzt lachte Hannah auch. Es tat so gut nach der ganzen Anspannung. „Stimmt ja“, antwortete sie. „Du bist ja kein Dackel.“

Sie wusste, eigentlich hätte sie nun die Hand von Johannes loslassen müssen. Bis hierher bedeutete es noch nichts. Das konnte sie sich jedenfalls einreden. Wenn sie jetzt so weitergingen, war es Händchenhalten. Hannah behielt Johannes’ Hand noch zehn Sekunden in ihrer. Es fühlte sich gut an. Gar nicht peinlich oder fremd. Vielleicht lag es aber auch daran, dass niemand anderes in der Nähe war.

„Das war sehr nett von dir. Vielen Dank!“, sagte sie schließlich und nahm die Leine in beide Hände. Franz-Ferdinand fiepte immer noch. Aber nach der ganzen Zerrerei benahm er sich jetzt ausnahmsweise mal gut.

Johannes winkte ab. „Nichts zu danken. Ich habe auch einen Hund, einen Golden Retriever. Bei den ersten Malen fand ich das auch echt eklig, aber jetzt macht es mir gar nichts mehr aus.“ Er lachte. „Ist ja ’ne Tüte drum, sonst wäre es schwieriger …“

Hannah lachte und stieß Johannes ihren Ellenbogen in die Seite.

„Trotzdem würde ich mich gerne bei dir bedanken“, sagte sie. „Hast du noch Zeit für ein Eis?“

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Johannes tat so, als müsste er nachdenken.

„Hm, lass mal überlegen … Das Telefonat mit dem Talentscout vom FC Barcelona habe ich schon hinter mir, der Termin mit meinem Bewährungshelfer ist erst morgen und mein Manager kann warten.“ Er sah Hannah völlig ernst an. „Nein, nichts. Ich bin noch frei.“

Hannah schüttelte schmunzelnd den Kopf. Johannes war ihr schon ein paar Mal aufgefallen. Dass er aber von Nahem ein toller Typ war, merkte sie erst jetzt.

„Ich muss meinen Fiffi um 18 Uhr abgeben“, verriet sie. „Bis dahin sollten wir unser Eis geschleckt haben.“

Johannes blickte sie empört an. „Ich dachte, du lädst mich ein! Die Gelegenheit wollte ich nutzen und endlich mal alle Sorten nacheinander probieren!“

Auch auf dem Rest des Wegs am See entlang machte Johannes einen Scherz nach dem anderen. Hannah kam aus dem Lachen gar nicht mehr raus. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so leicht gefühlt. Kein Gabriel, keine Nicole, keine Mathenote und kein Druck, beim Musical die Beste sein zu müssen, schwirrten ihr im Kopf herum.

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Genau 9 Euro 90 gab Hannah für die beiden Eisbecher aus. Im Preis inbegriffen war ein langes Gespräch mit Johannes. Und das war jeden Cent wert.

„Du wirkst gar nicht so schnöselig wie eine vom Schloss“, sagte er, als sie im Schatten unter den Kastanien an der Eisdiele saßen.

Hannah hätte sich am liebsten auf ihren Tropic-Becher gestürzt. Sie hielt sich aber zurück und löffelte ihr Lieblingseis in winzigen Portiönchen.

Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie das Internat nun verteidigen oder sich als armes Mädchen zu erkennen geben? Beides kam ihr irgendwie falsch vor. Also erklärte sie Johannes, wie es war.

„Ach, die meisten bei uns sind gar nicht so schlimm“, sagte sie. „Klar, es gibt total eingebildete Typen. Aber manche sind vom Reichtum ihrer Eltern sogar ziemlich genervt. Die Lehrer sind auf jeden Fall echt cool. Die meisten zumindest.“

Johannes erzählte von seiner Schule. Auch er liebte Sport. In den Osterferien hatte er mit seinem Vater eine lange Fahrradtour gemacht, an der Loire entlang, einem Fluss in Frankreich. Jede Nacht hatten sie ihr Zelt auf einem anderen Campingplatz aufgeschlagen und waren dann am nächsten Morgen wieder aufgebrochen. Fast siebenhundert Kilometer, in malerischer Umgebung.

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„Mit deinem Vater?“, hakte Hannah nach. „Mein Vater mag mich auch, aber von seinen Büchern kriege ich ihn nicht weg. Wir waren einmal in Italien im Hotel. Eigentlich wollten wir drei Wochen bleiben. Aber nach acht Tagen bekam Papa Heimweh. Wir mussten zurück.“

Johannes lachte. „Eigentlich sollten doch Kinder Heimweh haben, nicht die Eltern.“

Hannah gab ihm Recht. Ihr fiel auf, dass sie mit Johannes ganz normal redete. Wie mit einer Freundin – bevor Lena sie so im Stich gelassen hatte. Sie hatte kein bisschen das Gefühl, sich vor ihm verstellen zu müssen. Sie sagte, was sie sagen wollte. Und ihr gefiel, dass Johannes eine gute Beziehung zu seinem Vater hatte. Also rückte sie auch mit dem raus, was sie seit gestern am meisten beschäftigte.

„Habt ihr auch ein besonderes Fest am letzten Schultag?“

Johannes schüttelte den Kopf. „Nö, da gibt’s Zeugnisse und dann rennen alle nach Hause“, antwortete er. „Nur weg aus dem Bunker. Die sechs Wochen sind schnell genug um, da darf man keine Sekunde vertrödeln.“

Hannah nickte. „So war’s an meiner alten Schule auch. Aber auf dem Schloss ist das anders, wie ich gestern erfahren habe. Bei uns gibt es einen richtigen Abschlussball. Mit – wehe du lachst! – richtigem Tanzen. Also Walzer und so …“

Hannah sah vorsichtig von ihrem Eisbecher auf, den sie während des Geständnisses angestarrt hatte. War Johannes noch da? Oder rannte er schon zur Powerweide, um seinen Kumpeln von diesem Blödsinn zu erzählen?

„Warum soll ich da lachen?“, fragte er. „Hört sich für mich richtig gut an.“

Hannah sah ihn überrascht an. „Du findest das nicht spießig oder affig oder so?“

Johannes schüttelte den Kopf. „Quatsch. Ich war selbst letztes Jahr in der Tanzschule“, erzählte er. „Das war natürlich erst mal merkwürdig. Fremde Mädchen ganz eng an sich ziehen und so was. Aber irgendwann hatten sich alle dran gewöhnt und keiner musste mehr albern kichern. Nach drei Stunden war alles ganz normal.“

Ein Gedanke durchzuckte Hannah. „Du kannst tanzen?“, platzte sie heraus.

Johannes nickte.

„Hast du’s noch drauf? Die Schritte, meine ich?“

Johannes nickte wieder. „Ich denke schon.“

Hannah spürte, wie sie rot wurde. „Würdest du. Also, ich meine …“ Sie sah Johannes offen an. „Ich kann’s gar nicht. Null Ahnung. Würdest du’s mir beibringen?“

Johannes tat entrüstet. „Ich? Dir? Wir kennen uns doch kaum!“

Hannah wollte sich gerade für die Frage entschuldigen, als sie sah, dass er grinste. Er hatte sie wieder reingelegt.

„Also?“

Nun schien es Hannah, als würde Johannes rot. „Ich denke schon, dass ich das gerne machen würde …“, sagte er leise.

Einen Moment lang war die Stimmung so, als hätte Johannes gefragt: „Willst du mit mir gehen?“

Hannah hielt die Luft an. Ihr Herz klopfte. Dann fiel ihr Blick auf die Kirchturmuhr.

„Shit!“, fluchte sie. „Fünf nach sechs. Ich muss Franz-Ferdinand zurückbringen!“

Sie sprang auf und wickelte die Leine von ihrem Stuhl.

„Wo treffen wir uns denn?“, wollte Johannes noch wissen. „Wir können ja schlecht an der Powerweide tanzen.“

Hannah zuckte mit den Schultern. „Ruf mich einfach an, wenn dir was einfällt. Morgen geht nicht, aber übermorgen.“ Dann diktierte sie ihm hektisch ihre Handynummer und lief los.

Als sie vor dem Haus von Brigitte Böll ankamen, japste Franz-Ferdinand wie eine Fahrradluftpumpe.

„Psst!“, ermahnte Hannah den Dackel. „Verrat mich nicht!“

Und wirklich schien sich der Hund zusammenzureißen. Als sein Frauchen die Tür öffnete, hopste er an ihren Beinen hoch, als käme er gerade aus einem Hunde-Wellness-Urlaub.

„Na, dir geht’s ja gut!“, begrüßte Frau Böll ihren Liebling. „Und du bist sogar länger gegangen, als du musstest.“

Hannah musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu schnaufen. „Gerne“, sagte sie knapp. „Das ist ja so ein Lieber!“

Brigitte Böll strahlte. „O ja, das ist er. Übermorgen um die gleiche Zeit?“

Hannah nickte. Der Nachmittag mit Franz-Ferdinand hatte ihr zwar kein Geld eingebracht, dafür aber Tanzstunden. Und die Bekanntschaft mit einem echt tollen Jungen. Hoffentlich meldete sich Johannes auch wirklich.

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Doch alle Sorgen waren unbegründet. Hannah hatte das Schlossgelände noch nicht betreten, als die erste Nachricht kam.

Wir können uns bei mir treffen. Meine Mutter spielt Geige dazu, dann haben wir gleich die passende Musik.

Einen Augenblick lang sah Hannah sich und Johannes eng umschlungen tanzen, während seine Mutter neben ihnen saß und geigte. Dann schnallte sie, dass Johannes sie wieder einmal drangekriegt hatte. Also schrieb sie die passende Antwort:

Das ist gut. Sonst hätte mein Freund mich auch nicht zu dir gelassen.

Nur zehn Sekunden später kam die nächste Nachricht.

Wer ist denn dein Freund? Kenne ich ihn?

Hannah lachte. Ja, vielleicht, dachte sie. Aber sie schrieb:

Jetzt bist du mal reingefallen. Ich kann das nämlich auch.

Dahinter achtundzwanzig Smileys. Johannes schickte auch zwei Reihen Smileys.

Ich freue mich schon auf übermorgen.

Ja, dachte Hannah, ich mich auch! Doch als sie in ihr Zimmer trat, hielt ihr Lena eine Predigt. Mit aller Macht versuchte sie, Hannah die Sache mit Johannes auszureden. „Was soll das werden?“, nörgelte sie. „Du willst auf einen Ball, nicht auf eine Karnevalsveranstaltung. Ich gebe dir das Geld für den Kurs. Als Entschuldigung für mein schlechtes Benehmen heute Nachmittag.“