EINE SPUR VON SCHWÄCHE
(KERI LOCKE MYSTERY—BUCH 3)
B L A K E P I E R C E
Blake Pierce
Blake Pierce ist der Autor der sechsteiligen RILEY PAGE Mystery-Bestsellerserie (Fortsetzung in Arbeit). Blake Pierce hat außerdem die MACKENZIE WHITE Mystery-Serie, bestehend aus drei Büchern (Fortsetzung in Arbeit), die AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus drei Büchern
Der leidenschaftliche Leser und langjährige Fan von Mystery und Thriller-Romanen, Blake Pierce, freut sich von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.blakepierceauthor.com für weitere Infos.
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BÜCHER VON BLAKE PIERCE
RILEY PAIGE KRIMI SERIE
VERSCHWUNDEN (Band #1)
GEFESSELT (Band #2)
ERSEHNT (Band #3)
GEKÖDERT (Band #4)
GEJAGT (Band #5)
VERZEHRT (Band #6)
VERLASSEN (Band #7)
ERKALTET (Band #8)
MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE
BEVOR ER TÖTET (Band #1)
BEVOR ER SIEHT (Band #2)
BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)
BEVOR ER NIMMT (Band #4)
BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)
AVERY BLACK KRIMI SERIE
GRUND ZU TÖTEN (Band #1)
GRUND ZU FLÜCHTEN (Band #2)
GRUND ZU VERSTECKEN (Band #3)
GRUND ZU FÜRCHTEN (Band #4)
KERI LOCKE MYSTERY-SERIE
EINE SPUR VON TOD (Buch 1)
EINE SPUR VON MORD (Buch 2)
EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Buch 3)
EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch 4)
INHALT
PROLOG
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDDREISSIG
Obwohl Sarah Caldwell erst sechzehn Jahre alt war, hatte sie bereits ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wenn etwas nicht stimmte. Und hier stimmte definitiv etwas nicht.
Sie wäre beinahe nicht mitgegangen. Aber als Lanie Joseph, ihre beste Freundin seit der ersten Klasse, sie anrief und fragte, ob sie an diesem Nachmittag mit ins Shopping Center gehen wollte, fiel ihr einfach kein überzeugender Grund dagegen ein.
Doch von der ersten Minute an kam ihr Lanie nervös vor. Sarah verstand nicht, was an der Fox Hills Mall so bedrohlich sein sollte. Als sie bei Claire’s billigen Modeschmuck ansahen, fiel Sarah auf, dass Lanies Hände zitterten.
In Wahrheit wusste Sarah überhaupt nicht mehr, was in Lanie vorging. In der Grundschule hatten sie sich sehr nahe gestanden, aber seitdem Sarahs Familie von Culver City Süd in das nicht weit entfernte, aber weniger kriminelle Westchester gezogen war, hatten sie sich langsam auseinander gelebt. Obwohl nur wenige Meilen sie voneinander trennten, war es ohne Auto dennoch nicht einfach, sich regelmäßig zu besuchen. So hatten die beiden Mädchen nach und nach immer weniger Zeit miteinander verbracht.
Als sie bei Nordstrom Makeup auflegten, warf Sarah einen verstohlenen Blick auf ihre Freundin. Lanies hatte pinke und blaue Strähnen in ihr blondes Haar gefärbt und ihre Augen waren bereits so dunkel umrandet, dass es eigentlich keinen Sinn machte, noch mehr Makeup auszuprobieren. Ihre blasse Haut wirkte gegen die dunklen Tattoos und das schwarze Tank Top noch bleicher. Lanie zeigte viel Haut, sodass Sarah zwischen der beabsichtigten Körperkunst auch zahlreiche blaue Flecken bemerkte.
Sie sah ihr eigenes Spiegelbild an und war über den Kontrast selbst erstaunt. Ihr war bewusst, dass sie auch eine attraktive junge Frau war, jedoch auf eine subtilere, nahezu besonnene Art. Ihr schulterlanges, braunes Haar trug sie im Pferdeschwanz, ihre haselnussbraunen Augen hatte sie mit dezentem Makeup hervorgehoben. Ihre olivfarbene Haut war makellos, im Gegensatz zu ihrer Freundin war sie nicht tätowiert und trug lange, ausgewaschene Jeans und ein unauffälliges hellblaues Top.
Jetzt fragte sie sich, ob sie ihrer Freundin heute ähnlicher sehen würde, wenn sie noch immer in der gleichen Nachbarschaft leben würde. Bestimmt nicht – ihre Eltern hätten das niemals zugelassen.
Würde Lanie in Westchester leben, würde sie sich trotzdem auftakeln wie eine Prostituierte an einem Truck-Stop?
Sarah schämte sich für diesen Gedanken und schüttelte unmerklich den Kopf. Seit wann erlaubte sie sich so schreckliche Urteile über ein Mädchen, mit dem sie früher Barbie gespielt hatte? Schnell wendete sie ihr Gesicht ab und hoffte, dass Lanie ihr die Schuldgefühle nicht ansehen würde, die ihr jetzt ohne Frage ins Gesicht geschrieben standen.
„Lass uns etwas essen“, sagte Sarah, um sich abzulenken. Lanie nickte und zusammen schlenderten sie aus dem Laden, begleitet von den argwöhnischen Blicken der Verkäuferin.
Als sie sich mit einer Riesenbrezel an einem der Tische niederließen, beschloss Sarah, ihrer Freundin auf den Zahn zu fühlen.
„Du weißt, dass ich mich immer freue, von dir zu hören, Lanie. Aber als du mich angerufen hast, hast du irgendwie aufgewühlt geklungen. Und du kommst mir die ganze Zeit schon so nervös vor… Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“
„Bei mir ist alles cool… aber mein Freund wollte uns gleich noch treffen. Vielleicht bin ich einfach gespannt, was du von ihm hältst. Er ist ein bisschen älter als ich und wir sind erst seit ein paar Wochen zusammen. Ich habe das Gefühl, dass ich ihn verlieren könnte und habe gehofft, dass du mir etwas Mut zureden kannst. Vielleicht sieht er mich mit anderen Augen, wenn er mich mit meiner besten und ältesten Freundin zusammen erlebt.“
„Wie sieht er dich denn jetzt?“, fragte Sarah verdutzt.
Noch bevor Lanie etwas antworten konnte, kam ein Typ auf ihren Tisch zu. Auch ohne die Ankündigung hätte Sarah ihn als Lanies Freund identifizieren können.
Er war groß und extrem dünn, trug enge Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Seine Haut war genauso blass und tätowiert wie Lanies. Sarah bemerkte, dass sie das gleiche kleine Tattoo am linken Handgelenk hatten: Einen Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen darunter.
Er war bestimmt zweiundzwanzig und seine langen, schwarzen, stachelig gestylten Haare und die dunklen Augen wirkten tatsächlich attraktiv. Er erinnerte Sarah an den Sänger einer Rockband aus den 80er Jahren, von dem ihre Mutter immer geschwärmt hatte. Skid Row, Motley Row, irgendetwas mit Row.
„Hey, Babe“, sagte er lässig und lehnte sich zu Lanie herunter um ihr einen überraschend intensiven Kuss zu geben – zumindest für ein kleines Shoppingcenter mitten am helllichten Tag. „Hast du es ihr schon gesagt?“
„Hatte noch keine Gelegenheit“, erwiderte Lanie kleinlaut und wandte sich an Sarah. „Sarah Caldwell, das ist mein Freund Dean Chisolm. Dean, das ist meine älteste Freundin Sarah.“
„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte Sarah und nickte höflich.
„Ganz meinerseits“, erwiderte Dean, nahm ihre Hand und machte eine tiefe, verspielt übertriebene Verbeugung. „Lanie redet ständig von dir. Sie würde gerne mehr Zeit mit dir verbringen. Schön, dass ihr euch heute treffen könnt.“
„Das finde ich auch“, sagte Sarah. Sie war einerseits überrascht von seiner charmanten Art, andererseits blieb sie misstrauisch. „Was sollte sie mir denn sagen?“
Dean lächelte herzlich und Sarahs Misstrauen löste sich langsam auf.
„Ach das“, sagte er. „Heute Nachmittag kommen ein paar Freunde bei mir vorbei und wir dachten, dass es nett wäre, wenn ihr auch dazu kommt. Ein paar Leute spielen zusammen in einer Band und sie suchen eine neue Sängerin. Lanie hat erwähnt, dass du toll singen kannst und wir dachten, dass du sie vielleicht gerne treffen willst.“
Sarah sah zu Lanie, die zwar lächelte, aber nichts sagte.
„Möchtest du das gerne, Lanie?“, fragte Sarah sie direkt.
„Wäre doch lustig, neue Leute zu treffen“, sagte Lanie. Sie klang neutral, aber ihr Blick flehte Sarah wortlos an, sie vor ihrem coolen neuen Freund nicht zu blamieren.
„Wo wollt ihr euch denn treffen?“, fragte Sarah.
„Nicht weit von Hollywood“, sagte er. Seine Augen leuchteten freudig auf. „Dann mal los! Das wird bestimmt witzig!“
*
Sarah saß auf dem Rücksitz von Deans alten Sportwagen. Der Oldtimer sah von außen sehr gepflegt aus, aber im Innenraum wimmelte es nur so vor Zigarettenstummeln und zusammengeknüllten McDonald’s Papieren. Dean und Lanie saßen vorne. Die Musik war so laut aufgedreht, dass es unmöglich war, sich zu unterhalten. Sie knatterten durch die Straßen von Hollywood und erreichten bald den Stadtteil Little Armenia.
Sarah beobachtete ihre Freundin auf dem Beifahrersitz und fragte sich, ob sie ihr wirklich einen Gefallen tat, indem sie sich auf diesen Ausflug eingelassen hatte. Sie musste daran denken, wie Lanie ihr auf der Toilette im Shopping Center gegenüber gestanden hatte, bevor sie losgefahren waren.
„Dean ist sehr leidenschaftlich“, hatte sie gesagt, während sie ihren Lidstrich nachgezogen hatte. „Ich befürchte, dass er mich vielleicht abserviert, wenn ich nicht mitziehe. Er ist so sexy, er könnte jede haben. Aber er will mich. Und er behandelt mich nicht wie ein kleines Mädchen, sondern wie eine richtige Frau.“
„Hast du deswegen diese blauen Flecken? Weil er dich nicht wie ein kleines Mädchen behandelt?“
Sie hatte versucht, Lanies Blick im Spiegel zu begegnen, aber ihre Freundin wich ihr aus.
„Er war nur ein bisschen aufgebracht“, sagte sie. „Er dachte, dass ich mich für ihn schäme und ihm deswegen von meinen anständigen Freundinnen fern halte. Aber in Wahrheit habe ich kaum mehr Freundinnen wie dich. Genau genommen bist du die einzige. Ich dachte, wenn ich euch einander vorstelle, kann ich doppelt bei ihm punkten: Dann weiß er, dass ich ihn nicht verstecken will und er ist beeindruckt, weil ich wenigstens eine Freundin habe, die … naja… eine echte Zukunft hat.“
Ein Schlagloch holte Sarah in die Gegenwart zurück. Dean parkte auf einer heruntergekommenen Straße. Die wenigen Häuser hatten vergitterte Türen und Fenster.
Sarah holte ihr Handy aus der Hosentasche und versuchte zum dritten Mal eine kurze SMS an ihre Mutter zu senden, doch wie zuvor hatte sie keinen Empfang. Das Seltsame war, dass sie immer noch mitten in L.A. waren, nicht irgendwo in den Bergen.
Als Dean den Schlüssel abzog, steckte Sarah ihr Handy schnell wieder ein. Wenn sie im Haus immer noch keinen Empfang hatte, konnte sie bestimmt seinen Festnetzanschluss benutzen. Ihre Mutter ließ ihr viel Freiheit, aber wenn sie sich mehrere Stunden nicht meldete, ging das gegen ihre Vereinbarung.
Als sie zum Haus gingen, konnte Sarah bereits einen rhythmischen Bass hören. Ein unsicheres Gefühl lag ihr in der Magengrube, doch Sarah beschloss, es zu ignorieren.
Dean trommelte laut gegen die Haustür und wartete, bis von innen mehrere Riegel geöffnet wurden.
Schließlich öffnete sich die Tür gerade weit genug, um einen verzottelten dunklen Haarschopf preiszugeben, unter dem sich das Gesicht eines Typen zu verbergen schien. Der schwere Geruch von Gras waberte ihr in einer dicken Rauchwolke entgegen und Sarah musste husten. Als der Unbekannte Dean erkannte, streckte er ihm seine Faust zum Gruß hin und riss die Tür auf.
Lanie trat als erste ein und Sarah folgte ihr. Die Diele war mit einem dicken roten Samtvorhang vom Rest des Hauses abgetrennt, der Sarah an einen Zaubertrick auf einem Kindergeburtstag erinnerte. Während der Langhaarige die Tür wieder mehrfach verriegelte, zog Dean schon den Vorhang zum Wohnzimmer auf.
Sarah erschrak. Überall im abgedunkelten Raum standen schäbige Sofas, abgenutzte Sessel und fleckige Sitzsäcke. Die meisten waren besetzt von Pärchen oder Gruppen, die wild herumknutschten oder noch viel weiter gingen. Die Mädchen schienen ausnahmslos in Sarahs Alter zu sein und außerdem unter Drogen zu stehen. Ein paar hatten offenbar das Bewusstsein verloren, was die Typen – alle mindestens in Deans Alter – nicht davon abhielt, ihr Ding durchzuziehen. Das ungute Gefühl, das sie vor dem Haus befallen hatte, kehrte jetzt um ein Vielfaches stärker zurück.
Ich will nicht an diesem Ort sein!
Die abgestandene Luft roch nach Gras und etwas Süßerem, das Sarah nicht benennen konnte. Schon hielt Dean Lanie einen Joint unter die Nase. Sie zog ein paarmal daran, bevor sie ihn Sarah hinhielt. Sie schüttelte den Kopf. Sarah hatte genug gesehen. Sie wollte diesen Raum schnellstmöglich verlassen, der ihr wie die alte Kulisse eines Pornos vorkam.
Sie holte ihr Handy heraus, um ein Taxi zu rufen, aber noch immer hatte sie keinen Empfang.
„Dean“, rief sie über die Musik, „ich muss meiner Mutter sagen, dass ich später nach Hause komme, aber ich habe keinen Empfang. Gibt es hier ein Festnetz?“
„Klar. Im Schlafzimmer. Ich zeige es dir.“ Wieder lächelte er sie vertrauensvoll an. Dann wandte er sich an Lanie: „Babe, würdest du mir ein Bier aus der Küche holen?“
Lanie nickte und verschwand in dem Nebenraum, auf den Dean gerade gezeigt hatte. Dann winkte er Sarah mit sich in die entgegengesetzte Richtung. Sarah wusste nicht, warum sie wegen des Telefonats gelogen hatte, aber sie hatte den Eindruck, dass es den Männern nicht gefallen würde, wenn sie ehrlich sagte, dass sie nicht bleiben wollte.
Dean öffnete eine Tür am Ende des Gangs und trat zur Seite, um sie einzulassen. Sie sah sich um, konnte aber kein Telefon erblicken.
„Wo ist es denn?“, fragte sie und drehte sich zu Dean um. Dann hörte sie, wie er die Tür abschloss und zusätzlich eine Kette ganz ober an der Tür vorschob.
„Sorry“, sagte er schulterzuckend, „muss wohl in der Küche sein.“ Er klang nicht, als würde er den Irrtum bedauern.
Sarah überlegte, wie sie sich am besten aus dieser Situation befreien konnte. Sie war mehr als bedrohlich. Sarah war in das Schlafzimmer eines Hauses gesperrt, das so etwas wie ein Puff zu sein schien, in einem besonders zwielichtigen Teil von Little Armenia. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihn unter diesen Umständen besser nicht reizen sollte.
Am besten stelle ich mich unschuldig und naiv. Ich muss hier weg.
„Kein Problem“, sagte sie keck, „dann gehen wir doch einfach in die Küche.“
Sie hörte eine Klospülung und fuhr herum. Eine unauffällige Tür wurde geöffnet und ein großer, breiter Südländer betrat das Schlafzimmer, dessen dreckig weißes T-Shirt ein Stück haarigen Bauches freigab. Sein Schädel war kahl rasiert und er hatte einen langen Bart. Hinter ihm lag ein Mädchen auf dem Linoleumboden, die kaum vierzehn Jahre alt war. Sie trug nur eine Unterhose und war scheinbar bewusstlos.
Sarahs Kehle war wie zugeschnürt. Obwohl sie kaum mehr atmen konnte, versuchte sie, sich die Panik nicht anmerken zu lassen.
„Sarah, das ist Chiqy“, sagte Dean.
„Hi Chiqy“, sagte Sarah und gab sich alle Mühe, ruhig zu klingen. „Wir wollten gerade in die Küche gehen. Ich müsste mal telefonieren. Kannst du mir bitte aufmachen, Dean?“
Ihr Plan war jetzt, nur noch aus dem Haus zu kommen. In der Küche würde sie ohnehin kein Telefon finden. Nur noch raus und die Polizei verständigen.
„Erstmal möchte ich dich genauer ansehen“, sagte Chiqy mit rauer Stimme und ohne auf das einzugehen, was Sarah gerade gesagt hatte. Sarah sah den massigen Mann an, der sie von oben bis unten begutachtete. Dann leckte er sich über die Lippen. Sarah fühlte sich, als müsste sie sich übergeben.
„Und? Was sagst du?“, fragte Dean ungeduldig.
„Leichtes Sommerkleid, zwei unschuldige Zöpfchen und sie wird uns ein solides Einkommen bringen.“
„Ich muss jetzt gehen“, sagte Sarah und eilte zur Tür. Zu ihrer Überraschung trat Dean zur Seite.
„Hast du den Störsender benutzt?“, hörte sie Chiqy fragen.
„Ja. Ich habe sie beobachtet. Sie hat immer wieder versucht, eine Nachricht zu verschicken, aber ich bin sicher, dass nichts rausging. Oder, Sarah?“
Sarah fummelte gerade an der Türkette herum. Gerade als sie sie öffnete, fiel ein riesiger Schatten auf sie. Sie wollte sich umdrehen, aber ein dumpfer Knall war alles, was sie noch mitbekam.
Dann wurde es schwarz um sie.
Detective Keri Locke hatte Herzklopfen. Obwohl sie sich inmitten eines großen Polizeireviers befand, sah sie sich nervös um. Unruhig starrte sie auf die E-Mail. Sie konnte kaum glauben, dass sie echt war.
Werde dich treffen, wenn du dich an die Regeln hältst. Ich melde mich.
Die Worte waren einfach, aber ihre Bedeutung war für Keri kolossal. Sechs lange Wochen hatte sie gewartet und gehofft, dass der Mann, der vermutlich vor fünf Jahren ihre kleine Tochter entführt hat, mit ihr in Kontakt treten würde. Jetzt war es endlich soweit.
Keri legte ihr Handy auf den Tisch und schloss die Augen. Sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Sie hatte schon einmal ein Treffen mit diesem Mann, der sich selbst der Sammler nennt, vereinbart. Aber er war bei diesem ersten Versuch nicht erschienen.
Als sie ihn nach dem Grund gefragt hatte, hatte er nur angedeutet, dass sie sich nicht an seine Regeln gehalten habe und dass er sich zu gegebener Zeit wieder an sie wenden würde. Es kostete sie unglaubliche Disziplin und Geduld, ihn nicht mehr zu kontaktieren. Denn obwohl sie an kaum etwas anderes denken konnte, fürchtete sie, ihn vollends zu vertreiben, wenn sie zu energisch herüberkam. Dann hätte sie keine Chance mehr, ihn und damit Evie zu finden.
Nach diesen qualvollen Wochen des Abwartens trat er also endlich wieder mit ihr in Kontakt. Natürlich hatte er keine Ahnung, dass sie Evies Mutter war. Er wusste nicht einmal, dass sie eine Frau war. Alles, was Keri ihn hatte wissen lassen, war, dass sie ihn für eine Entführung anheuern wollte.
Und diesmal würde sie besser vorbereitet sein, als beim letzten Mal. Sie hatte nur eine Stunde Zeit gehabt, um einen Lockvogel zu finden, der an dem von ihm gewählten Treffpunkt bereitstand, damit sie die Situation aus sicherer Entfernung beobachten konnte. Doch er hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte, und hatte das Treffen platzen lassen. Das sollte nicht noch einmal passieren.
Ganz ruhig. Du hast so lange abgewartet, jetzt lass dich bloß nicht hinreißen, etwas Unüberlegtes zu tun. Du musst sowieso weiter abwarten, bis er etwas vorschlägt. Eine kurze Rückmeldung muss reichen.
Also tippte Keri nur ein einziges Wort:
verstanden
Dann steckte sie ihr Handy in die Tasche und stand auf. Sie war viel zu aufgeregt um jetzt an ihrem Tisch zu sitzen. Da sie jetzt nichts unternehmen konnte, versuchte sie, den Sammler aus ihrem Kopf zu kriegen.
Sie ging in die Gemeinschaftsküche um einen Happen zu essen. Es war schon nach 4 und ihr Magen knurrte. Keri wusste nicht mehr, ob sie überhaupt zu Mittag gegessen hatte.
Als sie in die Küche kam, sah sie ihren Partner Ray Sands, der gerade in den Kühlschrank blickte. Jedermann wusste, dass Ray alles aufaß, was nicht mit einem Namen versehen war. Keris Hühnchen-Salat stand glücklicherweise noch immer in einer der hinteren Ecken, wo sie ihn versteckt hatte. Ray war ein knapp zwei Meter großer, gute hundert Kilo schwerer Afroamerikaner. Sein Kopf war kahl rasiert, sein Körper muskulös und durchtrainiert. Wahrscheinlich hatte er Keris Essen noch nicht entdeckt, weil sie eines der unteren Regale dafür ausgesucht hatte.
Keri blieb im Türrahmen stehen und beobachtete seinen Hintern, während er tiefer in den Kühlschrank krabbelte. Ray war nicht nur ihr Partner, sondern auch ihr bester Freund. In letzter Zeit hatten sich ihre Gefühle füreinander verändert, sodass vielleicht mehr als nur Freundschaft zwischen ihnen war. Vor zwei Monaten war Ray angeschossen worden, als sie eine junge Frau aus den Fängen eines skrupellosen Entführers gerettet hatten. Seitdem stand diese Anziehungskraft halb ausgesprochen zwischen ihnen.
Keiner von beiden wollte den nächsten Schritt wagen. Wenn niemand bei ihnen war, flirteten sie miteinander und hin und wieder trafen sie sich bei ihr oder ihm, um zusammen einen Film anzuschauen.
Weiter waren sie jedoch bisher nie gegangen. Keri befürchtete, dass sowohl ihre Freundschaft als auch ihre Zusammenarbeit auf dem Spiel standen, falls es zwischen ihnen nicht funktionierte. Sie nahm an, dass Ray die gleichen Bedenken hatte, diese Sorge war schließlich auch berechtigt.
Sie beide waren von ihren ehemaligen Partnern geschieden und beide hatten es in ihrer Ehe mit der Treue nicht besonders genau genommen. Ray, ein ehemaliger Berufsboxer, hatte schon immer einen guten Schlag bei den Damen gehabt. Für Keri hingegen hatte die Entführung ihrer Tochter einfach alles verändert. Sie war ein einziges Nervenbündel und verlor immer wieder die Kontrolle über sich. Als Vorzeigepartner waren sie wohl aus dem Rennen.
Als Ray bemerkte, dass man ihn beobachtete, drehte er sich um. In der Hand hielt er ein angebissenes Sandwich. Da außer ihnen niemand im Raum war, warf er ihr einen verschmitzten Blick zu.
„Na, gefällt dir der Anblick?“
„Bilde dir bloß nichts ein, Hulk!“ Sie ließen sich immer neue Spitznamen füreinander einfallen, die auf den dramatischen Größenunterschied zwischen ihnen anspielte.
„Ganz wie Sie wünschen, Miss Bianca“, entgegnete er grinsend.
Plötzlich wurde er ernst. Er kannte sie sehr gut und sah ihr an, dass sie etwas beschäftigte.
„Was ist los?“, fragte er.
„Nichts“, sagte sie leise und ärgerte sich, dass der Sammler sie noch immer nicht losließ. Sie schob sich an ihm vorbei und holte ihren Hühnchen-Salat aus dem Kühlschrank. Im Gegensatz zu ihm erreichte sie das unterste Regal ohne jede Mühe. Auch wenn sie nicht so klein war, wie die bekannte Filmmaus Bianca, war sie verglichen mit Ray tatsächlich eine Art Liliputaner.
Sie spürte, dass er sie beobachtete, aber sie war nicht in der Stimmung über das, was sie gerade beschäftigte, zu reden. Wenn sie ihm von der E-Mail des Sammlers erzählte, würde er jedes einzelne Detail besprechen wollen. Sie versuchte aber, nicht daran zu denken, um nicht vollends den Verstand zu verlieren.
Aber es gab noch einen anderen Grund. Keri wurde von einem dubiosen Anwalt namens Jackson Cave überwacht, der aus irgendeinem unverständlichen Grund Pädophile und Kindesentführer vor Gericht vertrat. Um an Informationen über den Sammler zu kommen, war sie in sein Büro eingebrochen und hatte eine geheime Datei kopiert.
Als sie sich zum letzten Mal begegnet waren, hatte Cave angedeutet, dass er Bescheid wusste und sie nicht mehr aus den Augen lassen würde. Sie hatte sofort begriffen, worauf er anspielen wollte. Seitdem hatte Keri streng darauf geachtet, nur in sicheren Umgebungen über den Sammler zu reden.
Wenn Cave herausfand, dass sie hinter dem Sammler her war, würde er ihn vermutlich warnen. Vielleicht würde Keri ihn dann niemals erwischen – und damit die letzte Chance verspielen, ihre Tochter zu finden. Auf keinen Fall würde sie hier darüber sprechen.
Ray wusste jedoch nichts davon, deswegen bohrte er nach.
„Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt“, sagte er.
Keri überlegte sich gerade, wie sie ihn möglichst elegant abwimmeln konnte, als ihr Chef hereinkam. Lieutenant Cole Hillman, ihr direkter Vorgesetzter, sah weit älter aus, als er eigentlich war. Er hatte tiefe Falten auf der Stirn, graues Haar und einen beachtlichen Bierbauch, den er nicht einmal unter den übergroßen Hemden, die so etwas wie sein Markenzeichen waren, verbergen konnte. Dazu trug er ein Jackett, das mindestens eine Nummer zu klein war und eine Krawatte, die lächerlich locker um seinen Hals hing.
„Gut, dass ich Sie beide zusammen antreffe“, begann er. „Mitkommen, es gibt einen neuen Fall.“
Sie folgten ihm in sein Büro und nahmen auf der Couch Platz, die an einer Wand stand. Da Keri bereits ahnte, dass sie keine Zeit mehr zum Essen haben würde, schlang sie ihren Salat herunter, während Hillman redete. Ray hatte sein gestohlenes Sandwich bereits vernichtet.
„Das vermeintliche Opfer heißt Sarah Caldwell, weiblich, sechzehn Jahre alt, aus Westchester. Seit ein paar Stunden wird sie vermisst. Ihre Eltern haben mehrfach erfolglos versucht, sie zu erreichen.“
„Sie rufen die Polizei, weil ihr Teenager nicht ans Handy geht?“, fragte Ray skeptisch. „Klingt wie eine ganz normale amerikanische Familie.“
Keri sagte nichts, obwohl sie im Allgemeinen dazu neigte, anderer Meinung als Ray zu sein. Sie hatten schon oft über diesen Punkt diskutiert. Keri fand, dass er zu lange damit zögerte, solche Fälle anzunehmen. Er war hingegen der Meinung, dass Keri aufgrund ihrer persönlichen Hintergründe dazu neigte, voreilige Schlüsse zu ziehen. Es war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen und darauf hatte sie jetzt keine Lust. Es war auch gar nicht nötig, denn heute schien Hillman ihre Rolle zu übernehmen.
„Das dachte ich zuerst auch“, sagte Hillman, „aber sie bestehen darauf, dass ihre Tochter sich gemeldet hätte, wenn sie sich dermaßen verspätete. Außerdem wollten sie sie mithilfe einer Handy-App orten, aber das Handy ist ausgeschalten.“
„Das überzeugt mich nicht“, beharrte Ray.
„Vielleicht haben Sie recht und es steckt nichts dahinter. Aber diese Leute waren wirklich beharrlich, fast schon panisch. Und sie haben sofort darauf hingewiesen, dass die Wartefrist von 24 Stunden bei einer Vermisstenmeldung nicht auf Minderjährige zutrifft. Da Sie beide momentan keine dringenden Fälle haben, habe ich ihnen versprochen, dass ich jemanden schicke um ihre Aussage aufzunehmen. Vielleicht ist das Mädchen bis dahin ja wieder aufgetaucht. Es kann jedenfalls nicht schaden, bei ihnen vorbeizuschauen und man kann uns hinterher nichts vorwerfen.“
„Klingt einleuchtend“, sagte Keri und kaute gerade auf ihrem letzten Bissen herum.
„Dir leuchtet es natürlich ein“, murmelte Ray, während er die Adresse von Hillman entgegennahm. „dann hast du wenigstens etwas zu tun und ich muss mitspielen.“
„Du spielst doch gerne mit“, sagte Keri und ging vor ihm aus dem Büro.
„Bitte tun Sie wenigstens so, als wären Sie professionell, wenn Sie zu den Caldwells gehen“, rief Hillman hinter ihnen her. „Sie sollen das Gefühl haben, dass man sie ernst nimmt.“
Keri entsorgte ihre Salatverpackung in einem Mülleimer und machte dich direkt auf den Weg zum Parkplatz. Ray trabte hinter ihr her. Als sie das Gebäude verließen, lehnte er sich zu ihr.
„Das bedeutet nicht, dass ich dich vom Haken lasse – ich weiß genau, dass du mir etwas verheimlichst. Du kannst es mir jetzt sagen, oder später. Aber früher oder später wirst du mit mir reden müssen.“
Keri bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen. Sie hatte wirklich vor, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen, schließlich war er ihr Partner, bester Freund und vielleicht zukünftiger Lebenspartner. Aber wenn es darum ging, den Entführer ihrer Tochter zu fassen, musste sie auf Nummer sicher gehen.
Als sie beim Haus der Caldwells ankamen, hatte Keri plötzlich ein schlechtes Gefühl im Bauch.
Immer wenn sie die Eltern eines möglichen Entführungsopfers traf, wurde sie an den Moment erinnert, in dem ihre eigene kleine Tochter von einem böswilligen Fremden mit einer tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe über die Wiese davongetragen wurde.
Sie spürte die Panik in ihrer Kehle, wie sie dem Mann auf dem Parkplatz hinterherrannte und sah wieder, wie er Evie in seinen weißen Van warf wie eine alte Puppe. Sie spürte den Schrecken, als sie mit ansehen musste, wie dieser Mann den Teenager erstach, der ihn aufhalten wollte.
Sie spürte förmlich, wie die Kieselsteinchen ihre nackten Füße aufschnitten, als sie verzweifelt versuchte, den Van einzuholen, der bereits aus dem Parkplatz auf die schmale Straße bog. Sie durchlebte noch einmal die Hilflosigkeit, als sie bemerkte, dass sie es nicht schaffen würde, dass der Van keine Nummernschilder hatte, dass sie ihn der Polizei kaum beschreiben konnte.
Ray wusste, wie schwer diese Momente für sie waren. Er saß stumm auf dem Fahrersitz und ließ ihr einen Augenblick Zeit, um mit ihren Emotionen klar zu kommen und sich auf das bevorstehende Gespräch vorzubereiten.
„Alles okay?“, fragte er, als ihr Körper sich schließlich entspannte.
„Fast“, sagte sie und klappte den Spiegel in der Sonnenblende herunter, um sicherzugehen, dass man ihr nichts ansehen konnte.
Ihr Spiegelbild sah um einiges gesunder aus, als noch vor ein paar Monaten. Von den schwarzen Augenringen und den roten Adern in ihren Augen war nichts mehr zu sehen. Ihre Haut war nicht mehr so fleckig und ihr blonder Pferdeschwanz war nicht mehr so fettig und zerzaust.
Keri ging auf ihren sechsunddreißigsten Geburtstag zu, aber sie sah so gut aus, wie schon lange nicht mehr – seit Evie ihr vor fünf Jahren genommen wurde. Vielleicht lag es daran, dass der Sammler wieder Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. Vielleicht lag es aber auch an den Gefühlen, die sie für Ray hatte. Wahrscheinlich hatte auch ihr Umzug dazu beigetragen, dass es ihr wieder besser ging. Endlich hatte sie ihr heruntergekommenes Hausboot gegen festen Boden unter den Füßen eingetauscht. Es könnte aber auch daran liegen, dass sich ihr Whiskeykonsum in den vergangenen Wochen stark reduziert hatte.
Woran es auch liegen mochte, sie hatte bemerkt, wie die Männer ihr wieder hinterhersahen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte sie das Gefühl, das Chaos in ihrem Leben wieder unter Kontrolle zu haben.
Sie klappte die Sonnenblende wieder nach oben und wandte sich an Ray.
„Bin bereit“, sagte sie.
Als sie zur Haustür gingen, sah Keri sich die Nachbarschaft an. Sie waren am nördlichsten Ende von Westchester, unweit vom 405 Freeway und nur wenige Meilen südlich vom Howard Hughes Center, einem großen Einzelhandels- und Bürokomplex, der die Skyline dieses Stadtteils dominierte.
Westchester hatte den Ruf einer ruhigen Arbeiterschicht. Die meisten Häuser waren bescheidene, einstöckige Einfamilienhäuser. Doch selbst diese Beschaulichen Unterkünfte waren in den vergangenen fünf Jahren so rasant im Preis gestiegen, dass sich die Gemeinschaft jetzt aus einer Mischung von Alteingesessenen, die ihr ganzes Leben hier verbracht hatten, und jungen Arbeiterfamilien, die neu hinzugezogen waren, zusammensetzte.
Noch bevor Keri und Ray die Haustür erreichten, wurde diese bereits geöffnet und ein sichtbar beunruhigtes Pärchen erschien vor ihnen. Keri war überrascht über ihr Alter. Die Frau war eine zierliche Lateinamerikanerin mit einem strengen Kurzhaarschnitt, die bestimmt Mitte fünfzig war. Sie trug einen ausgetragenen Hosenanzug und gepflegte, aber alte schwarze Schuhe.
Der Mann war etwa einen Kopf größer als sie. Er war blass und sein blond-graues Haar wurde bereits dünner. Eine Lesebrille hing an einem Band um seinen Hals. Er war mindestens so alt wie seine Partnerin, wahrscheinlich ging er sogar schon auf die sechzig zu. Er trug eine Jogginghose und ein einfaches Hemd. Seine braunen Halbschuhe waren abgewetzt und seine Schnürsenkel nur halbherzig gebunden.
„Sind Sie die Detectives?“ fragte die Frau und streckte ihnen die Hand hin, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Jawohl, Ma’am“, antwortete Keri. „Ich bin Detective Keri Locke von der Einheit für Vermisste Personen des LAPD und das ist mein Partner, Detective Raymond Sands.“
„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Ray.
Die Frau winkte sie herein.
„Vielen Dank, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich bin Mariela Caldwell. Das hier ist mein Mann, Edward.“
Edward nickte nur zustimmend. Keri spürte ihre Unsicherheit und beschloss, direkt zum Punkt zu kommen.
„Warum setzten wir uns nicht, damit Sie uns erklären können, warum Sie sich solche Sorgen machen.“
„Natürlich“, sagte Mariela und führte die beiden Polizisten durch einen schmalen Gang, in dem unzählige Fotos von einem dunkelhaarigen Mädchen hingen, das herzlich in die Kamera lächelte. Es mussten mindestens zwanzig Fotos sein, die sie von frühestem Kindesalter bis heute zeigten. Sie kamen zu einer kleinen, gemütlichen Sitzecke. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, oder einen Snack vielleicht?“
„Vielen Dank, Ma’am. Das ist nicht nötig“, antwortete Ray, während er versuchte sich auf die winzige Sitzbank zu zwängen. „Lassen Sie uns direkt beginnen. Wir brauchen möglichst viele Informationen. Soweit wir wissen, hat Sarah sich erst seit ein paar Stunden nicht mehr gemeldet. Warum sind Sie so besorgt?“
„Es sind fast fünf Stunden“, brummte Edward, der sich jetzt zum ersten Mal zu Wort meldete. Er setzte sich Ray gegenüber. „Sie hat ihre Mutter heute Mittag angerufen und gesagt, dass sie eine Freundin treffen will, die sie lange nicht mehr gesehen hat. Jetzt ist es fast fünf Uhr. Sie weiß genau, dass sie sich alle paar Stunden melden soll, wenn sie länger weg bleibt. Normalerweise würde sie wenigstens eine SMS schicken, damit wir wissen, wo sie ist.“
„Hält sie sich denn immer daran?“, fragte Ray so neutral, dass nur Keri die unterschwellige Skepsis heraushören konnte. Beide Caldwells schwiegen einen Augenblick. Keri befürchtete schon, dass diese Frage sie beleidigt hatte, als Mariela schließlich antwortete.
„Detective Sands, ich verstehe, dass das für Sie vielleicht schwer zu glauben ist, aber ja. Sie hält sich immer daran. Ed und ich waren nicht mehr ganz jung, als wir Sarah bekommen haben. Nach vielen vergeblichen Versuchen wurden wir schließlich mit diesem Geschenk des Himmels belohnt. Sie ist unser einziges Kind und ich muss zugeben, dass wir beide besonders – wie sagt man – fürsorglich sind.“
„Typische Helikopter-Eltern“, fügte Ed hinzu und lächelte liebevoll.
Auch Keri lächelte. Sie konnte die beiden gut verstehen.
Dann redete Mariela weiter: „Jedenfalls weiß Sarah, dass sie unser Ein und Alles ist und so unglaublich es auch klingen mag, sie ist es gerne. Sie backt mit mir an den Wochenenden, sie besteht jedes Jahr darauf, Ed zum Familientag auf der Arbeit zu begleiten, sie ist vor ein paar Monaten sogar freiwillig mit mir auf ein Konzert von Motley Crue gegangen. Sie ist ebenso vernarrt in uns, wie wir in sie. Gerade weil sie weiß, wie wichtig sie uns ist, hält sie uns immer auf dem Laufenden. Wir haben eine Abmachung, dass sie uns immer eine SMS schreibt, wo sie ist. Dass sie sich alle zwei Stunden bei uns meldet, haben wir nie von ihr verlangt. Das war ihre eigene Regel.“
Keri beobachtete die beiden genau. Marielas Hand lag in der von Ed. Er streichelte sanft ihren Handrücken, während sie sprach. Erst als sie alles gesagt hatte, ergriff er das Wort.
„Selbst wenn sie es heute wirklich zum ersten Mal vergessen hätte sich zu melden, wäre sie niemals so lange ohne Empfang. Wir sind mitten in einer Großstadt. Wir haben sie hundertmal angerufen und Nachrichten geschrieben. In meiner letzten habe ich ihr mitgeteilt, dass ich mich an die Polizei wende. Hätte sie auch nur eine unserer Nachrichten bekommen, dann hätte sie sich gemeldet. Außerdem habe ich Ihrem Lieutenant bereits gesagt, dass ihr GPS deaktiviert ist. Das ist noch nie vorgekommen.“
Es war dieses beunruhigende Detail, das wie eine Drohung alles andere überschattete. Keri wollte schnell zur nächsten Frage kommen, bevor sich Panik breitmachte.
„Mr. und Mrs. Caldwell, darf ich fragen, warum Sarah heute nicht in der Schule war? Es ist Freitag.“
Die Eltern sahen sie erstaunt an. Selbst Ray machte ein überraschtes Gesicht.
„Gestern war Thanksgiving. Heute ist schulfrei“, klärte Mariela sie auf.
Keris Brust zog sich zusammen. Nur Eltern waren sich solcher Details bewusst. Sie zählte nicht mehr dazu.
Evie wäre jetzt dreizehn Jahre alt. Unter normalen Umständen hätte sie sich für heute etwas überlegen müssen, um sich nicht von der Arbeit frei nehmen zu müssen. Aber normale Umstände gab es in ihrem Leben schon lange nicht mehr.
Die Rituale um Schulferien und Familienurlaub waren in den vergangenen Jahren so weit verblasst, dass sie sich kaum mehr daran erinnerte.
Jetzt wollte sie etwas zu ihrer Verteidigung sagen, aber alles, was sie herausbekam, war ein unkontrolliertes Husten. Als ihr die erste Träne in die Augen stieg, senkte sie den Kopf, damit die anderen es nicht mitbekamen. Ray schaltete sich ein.
„Sarah hatte also den ganzen Tag frei, aber Sie nicht?“, fragte er.
„Nein“, antwortete Ed. „Ich besitze einen kleinen Malerladen im Westchester-Dreieck. Ich kann mir nicht erlauben, den Laden öfter als nötig zu schließen – Thanksgiving, Weihnachten, Neujahr – das sind so ziemlich die einzigen freien Tage, die ich mir nehmen kann.“
„Ich arbeite als Anwaltsgehilfin bei einer großen Kanzlei in El Segundo. Ich wollte mir heute frei nehmen, aber wir müssen uns auf einen wichtigen Fall vorbereiten, bei dem alle Mitwirkenden gebraucht werden.“
Keri räusperte sich. Sie hatte sich soweit zusammengerissen, dass sie sich an der Unterhaltung wieder beteiligen konnte.
„Wer ist diese Freundin, mit der Sarah sich treffen wollte?“, fragte sie.
„Sie heißt Lanie Joseph“, antwortete Mariela. „Sie war Sarahs beste Freundin, als sie noch gemeinsam zur Grundschule gingen. Doch dann sind wir umgezogen und seitdem haben sie kaum mehr Kontakt. Ehrlich gesagt wäre mir lieber gewesen, wenn es dabei geblieben wäre.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Keri.
Mariela zögerte einen Augenblick und Ed antwortete für sie.
„Wir haben in Culver City Süd gewohnt. Es ist zwar nicht weit von hier, aber die Gegend ist doch völlig anders. Die Menschen dort haben es nicht leicht und das merkt man bereits den Kindern an. Lanie hat eine Art an sich, die uns nicht immer gefallen hat. Schon als sie jung war, ging es uns so, aber jetzt ist es noch schlimmer geworden. Ich möchte niemanden verurteilen, aber wir haben den Eindruck, dass sie einen gefährlichen Weg eingeschlagen hat.“
„Wir haben lange gespart“, mischte sich Mariela wieder ein. Sie wollte offenbar nicht länger negativ über andere Menschen reden. „“