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Widmung
Copyright

Die Autorin

Amelie Fried wurde 1958 in Ulm geboren. Nach ihrem Studium moderierte sie zahlreiche Fernsehsendungen, darunter Live aus dem Alabama, Live aus der alten Oper, Stern-TV und Kinderella. Seit 1998 ist sie Gastgeberin der Talkshow 3 nach 9. Sie wurde mit zahlreichen Fernsehpreisen ausgezeichnet. Für ihr erstes Kinderbuch Hat Opa einen Anzug an? erhielt sie 1998 den Deutschen Jugendliteraturpreis, ihr zweites Kinderbuch Der unsichtbare Vater kam auf die Auswahlliste. Anfang 2008 erschien ihr Jugend-Sachbuch Schuhhaus Pallas. Ihre sieben Romane wurden Bestseller und die meisten von ihnen bereits verfilmt. 1996 erschien Traumfrau mit Nebenwirkungen, 1999 Am Anfang war der Seitensprung, 2000 Der Mann von nebenan, 2001 Glücksspieler, 2003 Liebes Leid und Lust, 2005 Rosannas Tochter und 2007 Die Findelfrau. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

1

Holly blickte starr in das rote Licht über ihr. Eine warme Hand legte sich auf ihre kalten Hände, die sie auf dem Bauch gefaltet hatte wie zum Gebet. Lieber Gott, dachte sie, mach, dass alles gut geht. Dass die Schwester meine Unterlagen nicht vertauscht hat. Dass der Computer keine Panne hat. Dass der Doc gestern Nacht nicht zu wenig geschlafen oder zu viel gebechert hat.

Sie überlegte kurz, ob sie vom Tisch springen und weglaufen sollte, dann fielen ihr die ganzen Untersuchungen der letzten Wochen ein. Wäre alles umsonst gewesen, und sie würde es trotzdem bezahlen müssen.

Warum, zum Teufel, hatte sie sich überhaupt darauf eingelassen? War es wirklich so schlimm, kurzsichtig zu sein? Wenn sie die Brille abnahm, verschwamm die Welt zu farbigen Flecken. Ist doch eigentlich ganz schön, dachte sie plötzlich. Schöner als vieles, was sie sah, wenn sie die Brille wieder aufsetzte. Als Kind war sie gehänselt worden, klar. Blindschleiche, Brillenschlange, Streberin. Als junges Mädchen war sie mehr oder weniger blind durchs Leben getappt, weil sie lieber vom Auto überfahren worden wäre, als hässlich auszusehen. Obwohl sie mit ihren ausdrucksvollen, braunen Augen, dem schimmernden Teint und ihrem dunklen Haar als ausgesprochen hübsch galt, war sie überzeugt, dass eine Brille alles kaputt gemacht hätte.

Dann war sie immer wieder neben Typen aufgewacht, die leider nur aus der Ferne attraktiv gewesen waren. Eine Zeit lang hatte sie Kontaktlinsen getragen. Nachdem sie die dritte versehentlich im Waschbecken weggespült hatte, weigerten sich ihre Eltern, neue zu bezahlen. Als Holly endlich selbst Geld verdiente, bekam sie eine Allergie gegen Kontaktlinsen. Jetzt hatte sie genug. Sie wollte endlich wieder klar sehen.

»So, nun wird’s ein bisschen unangenehm«, hörte sie die Stimme des Arztes, »ist aber gleich vorbei.«

Bleib cool, befahl sie sich. Du hast zwei Geburten überlebt, da wirst du doch wohl eine lächerliche Laser-OP überstehen.

Etwas senkte sich auf ihr Gesicht und drückte auf ihren rechten Augapfel. Sie spürte einen weiteren Schwall der Betäubungstropfen, einen leichten, kaum wahrnehmbaren Schmerz, dann fuhr die Apparatur mit einem Zischen wieder hoch.

»Vorbei?«, fragte sie mit kleiner Stimme.

»Noch nicht ganz«, erwiderte der Arzt.

Die Maschine begann zu rattern, Funken sprühten vor ihrem Auge, ein leichter Geruch von verbrannter Hornhaut verbreitete sich im Raum.

Sie sah eine Art riesigen Scheibenwischer, der über ihre Augenoberfläche fuhr, als wäre sie die Windschutzscheibe eines Lkw, dann hörte sie seine Stimme.

»So. Und weil’s so schön war, das Ganze jetzt auf der anderen Seite.«

»Okay«, piepste sie.

»Sie sind ja eine ganz Gelassene«, sagte der Doc anerkennend und tätschelte ihre Schulter.

»Das täuscht«, gab Holly zurück. »Ich mache mir gleich in die Hose.«

»Schwester, eine Windel, bitte!«, befahl er.

Holly musste trotz ihrer Angst grinsen.

 

Als alles vorbei war, stand sie mit zittrigen Knien vom OP-Tisch auf und wurde in den Vorraum geführt. Noch einmal erhielt sie Tropfen, dann klebte die Schwester zwei Plastikschalen über ihre Augen.

»So, jetzt sehen Sie aus wie ein Waschbär. Die Augen schön zulassen bis morgen früh!«

Sie drückte Holly einen Plastikbeutel in die Hand. »Schmerztabletten, antibiotische Tropfen, Notfall-Telefonnummer. Wenn Sie Probleme haben, bitte melden.«

»Danke«, sagte Holly.

Die Schwester brachte sie zur Garderobe, zog ihr den sterilen Kittel aus, streifte ihr die Plastikhüllen von den Füßen. Half ihr in Schuhe und Mantel, brachte sie zur Rezeption.

»Hallo«, sagte Chris. »Alles gut gegangen?«

»Glaub schon. Genau wissen wir’s morgen.«

Sie hakte sich bei ihm ein. »Du bist jetzt mein Blindenhund.«

»Wau«, sagte Chris.

Holly hielt die Augen fest geschlossen. Wenn sie es durchhielte, nicht durch die Plastikschalen zu blinzeln, würde alles gut werden, andernfalls würde vielleicht etwas Schlimmes passieren. Aber schon am Aufzug erschrak sie über das Geräusch der sich unerwartet öffnenden Tür und zwinkerte. Es passierte gar nichts.

Der Weg aus dem Gebäude, über die Straße, in den zweiten Stock des Parkhauses erschien ihr endlos. Die Geräusche waren unnatürlich laut und scharf; es kam ihr vor, als hätte sie nach Jahren zwei Wattebäusche aus ihren Ohren entfernt. Sie klammerte sich an Chris’ Arm fest.

»Du passt auf, ja?«

»Klar passe ich auf.«

Woher wusste sie, dass sie ihm vertrauen konnte? Er könnte sie an einen Aufzugschacht oder zu einer steilen Treppe führen, ihr einen Stoß versetzen und – Ende einer Ehe. Vielleicht träumte er schon lange davon, sie loszuwerden, und hatte nur auf diesen Tag gewartet.

Sie drehte den Kopf in seine Richtung und blinzelte.

»Augen zu«, befahl er.

»Liebst du mich eigentlich?«

»Was?«

»Ich meine«, sagte Holly schnell, »würdest du mich auch lieben, wenn ich blind wäre? Oder eine andere Behinderung hätte?«

»Was bliebe mir anderes übrig?«

»Na, hör mal, das klingt ja, als wäre Liebe eine Art Krankheit! Ein schreckliches Schicksal, gegen das man keine Chance hat.«

»Genau.«

»So sehe ich das überhaupt nicht! Liebe ist eine Entscheidung, ein Akt des Willens. Du liebst mich, weil du es willst, nicht, weil irgendeine Macht dich dazu zwingt …«

»… hör lieber auf zu diskutieren, du läufst gleich gegen einen Betonpfeiler.«

Holly blieb erschrocken stehen. »Ich denke, du passt auf!«

»Wie soll ich aufpassen, wenn du dauernd quasselst.«

»Schon gut«, sagte sie.

Er führte sie weiter. Schweigend ging sie neben ihm her, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, immer darauf gefasst, an ein Hindernis zu stoßen. Er blieb stehen.

»Wir sind da.«

Holly blieb stehen, bis sie das Öffnen der Beifahrertür hörte, dann stieg sie vorsichtig tastend ein.

Sie holte tief Luft. »Schrecklich.«

»Was?«

»So hilflos zu sein.«

»Tut dir mal ganz gut, nicht alles unter Kontrolle zu haben.« Chris startete den Motor und fuhr die engen Kurven des Parkhauses hinab. Wieder blinzelte Holly. Ständig hatte sie das Gefühl, gleich gegen eine Wand zu fahren. Erst auf der Straße wurde es besser. Sie lehnte ihren Kopf zurück und entspannte sich.

 

Sie vertraute ihm schon seit achtzehn Jahren. Hatte ihm von Anfang an vertraut, einfach so. Instinktiv. Hatte nie darüber nachgedacht, ob er ihr Vertrauen verdiente. Und er hatte sie nie enttäuscht. Warum war ihr dann jetzt der Gedanke gekommen, in ihm könnten Dinge vorgehen, von denen sie noch nicht einmal etwas ahnte? Nur, weil sie zwei Plastikdeckel auf den Augen hatte? Verlor sie das Vertrauen in den Menschen, der ihr am nächsten war? Jeder Psychologe wäre begeistert. Mangelndes Urvertrauen.

 

Angst, aus der Welt zu fallen. Mindestens zwei Jahre Therapie.

Sie machte eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie ihre Gedanken wegwischen.

Sie dachte an ihre erste Begegnung zurück bei einer Geburtstagsfeier ihrer Freundin Diana, die damals in einer WG wohnte. Chris war gerade neu dort eingezogen, und Diana schwärmte von ihm.

»Er ist was Besonderes, weißt du? Nicht so ein Klugscheißer wie die Typen von der Uni.«

»Wieso, was macht er?«

»Er ist Kunsttischler. Baut wunderschöne Möbel und kann alles reparieren, was in einem Haushalt kaputtgeht.«

»Wie praktisch«, sagte Holly lächelnd.

»Außerdem ist er klug. Er liest viel und macht sich ’ne Menge Gedanken über Politik und so.«

»Du bist verknallt«, stellte Holly fest.

»Eigentlich nicht«, sagte Diana, »ich steh nicht auf blond.«

Am Abend der Party passierte Holly ein Missgeschick: Nach einem Besuch auf der Gästetoilette ließ sich die Tür nicht mehr öffnen, der Schlüssel klemmte. Bei dem gewaltsamen Versuch, ihn zu drehen, brach er ab. Holly geriet in Panik. Sie wollte aus dem Fenster steigen und lehnte sich hinaus, um zu sehen, ob es eine Feuerleiter oder einen Mauervorsprung gäbe. Dabei blieb sie im Fensterrahmen stecken. Nachdem sie sich mühsam befreit hatte (wobei sie sich die Schulter quetschte), versuchte sie, mit einer Nagelfeile das Türschloss zu öffnen, aber die Feile brach ab. Verzweifelt schlug sie schließlich gegen die Tür. Die Gäste sammelten sich vor dem Gästeklo und johlten ihr aufmunternd zu. Der Einzige, der keine blöden Witze machte, sondern die Tür aufstemmte, war Chris. Mit vor Scham gerötetem Gesicht dankte ihm Holly und wollte sich schnell verdrücken, aber er hielt sie fest. »Dich wollte ich schon den ganzen Abend kennenlernen!«

Er zog sie in die Küche und füllte zwei Gläser mit Rotwein. Holly trank ihr Glas aus, ohne abzusetzen.

»Was für eine peinliche Nummer«, stöhnte sie, »schön, dass ihr alle euren Spaß hattet!«

»Wenigstens hast du nicht versucht, aus dem Fenster zu klettern.«

Holly sagte nichts.

Chris musterte sie. »Oder hast du etwa …?«

»Drunter ist ein Balkon«, sagte sie trotzig.

Chris lachte. »Verstehe. Selbst ist die Frau. Du bist eine von denen, die sich nicht helfen lassen wollen.«

»Bisher bin ich ganz gut durchgekommen«, sagte Holly.

»Glückwunsch. Wie heißt du eigentlich?«

»Holly.«

Chris stutzte. »Na, dann kann ich mich ja glücklich schätzen, dass du überhaupt mit mir redest.«

»Wieso?«

»Diana hat mir erklärt, dass du auf Intellektuelle abfährst .«

»Es gibt Fälle, in denen ich Tischler vorziehe.«

»Wenn du im Gästeklo festsitzt.«

Holly lächelte. »Und, auf wen fährst du ab? Auf Diana?«

Chris überlegte kurz. »Nee, eigentlich nicht. Ich steh nicht auf blond.«

Später stellte sich raus, dass Chris gelogen hatte. Alle seine Exfreundinnen waren blond gewesen.

 

Holly legte die Hand auf Chris’ Knie.

»Wann hast du mich eigentlich zuletzt belogen?«

Chris musste nicht lange nachdenken. »Am Sonntag. Die Kalbsrouladen waren trocken.«

»Du Mistkerl!«, entrüstete sich Holly. »Du hast behauptet, sie seien wunderbar!«

»Gnädige Notlüge. Der Kitt jeder Beziehung.«

»Wie oft bist du so … gnädig zu mir?«

»Nicht oft, keine Sorge.«

Holly verfiel in Grübeln. Er hatte recht, es geht nicht ohne kleine, liebevolle Schwindeleien, die dem anderen eine Verletzung ersparen oder einem selbst eine Diskussion, auf die man gerade keine Lust hat. Die Wahrheit ist nicht nur ziemlich subjektiv, sondern meist auch schwer verdaulich. Es empfiehlt sich, sie gut zu dosieren, wenn man seine Beziehungen nicht auf allzu harte Proben stellen will.

»Dann bin ich ja froh«, sagte sie und wusste nicht, warum die Tatsache, nichts sehen zu können, ein so heftiges Bedürfnis in ihr auslöste, den Dingen auf den Grund zu gehen. »Lügst du auch bei wichtigeren Dingen als Kalbsrouladen?«

Chris antwortete nicht.

»Was ist los? Warum sagst du nichts?«

»Lass mich doch nachdenken«, sagte Chris. »Ich bin nicht so schnell wie du.«

»Da gibt es nichts nachzudenken, entweder ja oder nein, das musst du doch wissen!«

»Ich bin immer so ehrlich wie möglich«, sagte er schließlich.

»Na, toll.« Sie seufzte.

 

Zu Hause ließ sie sich von Chris ins Bad führen, dann ertastete sie sich selbst den Weg ins Schlafzimmer. In ihrer vertrauten Umgebung, wo sie die Entfernungen und Hindernisse einschätzen konnte, fühlte sie sich etwas sicherer. Sie zog ihren Pyjama an und verkroch sich im Bett.

»Ich hab so kalte Füße«, jammerte sie, »machst du mir eine Wärmflasche?«

»Gern.« Chris verließ das Zimmer, sie hörte seine Schritte auf dem Flur.

Holly nahm sich vor, darauf zu achten, wie oft sie jemanden anschwindelte, und sofort fielen ihr eine Menge Situationen ein, in denen sie nicht ehrlich gewesen war. Den korallenroten Schal, ein Geschenk von Chris zu Weihnachten, hatte sie in den höchsten Tönen gelobt – obwohl sie die Farbe verabscheute. Letzte Woche hatte sie einen wichtigen Termin vergessen und behauptet, ihre Tochter hätte einen Unfall gehabt. Als Timo zu müde fürs Fußballtraining gewesen war, hatte sie ihn mit einem verstauchten Knöchel entschuldigt. Eigentlich benutzte sie ständig Notlügen, um ihr Leben leichter zu machen.

Chris kam mit der Wärmflasche zurück und legte sie zu ihren Füßen ins Bett. Dann gab er ihr das Telefon in die Hand.

»Ich geh noch mal rüber in die Werkstatt. Wenn du was brauchst, drück einfach die Wiederholungstaste.«

Holly ließ die Finger über das Telefon gleiten.

»Welche ist es?«, fragte sie.

Er legte ihren Zeigefinger auf eine der Tasten. »Hier oben, die linke. Und die drunter zum Wählen.«

»Danke«, murmelte Holly.

Sie versuchte einzuschlafen, fiel aber nur in einen dösigen Zustand, in dem Bilder und Erinnerungen wild durcheinanderwirbelten. Ihr Gehirn schien die fehlende Sehfähigkeit durch eine Art Kopfkino ausgleichen zu wollen.

Sie sah wieder das rote Licht und dahinter das Gesicht des Operateurs, der sie durch seine Brillengläser anfunkelte. Wieso trug der überhaupt eine Brille? Traute er seiner eigenen Lasertechnik nicht? Dann fiel ihr ein, dass es wohl eine für die Nähe war. Die würde auch ihr nicht erspart bleiben, aber bis dahin war noch ein paar Jahre Zeit. Jahre, in denen ihr Gesicht nicht durch ein blödes Plastik- oder Drahtgestell entstellt wäre. Vielleicht würde sie sich endlich die Haare ein bisschen wachsen lassen oder sich sogar ein Abendkleid kaufen. Hatte alles zur Brille nicht gepasst. Holly konnte es plötzlich kaum erwarten, ihr neues Gesicht im Spiegel zu sehen.

 

Die Tür flog auf, Timo und Lea stürmten ins Zimmer. Holly richtete sich auf.

»Mir geht’s gut«, sagte sie schnell, »macht euch keine Sorgen. Ich seh nur komisch aus mit diesen Dingern auf den Augen.«

»Wie ’ne bekiffte Fliege«, stellte Timo fest.

»War’s schlimm?«, fragte Lea anteilnehmend und setzte sich auf die Bettkante.

»Nein, überhaupt nicht«, sagte Holly munter. Sie fand, Mütter dürften nicht schwach sein und jammern. Sie müssten Stärke zeigen, damit ihre Kinder stark werden könnten.

»Siehst du was?«, fragte Timo.

»Nee«, sagte sie, »gar nichts.«

Heimlich blinzelte sie durch die beschlagenen Plastikgläser. Timo zog eine Grimasse und streckte ihr die Zunge raus.

»Aber ich weiß trotzdem, dass du dich gerade schlecht benimmst.«

Timo hielt inne. »Beschiss«, sagte er, »du hast geblinzelt.«

Holly realisierte überrascht, wie tief seine Stimme schon war. Das war ihr bisher nicht aufgefallen.

Die Kinder verloren das Interesse an ihr und liefen weg. Wenig später mischten sich die biederen Klänge von Bayern 3 mit dem Gewummere der »White Stripes«. Holly seufzte.

Wie schnell die beiden gewachsen waren. Timo mit seinen dreizehn Jahren war bereits so groß wie sie, ein breitschultriger, junger Mann mit langem, glattem Haar, das ihm ständig in die Augen fiel. Wenn er verlegen war, errötete er, was sie bezaubernd fand. Manchmal versuchte sie, ihn zu umarmen oder ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Genervt wehrte er ab, und sie fühlte sich wie eine verschmähte Liebende.

Lea war zehn, an der Schwelle zur Pubertät. Sie ließ Berührungen gerade noch zu, wenn auch manchmal schon mit einer Herablassung, die Holly wehtat. Wie sollte man es als Mutter bloß aushalten, wenn die Kinder keine Zärtlichkeit mehr annehmen wollten, ja, einen beim kleinsten Versuch zurückst ießen?

Sie könne sich ja ein Haustier zulegen, hatte Chris vorgeschlagen, als sie ihm ihr Leid geklagt hatte. Oder sich mehr mit ihm beschäftigen.

 

Holly setzte sich zu ihrer Familie an den Esstisch und löffelte vorsichtig die Gemüsesuppe, die sie am Morgen vorgekocht hatte. Auch ihr Geschmackssinn schien sich verändert zu haben; sie aß bewusster und nahm die Aromen intensiver wahr. Immer besser konnte sie sich vorstellen, wie Blinde sich fühlen. Schon in den wenigen Stunden, in denen sie ihre Umgebung nicht hatte sehen können, hatte sich der Horizont ihrer Außenwahrnehmung schmerzhaft verengt, und sie fühlte sich aus dem Erleben der anderen ausgeschlossen. Wie dankbar war sie, dass dieser Zustand vorübergehend sein würde.

»Ich esse wie ein Schwein«, verkündete Lea.

»Das ist ja nichts Neues«, sagte Holly.

»Aber du kannst es nicht sehen!«, triumphierte ihre Tochter. »Deshalb kannst du auch nicht schimpfen.«

»Sehen nicht, aber hören«, erwiderte Holly. »Iss wenigstens wie ein stummes Schwein.«

»Alle Schweine sind stumm«, sagte Timo und machte ein blubberndes Geräusch mit seinem Getränk. »Stumm heißt, dass man nicht sprechen kann. Schmatzen oder schlürfen kann man trotzdem.«

»Sehr wohl, Euer Ehren«, sagte Holly. »Dann gestatten Sie, dass ich mich korrigiere: wie ein vornehmes Schwein.«

»Vornehme Schweine gibt’s nicht«, schaltete sich Lea wieder ein. »Schweine sind schweinisch, sonst wären sie ja keine Schweine, sondern Menschen.«

Holly seufzte. »Ihr macht mich wahnsinnig, ihr …

»… Korinthenkacker!«, brüllten Timo und Lea wie aus einem Mund.

»Warum lässt du dich bloß immer in solche Diskussionen verwickeln?«, fragte Chris staunend.

»Weil ich eine Anhängerin des gepflegten Tischgesprächs bin«, knurrte Holly. »Schmierst du mir bitte ein Brot?«

Das Telefon klingelte, die Kinder liefen um die Wette.

»Omi ist dran.« Lea drückte ihrem Vater den Hörer in die Hand, der reichte ihn weiter an Holly, die ihn zunächst verfehlte. Chris nahm ihre Hand und legte das Telefon hinein.

»Mama?«

Ihre Mutter ließ sich den Eingriff vom Nachmittag beschreiben und murmelte immer wieder: »Wenn das mal gut geht.«

»Es ist doch längst gut gegangen«, sagte Holly ungeduldig. »Jedenfalls bin ich nicht blind, so viel steht schon mal fest.«

»Man soll der Natur nicht ins Handwerk pfuschen«, beharrte ihre Mutter, »das rächt sich. Wer weiß, ob sich nicht in ein paar Jahren deine Netzhaut ablöst.«

»Es handelt sich beim Lasern um die Hornhaut«, erklärte Holly, »und die Natur ist dermaßen unvollkommen, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als nachzubessern. Wenn’s nach der Natur ginge, würdest du übrigens schon seit drei Jahren unter der Erde liegen.«

Damals war bei Margarete durch Zufall ein Verschluss der Herzarterie entdeckt worden, der mit größter Wahrscheinlichkeit einen tödlichen Infarkt ausgelöst hätte.

»Notfälle zählen nicht«, gab ihre Mutter zurück. »Ach, übrigens, Holly, wenn ihr nächste Woche kommt, will ich mit dir und deinen Brüdern etwas Wichtiges besprechen.«

»Was denn?«

»Darüber will ich dann mit euch allen reden.«

Beunruhigt fragte Holly: »Ist irgendwas passiert? Ist wieder was mit deinem Herzen?«

»Jetzt hör schon auf, mich zu löchern, und mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns nächstes Wochenende.« Das Gespräch war beendet.

Holly tastete nach dem Aus-Knopf. Sie wollte das Telefon auf den Tisch legen, aber es landete in den Resten von Leas Suppe.

»Scheiße«, hörte sie Chris sagen. Er fischte den Apparat aus dem Teller und trug ihn zum Spülbecken.

Sie überlegte, warum ihre Mutter so seltsam gewesen war. Hätte sie ihr nicht einfach sagen können, worüber sie sprechen wollte? Was hatte das überhaupt alles zu bedeuten? Bestimmt war sie wieder krank, wahrscheinlich ernsthaft.

Unvermittelt fing Holly an zu weinen.

Chris kam zum Tisch zurück. »Bist du verrückt, du sollst doch nicht heulen!«

Aber Holly konnte nicht anders. Die Angst und Anspannung des Nachmittags lösten sich in einem immer stärker werdenden Heulkrampf.

Aufgeregt wiederholte Chris: »Nicht weinen, hör auf! Das ist bestimmt ganz schlecht für die Augen!«

»Ich kann nicht aufhören«, schluchzte Holly. Sie spürte, wie die Tränen sich in den Plastikschalen sammelten. Sie hatte das Gefühl, unter Wasser zu sein, ein Taucher mit undichter Brille.

»Was soll ich bloß machen?«, wimmerte sie und drehte Chris ihr Gesicht mit den Augenklappen zu, in denen die Flüssigkeit auf und ab schwappte.

Einen Moment war es still, dann hörte sie, wie er laut herausprustete. Je mehr sie weinte, desto mehr lachte er, und je mehr er lachte, desto heftiger weinte sie.

Nach einer Weile beruhigten sie sich und Chris nahm Holly in die Arme.

»Warte, ich helfe dir.«

Vorsichtig löste er die Klebestreifen am unteren Ende der Schalen. Holly spürte zwei warme Rinnsale auf ihren Wangen. Er reichte ihr ein Handtuch, und sie trocknete ihr Gesicht ab.

»Da erhält der Begriff ›Wasser lassen‹ eine völlig neue Bedeutung«, sagte er.

Nun musste auch Holly lachen, und plötzlich war ihr ganz leicht zumute. Sicher war gar nichts mit ihrer Mutter. Sie plante nur wieder eine Reise oder wollte endlich einen Computer kaufen und sich vorher mit ihnen beraten.

 

Holly schlief sofort ein. Nachts wachte sie ein paarmal auf, weil die Plastikschalen sie störten. Gegen Morgen, als es hell im Zimmer wurde, konnte sie nicht mehr weiterschlafen. Sie blinzelte durch den beschlagenen Kunststoff, konnte nichts erkennen, machte die Augen wieder zu. Sie richtete sich auf, die Augen immer noch geschlossen. Vorsichtig löste sie die Klebestreifen an den Rändern der Plastikschalen und nahm sie ab. Ihre Haut fühlte sich aufgequollen an, Reste des Klebstoffes hafteten an ihrer Stirn. Langsam zählte sie bis zehn, dann öffnete sie die Augen.

Das Bücherregal war gut drei Meter vom Bett entfernt. Elmsfeuer, las Holly auf dem Rücken eines Buches, Mann und Frau, Der letzte Zeuge. Gestern Morgen hatte sie vom Bett aus nicht mal erkannt, dass da ein Bücherregal stand. Sie schlug die Hand vor den Mund und jauchzte auf.

Chris drehte sich um und machte ein knarzendes Geräusch. Sie packte ihn an der Schulter.

»Ich kann sehen«, rief sie aufgeregt, »ich kann alles sehen!«

»Na, hoffentlich«, knurrte Chris, »der Spaß war teuer genug.«

Er schlug die Augen auf und grinste sie an.

»Und, wie sehe ich aus?«

Holly warf sich auf ihn und umschlang ihn mit den Armen.

»Du siehst so was von gut aus!«

»Na, dann hast du ja Glück gehabt.«

Holly schmiegte sich glücklich in seine Armbeuge. Nie wieder würde sie mit beschlagenen Gläsern in eine Kneipe kommen und mit dem Kellner zusammenstoßen, nie wieder die verhasste Brille abnehmen, weil sie jemandem gefallen wollte. Die Zeit als Blindschleiche und Brillenschlange war vorbei. Endlich sah sie die Welt mit ihren eigenen Augen. Endlich sah sie klar.

2

Auf ihrem Gang durch die Stadt betrachtete Holly immer wieder ihr brillenloses Spiegelbild in den Schaufenstern und machte regelrechte Sehtests. Konnte sie das Schild da vorne entziffern? Was stand auf diesem Plakat? Sie kniff abwechselnd das rechte, dann das linke Auge zu. Mit dem linken sah sie eine Spur schärfer. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie versäumte, auf die Straße zu sehen. Plötzlich spürte sie etwas Weiches, Glitschiges unter ihrem Schuh.

»Scheiße!«, rief sie.

»Stimmt«, sagte ein Mann im Vorbeigehen.

Holly versuchte, ihre Sohle auf dem Asphalt abzuwischen. Sie hielt Ausschau nach einer Pfütze, aber es hatte länger nicht geregnet. Endlich entdeckte sie ein Rasenstück, auf dem sie ihren Schuh notdürftig reinigte.

Soll ja Glück bringen, dachte sie grimmig. Und Glück konnte sie gebrauchen, wenn sie gleich mit ihrem Verleger über einen neuen Auftrag sprechen würde. Jahrelang hatte sie für Tageszeitungen und Frauenzeitschriften geschrieben, irgendwann aber den ständigen Termindruck so satt gehabt, dass sie sich an ein Buchprojekt gewagt hatte, einen Ratgeber zum Thema Kind und Karriere. Das Buch verkaufte sich glänzend, offenbar gab es massenhaft Frauen, die verzweifelt versuchten, beides unter einen Hut zu bringen.

Holly war noch immer verblüfft über ihren Erfolg. Weil ihr die Arbeit Spaß gemacht hatte, versuchte sie sich dann an einem zweiten Buch mit dem Titel Weibliches Selbstbewusstsein. Wieder ein Erfolg. Ihre Leserinnen fühlten sich offenbar von ihr verstanden, und der Verlag wollte mehr. Aber Holly hatte kein Thema, wusste nicht, worüber sie als Nächstes schreiben sollte. Alles schien ihr schon mal da gewesen zu sein, ausgelutscht und langweilig. Nun hoffte sie, dass Jochen, ihr Verleger, einen Einfall hätte.

Sie kannte ihn bereits aus ihrer Studentenzeit. Er war kurz nach Chris in die WG gezogen, als Hollys Freundin Karin ihr Zimmer aufgab, um nach Frankfurt zu gehen und zu heiraten. Wenig später zog Holly ein. Zwei Jahre existierte die WG mit Diana, Holly, Jochen und Chris, dann löste sie sich auf. Chris und Holly heirateten und übernahmen die Wohnung, in der sie heute noch wohnten. Lange hatten sie Mühe, die alten Gepflogenheiten abzulegen; jahrelang gab es einen Abwaschplan, und die Fächer im Kühlschrank trugen Aufkleber mit ihren Namen. Trotzdem spotteten die ehemaligen Mitbewohner über ihre Verbürgerlichung. Ganz schlimm wurde es, als Timo geboren wurde. Nun seien sie endgültig die Spießer geworden, die sie nie hatten werden wollen, behaupteten ihre Freunde.

Als drei Jahre später Lea zur Welt kam, hatten Karin und auch Diana selbst schon Kinder, und niemand protestierte mehr. Und als sie schließlich die Wohnung kauften, in der sie sich in seligen WG-Zeiten geschworen hatten, nie so zu werden wie ihre Eltern, lästerte nicht mal mehr Jochen, der die Fahne der Freiheit am längsten hochgehalten hatte. Er hatte inzwischen einen Verlag gegründet und war Unternehmer geworden. Ein richtiger Scheißkapitalist, wie er gleichmütig bekannte.

Holly hatte das gepflegte Jugendstilhaus erreicht, in dem Jochen mit seinem Puravida-Verlag residierte. Sie klingelte, stieß die schwere Eingangstür auf und stieg die Stufen zum Hochparterre hinauf. Jochen lehnte bereits lächelnd im Türrahmen. Er trug eine Jeans, einen schwarzen Wollblazer und ein weißes Hemd. Sein dunkles Haar war länger als vor ein paar Wochen, seine Haut wie immer leicht gebräunt.

Holly sah ihn einen Moment zu lange an. Der Typ wird immer besser, je älter er wird, schoss es ihr durch den Kopf. Früher hatte sie ihn ziemlich oberflächlich gefunden, er hatte sehr gut ausgesehen und es sehr genau gewusst. Nichts hatte er richtig ernst genommen und sich selbst zu wichtig. Jetzt war sein Aussehen nicht mehr so perfekt, dafür hatte er an Ausstrahlung gewonnen.

Warum habe ich eigentlich nie mit ihm geschlafen, fragte Holly sich erstaunt und gab sich selbst die Antwort: weil du schon mit Chris zusammen warst, als du Jochen kennengelernt hast, und weil du als Anhängerin der Monogamie nicht auf den Gedanken gekommen bist, Chris zu betrügen. Aber vielleicht solltest du jetzt mal darüber nachdenken. Du könntest sozusagen prophylaktisch mit Jochen schlafen, als Vergeltung für alles, was Chris dir noch antun wird. Immerhin liegt seine Midlife-Crisis noch vor ihm.

Holly erschrak über sich selbst. Schluss mit dem Blödsinn, dachte sie.

»Na, Scheißkapitalist, wie laufen die Geschäfte?« Sie küsste ihn auf beide Wangen, sie fühlten sich an wie feines Sandpapier.

»Gut, wenn du bald einen neuen Bestseller schreibst.«

»Klar«, sagte Holly, »wann brauchst du ihn?«

»Wie wär’s mit nächster Woche?« Er grinste, dann stutzte er: »Sag mal, irgendwas ist anders an dir …«

Sie sah ihn herausfordernd an. »Ja?«

Vor wenigen Tagen erst hatte sie ihm am Telefon von der bevorstehenden Laserkorrektur erzählt.

Er überlegte. »Neue Haarfarbe?«

Holly schüttelte den Kopf.

»Neuer Schnitt?«

»Negativ.«

»Hast du … irgendwas an dir machen lassen?«, fragte er erschrocken.

»Treffer.«

»Aber Holly, wieso denn? Das hast du doch gar nicht nötig in deinem Alter!«

»Minus drei Komma sieben fünf Dioptrien«, sagte sie.

»Ach, die Lasik«, sagte Jochen erleichtert. »Glückwunsch. Siehst echt gut aus ohne Brille.«

Holly verdrehte die Augen. »Männer!«

Er führte sie in sein Büro, seine Assistentin servierte Plätzchen, Cappuccino und Mineralwasser. Holly nahm einen Schokoladenkeks und knabberte daran herum.

»Also, wie sieht’s aus mit dem neuen Buch?« Aufmerksam sah er sie an.

»Ich habe keine Idee«, gestand sie. »Mir fällt einfach nichts ein, was mich genug interessiert, um mich ein halbes Jahr oder länger damit zu beschäftigen.«

»Das ist völlig normal«, beruhigte er sie. »Die Krise nach dem Erfolg – die meisten erwischt es schon nach dem ersten Buch.«

»Sehr tröstlich. Und was jetzt?«

»Ich habe eine Idee«, sagte Jochen. »Das Geheimnis der glücklichen Ehe.«

»Wie bitte«, fragte sie ungläubig, »ein Eheratgeber?«

»Genau. Jede dritte Ehe wird geschieden, in Großstädten sogar jede zweite. Hunderttausende von Kindern werden jedes Jahr Scheidungswaisen. Einsamkeit und Beziehungslosigkeit greifen immer mehr um sich. Die Leute warten doch nur darauf, dass ihnen jemand erklärt, wie sie eine glückliche Ehe führen können.«

»Und das soll ausgerechnet ich sein?«

»Du führst doch eine glückliche Ehe, oder nicht?«

Holly nickte automatisch. Chris und sie mochten die gleichen Bücher und die gleichen Filme, waren sich einig über die Kindererziehung, stritten nicht über Geld und hatten regelmäßig Sex. Sie waren sich, soweit Holly wusste, immer treu gewesen. Und das Wichtigste: Sie hatten sich immer noch was zu sagen nach so langer Zeit. Chris behauptete zwar gern, ein gutes Gespräch bestünde für Holly darin, dass sie rede und er zuhöre, aber wenn es darauf ankam, verschaffte er sich durchaus Gehör.

»Ja, ich glaube, dass wir eine ganz gute Ehe führen.«

»Das ist die Untertreibung des Jahres«, rief Jochen, »ihr seid das glücklichste Paar in unserem Freundeskreis, wenn nicht das einzig glückliche! Wir fragen uns alle, wie ihr das macht!«

»Ach, ja?« Holly musterte ihn überrascht. Ihre Freunde sprachen also über sie, stellten Vermutungen über ihr Eheleben an und stilisierten sie zum großen Vorbild in Sachen Eheglück. Komische Vorstellung.

»Glücklich«, sagte sie verlegen, »der Begriff ist so … groß. Außerdem: Irre ich mich, oder gibt es ungefähr schon zwei Millionen Eheratgeber?«

»Macht nichts. Du wirkst authentisch, man nimmt dir ab, dass du kennst, worüber du schreibst. Es muss ja kein Friede-Freude-Eierkuchen-Buch werden. Schreib ruhig darüber, wie schwierig es ist, eine gute Beziehung zu führen. Aber zeig den Leuten einen Weg!«

Holly legte den Kopf schräg. »Sag mal, hast du gerade mal wieder eine Ehekrise?«

Jochen war mit Stella verheiratet, der Tochter eines reichen Textilunternehmers. Holly fand sie launisch, verwöhnt und unausstehlich. Aber je mehr sie Jochen quälte, desto heftiger kämpfte er um sie. Holly glaubte, dass er es immer zu leicht bei Frauen gehabt hatte  – an Stella biss er sich die Zähne aus, und das schien ihm zu gefallen. Wenigstens hatten die beiden keine Kinder.

Er lachte verlegen auf. »Meine Ehe ist eine einzige Krise, das weißt du doch. Aber Stella ist nicht so, wie du denkst.«

Holly schnaubte. »Jedenfalls hat sie dich nicht verdient.«

»Wer weiß«, sagte Jochen, »so ein toller Hecht bin ich nun auch wieder nicht.«

Holly grinste. »Bloß keine falsche Bescheidenheit, das passt nicht zu dir.«

»Wenn es Chris damals nicht gegeben hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen«, sagte er und rührte in seiner Tasse.

»Bestimmt nicht«, sagte Holly, »ich passe doch gar nicht in dein Beuteschema.«

»Woher weißt du das denn?« Er schnupperte. »Sag mal, riecht es hier komisch?«

Sie versteckte unauffällig ihren Schuh hinter einem Tischbein und schnupperte ebenfalls. »Ich weiß nicht … vielleicht sind es die Blumen da drüben? Es stinkt bestialisch, wenn die Stängel anfangen zu modern.«

Er stand auf und roch an dem Strauß, dann öffnete er die Zimmertür und rief: »Marietta!«

Seine Assistentin erschien.

»Bitte, sei so lieb und wirf die Blumen weg.«

Sie nahm die schwere Kristallvase und trug sie hinaus.

Jochen kam zurück und lächelte Holly an. »Also, was ist? Das Geheimnis der glücklichen Ehe?«

Sie zögerte. »Ich weiß nicht. Es kommt mir irgendwie … anmaßend vor.«

Er nahm ihre Hände in seine und blickte ihr in die Augen.

»Du bist genau die Richtige, ich weiß es. Du kannst viel mehr, als du dir zutraust.«

Holly seufzte und stand auf. »Ich denk drüber nach.«

Zum Abschied drückte er sie an sich.

 

Als sie wieder auf der Straße stand, hatte Holly das Gefühl, knapp einer Verführung entgangen zu sein. Dabei wusste sie genau, dass Jochen nur eines von ihr wollte: einen neuen Bestseller.

Sie steuerte die nächste Buchhandlung an und sammelte im Regal »Psychologie/Lebenshilfe« sämtliche Eheratgeber ein, die sie finden konnte. Bepackt mit zwei schweren Tüten, verließ sie den Laden.

In ihrem Stammcafé »Mondial« aß sie ein Sandwich und blätterte, während sie kaute, in den Büchern.

»Der kleine Beziehungsratgeber«, las eine Stimme hinter ihr, »Wie Sie einen Mann finden und wieder loswerden, Verliebt, verlobt, verheiratet – na, vielen Dank!«

Holly drehte sich um, hinter ihr stand Insa, die fast täglich ihre Mittagspause im »Mondial« verbrachte. Vor einiger Zeit waren sie ins Gespräch gekommen, seither unterhielten sie sich gelegentlich. Insa war ein paar Jahre jünger als Holly, ein schlanke, nervöse Blondine, immer im blauen oder grauen Business-Kostüm und eleganten Pumps. Sie arbeitete in der Privatkundenabteilung einer Bank in der Nähe.

Schwungvoll packte sie einen Stuhl und setzte sich zu Holly.

»Diese gierigen Geldsäcke machen mich fertig«, sagte sie, »immer geht’s nur darum, wie man Geld an der Steuer vorbeibringt oder ein paar Prozent mehr aus einer Anlage rausholt, einfach ekelhaft.«

Holly sah auf. »Du bist bei einer Bank, nicht bei der Caritas.«

»Ich weiß. Und in Zeiten wie diesen müsste ich jeden Tag eine Kerze anzünden aus Dankbarkeit. Trotzdem würde ich lieber was anderes machen!«

»Was denn?«

»Weiß nicht, irgendwas Kreatives.«

»Dann mach einen Töpferkurs.«

Insa verdrehte die Augen und winkte der Bedienung.

»Eine Latte macchiato, bitte.«

Holly kam ein Gedanke. »Sag mal, wie geht’s eigentlich so bei dir zu Hause?«

Insa musterte sie misstrauisch. »Warum interessiert dich das?«

»Du hast mal angedeutet, dass du Probleme mit deinem Mann hast …«

»Kennst du eine Frau, die keine Probleme mit ihrem Mann hat?«

»Wenige«, gab Holly zu. »Deshalb frage ich ja. Ich dachte, vielleicht hättest du Lust, mir davon zu erzählen?«

»Und wieso?«

»Na ja, ich schreibe Bücher, Ratgeber, um genau zu sein. Ich habe vor, etwas über die Ehe zu schreiben. Wie man eine glückliche Ehe führt.«

Insa sah sie verblüfft an, dann fing sie an zu lachen. »Eine glückliche Ehe? Das ist der beste Witz, den ich seit Langem gehört habe!« Sie blickte sich im Café um. »Habt ihr das gehört? Holly weiß, wie man eine glückliche Ehe führt. Und sie schreibt ein Buch darüber. Man nehme eine Prise Leidenschaft, einen Teelöffel Verständnis und mixe es mit einer Messerspitze Treue, fertig ist der Glückscocktail!«

Die anderen Gäste sahen zu ihnen herüber, Holly spürte, wie ihr Gesicht rot anlief.

Schlagartig hörte Insa auf zu lachen.

»Das ist überhaupt nicht lustig, weißt du«, sagte sie und sah plötzlich aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich darüber reden will.«

»Überleg’s dir«, sagte Holly und gab ihr eine Visitenkarte.

 

Zu Hause legte Holly alle Eheratgeber auf einen Stapel in ihr Arbeitszimmer und beschloss, das Thema noch einmal gründlich zu überdenken.

Sie wechselte die Staubsaugertüte und saugte die ganze Wohnung, wobei sie mit dem Fuß zur Seite kickte, was ihr im Weg war. Turnschuhe, Schulbücher, Klamotten. Ein angebissener Apfel, eine halb volle Flasche Cola, Leas Schlafbär. Sie schlug eine Schneise durch den Müll in Timos Zimmer, schleuderte verärgert Chris’ nasse Handtücher, die auf dem Badezimmerboden lagen, in die Wanne.

Dabei überlegte sie sich Titel für ihr Buch wie »Psychisch gesund – trotz Familie«, »Wie Sie die Pubertät Ihrer Kinder überleben« oder »Warum intelligente Frauen keine Hausarbeit machen sollten«.

Sie putzte das Bad und das Gästeklo, jenes Gästeklo, auf dem sie damals eingesperrt gewesen war, und verlor sich in dem Gedanken, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn ihr dieses Missgeschick nicht passiert wäre. Vermutlich hätte sie irgendwann die Party verlassen, wäre nie in die WG gezogen, hätte Chris nicht geheiratet und Timo und Lea nicht bekommen.

Wäre sie nach Italien gegangen, wie sie es mal eine Weile vorhatte? Würde sie heute mit dem Giuseppe von damals in Neapel leben, ein Ferienhaus auf Capri besitzen und bei Prada einkaufen?

Oder hätte sie ein Kind von Jochen bekommen, wäre von ihm verlassen worden und würde als alleinerziehende Mutter leben?

Nachdem sie noch ein paar mögliche Alternativen durchdacht hatte, kam sie zu dem Entschluss, dass ihr Leben mit Chris genau das Richtige für sie war.

Natürlich könnte man es durchschnittlich nennen. Verheiratet, zwei Kinder, Eigentumswohnung mit Bausparvertrag, bescheidene Karriere als Journalistin und Schriftstellerin, einmal die Woche Gymnastik, am Wochenende Kino oder Abendessen mit Freunden. Keine Sensationen, keine Krisen. Bestimmt würden andere vor Langeweile sterben, aber sie fühlte sich wohl. Ihr Leben war genau so, wie es zu ihr passte, nicht zu groß und nicht zu klein.

Als die Wohnung einigermaßen sauber war, setzte Holly sich mit einer Tasse Roibuschtee in die Küche und blätterte lüstern in den Klatschblättern, die ihr regelmäßig von den Redaktionen zugeschickt wurden.

Heidi Klum – wunderschön und schlank nur wenige Wochen nach der Geburt des zweiten Kindes. Neidisch dachte Holly an die Schwangerschaftsstreifen an ihrem Bauch.

Til Schweiger und seine Frau Dana, Eltern von vier Kindern, gaben ihre Trennung bekannt. Begründung von ihm: »Zu viel Arbeit, zu wenig Zeit füreinander.« Holly schüttelte den Kopf. Dann arbeite halt weniger, dachte sie, und nimm dir die Zeit!

Athina Onassis endlich glücklich mit Doda – bleibt ihr das Schicksal ihrer Mutter erspart, die mit siebenunddreißig schon sterben musste?

Holly überlegte, ob diese reichen und berühmten Menschen anders wären als normale Leute. Und warum diese normalen Leute sich so brennend für diese anderen Leben interessierten. Vermutlich war es die Genugtuung darüber, dass die scheinbar so glamouröse Wirklichkeit der Stars ebenso zerbrechlich war wie die eigene. Auch Prominente wurden betrogen und verlassen. Sogar Milliardäre mussten sterben.

Holly fand es wieder einmal befriedigend, festzustellen, dass weder Geld noch Schönheit die Menschen wirklich glücklich machten, sondern letztlich nur Liebe und Freundschaft. Davon hatte sie schließlich eine Menge.

 

Das Telefon klingelte. Es war ihre alte Freundin Karin, die sich fast täglich mit dem Neuesten aus ihrem Familienleben mit vier Kindern, einem Hund, mehreren Katzen und Kaninchen, wechselnden Au-pair-Mädchen und einem überwiegend abwesenden Mann meldete. Der jettete als Vorstand eines Energieunternehmens fast pausenlos durch die Welt und hielt die Verbindung zu seiner Frau durch Anrufe zu jeder denkbaren Tages- und Nachtzeit aufrecht.

Holly stellte es sich schrecklich vor, den gesamten Alltag allein bewältigen zu müssen, aber darüber beklagte Karin sich nie, war immer fröhlich und voller Optimismus. Es schien, als genösse sie regelrecht das alltägliche Chaos, das eine große Familie mit sich bringt. Natürlich wurde ihr Leben dadurch erleichtert, dass sie keine Geldprobleme kannte, trotzdem hätte Holly nicht mit ihr tauschen wollen.

»Und, wo treibt Ulf sich gerade rum?«, erkundigte sie sich, nachdem Karin vom gebrochenen Handgelenk der jüngeren Tochter und den miserablen Schulnoten des ältesten Sohnes erzählt hatte.

»China«, sagte Karin, »ich hoffe, er bringt nicht wieder diese grässlichen, getrockneten Pilze mit!«

»Oder den Schlangenschnaps!«

»Das war Vietnam«, korrigierte Karin, »aber ich traue den Chinesen zu, dass sie Hundebabys in Likör einlegen!«

»Machst du dir eigentlich nie Sorgen, wenn er unterwegs ist?«

»Du meinst, dass er mit dem Flugzeug abstürzen könnte?«

»Nein, dass er eine bildschöne Chinesin kennenlernt und dich betrügt.«

»Tut er nicht«, sagte Karin.

»Woher weißt du das?«

»Erstens weiß ich, dass er keine Zeit dafür hat, zweitens vertraue ich ihm.«

»In dieser Reihenfolge?«, fragte Holly.

»Ich vertraue ihm, soweit man einem Menschen vertrauen kann. Was soll ich sonst tun? Wenn was Wichtiges passiert, werde ich es schon erfahren. Alles andere will ich sowieso nicht wissen. Wieso fragst du überhaupt?«

»Nur so, interessiert mich eben.«

»Glaub ich nicht. Ist was mit Chris?«

»Mit Chris? Aber nein! Ich denke nur darüber nach, was eigentlich eine glückliche Ehe ist und wie man es schaffen kann, zu dem Drittel zu gehören, das sich nicht scheiden lässt.«

»Du brauchst ein Konzept«, sagte Karin.

»Ein Konzept? Was meinst du damit?«

»Du musst wissen, was du vom anderen willst. Du brauchst einen Grund, mit ihm zusammen zu sein, und du musst wissen, warum du auch in zwanzig Jahren noch mit ihm zusammen sein willst.«

Holly überlegte. »Und was ist euer Konzept?«

»Ulf und ich sehen uns als Team. Jeder macht seinen Job, ich manage die Familie, er schafft Kohle ran. Später, wenn die Kinder groß sind, hört er auf zu arbeiten, und dann wollen wir reisen.«

»Schöner Plan«, sagte Holly mit einem Anflug von Neid. »Woher weißt du, dass er die Kohle nicht mit der schönen Chinesin durchbringt?«

»Wenn du nicht daran glaubst, dass eine Ehe halten wird, dann brauchst du doch gar nicht erst zu heiraten!«

»Natürlich heiraten die meisten, obwohl sie wissen, dass die meisten Ehen scheitern. Jeder hofft, dass es ihn nicht treffen wird, so wie jeder hofft, dass er keinen Krebs bekommt.«

»Es lebe der Defätismus!«

»Ich bin nicht defätistisch«, widersprach Holly, »ich bin realistisch. Man tut vieles im Leben, obwohl man nicht weiß, wie es ausgehen wird. Trotzdem gibt es Wahrscheinlichkeiten, die wiederum auf Gesetzmäßigkeiten beruhen. Ich würde gern rausfinden, welche das sind.«

Sie hörte ein Krachen in der Leitung, dann wieder Karins Stimme.

»Ich glaube, der Fensterputzer ist von der Leiter gefallen. Ich ruf dich wieder an.«

Holly legte auf und dachte nach. Das war es. Für jeden biologischen, chemischen und physikalischen Prozess gab es Gesetze. Das Zusammenleben zweier Menschen war nichts anderes als ein solcher Prozess. Es müsste doch möglich sein, die Liebe methodisch zu erfassen, das scheinbar Unbegreifliche begreifbar zu machen.

 

»Interessant«, sagte Jochen, als sie ihm am Telefon von ihrem Einfall erzählte, »aber die naturwissenschaftlichen Aspekte der Paarbildung sind eigentlich hinreichend erforscht. Ich glaube, du solltest eher die Erfahrungen von Menschen sammeln, das ist viel anschaulicher.«

»Also, gut«, sagte Holly. »Dann brauche ich Geld für die Recherche. Ich muss Fragebögen erarbeiten und verschicken, muss Anzeigen schalten, um Interviewpartner zu finden, für die Auswertung brauche ich eine studentische Hilfskraft. Ich brauche Sekundärliteratur und alle Untersuchungen zum Thema. Vielleicht muss ich zu Kongressen fahren oder Experten befragen. Ich …«

»… ganz ruhig, Holly«, unterbrach Jochen sanft. »Ich glaube, das brauchst du alles nicht. Mach die Augen auf, sprich mit den Menschen in deiner Umgebung, erinnere dich an deine eigenen Erfahrungen. Ich will kein Standardwerk für die Ewigkeit, ich will ein Holly-Berger-Buch. Eines, das so einfühlsam und klug ist wie die beiden anderen. In dem deine Leserinnen sich wiedererkennen und verstanden fühlen. Wenn es erschienen ist, schicken wir dich zu ein paar Talkshows, und das Ding wird sich verkaufen wie geschnitten Brot.«

Holly blieb einen Moment stumm. Dann sagte sie: »Du bist nicht nur ein Scheißkapitalist, du bist auch ein Zyniker.«

»Jeder Zyniker ist ein verhinderter Idealist«, sagte Jochen. »Du kannst kein Buch schreiben, das die Welt verändert.«

»Aber ich kann ein Buch schreiben, in dem die Leute nicht für dumm verkauft werden. Das ehrlich ist und hinter dem ich stehen kann.«

»Genau so ein Buch möchte ich von dir«, sagte Jochen, und sie hörte, dass er lächelte.

Sie legte auf. Mistkerl.