Über Loki Schmidt

Loki Schmidt (1919–2010) machte sich unter anderem durch ihr Engagement für den Pflanzen- und Naturschutz einen Namen, wofür sie den Professorentitel und die Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Biologie der Universität Hamburg erhielt. Bei Hoffmann und Campe veröffentlichte sie Die Botanischen Gärten in Deutschland (1997), Die Blumen des Jahres (2003), Loki. Hannelore Schmidt erzählt aus ihrem Leben (2003), Mein Leben für die Schule (2005), Erzähl doch mal von früher. Loki Schmidt im Gespräch mit Reinhold Beckmann (2008), Auf dem roten Teppich und fest auf der Erde (2010) und Auf einen Kaffee mit Loki Schmidt (2010).

Vorwort

»Erzähl doch mal von früher.« – Das war für mich schon als Drei-, Vierjährige das Schönste. Darum lief ich hinter meinen Eltern oder meiner Großmutter her und zupfte am Schürzenzipfel, am Rocksaum oder Hosenbein. Früher war mein Vater als Matrose auf einem Kriegsschiff nach Afrika gefahren, deshalb konnte er von Menschen und bunten Märkten erzählen. Früher stillte meine Großmutter bei Kerzenschein heimlich spätabends ihre Lesebegeisterung, deshalb konnte sie mir Teile aus Goethes Faust aus dem Kopf vortragen. Früher hatte meine Mutter als Kind mit der zahmen weißen Ratte von Tante Mia gespielt. Früher waren aber auch das Flugzeug und der Zeppelin über Hamburg gewesen. Und früher gab es das Auto von Onkel Herbert.

Ich habe die Fragen von Reinhold Beckmann, so gut ich konnte, beantwortet. Mir ist aber bei unseren Gesprächen auch deutlich geworden, wie sehr sich seit meiner Kinderzeit die Welt verändert hat. Neunzig Jahre sind fast ein Jahrhundert. Die kulturell lebendigen zwanziger Jahre, die Weltwirtschaftskrise und die Nazizeit mit dem Krieg und der großen Zerstörung meiner Vaterstadt sind für Reinhold Beckmann Geschichte. Für mich sind sie Teil meines Lebens. Ich bin dankbar, dass ich Reinhold Beckmann heute, nach einer langen Friedenszeit, behaglich vom Auf und Ab meines Lebens berichten kann.

 

Hamburg, im September 2008  Loki Schmidt

Manchmal wirken Situationen und Begegnungen sofort ganz unmittelbar und vertraut. So saß ich Loki Schmidt im Arbeitszimmer ihres Hauses in Langenhorn gegenüber. Es war vom ersten Augenblick an eine Begegnung voller Sympathie und Offenheit. Über viele Wochen trafen wir uns regelmäßig inmitten einer kleinen, handverlesenen Bibliothek. Rings um uns in den Regalen die vielfach übersetzten Werke ihres Mannes, aufgereiht und wohlsortiert. Doch bevor allzu große Ehrfurcht vor so viel kluger Welterkenntnis und politischer Weitsicht das Klima beherrschen konnte, ergriff Loki die Initiative. Hanseatisch liebenswürdig und ziemlich pünktlich um elf Uhr empfing sie mich zum zweiten Frühstück. Es gab Vollkornbrot mit Butter und Käse in appetitlich klein geschnittenen Häppchen.

Wer sich mit Loki Schmidt verabredet, sollte Folgendes beachten: Da wäre zunächst die geradezu preußische Disziplin, mit der sie konsequent ihren Bio-Rhythmus befolgt. Und ein leidenschaftliches Verhältnis zum Passivrauchen kann nicht schaden. Was manch einer in öffentlichen Räumen vermisst, gibt es im Hause Schmidt im Übermaß: Hier hängt der Himmel wie in alten, verqualmten Tagen noch voll mit blauem Dunst. An einem solchen Ort empfand ich es als feige und verweichlicht, zum Lüften ans Fenster zu treten.

Unsere Gespräche entwickelten bald eine eigene Dynamik. Da saß ich, der gut ihr Sohn hätte sein können, und fragte mich neugierig durch ihr wechselvolles Leben. Ein weiter Bogen von einer sehr einfachen, positiv erlebten Kindheit bis zu den Gedanken an die unvermeidlich letzten Dinge. Loki Schmidts Blick zurück spiegelt facettenreich und teilweise verblüffend beinahe ein ganzes Jahrhundert Zeitgeschichte. Dabei wählte sie schon als Mädchen einen sehr unabhängigen Blickwinkel auf ihre Umgebung und ließ sich davon nie mehr abbringen. Bezeichnend ihre Feststellung, als sie über ihre Rolle als zukünftige Kanzlergattin kurzerhand für sich beschloss: »Ich werde mich in Bonn nicht verbiegen lassen.«

Bei fast allen Themen sprach Loki Schmidt spontan, pointiert und sehr persönlich. Und nur ganz selten fiel der Satz: »Jetzt schalten Sie dieses Ding doch mal aus, Herr Beckmann.« Mal trat Privates in den Vordergrund, ein andermal wusste sie mit feinen Strichen ihr Schicksal und das ihres Mannes mit dem Rauschen und Raunen der Zeitgeschichte zu verbinden. Und das alles stets selbstbewusst und reflektiert, zwischen heiteren, aber auch melancholischen Momenten. Für Loki Schmidt, so hat sie es mir gestanden, waren unsere Treffen eine große Motivation, sich noch einmal auf den Weg durch ihr Leben zu machen. Ihr ist es ein Anliegen, die nächsten Generationen an ihren Erfahrungen und Einsichten teilhaben zu lassen. Wer wie sie nie aufgehört hat zu lernen, verliert nicht das Vertrauen, dass wir alle voneinander lernen können.

Wir nahmen uns also die Zeit, da und dort innezuhalten. So begegneten wir Menschen und ließen Lebensabschnitte Revue passieren, die ihr Schicksal, aber auch das unseres Landes entscheidend geprägt haben. Des öfteren gab es zur Aufmunterung zwischendurch die von ihr geliebten Ingwerkekse. Und gelegentlich schaute Helmut Schmidt auf dem Weg ins Büro der Zeit auf eine Zigarettenlänge vorbei. Er setzte sich dazu und war sofort mitten im Gespräch. Da war sie greifbar, die Vertrautheit einer Beziehung von einundachtzig Jahren.

Wenn Helmut Schmidt dieser Tage anlässlich seines neunzigsten Geburtstags als herausragende Persönlichkeit der bundesdeutschen Geschichte geehrt wird, ist dies unausgesprochen auch eine Hommage an seine Frau, die ihn über Jahrzehnte begleitete. Ihre Schilderungen von den Anfängen bis hin zu ihrem Dasein als Kanzlergattin und weit darüber hinaus lesen sich wie ein ganz eigenes, sehr aufschlussreiches Kapitel deutscher Geschichte. Sie hat stillen Anteil am politischen Wirken ihres Mannes – auch das habe ich in den Gesprächen mit ihr zu verstehen gelernt.

Wer sich mit Loki Schmidt über all die gemeinsamen Jahre ihrer lebenslangen Partnerschaft unterhält, ist immer wieder erstaunt. Ein Leben mit vielen persönlichen Prüfungen und Hindernissen, in dem sie durch Weitsicht und Geduld allen Schwierigkeiten begegnete. Es ist beeindruckend, mit wie viel Souveränität und Menschlichkeit sie an der Seite ihres Mannes ein eigenständiges Leben geführt hat und ihm dabei doch stets nah geblieben ist.

 

Ich danke Tanja Krawczyk, Marcus Foag und Wolfgang Weismantel für ihre Unterstützung.

 

Hamburg, im September 2008  Reinhold Beckmann

»Honni, Honni, aus dem Land von Karbonni«

Eine Kindheit in Hamburg

3. März 1919, Hannelore Glaser kommt in einem Hamburger Arbeiterviertel in Hammerbrook in der Schleusenstraße zur Welt. Was war das für ein Haus, und wer wohnte alles dort?

Es war ein großes Etagenhaus. Ich vermute einmal, 1880 gebaut, mit drei oder vier Etagen. Meine Großeltern, meine Eltern und die zwei jüngeren Schwestern meiner Mutter mit ihren Männern wohnten da. In einem kleinen Zimmer wohnte Thora. Sie hieß eigentlich Viktoria Griese und war die Tochter einer Nachbarin meiner Großeltern, einer ledigen Mutter – das hat es immer gegeben. Sie lebte in einer winzigen Wohnung mit ihrer kleinen Tochter. Tagsüber ging sie arbeiten. Dann bekam sie Tuberkolose und starb. Daraufhin haben meine Großeltern Thora zu sich genommen: »Eine mehr, darauf kommt es auch nicht an.« Sonst hätte sie sofort ins Waisenhaus gemusst.

Von dem Tag an gehörte Thora fest zur Familie?

Ja, meine Großeltern, meine Mutter und meine Tanten waren ihre Familie. Nebenbei erwähnt: Von Vater Staat gab es keine finanzielle Hilfe, wenn man ein Kind aufnahm.

Was war mit Haustieren?

Ein Hund war im Haus: Wulli war ein kleiner Dackel. Er kniff mich als Dreijährige immer in die Waden. Dann kletterte ich auf einen kleinen Stuhl und rief Großmuddel, die mich retten musste.

Als Dreijährige mit »Bodderlecker« und von der Mutter genähtem Kleid. Das Bilderbuch gehörte dem Fotografen; zu Hause gab es keins.

Quelle: Archiv Helmut Schmidt

Die Lage der Schleusenstraße in Hammerbrook war ja nicht ganz ungefährlich.

Ich weiß, dass meine Großmutter mit mir, wenn Hochwasser eintrat, die Straße entlangging. Es gab eine kleine Anhöhe, von der aus man in den Hafen gucken konnte und wo eine richtige Kanone stand. Mit der wurde »Hochwasser geschossen«.

Sie sind ein paar Jahre später umgezogen.

Das erinnere ich noch ganz genau – auf eine Schott’sche Karre, eigentlich nur eine Plattform mit vier Rädern und einer Deichsel, wurden die Möbel geladen, die meinen Eltern gehörten. Obendrauf kam das Bettzeug, und darauf wurde mein Bruder gesetzt. Der war ja erst drei Jahre alt. Er bekam eine Papierlaterne in die Hand mit der Weisung: Die musst du immer hochhalten, damit die Leute und die Pferdewagen auf der Straße uns auch sehen. Das Ganze fand natürlich in der Dunkelheit statt, nach der Arbeit. Drei Freunde haben geholfen. Die Wohnung kann ich noch genau beschreiben, auch die Möbel. Die Wohnung hatte höchstens 28 Quadratmeter.

Was bot die Wohnung sonst noch?

Strom gab es nicht, sondern Gas. Draußen am Haus befand sich an einem geschwungenen schmiedeeisernen Arm eine Gaslaterne. In der Wohnung gab es in der Küche und im Wohnzimmer eine Gaslampe. Die Blumensträuße, die mein Vater häufiger mitbrachte, waren nach zwei Tagen verwelkt wegen des Gases. Dass die Gasbeleuchtung auch für uns Menschen ungesund war, spielte keine Rolle, schließlich war die Wohnung billig. Mein Vater bekam in der Woche 27 Mark ausbezahlt, die Miete betrug 27 Mark im Monat.

Es blieben dann noch drei mal 27 Mark übrig für das Leben.

Meine Mutter ging häufig zum Nähen, und Thora kam, um die drei Kinder zu versorgen.

Gab’s ein WC?

Nein. Diese Wohnung – für heutige Verhältnisse unvorstellbar – hatte einen Ausguss mit einem Wasserhahn neben der Wohnungstür. Das war der einzige Wasserhahn in der Wohnung. Ein WC gab es nicht, sondern einen Austritt im Treppenhaus ohne Fenster. Ich vermute, dass da ein Goldeimer war.

Ein Goldeimer und so eine Art Plumpsklo?

Ja, ein Plumpsklo. Wir Kinder hatten vor diesem Klo im Treppenhaus eine scheußliche Angst. Deswegen stand in unserem Schlafzimmer außer den drei Betten und dem Kleiderschrank noch ein Stuhl in der Mitte, unter dem sich ein Töpfchen befand.

Um bloß nicht wieder zum Klo gehen zu müssen. Was war das Scheußliche an diesem Plumpsklo, das den Kindern so viel Angst gemacht hat?

Die Dunkelheit. Da war ja kein Fenster. Und man musste ins Treppenhaus.

Da war einem das Töpfchen doch näher.

Kalt war die Wohnung aber auch. In der Küche befand sich ein großer Herd, wie sie früher üblich waren. Darauf stand ein zweiflammiger Gasherd. Manchmal, im Winter, wurde aber auch der große Herd in Betrieb genommen. Das Kinderschlafzimmer war ungeheizt. Das Kabuff, in dem meine Eltern schliefen, natürlich auch. Nur das Wohnzimmer war noch zu heizen. Dort war ein Kohleofen.

Wie hat Mutter die Wäsche gewaschen?

Mit einem großen Topf auf dem Kohleherd und natürlich mit einer Ruffel.

Was ist eine Ruffel?

Eine Holzunterlage, ungefähr 80 Zentimeter, das heißt ein dickes Holzbrett, auf dem ein wellenförmiges Blech befestigt war.

Darauf konnte man schrubben.

Ja. Jeden Sonnabend wurde auch auf dem Kohleofen ein großer Topf mit Wasser erwärmt. Dann kam die Badewanne, eine Zinkwanne.

Eine mobile Zinkwanne. Die wurde in die Küche gestellt.

Die stand in der Küche unter einem Arbeitstisch. Sitzen konnte man in der Küche nicht. Einen Stuhl gab es nicht, sondern nur einen Arbeitstisch. Darunter stand die Wanne für die sonnabendlichen Badevergnügungen. Natürlich alle Kinder im selben Wasser.

Gab es eine klare Reihenfolge, wer zuerst in die Wanne durfte? Wie war das bei den Glasers?

Meine Eltern haben immer erst uns drei Kinder gebadet. Obwohl sie alles andere als prüde waren, haben sie selbst nie mit in der Wanne gebadet. Sie sind zwar manchmal ohne was in der Wohnung umhergelaufen, sodass mir der Unterschied zwischen Mann und Frau selbstverständlich und vertraut war. Auch wir Kinder sind häufig nackt herumgelaufen. Aber gründlich gewaschen haben sich meine Eltern nie vor den Augen ihrer Kinder.

Waren Sie als Älteste berufen, als Erste ins Badewasser steigen zu können?

Das weiß ich nicht mehr. Ich meine, dass wir zu zweit in der Wanne gesessen haben. Wenn man die Knie hochzog, konnte einer auf der einen und der andere auf der anderen Seite sitzen. Außerdem macht es viel mehr Spaß. Nach dem Badevergnügen gab es am Sonntagmorgen frische Unterwäsche.

Gab es denn ein besonderes Erlebnis in diesen Jahren?

In den zwanziger Jahren – wahrscheinlich 1928 – kam mein Vater einmal abends nicht von der Arbeit nach Hause. Auf unser Fragen hin sagte unsere Mutter: »Papa ist einige Wochen auf Montage.« Wir erfuhren, dass unser Vater eine wichtige Arbeit zu verrichten habe: Weit entfernt von Hamburg gebe es ein kleines Schlösschen an der Elbe, erzählte sie. Sie meinte das Herrenhaus Haseldorf in der Elbmarsch stromabwärts. Dort war eine Überlandleitung neu errichtet worden, sodass der Hof mit allen Gebäuden an das Stromnetz angeschlossen werden konnte. Bis dahin hatte es nur Kerzen und Petroleumlampen als Lichtquelle gegeben. Uns Kindern erschien der Gedanke, dass unser Vater in einem Schloss arbeitete und allein alle Leitungen legen konnte, wie aus einem Märchen.

Haben Sie Ihren Vater einmal besucht?

An einem Wochenende im Sommer. Die S-Bahn bis Wedel gab es schon. Von da an folgte ein langer Fußmarsch. Unsere kleine Schwester war erst sechs Jahre alt. Aber wir erreichten Haseldorf und wurden von unserem Vater in die Arme geschlossen. Dann begrüßte uns die Wirtschafterin und brachte uns in die riesige Schlossküche. In der Mitte des Raumes stand ein so großer Tisch, wie ich noch nie einen gesehen hatte. In dem großen Raum mit niedriger Decke aßen alle Arbeiterinnen und Arbeiter von Haseldorf dreimal am Tag zusammen. Jetzt waren wir allein dort.

Und was gab es Schönes?

Die Wirtschafterin sagte zu uns: »Es gibt was Feines: Wildente mit Rotkohl.« Als wir unser Fleisch klein geschnitten hatten, steckte ich erwartungsvoll ein Stück in den Mund und kaute und kaute. Ich sah meinen Bruder an: Er kaute und kaute. Der Vanillepudding schmeckte besser. Bald mussten wir zurück. Und kurze Zeit darauf war unser Vater auch mit seiner Arbeit fertig.

Wann hat Ihr späterer Mann Sie zum ersten Mal in Ihrer Wohnung besucht?

Wir waren schon in der Lichtwarkschule, als er mir mal eine Mütze nach Hause gebracht hat.

Dann ist er den ganz langen Weg rüber von Barmbek in die Baustraße in Hamburg-Borgfelde?

Ja. Solche Wege waren eine Selbstverständlichkeit.

Haben Sie die Mütze mit Absicht vergessen, damit er mal zu Ihnen nach Hause kommt?

Nein.

Als junges Mädchen lässt man sich doch was einfallen.

Wie alt war ich da? Rechnen Sie mal! Auf die Idee wäre ich nie gekommen.

Wir sind aus der kleinen Wohnung ausgezogen, als ich elf Jahre alt war.

Ihr Mann erzählt, für ihn sei es ein einschneidendes Erlebnis gewesen, als er Ihre Baskenmütze, die Sie bei ihm zu Hause vergessen hatten, in die Wohnung Ihrer Eltern in die Baustraße in Hamburg-Borgfelde zurückbringen musste.

Sein Entsetzen habe ich nicht mitgekriegt. Das hat er mir erst viel später erzählt. Er ist in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen.

Für Ihren späteren Mann stellte sich die Frage: Wie kann man dort leben? Nach dem Motto: Lieber Gott, dass Menschen so leben müssen! So hat er es formuliert.

Ich weiß. Für ihn und viele meiner Klassenkameraden war allein die Tatsache, dass man nicht klingeln konnte, sondern klopfte und die Tür aufging und man in der Küche stand, komisch. Dramatisch wurde es, wenn man mal musste.

Kam denn Helmut Schmidt nach diesem Erlebnis als Zwölfjähriger später trotzdem vorbei?

Wir sind dann bald nach Horn umgezogen. Da ist er häufiger gewesen.

Wie war’s im Winter, wenn’s kalt wurde?

Da wurde ein Backstein unten ins Bett gelegt. Der wurde erst auf dem Ofen gewärmt, dann in Zeitungspapier, das immer wieder benutzt wurde, eingewickelt und ins Bett gelegt.

War es außergewöhnlich, wenn jemand eine Zeitung mit nach Hause brachte, oder war eine Zeitung regelmäßig da?

Nein, bei uns nicht. Kostete ja Geld.

Schellingstraße 9 in Hamburg-Eilbek: Wohnhaus der Familie Schmidt ab ca. 1931.

Quelle: Archiv Helmut Schmidt

Wie sah der Krämerladen in der Nachbarschaft aus?

Erst einmal musste man fünf Stufen von der Straße heruntergehen. Die Scheibe fing auf Trottoirniveau an, sonst wäre nämlich kein Licht in den Laden gefallen. Strom gab es nicht. Es gab zwei Fässer, und zwar hübsch anzusehende Fässer mit sehr hellen Holzdauben. In dem einen war Butter, in dem anderen Margarine. Verpacktes gab es nicht, außer den ganz kleinen Maggi-Würfeln.

Ich nehme an, das wichtigste Gerät im Krämerladen war die Waage?

Alles – Haferflocken, Grieß, Nudeln – befand sich in Säcken oder Schubladen und wurde ausgewogen. Natürlich gab es keine elektrische Waage, sondern eine richtig schöne Waage. Auf der einen Seite befand sich eine Messingschale, die immer fabelhaft geputzt war, auf der anderen Seite eine Plattform mit den Gewichten. Die Gewichte waren unterschiedlich. Alles, was über ein Pfund war, waren Eisengewichte, alles darunter Messing.

Wie wurde die Margarine gekühlt?

Der Eismann kam ab und an mit einem Eisblock, der zwischen Margarine und Butter geschoben wurde. Was ich immer bewundert habe bei diesem Krämer: Wenn man Butter oder Margarine kaufte, nahm er zurechtgeschnittenes Pergamentpapier und einen Holzspachtel, mit dem er ins Fass ging. Er klatschte Butter oder Margarine auf das Papier, wog es, und meistens hatte er so ungefähr die richtige Menge.

Und als Älteste waren Sie für den Einkauf zuständig?

Natürlich hat meine Mutter eingekauft. Doch es war nicht so wie heute, dass man einmal in der Woche einkauft. Jeden Tag holte man irgendetwas Kleines, das gerade fehlte, zum Beispiel fast jeden Tag ein Viertelpfund Kaffee. Meine Eltern hatten schon aus finanziellen Gründen kein Verlangen nach Alkohol oder Luxusartikeln, aber Kaffee – ja. Meine Mutter kochte noch eine Tasse Kaffee, wenn wir Kinder im Bett waren. Meine Eltern tranken abends eine Tasse starken Kaffee, und dann gingen sie ins Bett.

Geschäft der Großmutter Helmut Schmidts im Mundsburger Damm.

Quelle: Archiv Helmut Schmidt

Wie wurden die Lebensmittel denn verpackt?

Es gab zwei verschiedene Arten von Tüten. Alles, was ein Pfund und drüber wog, kam in eine rechteckige Tüte, alles, was darunter war, in eine spitze, beide aus Papier natürlich. Kunststoff wurde ja erst später verwendet. Die spitzen Tüten waren sehr begehrt bei uns Kindern. Wenn sie leer waren, konnte man sie aufschlitzen, sodass genau ein Quadrat entstand, das sehr schön zu bemalen war. Außerdem konnte man es noch vierteilen und als Klopapier benutzen. Bei dem Krämer gab es keinen Käse zu kaufen, sondern nur grünen Käse. Den kennen Sie wahrscheinlich gar nicht mehr.

Nein, was ist grüner Käse?

Das ist ein Kräuterkäse, und zwar ein etwa 15 Zentimeter hoher Kegel und sehr hart. Man musste diesen Käse also auf der Reibe reiben.

Und als Kind haben Sie den Käse gehasst, nehme ich an?

Wir haben den Käse geliebt. Meine Mutter hat ihn gerieben. Ein bisschen später war ich dafür zuständig. Dann habe ich ein Viertelpfund Margarine schaumig gerührt, diesen Kegel in mühevoller Arbeit gerieben und beides vermischt. Das war ein wunderbarer Brotaufstrich. Heute würde man sagen, so eine Art Kräuterschmelzkäse, aber eben durch die Margarine ziemlich fetthaltig. Im Sommer gab es abends außerdem frische Gurken-, Tomaten- oder Radieschenscheiben aufs Brot, häufiger auch Weißkäse.

Was ist das?

Den gibt es leider auch nicht mehr. Das war ein fester, trockener Quarkblock – etwa 20 Zentimeter im Quadrat –, von dem man dicke Scheiben abschneiden konnte. – Im Winter kamen manchmal Bananenscheiben aufs Brot oder Feigen- oder Dattelstücke. Häufig gab es Schmalz, besonders beliebt, wenn Apfelstücke drin waren. Ab und zu wurde auch ein Ei hart gekocht. Wurst war selten auf dem Brot, höchstens mal eine Leberwurst. Meine Eltern hatten an der Volkshochschule, die gleich nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden war, unter anderem einen Kurs über gesunde Ernährung besucht. Das war der Grund für den für die damalige Zeit etwas ungewöhnlichen Brotbelag.

Was war mit der Milch? Gab es damals einen Milchmann, der täglich vorbeikam?

Ja, er kam mit einer Karre. Zwischen den beiden Rädern hingen mindestens drei große Milchkannen, wie man sie heute noch auf Bauernhöfen sieht. Dieser Wagen wurde von einem Hund gezogen. Der Milchmann kam jeden Tag. Er rief nicht. Das hatte er nicht nötig, denn er kam immer zur selben Zeit. Die Leute warteten schon.

Die Milch war nicht pasteurisiert und nicht chemisch behandelt, das heißt, wenn sie länger zu Hause stand, legte sich so eine schöne Schicht darüber, und dann konnte man mit der Milch was Besonderes machen.

Erst einmal konnte man die Rahmschicht abschöpfen, aber die Milch wurde natürlich verhältnismäßig schnell sauer. Wenn sie sauer werden sollte – das sollte sie häufiger im Sommer –, tat meine Mutter sie gleich auf tiefe Teller – für jeden einen Teller. Da setzte sich auch oben der Rahm ab. Es dauerte höchstens einen halben Tag, dann war die Milch fest, und wenn auf diese Dickmilch dann noch Zucker gestreut wurde …

Mit Zimt?

Eigentlich ganz kleine Schwarzbrotkrümel.

Bei uns gab es dicke Milch immer mit Zimt und Zucker und kleinen Krümeln mit Schwarzbrot, und wer Schwarzbrot nicht mochte, bekam Zwiebackstücke obendrauf.

Ich wollte gerade sagen, eine richtig schöne Dickmilch ist tausendmal leckerer als sämtlicher Joghurtkram.

Was war mit Vitaminen und Gemüse?

Einiges Gemüse und Kartoffeln kauften wir beim »Gemüsemann«. Er hatte seinen Laden auch im Keller, aber in unserer Terrasse – in diesem Durchgang von der einen Straße zur anderen. Dort befand sich ein etwa zwei Meter großer Verschlag, in dem die Kartoffeln waren. Im Winter hatte er Steckrüben, Weißkohl und Rotkohl, wobei der Rotkohl mit Abstand das Teuerste war. Dazu kamen noch ein paar nicht ganz einwandfreie Wurzeln, Möhren. Im Sommer gab es bei ihm kaum Gemüse, das hätte sich da unten im Keller wahrscheinlich auch nicht lange gehalten. Es gab vielleicht zwei Wochen mal grüne Bohnen, die aber ganz schnell ausverkauft waren, und höchstens eine Woche Palerbsen – Erbsen, die noch in der Schote waren, sie wurden ja nicht so wie heute aus dem Gefrierschrank geholt. Da wir täglich Gemüse aßen, kauften wir bei einem Händler weiter entfernt.

Das war doch lecker, die Palerbsen als Kind aufzumachen und zum Leidwesen der Eltern vorher schon alle roh aufzuessen.

Und die Schalen erst! Die schmecken fabelhaft. Die Schale hat ja innen eine sehr harte Haut, um die Kerne zu schützen. Wir hatten aber einen Dreh, dass wir sie knickten, und dann konnte man die Erbsen pulen. Das taten wir mit Wonne, auch wenn wir die Anweisung hatten, nicht so viele Erbsen zu essen.

Was war mit dicken Bohnen? Gab es die damals?

Die waren wahnsinnig teuer und hießen in Hamburg »Große Bohnen«. Das war früher hier in Hamburg eine Delikatesse, besonders in der Matjeszeit, wenn sich die Kaufleute zum eleganten Essen trafen. Es gab dann große Bohnen und auf Eis gelegte Matjesfilets. Dazu eine Speckstippe, also eine Specksoße, und neue Kartoffeln natürlich. Das habe ich nie gegessen, sondern immer nur davon gehört. Wir haben gelegentlich auch mal große Bohnen gegessen, aber eigentlich waren die zu teuer für uns.

Was war denn die Lieblingsspeise, das Lieblingsessen der jungen Loki Glaser?

Ich mochte alles gern, was unsere Mutter kochte. Bei uns gab es die Gewohnheit, dass wir – ob viel Geld oder wenig da war – zu unserem Geburtstag mittags etwas auswählen konnten. Mein Lieblingsessen, das höchste der Gefühle, waren Schneidebohnen in einer leichten Milchsoße mit viel Petersilie und ein kleines Stück Beefsteak. Das war für mich als Kind der Inbegriff von Luxus. Ich wünschte mir immer Schneidebohnen in Milch gestovt und Beefsteak. Meine Geschwister, die alle Anfang August Geburtstag haben, hatten da mehr Schwierigkeiten. In dieser Zeit waren wir meist auf dem Heidegrundstück meiner Großeltern. Dafür kriegten sie dann nachmittags beim Bäcker ein ganzes Blech mit Apfelkuchen.

Mit schön viel dickem Zucker drauf?

Ja, vor allem kam dann der Anfangsbuchstabe mit Zuckerguss drauf, und das Stück wurde rausgeschnitten, und das kriegte das Geburtstagskind.

Purer Zucker und ein bisschen Apfel.

Nein, auch Teig.

Gab es Bananen?

Ganz, ganz selten und wenn, dann auf Brot. Mein Vater hatte 1926 das Kinderzimmer gestrichen und einen großen Tukan an die Wand gemalt. Als wir nach Hause kamen und das Bild fertig war, lag auf jedem Bett eine ganze Banane. Mein Vater berichtete uns: »Die hat der Tukan euch mitgebracht.« Das war wie Geburtstag, Weihnachten und Neujahr zusammen, eine ganze Banane für jedes Kind.

Gleich verschlungen?

Möglichst schnell. – Mir ist noch was eingefallen. Natürlich gab es gelegentlich auch mal Fleisch. Vielleicht wird es für Sie jetzt ein bisschen unappetitlich. Meine Mutter kaufte, wie es damals hieß, einen »Herzschlag«. Das waren die beiden Lungenflügel, entweder vom Rind oder vom Schwein, aber meistens vom Rind, das ganze Adergeäst und das Herz. Das kostete verhältnismäßig wenig. Das Herz schnitt meine Mutter vorher ab, es wurde in Scheiben geschnitten und wie Beefsteak gebraten. Das war was Leckeres. Das andere wurde sauber gewaschen und in einem großen Topf gekocht. Anschließend wurden all die verschiedenen Adern abgeschnitten und weggetan und die Lungenflügel durch den Fleischwolf gedreht. Dann gab es Lungenhaschee. Da war Gewürzgurke drin, und alles wurde pikant abgeschmeckt, das mochten wir gern.

Und gab es auch gebratene Gehirngrütze?

Bregen.

Ja, Bregen. Wir hatten noch einen anderen Namen dafür, Hackewack. Das fanden meine Brüder und ich sehr schmackhaft, wenn das so angebraten war.

Also Bregen sauber gemacht, einmal gebrüht, damit er ein bisschen härter war, in Scheiben geschnitten und knusprig gebraten.

Und eventuell noch eine Scheibe Brot drunter.

Das erinnere ich auch noch, aber nicht aus dieser Zeit, sondern ein bisschen später.

Welche Süßigkeiten gab es?

Für uns Kinder selten mal Kuchen. Aber ein Straßenhändler verkaufte »Honni, Honni aus dem Land von Kabonni«. Das war Türkischer Honig, aber ganz hart. Hin und wieder kam der Mann mit seinem kleinen Wagen und rief pausenlos »Honni, Honni aus dem Land von Kabonni«. Er hatte einen Spachtel, mit dem er von dem Block etwas abhackte, und das kam dann in eine Tüte und wurde abgewogen. Wir haben aber nichts gekauft, denn wir hatten ja nie Taschengeld.

Haben Sie sich als Kind gefragt, wo dieses Schlaraffenland Kabonni liegt?

Keine Ahnung, es klang einfach nur gut. Diesen Ruf höre ich noch heute. Das waren die Süßigkeiten, die man auf der Straße kaufen konnte.

Gab es denn irgendeine Süßigkeit als Nachtisch zu Hause, die an bestimmten Tagen für Sie etwas Besonderes war?

Vanillepudding war natürlich immer was Besonderes, den gab es verhältnismäßig häufig.

Mit ein bisschen Saft drauf?

Mit Saft, und zwar mit Himbeersirup, den man in einem anderen Geschäft, so viertelliterweise, kaufen konnte.

Was war Ihr Lieblingsgericht?

Als mein Vater 1932 arbeitslos wurde, ging meine Mutter fast täglich bis abends zum Nähen zu Bekannten, zum Teil wohlhabenden Familien. Gleich nach der Schule kochte ich für meine Geschwister. Das Lieblingsessen kann ich sogar noch in Gewichten angeben. Es hieß »Buntes Huhn«, hatte mit Huhn aber nichts zu tun. Fünf Pfund Kartoffeln, fünf Pfund Wurzeln, ein Viertelpfund fetter Speck und ein großer Strauß Petersilie. Kartoffeln schälen, Wurzeln schälen, getrennt kochen, Kartoffeln abgießen, stampfen, aber so, dass sie nicht wie Kartoffelmus wurden, sondern etwas stückiger. Das kam dann in die Wurzeln hinein. Das Viertelpfund Speck habe ich in kleine Würfel geschnitten, ausgebraten, und wenn es so gelbknusprig war, wurde es mit den Wurzeln und Kartoffeln vermischt. Darüber kam ganz viel gehackte Petersilie, was dann doch sehr farbig war, darum »Buntes Huhn«. Das liebten meine Geschwister, nur wollten sie dann hinterher auch immer meine »Schwanensuppe« haben.

Was ist »Schwanensuppe«?

Eine Zitrone dünn abschälen, die Schale kochen, bis das Wasser ein bisschen gelblich ist und schon stark nach Zitrone riecht, Schale rausfischen, Grieß hinein, sodass es eine dickliche, aber nicht dicke Suppe wird, ein Ei und Zucker. Das Ei trennen, das Eigelb ganz vorsichtig mit der heißen Suppe vermengen, Eiweiß schlagen und mit dem Teelöffel lauter kleine Klößchen auf die heiße Suppe setzen, das sind die Schwäne.

Das geschäumte Eiweiß waren die Schwäne, die dann auf der Suppe entstanden?

Der steife Eischnee wurde mit dem Löffel auf die heiße Suppe gesetzt, dadurch erstarrte es. Eigentlich waren es mehr Ostereier. Manchmal habe ich dann noch eine Spur Kakao oben auf die Schwäne getan. Dieses Essen, »Buntes Huhn« und …

… »Schwanensuppe« …

… das fanden meine Geschwister am allerschönsten. Und wenn ich gefragt habe, was ich denn bloß mal kochen soll, und wieder keine Zeit hatte, weil ich aus der Schule kam, dann war’s diese Suppe.

Bei uns zu Hause gab es noch den »Falschen Hasen«.

Ostern 1925: Erster Schultag. Helmut Schmidt mit »Ränzel«, Brottasche und den damals typischen Wollstrümpfen.

Quelle: Archiv Helmut Schmidt

Den gab es bei uns auch, aber Hack war natürlich teurer als der Herzschlag. Das gab es nicht so häufig, aber »Falscher Hase«, so richtig im Backofen gebacken und in Scheiben geschnitten, mhm, das war ein Festessen.

Was von diesen Speisen von damals ist denn heute noch auf dem Tisch der Schmidts zu finden?

Erst einmal muss ich eins sagen: Da wir inzwischen so alt sind, ist unser Magen klein geworden. Wir staunen immer, wie wenig wir essen, aber das ist vielleicht normal. »Buntes Huhn« würde mein Mann heute noch mit Vergnügen essen, Wurzelgemüse auch – ob ich darüber nun den ausgebratenen Speck mache oder lieber einen ordentlich großen Löffel Butterschmalz, ist die Frage. Petersilie liebe ich zwar sehr, aber mein Mann nicht so. Deswegen habe ich mir abgewöhnt, über alles Gemüse Petersilie zu streuen. Ansonsten koche ich noch vieles, was es zu unserer Kinderzeit gab: viel frisches Gemüse, wenig kurz gebratenes Fleisch, ab und zu ein Stück Fisch. Allerdings essen wir seit langem morgens einen frisch zubereiteten Obstsalat, den es zu meiner Kinderzeit aus finanziellen Gründen nur selten gab.

Wie war denn die Kinderkleidung damals? Gab es Weihnachten immer etwas Besonderes?

Zu Weihnachten gab es einen bunten Teller und manchmal ein Paar Strümpfe. Zu Weihnachten 1946 – wir waren vier Jahre verheiratet, und ich war siebenundzwanzig Jahre alt – habe ich von meinen Schwiegereltern eine wunderbare knallgrüne Wollunterhose bekommen, die mein Schwiegervater, glaube ich, im Tauschhandel erstanden hat, eine wollene Unterhose, nicht ganz bis zu den Knien.

Wie sah die Mädchenkleidung zu Ihrer Kinderzeit aus?

Die Mädchenkleider gingen alle, besonders im Winter, bis zu den Knien. Im Sommer waren sie kürzer. Ich rede jetzt von kleinen Mädchen, von Mädchen, sagen wir mal, bis vierzehn etwa. Die Hosen der Jungs hörten kurz über dem Knie auf. Erst als Einzelne in die Bündische Jugend gingen, das heißt, Ende der zwanziger Jahre, kamen die kürzeren Hosen. In der Nazizeit waren die Hosen ja kurz, da wurden sie möglichst noch aufgekrempelt. Im Herbst und im Winter sah man an kurzen Hosen seitlich noch schwarze Strippen. Damals trugen auch die Jungs bis dreizehn noch eine Art Leibchen, an dem Knöpfe mit Gummibändern waren. Daran wurden die langen Strümpfe befestigt. Kniestrümpfe kamen erst ein bisschen später auf.

Weihnachten bei Familie Schmidt 1935.

Quelle: Archiv Helmut Schmidt

Das heißt, die Jungs sind lange in kurzer Hose gelaufen, teilweise auch in der Winterzeit?

Ja, aber mit langen Wollstrümpfen im Winter. Jungs mit langen Hosen kannte ich nur bei Konfirmanden oder feierlichen Anlässen, wenn sie zum Beispiel bei einer Hochzeit Blumen streuen mussten. Ich habe als Kind einmal so eine ganz feierliche Hochzeit in Bergedorf mitgemacht, da hatten die Jungs lange Hosen an. Das fand ich eigentlich schick.

Was für Spiele hatten Sie zu Hause?

Spiele und Spielzeug hatten wir kaum. Wenn wir mit unserer Mutter in den Hammer Park gingen, sammelten wir Zweige, Moos und Blätter. Daraus bauten wir uns alles Mögliche. Vor allem spielten wir miteinander, zum Beispiel: »Ich seh, ich seh was. Wie glänzt das?« Unsere Eltern erzählten uns auch viel, besonders, wenn wir baten: »Erzähl doch mal von früher!« Unser Vater konnte sehr spannend von seinen Reisen an der Westküste Afrikas berichten, wo er vor dem Ersten Weltkrieg bei der Marine gedient hatte. Erst viel später ist mir aufgefallen, dass er nur von der Vorkriegszeit und nie vom Krieg erzählt hatte.

Wir hatten ein Puppenhaus, das mein Vater hergestellt hatte. In den dreißiger Jahren gab es ein Mühlespiel, später hatten wir ein Schachspiel. Ein sehr simples. Mein Vater hat meinem Bruder und mir die Regeln erklärt, aber er hat nie mit uns gespielt.

Warum nicht?

Irgendwann fällt es einem neugierigen Mädchen auf. Da habe ich ihn gefragt, und er hat mir Folgendes erzählt: Vor dem ersten Krieg musste er seine Militärzeit absolvieren. Er war Matrose und hat Fahrten an die westafrikanische Küste gemacht. Es gab eigentlich nicht viel zu tun. Da haben die Matrosen Schach gespielt – immer noch ein Spiel. Dann haben sie wieder auf das Wasser geguckt, wo es nicht viel zu sehen gab. Plötzlich hat mein Vater festgestellt, dass er nachts dauernd vom Schachspiel träumt und gar nicht richtig schläft, sondern sich Züge ausdenkt. Da hat er gesagt: Ich will nicht mehr Schach spielen.

Geht’s Ihnen manchmal genauso, bringt das Schachspiel Sie manchmal um den Schlaf?

Möglicherweise habe ich davon ein bisschen geerbt. Mir geht es so, wenn ich mal zwei Partien am Tag gespielt habe und ruhig dasitze – wie wir beide jetzt oder auch mit Gästen –, dann fange ich plötzlich an, mit den Sachen, die auf dem Tisch stehen, Schachzüge zu machen.

Wenn wir jetzt mal Schach spielen, würden Sie hier den kleinen Käsebehälter und die Butter verschieben?

Nein. Ich schiebe nicht. Nur im Kopf.

Was wäre denn das jetzt hier?

Wenn sich jetzt der Milchtopf bewegt, könnte er den Käse schlagen und möglicherweise sogar noch das Brötchen, oder die Wasserflasche macht einen Rösselsprung und geht dann hierher. Also, ich hab nichts bewegt. Das hat keiner gemerkt.

Sind die Figuren oft geflogen? Haben Sie sich gestritten?