Rachel Wells liebt Katzen, so lange sie denken kann, und will sich ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen. Selbst die erste winzige Wohnung in London teilte sie mit Albert, einem Kater aus dem Tierheim. Heute lebt sie mit ihrer Familie und ganz vielen Haustieren im ländlichen Devon.
ALFIE
KEHRT HEIM
Roman
Aus dem Englischen von
Sonja Fehling
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Digitale Neuausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Rachel Wells
Titel der englischen Originalausgabe: »Alfie the Doorstep Cat«
Originalverlag: Avon, an imprint of HarperCollinsPublishers
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Freya Gehrke, Göttingen
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © Nynke van Holten/shutterstock; Luis Santos/shutterstock; Dmytro Surkov/shutterstock; Potapov Alexander/shutterstock; ChompooSuppa/shutterstock
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-1485-4
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Ginger, meinen ersten Kater,
den ich an der Leine Gassi geführt habe und
der sich von mir wie eine Puppe behandeln ließ.
Du weilst schon lange nicht mehr unter uns,
aber ich werde dich nie vergessen.
»Das Haus auszuräumen wird nicht lange dauern«, sagte Linda.
»Du bist echt ’ne grenzenlose Optimistin. Schau dir doch nur mal den ganzen Mist an, den deine Mutter angesammelt hat«, erwiderte Jeremy.
»Jetzt bist du unfair. Sie hat wirklich schönes Porzellan, und außerdem kann man nie wissen: Einiges davon ist vielleicht sogar was wert.«
Ich tat, als würde ich schlafen, aber ich hatte die Ohren gespitzt und konnte genau hören, was sie sagten. Gleichzeitig versuchte ich, meinen Schwanz davon abzuhalten, unruhig hin und her zu peitschen. Ich hatte mich auf dem Stuhl zusammengerollt, den Margaret am liebsten mochte – oder besser gesagt: gemocht hatte –, und beobachtete ihre Tochter und ihren Schwiegersohn dabei, wie sie über das weitere Vorgehen diskutierten; und damit auch über meine Zukunft. Die vergangenen Tage waren schrecklich verwirrend gewesen, vor allem, weil ich noch gar nicht richtig begriff, was passiert war. Was ich allerdings verstand, während ich lauschte (und mich dabei bemühte, nicht in Tränen auszubrechen): Mein Leben würde nie mehr dasselbe sein.
»Sehr unwahrscheinlich. Auf jeden Fall sollten wir ein Entrümpelungsunternehmen beauftragen. Von dem Krempel wollen wir ja ganz sicher nichts aufheben.« Vorsichtig, damit sie es nicht mitbekamen, riskierte ich einen Blick. Jeremy war groß, grauhaarig und übellaunig. Ihn hatte ich nie besonders gemocht, aber die Frau, Linda, war immer nett zu mir gewesen.
»Ich würde gerne ein paar von Mums Sachen behalten. Sie wird mir fehlen.« Linda fing an, zu weinen, und am liebsten hätte ich jaulend mit eingestimmt, aber ich blieb stumm.
»Ich weiß, mein Schatz.« Jeremys Stimme wurde weicher. »Aber wir können nicht ewig hierbleiben. Jetzt, wo die Beerdigung vorbei ist, müssen wir das Haus zum Verkauf ausschreiben lassen, und, na ja, wenn wir es ausgeräumt haben, können wir in ein paar Tagen fahren.«
»Es fühlt sich nur so endgültig an. Aber du hast natürlich recht.« Sie seufzte. »Und was machen wir mit Alfie?« Ich richtete mich auf. Genau darauf hatte ich gewartet. Was würde aus mir werden?
»Wir werden ihn wohl ins Tierheim bringen müssen.« Ich konnte fühlen, wie mir die Haare zu Berge standen.
»Ins Tierheim? Aber Mum hat so an ihm gehangen. Es käme mir grausam vor, ihn jetzt einfach wegzugeben.« Ich wünschte, ich hätte meine Zustimmung äußern können – das war mehr als grausam.
»Aber du weißt doch, dass wir ihn nicht mit nach Hause nehmen können. Schatz, wir haben zwei Hunde. Eine Katze passt nicht zu uns, das muss dir doch klar sein.«
Ich war äußerst erbost. Es war ja nicht einmal so, als hätte ich unbedingt zu ihnen gewollt, aber ins Tierheim würde ich auf keinen Fall gehen.
Tierheim. Allein das Wort ließ mich am ganzen Leib erzittern; welch unpassender Name für etwas, das wir in der Katzengemeinschaft als »Todeszelle«, bezeichneten. Einige Katzen mochten ja Glück haben und in ein neues Zuhause vermittelt werden, aber wer wusste schon, wie es dort mit ihnen weiterging. Wer sagte, dass die neue Familie sie anständig behandelte? Die Katzen, die ich kannte, waren sich alle einig, dass ein Tierheim kein schöner Ort war. Und wir wussten nur zu gut, dass auf diejenigen, die kein neues Zuhause fanden, der Tod wartete.
Um nichts auf der Welt würde ich dieses Risiko eingehen, auch wenn ich mich durchaus für einen gut aussehenden Kater mit gewissem Charme hielt.
»Du hast ja recht, die Hunde würden ihn bei lebendigem Leibe auffressen. Und im Tierheim sind sie heutzutage ja sehr auf Zack, bestimmt finden sie schnell ein neues Zuhause für ihn.« Sie schwieg kurz, als ließe sie sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen. »Nein, es geht nicht anders. Morgen früh rufe ich beim Tierheim an, und ein Entrümpelungsunternehmen suche ich auch raus. Ich denke, dann können wir auch einen Makler beauftragen.« Jetzt klang sie schon viel selbstsicherer, und ich wusste, dass damit mein Schicksal besiegelt war. Es sei denn, ich unternahm etwas dagegen.
»Jetzt denkst du wieder klar. Ich weiß, es ist schwer, aber deine Mum war alt, Linda, und um ehrlich zu sein, kam es ja nicht gerade überraschend.«
»Das macht es aber auch nicht leichter.«
Mit den Pfoten hielt ich mir die Ohren zu. Mir schwirrte der Kopf. In den vergangenen zwei Wochen hatte ich meine Besitzerin verloren, den einzigen Menschen, den ich je richtig gekannt hatte. Mein Leben war völlig auf den Kopf gestellt worden, und ich war todunglücklich, einsam und – wie es aussah – auch obdachlos. Was um alles in der Welt sollte ein Kater wie ich jetzt tun?
Ich war das, was man wohl als »Schoßkatze«, bezeichnen würde. Ich hatte nicht das Bedürfnis, die ganze Nacht draußen zu sein und zu jagen, herumzustreunen oder mich mit anderen Katzen zu treffen. Warum auch, schließlich hatte ich immer einen warmen Schoß, Futter und jede Menge anderer Annehmlichkeiten gehabt. Außerdem war ich nie allein gewesen: Ich hatte eine Familie gehabt. Doch dann war mir all das genommen worden, und nur mein gebrochenes Katerherz war übrig geblieben. Zum ersten Mal war ich vollkommen allein.
Fast mein ganzes Leben lang hatte ich in dem kleinen Reihenhaus gewohnt, bei Margaret, meiner Besitzerin. Ich hatte sogar eine Schwester namens Agnes gehabt, wobei: Eigentlich war sie mehr wie eine Tante gewesen, schließlich war sie wesentlich älter als ich. Als Agnes vor einem Jahr in den Katzenhimmel gegangen war, hatte ich einen Schmerz empfunden, den ich nie für möglich gehalten hätte. Aber ich hatte ja noch Margaret, die mich sehr liebte, und in unserer Trauer gaben wir uns gegenseitig Trost. Wir hatten beide sehr an Agnes gehangen und vermissten sie schrecklich, unser Kummer schweißte uns zusammen.
Erst vor Kurzem hatte ich allerdings erfahren, wie grausam das Leben wirklich sein konnte. Einige Wochen zuvor war Margaret eines Tages morgens nicht mehr aufgestanden. Ich hatte keine Ahnung gehabt, was mit ihr los war und was ich tun sollte – ich war ja schließlich nur ein Kater –, daher hatte ich mich einfach neben sie gelegt und gejault, so laut ich konnte. Zum Glück sollte an diesem Tag eine Krankenpflegerin kommen, die einmal in der Woche nach Margaret schaute. Beim Klang der Türklingel hatte ich schweren Herzens meinen Platz an Margarets Seite verlassen und war durch die Katzenklappe nach draußen geschlüpft.
»Oje, was hast du denn?«, hatte die Pflegerin gefragt, während ich aus vollem Halse gejault hatte. Erneut hatte sie auf die Klingel gedrückt, und ich hatte sie mit der Pfote am Bein gestupst – in dem sanften, aber bestimmten Versuch, ihr klarzumachen, dass etwas nicht stimmte. Schließlich hatte sie den Zweitschlüssel benutzt und Margarets leblosen Körper gefunden. Während die Pflegerin einige Anrufe gemacht hatte, war ich bei Margaret geblieben und hatte gewusst, dass sie für immer von mir gegangen war. Nach einer Weile waren dann ein paar Männer gekommen, um sie fortzutragen, und ich hatte nicht aufhören können, zu jaulen. Als sie mich nicht mit Margaret hatten mitgehen lassen, war mir klar geworden, dass mein Leben, so wie ich es kannte, vorbei war, und ich hatte gejault, bis ich heiser war.
Während Jeremy und Linda ihr Gespräch fortsetzten, sprang ich leise vom Stuhl und verließ das Haus. Auf der Suche nach den anderen Katzen der Nachbarschaft streunte ich durch die Gegend. Ich wollte sie um Rat fragen, aber da es fast Abendbrotzeit war, hatte ich Mühe, jemanden zu finden. Schließlich suchte ich eine liebe ältere Katze namens Mavis auf, die am anderen Ende der Straße wohnte. Laut miauend setzte ich mich vor ihre Katzenklappe. Sie wusste, dass Margaret gestorben war; sie hatte gesehen, wie man sie abgeholt hatte, und mich wenig später in meinem trauernden Zustand vorgefunden. Sie war eine mütterliche Katze – ein bisschen so wie Agnes – und hatte sich um mich gekümmert, mich jaulen lassen, bis ich keine Stimme mehr hatte. Geduldig war sie bei mir geblieben und hatte ihr Futter und ihre Milch mit mir geteilt, bis Linda und Jeremy gekommen waren.
Als sie mich rufen hörte, kam sie durch die Katzenklappe gesprungen, und ich erzählte ihr von meiner misslichen Lage.
»Sie können dich nicht mitnehmen?«, fragte sie und schaute mich dabei aus traurigen Augen an.
»Nein. Sie meinten, sie hätten Hunde, und, na ja, mit Hunden will ich sowieso nicht zusammenwohnen.« Bei dem Gedanken schüttelte es uns beide.
»Wer will das schon?«, bemerkte Mavis.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, jammerte ich und bemühte mich, nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Mavis schmiegte sich an mich. Vor jenen Ereignissen waren wir uns nicht so nah gewesen, aber sie war eine sehr einfühlsame Katze, und ich war dankbar, sie zur Freundin zu haben.
»Alfie, du darfst nicht zulassen, dass sie dich ins Tierheim bringen«, warnte sie mich. »Ich würde mich ja um dich kümmern, aber ich fürchte, das geht nicht. Ich bin alt und müde, und meine Besitzerin ist nicht viel jünger, als deine Margaret es war. Du musst jetzt ein tapferer kleiner Kater sein und dir eine neue Familie suchen.« Liebevoll rieb sie ihren Hals an meinem.
»Aber wie mache ich das?«, fragte ich. Noch nie hatte ich mich so verloren und ängstlich gefühlt.
»Ich wünschte, ich hätte eine Antwort darauf. Sei einfach stark, und denk immer an das, was du gerade gelernt hast: Es gibt keine Sicherheit im Leben.«
Wir rieben unsere Nasen aneinander, und ich wusste, dass es nun Zeit war, zu gehen. Ein letztes Mal lief ich zurück zu Margarets Haus, um es mir einzuprägen, bevor ich wegging. Ich wollte, dass dieses Bild sich für immer in mein Gedächtnis einbrannte, damit ich es auf meine Reise mitnehmen konnte, in der Hoffnung, dass es mir Kraft geben würde. Traurig betrachtete ich Margarets Krimskrams, den sie immer als ihre »Schätze« bezeichnet hatte, die Bilder an den Wänden, die mir so vertraut waren, den Teppich, der ganz abgewetzt war an den Stellen, wo ich an ihm gekratzt hatte, als ich noch zu jung gewesen war, um es besser zu wissen. Ich war untrennbar mit diesem Haus verschmolzen. Und jetzt hatte ich keine Ahnung, was aus mir werden würde.
Obwohl ich keinen besonderen Appetit hatte, zwang ich mich, das Futter zu essen, das Linda mir hingestellt hatte (schließlich wusste ich nicht, wann ich das nächste Mal etwas in den Magen bekommen würde). Dann blickte ich mich zaudernd ein letztes Mal in meinem Zuhause um, in dem ich mich immer so sicher und geborgen gefühlt hatte. Ich dachte an die Lektionen, die ich hier gelernt hatte. In den vier Jahren, die ich in diesem Haus gewesen war, hatte ich viel über die Liebe gelernt, und ebenso über Verlust. Man hatte für mich gesorgt, aber das war jetzt vorbei. Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleiner Kater hier eingezogen war. Daran, wie Agnes mich nicht hatte leiden können und mich behandelt hatte, als wäre ich eine Bedrohung für sie. Daran, wie ich schließlich doch ihr Herz gewonnen hatte und wie Margaret uns verwöhnt hatte, als wären wir die wichtigsten Katzen der Welt. Ich dachte daran, wie viel Glück ich gehabt hatte, doch das war nun aufgebraucht. Während ich um das einzige Leben trauerte, das ich kannte, fühlte ich instinktiv, dass es nun ums Überleben ging, auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte. Ich machte mich bereit für den Sprung ins Ungewisse.
Gebrochenen Herzens und voller Furcht vor der Alternative verließ ich das einzige Zuhause, das ich je gekannt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hingehen sollte und wie ich zurechtkommen würde, aber lieber baute ich auf mich selbst und meine beschränkten Fähigkeiten als auf ein Tierheim. Ein Kater wie ich brauchte ein liebevolles Zuhause. Während ich mich davonschlich, mitten in die dunkle Nacht hinein und bibbernd vor Angst, suchte ich nach einer Methode, um mir Mut zu machen. Ich wusste zwar nur sehr wenig von der Welt, doch einer Sache war ich mir absolut sicher: Nie mehr wollte ich allein sein. Ich sehnte mich nach einem Schoß – oder besser gleich mehreren –, auf dem ich mich niederlassen konnte. Mit diesem Ziel vor Augen nahm ich all meinen Mut zusammen und hoffte – und betete –, dass er mich nicht verlassen würde.
Tapfer trabte ich los und ließ mich dabei von meinen Sinnen leiten. Ich war es nicht gewohnt, in der dunklen, wenig einladenden Nacht durch die Straßen zu streunen, aber ich konnte gut sehen und hören und sagte mir immer wieder, es würde schon alles gut gehen. Zur Ermutigung stellte ich mir vor, wie Margaret und Agnes mich anfeuerten, während ich über den Asphalt lief.
Die erste Nacht war hart – beängstigend und lang. Irgendwann – mittlerweile war der Mond aufgegangen – fand ich einen Schuppen am hinteren Ende eines Gartens. Zum Glück, denn vor Erschöpfung taten mir schon die Beine weh. Die Tür stand offen, und drinnen war es zwar staubig und voller Spinnweben, aber ich war viel zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen. Ich rollte mich einfach auf dem harten, schmutzigen Boden zusammen und schlief sofort ein.
Mitten in der Nacht riss mich ein lautes Jaulen aus dem Schlaf, und ein schwarzer Kater ragte drohend über mir auf. Vor lauter Schreck machte ich einen Satz. Wütend starrte der Kater mich an, und obwohl mir die Beine zitterten, versuchte ich, mich nicht einschüchtern zu lassen.
»Was machst du hier?«, zischte er und fauchte aggressiv.
»Ich wollte nur schlafen«, antwortete ich und bemühte mich erfolglos, dabei selbstbewusst zu klingen. Da ich nicht so ohne Weiteres an ihm vorbeikommen würde, richtete ich mich zitternd auf und versuchte, möglichst bedrohlich auszusehen. Der Kater grinste nur – ein ziemlich böses Grinsen –, und beinahe wäre ich eingeknickt. Dann holte er aus und versetzte mir mit ausgefahrenen Krallen einen Hieb über den Kopf. Ich jaulte auf und fühlte den Schmerz an der Stelle, wo er mich gekratzt hatte. Am liebsten hätte ich mich einfach nur zu einer Kugel zusammengerollt, aber ich wusste, dass ich diesem boshaften Kater entkommen musste. Wieder attackierte er mich, und seine Krallen glänzten im Mondlicht, während er zum erneuten Schlag in mein Gesicht ausholte, doch zum Glück war ich wendiger als er. Ich machte einen Satz in Richtung Tür und schoss an ihm vorbei, streifte noch sein borstiges Fell, schaffte es aber tatsächlich nach draußen. Er drehte sich um und zischte mich erneut an. Ich fauchte zurück, dann rannte ich davon, so schnell meine kleinen Beine mich trugen. Völlig außer Atem hielt ich irgendwann an, schaute mich um und stellte fest, dass ich allein war. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in eine gefährliche Situation geraten, und ich spürte, dass ich mir ein dickeres Fell zulegen musste, wenn ich überleben wollte. Mit der Pfote glättete ich mir den Pelz und versuchte, dabei den Kratzer zu ignorieren, der immer noch brannte. Mir ging auf, dass ich schnell war, wenn es darauf ankam – eine Fähigkeit, die ich nutzen konnte, um mich aus der Gefahrenzone zu retten. Schließlich machte ich mich wieder auf den Weg, auch wenn ich dabei noch etwas in mich hineinjaulte. Blinde Angst durchströmte mich, trieb mich jedoch gleichzeitig auch an. Ich blickte in den Nachthimmel, hinauf zu den Sternen, und fragte mich – wieder einmal –, ob Agnes und Margaret, wo immer sie auch sein mochten, mich sehen konnten. Ich hoffte es, aber natürlich wusste ich es nicht. Ich wusste überhaupt sehr wenig.
Als ich mich endlich wieder sicher genug fühlte, eine Pause zu machen, hatte ich einen Bärenhunger. Außerdem war es furchtbar kalt. Bisher war ich es gewohnt gewesen, jeden Tag bei Margaret vor dem warmen Kamin zu sitzen, deshalb war mir dieses neue Leben völlig fremd. Mir war klar, dass ich, wenn ich Futter haben wollte, auf die Jagd gehen musste; etwas, das in der Vergangenheit selten nötig gewesen war und womit ich daher auch nicht viel Erfahrung hatte. Ich ließ mich von meiner Nase leiten und entdeckte schließlich einige Mäuse, die vor einem großen Haus um die Mülltonnen herumwuselten. Trotz meiner Abneigung – normalerweise aß ich nur Dosenfutter, außer zu besonderen Anlässen, wenn Margaret mir Fisch gegeben hatte – trieb ich eine der Mäuse in eine Ecke und erlegte sie. Solchen Hunger verspürt hatte ich noch nie gehabt, deshalb war sie beinahe schmackhaft, und sie gab mir die Energie, die ich brauchte, um meine Reise fortzusetzen.
Bis zur Morgendämmerung lief ich weiter. Zwischendurch jagte ich meinen Schwanz und übte Sprünge, um mich daran zu erinnern, dass ich immer noch ich war: Alfie, der verspielte Kater. Während ich eine dicke Fliege verfolgte, fiel mir jedoch ein, dass ich lieber mit meinen Kräften haushalten sollte; ich wusste ja nicht, wo und wann ich die nächste Mahlzeit bekommen würde.
Immer noch ohne die leiseste Ahnung, wohin ich eigentlich lief, kam ich an eine große Straße, und mir wurde klar, dass ich auf die andere Seite musste. Straßen und Verkehr war ich nicht gewohnt; als ich noch klein war, hatte Margaret mir eingeimpft, um beides einen großen Bogen zu machen. Autos und Lastwagen rasten an mir vorbei, es war laut und angsteinflößend. Mit klopfendem Herzen stand ich auf dem Bürgersteig, bis sich schließlich eine Lücke auftat. Fast hätte ich die Augen zugekniffen und wäre einfach losgerannt, aber stattdessen beruhigte ich erst einmal meine zitternden Beine, bevor ich noch irgendetwas Dummes tat. Ängstlich setzte ich eine Pfote auf die Straße und fühlte die Erschütterung, die der herannahende Verkehr voraussandte. Gellend ertönte eine Hupe, und als ich mich nach rechts wandte, sah ich zwei riesige Scheinwerfer auf mich zurasen. Ich machte einen Satz nach vorn und rannte so schnell wie noch nie in meinem Leben. Zu meinem Entsetzen spürte ich, wie etwas meinen Schwanz streifte. Ich jaulte auf, sprang, so weit ich konnte, und landete auf dem Bürgersteig. Mein Herz raste, als ich mich umdrehte und sah, wie ein Auto an mir vorbeisauste. Fast hätte ich daruntergelegen. Ich fragte mich, ob ich damit eins meiner sieben Leben aufgebraucht hatte – eigentlich war ich mir dessen sogar ziemlich sicher. Irgendwann, als ich wieder zu Atem gekommen war, trieb die Angst mich weiter, und mit gummiweichen Knien lief ich los, weg von der Straße, bis ich einige Minuten später vor einem Gartentor zusammenbrach.
Nach einer Weile wurde eine Haustür geöffnet, und eine Frau mit einem Hund an der Leine trat aus dem Gebäude. Wild bellend sprang der Hund auf mich los, und schon wieder musste ich mich aus der Gefahrenzone bringen. Ärgerlich zog die Frau an der Leine und schimpfte den Hund aus, weil der mich wütend anknurrte. Doch ich fauchte zurück.
Ich lernte gerade ziemlich schnell, dass die Welt da draußen ein gefährlicher und feindlicher Ort war, der meilenweit von meinem Zuhause, Agnes und Margaret entfernt lag. Langsam fragte ich mich, ob es im Tierheim nicht doch sicherer gewesen wäre.
Doch es führte kein Weg zurück. Inzwischen hatte ich keine Ahnung mehr, wo ich war. Ich war erst am Anfang meiner Reise und wusste nicht, wohin es mich ziehen oder was mit mir passieren würde, aber natürlich hatte ich da so meine Vorstellungen. Ich dachte mir schon, dass ich eine weite Strecke würde zurücklegen müssen, doch im Hinterkopf malte ich mir immer aus, wie mich eine nette Familie – oder vielleicht ein süßes kleines Mädchen – finden und in ihr Zuhause aufnehmen würde. Auch die nächsten Wochen über, während ich mit den täglichen Schrecken kämpfte, manchmal sogar um mein Leben rannte und mich oft so fühlte, als würde ich bald vor Hunger zusammenbrechen, behielt ich stetig dieses Bild vor Augen.
An diesem zweiten Tag war ich allerdings mittlerweile völlig orientierungslos, durstig und müde. Der Adrenalinspiegel, der mich bisher angetrieben hatte, sank langsam, und mir wurden die Glieder schwer.
Schließlich führte mein Weg mich in eine Seitengasse, in der ich – wenn ich von Zaun zu Zaun sprang und wie eine Ballerina balancierte – meine Reise würde fortsetzen können, hoch genug, um Gefahren rechtzeitig zu sehen und mich sicher zu fühlen. Ich zapfte meine letzten Energiereserven an und setzte mein Vorhaben in die Tat um. Irgendwann entdeckte ich einen Garten, in dem auf einem Pfahl ein großer Trinknapf mit Wasser stand; Margaret hatte auch so einen in ihrem Garten gehabt, für die Vögel. Ich sprang vom Zaun, und es gelang mir, auf den Pfosten zu klettern. So durstig, wie ich war, hätte ich in diesem Moment allerdings auch den höchsten aller Berge bestiegen. Gierig und dankbar löschte ich meinen Durst. Zwischendurch scheuchte ich einige Vögel weg – das war jetzt mein Wasser. Als ich den Napf so gut wie leer getrunken hatte, kehrte ich zu den Zäunen zurück und machte mich wieder auf den Weg, entfernte mich immer weiter von meinem alten Leben.
Die zweite Nacht verlief zum Glück ohne Zwischenfälle. Zwar begegnete ich einigen anderen Katzen, aber die ignorierten mich. Sie waren viel zu sehr mit ihrem Katzengejammer beschäftigt, oder damit, sich gegenseitig zu begatten.
Das meiste, was ich über andere Katzen wusste, hatte ich von Agnes gelernt – die sich kaum noch bewegen konnte, als wir uns kennenlernten –, und von den anderen Katzen in unserer Straße, die im Allgemeinen nett waren – besonders Mavis, die sich so lieb um mich gekümmert hatte. Nur zu gern hätte ich die fremden Katzen angesprochen und um Hilfe gebeten, aber sie sahen alle so beschäftigt aus. Nach dem Zwischenfall mit dem schwarzen Kater hatte ich außerdem Angst, und so trottete ich jedes Mal vorsichtig davon.
Am nächsten Morgen hatte ich das Gefühl, als hätte ich eine ganz ordentliche Strecke zurückgelegt. Da ich schon wieder hungrig war, beschloss ich, mich so hübsch wie möglich herauszuputzen, in der Hoffnung, dass irgendeine freundliche Katze mir etwas von ihrem Futter abgeben würde. Vor einem Haus mit einer leuchtend roten Tür stieß ich auf eine Artgenossin, die sich gerade sonnte. Zögerlich trat ich näher und schnurrte.
»Du meine Güte«, sagte die Katze, die ziemlich dick war und ein getigertes Fell hatte. »Du siehst ja furchtbar aus.« Fast wäre ich beleidigt gewesen, aber dann fiel mir wieder ein, dass ich mich, seit ich Margarets Haus verlassen hatte, nicht wirklich gepflegt hatte – schließlich war ich hauptsächlich damit beschäftigt, am Leben zu bleiben und nicht in Schwierigkeiten zu geraten.
»Ich bin obdachlos und habe Hunger«, miaute ich.
»Komm mit, ich geb dir was von meinem Frühstück ab«, bot sie mir an. »Aber danach musst du verschwinden. Meine Besitzerin kommt bald zurück, und sie mag es gar nicht, wenn Streuner im Haus sind.« Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich ja tatsächlich ein Streuner war. Ich hatte kein Zuhause, keine Familie, niemanden, der mich beschützte. Ich gehörte zu den unglücklichen Katzen, die sich allein durchschlagen mussten. Die in Angst lebten, ständig Hunger hatten und immer müde waren. Die sich nie richtig gut fühlten und nie auch nur annähernd hübsch aussahen. Nun war ich einer von ihnen, und das war ein schreckliches Gefühl.
Dankbar aß und trank ich und machte mich dann wieder auf den Weg, nachdem ich mich bei der Katze bedankt und mich von ihr verabschiedet hatte. Ich wusste nicht einmal ihren Namen.
Mein geistiger Zustand spiegelte meine körperliche Verfassung wider. Der Kummer war mittlerweile zu einem Teil von mir geworden; mein Herz schmerzte, weil ich Margaret mit jeder Faser meines Fells vermisste. Aber immerhin war ich geliebt worden, von meiner Besitzerin und meiner Katzenschwester, und ich war es ihnen und ihrer Liebe schuldig, durchzuhalten. Jetzt, da mein Bauch wieder gefüllt war und ich neue Energie in mir spürte, machte ich mich bereit, genau das zu tun: durchzuhalten.
Die Tage verstrichen, und damit wuchs auch die Entfernung zwischen meinem alten Zuhause und meinem Ziel – wo auch immer das liegen mochte. Ich begegnete einigen netten und einigen bösen Katzen, außerdem vielen gemeinen Hunden, denen es Spaß machte, mich anzubellen, die mich aber zum Glück nicht erwischten. Mein Leben war ein Balanceakt, im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich balancierte, sprang und lief auch über noch so schmale Wege, und dabei spürte ich die ganze Zeit, wie meine Energien schwanden. Ich lernte, mich zu wehren, wenn es nötig wurde; obwohl Aggressivität eigentlich nicht in meiner Natur lag, schien mein Überlebenswille sie doch hervorzubringen. Während ich Autos, Katzen und Hunden auswich, entwickelte ich langsam eine gerissenere Persönlichkeit.
Trotzdem wurde ich von Tag zu Tag dünner; mein früher so glänzendes Fell war stellenweise kahl, ich fror und war ständig müde. Ich bekam kaum noch mit, wie ich es überhaupt schaffte, zu überleben, und hätte nie gedacht, dass mein Leben einmal so verlaufen würde. Noch nie war ich so traurig gewesen, oder so einsam. Wenn ich schlief, hatte ich Albträume, und wenn ich aufwachte, fiel mir meine missliche Lage wieder ein, und ich musste weinen. Es war eine furchtbare Zeit, und manchmal wollte ich nur noch, dass sie endlich vorbei wäre. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich noch durchhalten würde.
Das Leben auf der Straße konnte hart und gnadenlos sein. Sowohl in körperlicher als auch geistiger Hinsicht forderte es seinen Tribut von mir, und ich fühlte mich so elend, dass es mir Schwierigkeiten bereitete, eine Pfote vor die andere zu setzen.
Das Wetter spiegelte meine Stimmung wider. Es war kalt, und ständig regnete es. Nie schien mein Fell ganz trocken zu sein, und die Kälte kroch mir bis in die Knochen. In der ganzen Zeit, die ich schon heimatlos war – und meine liebevolle zukünftige Familie suchte –, war das süße kleine Mädchen nie aufgetaucht. Niemand war bisher zu meiner Rettung angetreten, und so langsam glaubte ich, dass auch keiner mehr kommen würde. Zu sagen, ich hätte mich selbst bemitleidet, wäre noch untertrieben gewesen.
Wieder einmal kam ich an eine Hauptstraße. Straßen machten mir immer noch Angst; mittlerweile konnte ich sie besser überqueren, aber jedes Mal, wenn ich vom Bordstein sprang, hatte ich das Gefühl, als müsste ich die Beine in die Pfoten nehmen und um mein Leben rennen. Ich hatte gelernt, mir mit dem Überqueren Zeit zu lassen, selbst wenn ich dann lange warten musste. Also saß ich einfach da und bewegte den Kopf von links nach rechts, bis die Lücke im Verkehr groß genug aussah, um sicher auf die andere Seite zu gelangen. Trotzdem rannte ich wieder, so schnell ich konnte, und kam völlig außer Atem drüben an. Leider war ich so damit beschäftigt gewesen, über die Straße zu kommen, dass ich den kleinen, dicken Hund nicht bemerkt hatte, der auf der anderen Seite stand. Knurrend und mit gefletschten Zähnen baute er sich vor mir auf, Speichel tropfte ihm aus dem Maul. Dummerweise war er nicht angeleint, und sein Besitzer war nirgends in Sicht.
»Zischhhhh!«, antwortete ich in dem Versuch, ihn von einem Angriff abzuhalten, und das, obwohl ich furchtbare Angst hatte. Jetzt war er so nah, dass ich ihn riechen konnte. Er bellte mich an, und plötzlich machte er einen Satz nach vorn. So erschöpft ich auch war, ich sprang zurück und rannte los, aber ich konnte seinen Atem an meiner Schwanzspitze fühlen. Ich erhöhte das Tempo, wagte einen Blick nach hinten und sah, dass er mir dicht auf den Fersen war und schon nach selbigen schnappte. Für einen so fetten Hund war er ganz schön schnell, und im Laufen hörte ich ihn wütend bellen. Schließlich bog ich um eine Ecke und landete in einer Seitengasse. Haken schlagend rannte ich weiter, so schnell mich meine Beine trugen. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde ich langsamer, und als ich nur noch Stille hörte, blickte ich mich um. Zum Glück war der Hund nirgends zu sehen. Ich war ihm entkommen.
Mit klopfendem Herzen verlangsamte ich das Tempo noch weiter und trabte die Gasse hinunter, die zu einigen Schrebergärten führte, wo die Menschen Gemüse anbauten. Da es immer noch regnete, waren nur wenige Leute draußen, und so setzte ich selbstbewussten Schrittes meinen Weg fort – durchnässt und müde, wie ich war –, auf der Suche nach einem Unterschlupf. In einem der Schrebergärten fand ich einen Schuppen, dessen Tür leicht offen stand. Ich war zu erschöpft, um mir Gedanken zu machen über das, was mich dahinter erwarten könnte, und stupste die Tür sanft mit der Nase auf. Mir war so kalt und ich fühlte mich so schutzlos, dass ich Angst hatte, ernsthaft krank zu werden, wenn ich nicht bald einen trockenen Schlafplatz aufspürte.
Auf leisen Pfoten schlich ich mich in den Schuppen und war dankbar, als ich auf der gegenüberliegenden Seite eine Decke fand. Zwar roch sie muffig und fühlte sich ein bisschen kratzig an, und sicher war es hier nicht so komfortabel, wie ich es aus meinem alten Leben gewohnt war, aber in diesem Moment kam ich mir vor wie in einem Palast. Ich rollte mich zusammen und rubbelte mir das Fell trocken, so gut es ging. Obwohl ich halb verhungert war, konnte ich mich nicht dazu aufraffen, nach Futter zu suchen.
Ich hörte den Regen auf das Dach des Schuppens prasseln und weinte leise in mich hinein. Mir wurde bewusst, dass ich ein ganz schön verwöhnter Kater gewesen war. Wenn ich an all die Dinge dachte, die ich in meiner Zeit bei Margaret für selbstverständlich gehalten hatte, kam eine ziemlich lange Liste zusammen. Ich hatte in der Gewissheit gelebt, dass man mich füttern würde, dass ich es warm hatte, dass man mich liebte und sich um mich kümmerte. An kalten Tagen hatte ich in Margarets Wohnzimmer vor dem Kamin gesessen. Oder mich am Fenster gesonnt. Ich war rundum verhätschelt worden, und mein Leben war der reinste Luxus gewesen. Es war seltsam, dass mir erst jetzt, wo ich all das nicht mehr hatte, klar wurde, wie viel Glück ich gehabt hatte.
Was sollte nur aus mir werden? Als Mavis mir geraten hatte, fortzugehen, hatte ich nicht vorhergesehen, wohin das führen würde. Ich hätte niemals geglaubt, dass ich hier landen und mich fragen würde, ob ich noch länger durchhalten konnte. Ich wusste wirklich nicht, ob ich in der Lage wäre, weiterzulaufen. Würde meine Reise hier enden, in diesem Schuppen, auf einer stinkenden Decke? War das etwa mein Schicksal? Ich hoffte, nicht, aber mir fiel auch keine Alternative ein. Selbstmitleid war fehl am Platz, das war mir klar, doch ich konnte nicht anders. Mein altes Leben fehlte mir so, und ich wusste einfach nicht, wie meine Zukunft aussehen würde.
Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, starrte mich ein funkelndes Augenpaar an. Ich blinzelte. Vor mir stand eine Katze, schwarz wie die Nacht, deren Augen leuchteten wie zwei Taschenlampen.
»Ich will keinen Ärger«, sagte ich schnell und dachte im Stillen, dass ich mich wohl widerstandslos von ihr töten lassen würde, falls sie mich angriff.
»Dachte ich’s mir doch, dass ich einen Kater gerochen hab. Was machst du hier?«, fragte sie, klang aber nicht aggressiv dabei.
»Ich wollte mich nur ausruhen. Ein Hund hat mich gejagt, und irgendwie bin ich dann hier gelandet. Es war warm und trocken, deshalb …«
»Bist du eine Straßenkatze?«, fragte sie.
»Eigentlich nicht, aber ich schätze, im Moment schon«, entgegnete ich traurig.
Die Katze machte einen Buckel. »Hör zu, das ist mein Jagdrevier. Ich bin eine Straßenkatze, und mir gefällt das. Hier tummelt sich eine schöne Auswahl an Beutetieren auf Futtersuche – Mäuse, Vögel, du weißt schon. Dieser Schuppen ist so was wie mein Reich. Ich will nur sichergehen, dass du dich hier nicht breitmachst.«
»Natürlich nicht!«, rief ich empört. »Ich hab nur Schutz vor dem Regen gesucht.«
»Mit der Zeit gewöhnst du dich daran«, meinte sie. »Gott bewahre« hätte ich am liebsten gesagt, aber ich wollte meine neue Kameradin nicht gleich verärgern. Langsam erhob ich mich und ging auf sie zu.
»Wird es irgendwann leichter?« Ich fragte mich, ob meine Zukunft wirklich so aussah.
»Ich weiß nicht, aber man gewöhnt sich dran.« Ihre Augen verdunkelten sich. »Wie auch immer, komm mit. Ich nehm dich mit auf die Jagd und zeig dir, wo du was zu trinken findest, aber morgen früh verschwindest du, okay?« Ich akzeptierte ihre Bedingungen.
Doch obwohl ich aß und trank, fühlte ich mich nicht besser. Als ich mich wieder auf der Decke zusammenrollte und meine neue Freundin mich verließ, betete ich um ein Wunder, denn so, wie die Dinge gerade standen, würde ich diese Reise wohl nicht überleben.
Wie versprochen machte ich mich am folgenden Morgen wieder auf den Weg, aber ich war verzweifelt. In den nächsten Tagen lernte ich eine Menge widersprüchlicher Emotionen kennen. An einem Tag hatte ich das Gefühl, nicht mehr weiterzukönnen; das Wetter, der Hunger und die Einsamkeit erschütterten mich bis ins Mark. Dann, am Tag darauf, trieb ich mich wieder an und bläute mir ein, dass ich es Margaret und Agnes schuldig war, nicht aufzugeben. Ich schwankte zwischen der Hoffnungslosigkeit, nie ans Ziel zu kommen, und meiner Entschlossenheit, nicht zu versagen.
Was das Essen und Trinken anging, kam ich irgendwie über die Runden, und ich lernte, genügsamer zu sein. Sogar ans Wetter gewöhnte ich mich, wobei ich Regen immer noch hasste. Auch beim Jagen wurde ich etwas erfolgreicher, obwohl es mir immer noch keinen Spaß machte, aber zumindest hatte ich herausgefunden, wie ich ein wenig abgebrühter vorgehen konnte. Ich war nur nicht so recht davon überzeugt, dass ich die nötige Widerstandsfähigkeit für ein solches Leben besaß. Noch nicht jedenfalls.
Eines Nachts, als ich gerade in einer aufgeräumteren Gemütsverfassung war, begegnete ich einer Gruppe von Menschen, die sich vor einem riesigen Torbogen zusammengekauert hatten. Überall lag Pappe herum, und es roch sehr schlecht. In der Hand hielt jeder von ihnen eine Flasche, und einige hatten fast so viel Fell im Gesicht wie ich.
»Da ist ’ne Katze«, lallte einer der pelzigen Männer und trank einen Schluck. Dann schwenkte er seine Flasche in meine Richtung; der Gestank ließ mich rückwärts taumeln. Sie lachten, als ich langsam zurückwich, nicht sicher, welche Art von Gefahr mich hier erwartete, wenn überhaupt. Dann warf der Mann, der gelacht hatte, seine Flasche nach mir. Schnell wich ich aus, gerade noch rechtzeitig, bevor sie neben mir in tausend Stücke zersplitterte.
»Die würde einen netten Hut abgeben, um meinen Kopf warm zu halten«, rief ein anderer und lachte – leicht bedrohlich, wie ich fand. Ich kroch noch weiter zurück.
»Wir haben nichts zu fressen, also schleich dich«, murrte ein dritter Mann unfreundlich.
»Wir könnten ihr die Haut abziehen, ’nen Hut draus machen, und sie danach essen«, sagte der andere wieder lachend. Erschrocken riss ich die Augen auf und wich ein weiteres Stück zurück. Dann, aus dem Nichts, tauchte plötzlich ein Kater auf.
»Mir nach«, zischte er, und ich rannte hinter ihm her die Straße hinunter. Gerade als ich dachte, gleich könnte ich nicht mehr, hielten wir glücklicherweise an.
»Wer waren die?«, fragte ich atemlos.
»Säufer aus dem Viertel. Die haben kein Zuhause. Von denen solltest du dich fernhalten.«
»Aber ich habe auch kein Zuhause mehr«, rief ich und hätte am liebsten wieder angefangen, zu jaulen.
»Das tut mir leid. Aber du solltest trotzdem einen Bogen um die machen. Sie sind nicht gerade freundlich.«
»Was heißt ›Säufer‹?«, fragte ich und fühlte mich wieder einmal wie ein kleiner Kater, der noch keine Ahnung von der Welt hatte.
»Saufen ist etwas, das die Menschen machen. Sie trinken so ein komisches Zeug, das sie verändert. Nicht Milch oder Wasser. Aber hör mal, komm doch mit mir mit. Heute Nacht kann ich ein bisschen Futter und Milch für dich auftreiben und dir ’nen sicheren Platz zum Schlafen besorgen.«
»Das ist wirklich nett von dir«, schnurrte ich.
»Ich war auch schon mal in deiner Situation. Eine Zeit lang war ich obdachlos«, erklärte der Kater. Dann schritt er davon und winkte mir mit seiner Pfote, ihm zu folgen.
Sein Name war Krümel, seiner Ansicht nach ein blöder Name für einen Kater, aber sein junger Besitzer fand, er sei ein süßer Krümel – was immer das heißen mochte. In dem Haus, in das er mich führte, war alles dunkel, und ich war schrecklich froh, endlich wieder an einem Ort zu sein, an dem es warm und sicher war. Es erinnerte mich daran, dass ich dringend ein Zuhause finden musste, und so erzählte ich Krümel meine Geschichte.
»Das ist traurig«, fand er. »Aber genau wie ich hast du dadurch gelernt, dass ein Besitzer nicht immer ausreicht. Manchmal besuche ich noch ein anderes Haus in meiner Straße.«
»Wirklich?«, fragte ich fasziniert.
»Ich würde mich als Haustürkatze bezeichnen«, sagte er.
»Was ist das?«, wollte ich wissen.
»Na ja, den Großteil der Zeit lebst du in einem bestimmten Haus, gehst aber auch zu anderen Haustüren, bis die Menschen dort dich reinlassen. Das machen sie zwar nicht immer, aber ich hab noch ein zweites Zuhause, und obwohl ich dort nicht wohne, gibt es mir das Gefühl, eine Alternative zu haben, falls mal irgendwas schiefgeht.« Ich löcherte ihn mit Fragen, und er erklärte mir, dass Haustürkatzen mehrfach gefüttert wurden, von mehreren Familien. Sie wurden verhätschelt und umsorgt und genossen ein hohes Maß an Geborgenheit.
Genauso wie ich hatte auch Krümel es gehasst, obdachlos zu sein; im Gegensatz zu mir war bei ihm allerdings tatsächlich ein Kind aufgetaucht und hatte ihn gerettet – wobei er meinte, er hätte die ganze Sache selbst eingefädelt. Nachdem seine Wahl auf seine neue Familie gefallen war, hatte er so hilflos wie möglich dreingeschaut, woraufhin sie Mitleid mit ihm gehabt und ihn adoptiert hatten.
»Also hast du es einfach so aussehen lassen, als müsste man dich füttern und pflegen?«, fragte ich und spitzte interessiert die Ohren.
»Na ja, ich sah wirklich so aus. Aber weißt du, ich hab auch Glück gehabt. Ich hab um Hilfe gebeten, und jemand hat mich bei sich aufgenommen. Wenn du möchtest, helfe ich dir auch.«
»Oh, das wäre toll«, antwortete ich.
Ich durfte es mir neben ihm in seinem Korb bequem machen, und wir redeten die ganze Nacht. Obwohl ich nicht viel Schlaf bekam, weil ich früh am nächsten Morgen aufbrechen musste – bevor Krümels Besitzer wach wurden –, fühlte ich mich zum ersten Mal, seit ich Margarets Haus verlassen hatte, wieder sicher. Außerdem reifte ein Plan in mir heran: Ich würde eine hervorragende Haustürkatze abgeben.
Nachdem ich mich in der Nacht in Krümels Haus so geborgen gefühlt hatte, war ich traurig, gehen zu müssen, aber zumindest hatte mein neuer Freund mir gezeigt, in welcher Richtung die schöneren Straßen der Gegend lagen. Er hatte mir geraten, nach Westen zu laufen, in ein Viertel, in dem viele Familien wohnten, und dort nach einer Straße zu suchen, die sich für mich richtig anfühlte. Er meinte, ich solle auf meinen Instinkt vertrauen. Anscheinend dachte er, ich würde schon wissen, wann ich angekommen wäre. Ausgeschlafen und endlich einmal satt machte ich mich auf in die Richtung, die er vorgeschlagen hatte, ging sämtlichen Gefahren aus dem Weg und folgte einfach meiner Nase.
Nach der Begegnung mit Krümel blickte ich jetzt optimistischer in die Zukunft, aber mein Leben änderte sich nicht einfach so über Nacht. Es gab immer noch Tage, an denen ich mich zusammennehmen musste, und weit mehr, an denen ich Hunger hatte, müde war und dennoch weiterlaufen musste, obwohl meine Beine vor Erschöpfung zitterten und mir vom Regen das Fell am Leib klebte. Zwar blieb ich am Leben, aber der Weg war lang und steinig. Ich sagte mir einfach immer wieder, dass all die Strapazen sich am Ende lohnen würden.
Schließlich kam ich in einer hübschen Straße an, und genau wie Krümel es vorhergesagt hatte, wusste ich sofort, dass ich dort all das bekommen würde, was ich brauchte. Ich habe keine Ahnung, woher ich das wusste, aber mir war einfach klar, dass ich hierhergehörte. Ich setzte mich neben ein Schild, auf dem »Edgar Road« stand, und leckte mir über die Lippen. Zum ersten Mal seit Beginn meiner Reise hatte ich das Gefühl, dass alles gut werden würde.
Ich mochte die Edgar Road sofort. Es war eine lange Straße mit vielen unterschiedlichen Arten von Häusern: Reihenhäusern im viktorianischen Stil, modernen Wohnschachteln, riesigen Villen und einigen Gebäuden, die in Wohnungen unterteilt waren. Besonders gefiel mir, dass es einige Schilder mit der Aufschrift »Zu verkaufen« und »Zu vermieten«, gab. Krümel hatte mir erklärt, was das bedeutete: Hier würden bald neue Leute einziehen. Und ich war der festen Überzeugung, dass neue Leute vor allem eins brauchten: einen Kater wie mich.
In den nächsten Tagen lernte ich einige Katzen aus der Nachbarschaft kennen. Als ich ihnen von meinem Vorhaben erzählte, bestanden sie darauf, mir zu helfen. Ich fand schnell heraus, dass die Katzen in der Edgar Road im Großen und Ganzen sehr freundlich waren, und es war mir schließlich wichtig, in einer Gegend mit guten Nachbarkatzen zu wohnen. Es gab einige »Alphakater« und eine hübsche Katze, die zu allen unfreundlich war, aber davon abgesehen waren sie alle nett und teilten ihr Futter und ihre Milch mit mir, als ich es gerade am dringendsten brauchte.
Tagsüber verbrachte ich die meiste Zeit damit, mich mit den anderen Katzen zu unterhalten und so viele Informationen wie möglich aus ihnen herauszukitzeln. Außerdem besichtigte ich die leer stehenden Gebäude auf der Suche nach meinem potenziellen neuen Zuhause. Nachts ging ich jagen, um nicht vom Fleisch zu fallen.
Eines Abends, ich war noch nicht ganz eine Woche in der Edgar Road, sah mich ein besonders gemeiner Kater vor einem der leeren Häuser sitzen, auf die ich ein Auge geworfen hatte.
»Du wohnst hier nicht. Es wird Zeit, dass du verschwindest«, zischte er mich an.