Cover
Jack Kornfield. Das weise Herz

Danksagung

Ich habe das Glück, mit zwei außergewöhnlichen Lektoren zu arbeiten. Noelle Oxenhandler hat mit ihrem im Dharma hart erworbenen Klarblick, der Geradlinigkeit ihrer Begabung zu strukturieren und der Leichtigkeit ihrer schreibenden Hand dieses Buch vom Beginn an begleitet. Toni Burbank bei Bantam Books, die nicht wenige Autoren als größtes Geschenk in der Verlagswelt betrachten, hat Noelles Arbeit weitergeführt und diesem Buch mit scharfem Auge für die Wahrheit und einem weisen Herzen großzügig und meisterlich den letzten Schliff verliehen. Für ihre Arbeit, ihre Vision und ihre Güte bin ich beiden zu tiefem Dank verpflichtet.

Sara Sparling, meine gutherzige und unerschrockene Assistentin bei diesem Projekt, hat mit viel Hingabe alle Änderungen vorgenommen. Ich danke ihr für ihre Stetigkeit, die mir ein leuchtendes Beispiel war.

Was hier vorliegt, ist im Grunde ein Projekt interkulturellen Austauschs. Viele Menschen, die auf demselben Gebiet tätig sind, haben mir dabei ihre Herzen geöffnet und ihre Hilfe angeboten, unter anderem: Tara Brach, Mark Epstein, Roger Walsh, Trudy Goodman, Richard Heckler, Shauna Shapiro, Sylvia Boorstein, Dan Siegel und Ajahn Amaro. Sie haben Rohfassungen gelesen und mir mit Ermutigung und Änderungsvorschlägen geholfen.

Wes »Scoop« Nisker und Bokara Legendre, ebenfalls Autoren und wirklich gute Freunde sowie wahrheitsliebende Kritiker, haben mir den Tipp gegeben, mich zum Schreiben nach Bali zurückzuziehen. Das war sehr hilfreich – was für eine wunderbare Art zu schreiben!

Wie immer möchte ich auch hier meinen Kollegen Ehre erweisen, die mit mir als Lehrer am Spirit-Rock-Meditationszentrum tätig sind, den 21 Mitgliedern des Spirit Rock Teacher’s Council und dem Kollektiv der Insight Meditation Society. Sie haben mich dabei unterstützt, das Wissen des Ostens in eine für den Westen verständliche Form zu bringen. Auch vor meinen zahlreichen Schülern, deren Geschichten hier erzählt werden, und von denen ich so viel gelernt habe, möchte ich mich verbeugen. Sie sind zu viele, als dass ich sie hier einzeln erwähnen könnte.

Ich hatte das ungeheure Glück, die hier dargestellten Lehren, die zu einer tiefgreifenden Wandlung beim Einzelnen und der Gesellschaft führen können, von einer lebendigen Überlieferungslinie großer Meister zu erhalten. Dazu gehören: Ajahn Chah, Mahasi Sayadaw, Maha Ghosananda, Ajahn Buddhadasa, Ajahn Jumnian, Asabha Sayadaw, Dipama Barua, Anagarika Munindra, Sri Nisargadatta Maharaj, Kalu Rinpoche und Seine Heiligkeit, der Dalai Lama.

Auch von vielen westlichen Visionären und Suchern habe ich gelernt: Hameed Ali, Stan und Christina Grof, Michael Meade, Ram Dass, Dora Kalff, Jon Kabat-Zinn, Myron Sharaf, Michael und Sandra Harner, Angeles Arrien, Malidoma und Sobonfu Somé, Luis Rodriguez, Daniel Goleman, Peter Levine und anderen.

Michael Katz trat für dieses Buch als Agent ein. Wie der alte Zenmönch, der er in Wirklichkeit ist: meist mit einem Flüstern, nötigenfalls aber auch mit einem lauten Schrei. Ich danke ihm für beides.

Schließlich möchte ich meiner Frau Liana aus ganzem Herzen für den Strom des Segens, der Inspiration und der inneren Tiefe danken, den sie mir zuteil werden lässt. Meiner geliebten Tochter Caroline für ihre frischen und mitfühlenden Visionen. Und meinen verrückt-kreativen Brüdern und ihren Familien.

Literatur

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Abdruckgenehmigungen

Ref 1 Aus: »Readers Write: Fears and Phobias«, Barnett, D. S., in: The Sun vom Februar 2002, Ausgabe 314

Ref 2 Aus: Weisskopf, Victor, The Joy of Insight, New York 1991

Ref 3 Aus: Dass, Ram/Gorman, Paul, How Can I Help?, New York 1985

Ref 4 Aus: »Absolutely Clear«, in: The Subject Tonight is Love: 60 Wild and Sweet Poems of Hafiz, übersetzt von Daniel Ladinsky, New York 2003

Ref 5 Zusammenfassung der Seiten 38–41 aus: Oriah, The Dance: Moving to the Rhythms of Your True Self, New York 2001

Ref 6 Auszug aus Seite 15 von: Kingsolver, Barbara, High Tide in Tucson: Essays from Now or Never, New York 1995

Ref 7 Persönliche Erlaubnis von Lloyd Burton zum Abdruck der Geschichte des Seemanns

Ref 8 Aus: »Burnt Norton«, in: Eliot, T. S., The Four Quartets, Boston 1964

Ref 9 Aus: Field of Dreams: An Interview with Arnold Mindell, Copyright Stephan Bodian, persönliche Abdruckgenehmigung des Autors.

Ref 10 Aus: Open Secret: Versions of Rumi, übersetzt von John Moyne und Coleman Barks, Boston 1984.

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Edel sein – unsere ursprüngliche Güte

O Wohlgeborener, von edler Herkunft, erinnert Euch Eurer strahlenden wahren Natur, der Essenz des Geistes. Vertraut ihr. Kehrt zu ihr zurück. Sie ist Eure Heimat.

Tibetisches Totenbuch

 

Dann war mir, als sähe ich plötzlich die geheime Schönheit ihres Herzens, die ganze Tiefe ihres Herzens, in die nie ein Strahl der Sünde, der Begierde, der Selbstgewissheit reicht, den Kern ihrer Wirklichkeit, den Menschen, der jeder im Angesicht des Göttlichen ist. Wenn sie sich nur selbst sehen könnten, wie sie wirklich sind. Wenn wir einander nur immer auf diese Weise sehen könnten. Dann gäbe es keinen Krieg mehr, keinen Hass, keine Grausamkeit, keine Gier… Ich nehme an, dann wäre unser größtes Problem, dass wir alle voreinander auf die Knie fallen und einander anbeten würden.

Thomas Merton

In einem großen Tempel nördlich von Thailands ehemaliger Hauptstadt Sukhothai stand einst eine riesige, uralte Buddhastatue aus Ton. Obwohl diese Statue sicher nicht das eindrucksvollste oder eleganteste Werk der buddhistischen Kunst Thailands war, so hatte sie doch mehr als fünf Jahrhunderte überdauert und wurde schon deshalb verehrt. Sturmwinde, Regierungen und Invasoren kamen und gingen, doch die Buddhastatue blieb.

Irgendwann jedoch bemerkten die Mönche, die sich um den Tempel kümmerten, dass die Statue erste Sprünge bekam und wohl bald würde restauriert werden müssen. Nach einer Periode besonders heißen, trockenen Wetters hatte sich einer der Risse so sehr verbreitert, dass man ins Innere der Statue schauen konnte. Einer der Mönche nahm eine Fackel und versuchte, etwas zu erkennen. Erstaunt bemerkte er einen goldenen Schimmer. Und tatsächlich entdeckten die Tempelbewohner eine der größten und schönsten Goldstatuen, die je vom Buddha in Südostasien angefertigt wurde. Nun zieht der freigelegte goldene Buddha Tausende von Pilgern aus ganz Thailand an.

Die Mönche glauben, dass das glänzende Kunstwerk unter einem Mantel aus Gips und Ton verborgen wurde, um es in Zeiten kriegerischer Konflikte vor gierigen Händen zu schützen. Ähnlich ist es mit uns selbst: Jeder von uns hat bereits schwere Zeiten durchlebt, die jedoch dazu beitragen, den uns innewohnenden edlen Kern freizulegen. Wie die Menschen von Sukhothai den goldenen Buddha vergessen hatten, so haben wir unsere wahre Natur vergessen. Meist sind wir nur mit unserer schützenden »Tonschicht« befasst. Das wichtigste Ziel buddhistischer Psychologie aber ist es, uns den Blick hinter die Schutzschicht zu eröffnen, sodass wir unsere ursprüngliche Güte zum Vorschein bringen, die wir auch »Buddhanatur« nennen.

 

Dies ist eines der wichtigsten Prinzipien buddhistischer Psychologie:

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Erkenne den inneren edlen Kern und die Schönheit in jedem Menschen.

Robert Johnson, ein bekannter Jungianer, ist ebenfalls der Meinung, dass es für viele von uns schwierig ist, an ihre Güte zu glauben. Eher sind wir bereit zu glauben, dass unsere wahre Natur unseren schlimmsten Befürchtungen und Gedanken entspricht, den unbewussten Seiten, die Jung den »Schatten« genannt hat. »Merkwürdigerweise«, schreibt Johnson, »setzen die Menschen der Entdeckung der edlen Aspekte ihres Schattens mehr Widerstand entgegen als den dunklen Seiten … Offensichtlich ist es verstörender herauszufinden, dass man einen grundlegend ›edlen‹ Charakter besitzt, als festzustellen, dass man ein Haufen Unrat ist.«

Der Glaube an unsere begrenzte und armselige Persönlichkeit ist uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir uns gar nicht vorstellen können, wie wir ohne sie auskommen sollten. Könnten wir unsere angeborene Würde akzeptieren, würde dies zu radikalen Veränderungen in unserem Leben führen. Denn dann wären wir plötzlich in der Lage, Großes zu vollbringen. Und doch weiß ein Teil unseres Selbst, dass wir in Wirklichkeit nicht dieses ängstliche und beschränkte Wesen sind. Jeder von uns muss also seinen Weg zur Freiheit und Ganzheitlichkeit finden.

In meiner Familie war es ganz sicher nicht einfach, diesen Weg zu entdecken. Meine frühesten Kindheitserinnerungen kreisen um meinen Vater, der paranoid und daher unberechenbar und gewalttätig war. Meine Mutter war ein gebrochenes, ängstliches Geschöpf, und dann waren da noch wir vier Brüder, die nur die eine Frage zu beschäftigen schien: »Wie sind wir nur hierher gekommen?« Sobald wir das Auto unseres Vaters in der Einfahrt hörten, hielten wir den Atem an. An guten Tagen war er aufmerksam und humorvoll, sodass wir erleichtert aufatmeten. Doch meist mussten wir uns verstecken, um seiner Reizbarkeit und seinen Wutanfällen zu entgehen. Bei Familienausflügen kam es vor, dass er den Kopf meiner Mutter gegen die Windschutzscheibe schlug oder sich an uns Kindern abreagierte, weil ein anderer Autofahrer ihm die Vorfahrt genommen hatte. Ich weiß noch, wie meine Großmutter meine Mutter anflehte, sich nicht scheiden zu lassen: »Wenigstens arbeitet er gelegentlich. Und er ist nicht so verrückt wie einer von denen in der Irrenanstalt.«

Und doch wusste ich immer, dass das Dasein nicht nur aus Unglück besteht. Ich weiß noch, dass ich als Sechs- oder Siebenjähriger manchmal aus dem Haus lief, wenn meine Eltern miteinander stritten. Etwas in mir sagte mir, dass ich nicht in dieses Haus gehörte. Ich fühlte mich, als wäre ich in der falschen Familie zur Welt gekommen. Manchmal stellte ich mir vor, wie Kinder dies häufig tun, dass eines Tages ein eleganter Herr an unsere Tür klopfen und nach mir fragen würde. Dann würde er verkünden, dass Jack und seine Brüder unter strenger Geheimhaltung in dieses Haus gebracht worden seien, aber dass der König und die Königin, ihre rechtmäßigen Eltern, sie nun zurückhaben wollten. Diese kindlichen Fantasien wurden schließlich zu einer der stärksten Triebkräfte, die je mein Leben prägen sollten: dem innigen Wunsch, zu etwas zu gehören, was wertvoll und wahr schien. Ich hatte mich auf die Suche nach meiner wahren Familie von edler Geburt gemacht.

Dem grassierenden Zynismus gehorchend glauben wir nicht selten, dass der Begriff der »ursprünglichen Güte« nichts weiter als eine Phrase ist, die uns zum Durchhalten animieren soll. Doch wenn wir es einmal wagen, diesen Blickwinkel einzunehmen, eröffnet sich uns eine völlig neue Sicht auf die Welt: In uns erwacht der Wunsch, unsere Welt umzuwandeln. Das bedeutet nun nicht, dass wir die drückenden Sorgen der Menschen schönreden. Oder dass wir uns von labilen, ja vielleicht gewalttätigen Menschen wehtun lassen müssen. Damit wir die Würde der anderen sehen können, müssen wir ihre Leiden akzeptieren. Zu den wichtigsten buddhistischen Lehren gehört zweifellos die von den Vier Edlen Wahrheiten. Die erste dieser vier Wahrheiten besagt, dass das menschliche Leben unweigerlich Leiden mit sich bringt. Allein dieses Thema nur anzusprechen scheint in unserer modernen Kultur, die Leid gerne ausblendet, schon ungehörig. Das »Streben nach Glück« ist mittlerweile zum »Anspruch auf Glück« geworden. Doch gerade wenn wir Leid erfahren, entfaltet die Wahrheit vom Leiden eine ungeheure tröstliche Kraft.

Die buddhistischen Lehren helfen uns, unser persönliches Leiden zu akzeptieren, von Scham und Depression hin zu Angst und Trauer. Sie legen das kollektive Leiden der Welt offen und helfen uns, mit der Quelle dieses Leidens zu arbeiten: mit den Kräften der Begierde, des Hasses und der Illusion in der menschlichen Psyche. Doch sich mit seinem eigenen Leiden auseinanderzusetzen, bedeutet nicht, dass wir unser grundlegendes »Edel-Sein« vergessen.

Die Begriffe »Adel« und »edel« lassen uns zunächst einmal an Ritter und höfisches Leben im Mittelalter denken. Der englische Begriff nobility leitet sich jedoch vom griechischen gno (wie in gnosis) ab und bedeutet »Weisheit« oder »inneres Licht«.1 Der viel zitierte »Seelenadel« wiederum bezeichnet eine gewisse Art der Charakterstärke und wird auf Menschen angewandt, die in Verhalten, Denkungsart und Prinzipien erhaben, rechtschaffen und vornehm sind. Wie aber können wir auf intuitive Weise diese Qualität in den Menschen um uns herum ansprechen? Niemand kann uns sagen, wie wir lieben sollen. Auf gleiche Weise kann niemand uns den Königsweg zur Entdeckung der grundlegenden Güte in anderen Menschen weisen. Eine Möglichkeit ist es, die zeitliche Perspektive zu wechseln und sich den Menschen vor uns als kleines, unschuldiges Kind vorzustellen. Ich beispielsweise saß einmal nach einem besonders anstrengenden Tag mit meiner heranwachsenden Tochter an ihrem Bett, während sie schlief. Nur wenige Stunden zuvor hatten wir über ihre Pläne für jenen Abend gestritten. Nun lag sie schlafend in all der Unschuld und Schönheit ihrer Kindlichkeit vor mir. Diese Unschuld ist allen Menschen eigen, falls wir bereit sind, sie zu erkennen.

Oder wir drehen die Uhr nicht zurück, sondern vor. Wir stellen uns diesen Menschen am Ende seines Lebens vor, auf dem Totenbett vielleicht, verletzbar, offen, nichts ist mehr verborgen. Wir können ihn auch einfach als Mitstreiter sehen, der ebenso wie wir seine Last zu tragen hat, der sich wie wir Glück und Würde wünscht. Unter all den Ängsten und Entbehrungen, der Aggression und dem Schmerz liegt auch bei diesem Menschen das enorme Potenzial für Verständnis und Mitgefühl. Seine Güte liegt greifbar vor uns, unmittelbar zugänglich.

In seiner beeindruckendsten Form erkennen wir das Potenzial des Geistes zweifellos dann, wenn wir die großen moralischen Führer der Welt betrachten. So zeigt sich in der Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die sich trotz langer Jahre des Hausarrests für die Demokratisierung Birmas einsetzt, ein unerschütterliches Mitgefühl. Wir werden wohl nie vergessen, wie der spätere Präsident Südafrikas Nelson Mandela aus dem Gefängnis kam, ungebrochen von 27 Jahren Folter und Entbehrungen, voller Würde und Anmut. Doch derselbe Geist tritt uns auch in Kindern entgegen, die »gesund« aufwachsen durften. Ihre Freude und ihre natürliche Schönheit kann uns zu unserer Buddhanatur erwecken. Sie erinnern uns daran, dass auch wir mit diesem innewohnenden Leuchten zur Welt kamen.

Warum also beschäftigen wir uns in der westlichen Psychologie so intensiv mit den Schattenseiten der menschlichen Natur? Schon vor Freud basierte die westliche Psychologie auf dem Blick des Klinikers, und sie ist heute noch im Wesentlichen auf die krankhaften Aspekte der menschlichen Natur fixiert. Das Diagnostische und statistische Handbuch mentaler Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), die Bibel der Psychotherapeuten und Neurologen, führt einige Hundert psychologische Probleme und Krankheiten auf. Wenn wir Probleme in Kategorien einteilen können, können wir sie leichter erforschen und – so zumindest die Erwartung – auf die wissenschaftlich und ökonomisch beste Weise heilen. Häufig widmen wir dem Schutzpanzer aus Ängsten, Depression, Verwirrung und Aggression so viel Aufmerksamkeit, dass wir vergessen, wer wir wirklich sind.

Als spiritueller Lehrer bin ich immer wieder mit diesen Zusammenhängen konfrontiert. Einmal kam ein Mann in mittleren Jahren zu mir. Er hieß Marty und hatte ein sehr schmerzhaftes Jahr hinter sich, in dem er die Trennung von seiner Frau und die darauf folgende Scheidung bewältigen musste. Als ich ihn kennen lernte, war er in einem emotionalen Teufelskreis aus Scham und Wertlosigkeit gefangen, Gedankenmuster, die er seit seiner Kindheit mit sich herumtrug. Er glaubte, dass etwas mit ihm nicht stimmen konnte, und hatte seine grundlegende Güte vergessen. Eine junge Frau namens Jan, die nach langem Kampf mit Ängsten und Depressionen zur buddhistischen Praxis fand, hatte enorme Schwierigkeiten, ihr Bild von sich als gestörter, problembehafteter Person loszulassen. Sie hatte sich jahrelang nur im Spiegel ihrer Diagnose gesehen und sich für die zahlreichen fehlgeschlagenen medikamentösen Therapien die Schuld gegeben.

Da die Psychologie heute mehr Medikamente einsetzt als je zuvor, wird dieser klinische Blick auf seelisches Leid zusätzlich verstärkt. Viele der Millionen Erwachsenen, die seelische Hilfe suchen, werden heute ganz schnell medikamentös therapiert. Noch beunruhigender allerdings scheint der Umstand, dass Hunderttausende Kinder starke Psychopharmaka erhalten, um Phänomene wie ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) oder die mittlerweile häufig diagnostizierte kindliche bipolare Störung einzudämmen. Diese Medikamente können in einigen Fällen hilfreich, ja sogar lebensrettend wirken, doch führen sie auch dazu, dass Ärzte, Pfleger, Patienten und Angehörige den Griff zur Pille immer häufiger als die Antwort auf menschliche Verwirrung und menschliches Leid betrachten. Doch es gibt Alternativen.

 

 

Innere Freiheit: die Befreiung des Herzens

 

Was aber ist die Alternative zum Tunnelblick auf menschliche Begrenztheit und pathologische Formen der Verwirrung? Der Glaube, dass die Befreiung unter allen Umständen möglich ist. Im Buddhismus wird dies folgendermaßen formuliert: »Wie alle großen Ozeane letztlich nur einen Geschmack haben, nämlich den nach Salz, so schmecken auch die Lehren Buddhas letztlich nur nach einem: nach Befreiung.«

Der Psychologe Viktor Frankl war das einzige Mitglied seiner Familie, das die Todeslager der Nazis überlebte. Angesichts von so viel Leid schrieb er: »Wir, die wir in den Konzentrationslagern waren, erinnern uns an Männer, die durch die Baracken gingen und andere trösteten und dabei ihr letztes Stück Brot weggaben. Es waren vielleicht nicht viele, doch sie sind der lebende Beweis, dass dem Menschen alles genommen werden kann, nur eines nicht: die letzte der menschlichen Freiheiten – angesichts einer bestimmten Lage seine eigene Entscheidung zu treffen, seine eigene Haltung zu bestimmen.«

In Zeiten schlimmster Konflikte, wenn wir tief feststecken in den Zuständen der Angst und Verzweiflung, kann unser Schmerz grenzenlos erscheinen. Wir fühlen uns, als gäbe es keinen Ausweg, keine Hoffnung. Und doch sehnt sich die verborgene Stimme der Weisheit in uns nach Befreiung. »Wenn es nicht möglich wäre, das Herz von der Befleckung durch leidvolle Zustände frei zu machen«, sagt der Buddha, »würde ich euch nicht lehren, eben das zu tun. Doch weil es möglich ist, das Herz von der Befleckung durch leidvolle Zustände frei zu machen, erteile ich diese Lehren.«

Diese innere Freiheit des Geistes zu erlangen, ist Ziel und Zweck der Aberhunderte von buddhistischen Lehren und Übungsmethoden. Jede dieser Methoden hilft uns, negative Muster, die zu Leiden führen, zu erkennen und loszulassen und sie durch positive Gewohnheiten zu ersetzen. Die Psychologie des Buddhismus basiert auf praktischen Übungen und dem Verständnis der Basis, auf welcher diese beruhen. Statt einmal pro Woche in die Therapiesitzung zu gehen und dort dem aufmerksamen Ohr des Therapeuten alle Probleme zu schildern, wird hier ein Übungsweg vorgestellt, auf dem man täglich und beharrlich neue, heilsamere Formen des Seins lernt und einübt. Diese Methoden führen uns zu der uns innewohnenden Weisheit des Mitgefühls zurück. Sie eröffnen uns den Weg in die Freiheit.

 

 

Die heilige Sicht

Die Heiligen sind, was sie sind, nicht weil ihre Heiligkeit sie in den Augen der anderen zu bewundernswerten Menschen macht, sondern weil ihre Heiligkeit ihnen ermöglicht, alle anderen Menschen zu bewundern.

Thomas Merton

Immer wenn wir auf ein anderes menschliches Wesen treffen und seine Würde ehren, helfen wir allen Menschen in unserer Umgebung. Ihre Herzen stimmen in den Klang des unseren ein wie eine Geige, die sich auf eine neben ihr gespielte Violine einschwingt. Die westliche Psychologie kennt das Phänomen der »Stimmungsübertragung« oder »limbischen Resonanz«. Wenn ein Mensch voller Panik oder Hass einen Raum betritt, spüren wir das sofort. Wenn wir nicht sehr achtsam sind, werden die negativen Geisteszustände dieses Menschen auf uns übergreifen. Wenn hingegen ein Mensch den Raum betritt, der voller Freude ist, dann fühlen wir das ebenso. Sind wir in der Lage, die grundlegende Güte in den Menschen zu sehen, mit denen wir zu tun haben, dann spricht die ihnen innewohnende Würde auf unsere Bewunderung und unseren Respekt an.

Das kann auf einer sehr einfachen Ebene beginnen. In Indien zum Beispiel legen die Menschen, wenn sie einander begrüßen, die Handflächen aneinander und sagen: »Namaste«, »Ich grüße das Göttliche in dir«. Auf diese Weise ehren wir die Buddhanatur, das, was wir wirklich sind. Es heißt ja auch, dass der Handschlag im Westen sich letztlich aus einer Geste entwickelt hat, die Freundlichkeit und Sicherheit signalisieren soll. Sie sollte wohl zeigen, dass wir keine Waffe in der Hand halten. Doch der Gruß Namaste geht noch einen Schritt weiter, vom »Ich werde dir nichts tun« zum: »Ich erkenne das Heilige in dir«. So wird die Grundlage für eine heilige Beziehung geschaffen.

Als ich meine »Ausbildung« als buddhistischer Mönch begann, wurde mir ein Vorgeschmack dieser heiligen Beziehung zuteil. Ajahn Chah war stets von einer Aura der Freimütigkeit, Anmut und des Vertrauens umgeben, die das absolute Gegenteil zu meinen kindlichen Erfahrungen in meiner Familie darstellte. Obwohl sich das anfangs merkwürdig und wenig vertraut anfühlte, war irgendetwas in mir, das dieses Gefühl mochte. Statt Strafe, Kritik und unberechenbarer Gewalt lernte ich eine Gemeinschaft kennen, in der jeder Mensch mit Würde und Respekt behandelt wurde. Es war einfach schön.

Die Gehwege im Kloster wurden täglich gekehrt. Auch die Roben und die Bettelschalen der Mönche wurden gepflegt. Unser Gelübde verpflichtete uns, das Leben in jeglicher Form zu schätzen. Wir vermieden es tunlichst, auf Ameisen zu treten. Wir schützten Vögel und Insekten, Schlangen und Säugetiere. Wir lernten, uns selbst und andere gleichermaßen zu schätzen. Wenn es zu Konflikten kam, übten wir uns zuerst in Geduld. Auf der Suche nach Vergebung halfen uns die Ratschläge der Älteren, die zeigten, wie wir auch unseren Fehlern mit Achtsamkeit und Respekt begegnen konnten.

Ob im Waldkloster oder im Westen praktiziert, der erste Schritt in der buddhistischen Psychologie ist stets die Entwicklung von Achtung, wobei wir mit uns selbst beginnen. Wenn wir lernen, in unserer grundlegenden Güte zu verharren, sehen wir die Güte der anderen klarer. Je mehr sich unser Sinn für Respekt und Sorge um andere entwickelt, desto besser dient er uns im Alltagsleben. Doch in Extremsituationen wird er unverzichtbar.

Eine buddhistische Praktizierende berichtete mir, sie sei in St. Louis zusammen mit anderen Kunden in einer Bank als Geisel genommen worden. Sie beschreibt, wie die Geiseln gerade zu Anfang mit Panik reagierten. Sie selbst erinnert sich, wie sie versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Sie entschied sich, ihrer Angst nicht nachzugeben. Mit Hilfe ihrer Meditationstechnik und der Konzentration auf den Atem versuchte sie, ihren Geist zu beruhigen. Während der folgenden Stunden kümmerte sie sich um die anderen Geiseln und versuchte, den Geiselnehmern mit Respekt und Verständnis zu begegnen. Sie erkannte, wie verzweifelt sie waren, und dass hinter der Tat bestimmte Bedürfnisse standen. Als sie und die anderen Geiseln später unverletzt befreit wurden, war sie fest davon überzeugt, dass ihre Haltung wesentlich zur unblutigen Befreiung beigetragen hatte.

Wenn wir anderen mit Achtung und Anerkennung begegnen, öffnen wir einen Kanal zu ihrer eigenen inneren Güte. Ich habe diese Beobachtung häufig in der Arbeit mit Strafgefangenen und Bandenmitgliedern gemacht. Wenn sie sich jemandem gegenüber sehen, der sie respektiert, sind sie plötzlich in der Lage, ihre eigenen positiven Qualitäten, das Gute in sich zu erkennen und zu akzeptieren. Wenn wir das Heilige im anderen erkennen können, ob es sich nun um einen Verwandten oder um einen Nachbarn handelt, um einen Kollegen oder jemanden aus unserer Therapiegruppe, verwandeln wir dessen Herz.

Der Dalai Lama ist das beste Beispiel für diese Art der »heiligen Sicht«. Das ist einer der vielen Gründe, weshalb die Menschen gewöhnlich seine Nähe suchen. Vor einigen Jahren besuchte Seine Heiligkeit San Francisco. Wir luden ihn zu Belehrungen in das Meditationszentrum Spirit Rock ein. Der Dalai Lama ist das Oberhaupt der tibetischen Exilregierung, und das Außenministerium hatte Dutzende Geheimdienstagenten als Leibwächter für ihn und seine Begleiter abgestellt. Es ist das tägliche Brot dieser Leute, Staatsoberhäupter, Fürsten und Könige zu schützen, doch waren sie alle bewegt von der Freundlichkeit des Dalai Lama und seiner respektvollen Haltung. Am Ende baten sie ihn um seinen Segen und wollten mit ihm fotografiert werden. Einige von ihnen meinten: »Wir haben schon viele Regierungschefs, Fürsten und Premierminister eskortiert, doch der Dalai Lama ist etwas Besonderes. Er behandelt uns, als wären wir ganz besondere Menschen.«

Später gab der Dalai Lama öffentliche Belehrungen in San Francisco. Während dieser Zeit war er in einem Hotel abgestiegen, in dem stets viele Berühmtheiten logieren. Bevor er abreiste, ließ der Dalai Lama den Hotelmanager wissen, dass er sich persönlich beim Personal bedanken wolle, falls dieses damit einverstanden sei. Und so stand am Morgen der Abreise eine lange Reihe von Zimmermädchen und Tellerwäschern, Köchen und Servicemitarbeitern, Sekretärinnen und Managern an der langen, geschwungenen Auffahrt zum Hotel bereit. Und bevor der Konvoi des Dalai Lama abfuhr, ging er die lange Reihe entlang, begrüßte jeden Menschen mit Handschlag und berührte so dessen Herz.

Vor einigen Jahren hörte ich von einer Geschichtslehrerin am Gymnasium, die dieses Geheimnis offensichtlich ebenfalls kannte. Eines Nachmittags, als ihre Klasse besonders unruhig und unaufmerksam war, sagte sie ihren Schülern, sie sollten jetzt alle schulischen Aufgaben sein lassen. Während sie den Namen jedes Einzelnen von ihnen an die Tafel schrieb, durfte sich die Klasse ausruhen. Als sie fertig war, sollten die Schüler die Liste abschreiben und neben jedem Namen etwas vermerken, was sie an diesem Mitschüler bewunderten oder schätzten. Am Ende der Stunde sammelte sie alle Blätter ein.

Wochen später, als kurz vor den Weihnachtsferien wieder ein besonders schwieriger und unruhiger Tag anstand, bat sie die Klasse wieder, alles sein zu lassen, was mit der Schule zu tun hatte. Dann gab sie jedem Schüler ein Blatt, das mit seinem Namen überschrieben war. Darunter standen alle 26 positiven Eigenschaften, die die anderen in der Klasse ihm beziehungsweise ihr zugeordnet hatten. Und die Schüler lachten und freuten sich, weil man ihnen so viel Gutes zutraute.

Drei Jahre später erhielt diese Lehrerin einen Anruf von der Mutter eines ihrer früheren Schüler. Robert war immer der Klassenclown gewesen, aber auch immer einer ihrer Lieblingsschüler. Seine Mutter machte der Lehrerin die traurige Mitteilung, dass er leider im Golfkrieg gefallen war. Die Lehrerin ging zur Beerdigung, bei der einige von Roberts früheren Schulfreunden und Klassenkameraden einen kurzen Nachruf sprachen. Als der Gottesdienst zu Ende war, kam Roberts Mutter auf die Lehrerin zu. Sie holte ein ziemlich zerfleddertes Blatt Papier heraus, das offensichtlich oft und oft auseinander- und wieder zusammengefaltet worden war, und hielt es ihr hin: »Dies war eines der wenigen Dinge, die man in Roberts Taschen fand, als das Militär seinen Leichnam barg.« Es war das Blatt, auf dem die Lehrerin jene positiven Eigenschaften notiert hatte, die seine 26 Mitschüler Robert zuschrieben.

Als sie dies sah, traten Tränen in die Augen der Lehrerin und liefen ihr über die Wangen. Ein Mädchen, das neben ihr stand, lächelte und zog ihr eigenes Blatt Papier heraus. Sie erzählte, dass sie dieses tatsächlich immer bei sich trug. Daraufhin berichtete ein anderer Schüler, sein Blatt hänge gerahmt in der Küche. Und die Nächste erzählte, dass sie das Blatt bei ihrer Hochzeitszeremonie vorgelesen hatte. Die Wahrnehmung der eigenen positiven Qualitäten, die diese Lehrerin ausgelöst hatte, hatte die Herzen ihrer Schüler auf eine Weise berührt, von der man gewöhnlich nur träumen kann.

Jeder von uns kann sich an einen Augenblick in seinem Leben erinnern, als ein anderer Mensch seine inneren Qualitäten erkannt und ihn damit gesegnet hat. In einem Retreat erinnerte sich eine Frau in mittleren Jahren an die freundliche Geste einer Nonne, als sie allein und völlig verstört ein uneheliches Kind zur Welt brachte. Nie wieder hat sie den Namen dieser Frau vergessen. Ein junger Mann, mit dem ich in einem Haus für Jugendliche zusammenarbeitete, erzählte mir von einem alten Gärtner aus der Nachbarschaft, der ihn offenkundig sehr gemocht hatte. Die Wertschätzung, welche ihm der alte Mann bezeugt hatte, hielt ihn immer wieder aufrecht. Eben dies meinte der Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela, als er sagte: »Es tut nicht weh, wenn man zu gut von einem Menschen denkt. Häufig fühlt sich der Mensch dadurch geehrt und verändert sich tatsächlich.«

Einen Menschen mit dem Blick des Heiligen zu betrachten, heißt nicht, dass wir sein Entwicklungspotenzial als ausgeschöpft betrachten. Denn die heilige Sicht ist im Grunde ein Paradoxon. Zenmeister Shunryu Suzuki sagte einmal zu einem seiner Schüler: »Du bist vollkommen so, wie du bist. Aber natürlich ist da immer noch genug zu verbessern.« Die buddhistische Psychologie bietet eine Reihe von Methoden an, welche die innere Entwicklung fördern: Meditationstechniken, Schulung beziehungsweise Übung in Einsicht und Ethik. Letztlich aber wurzeln sie alle in einer radikalen Sicht der Welt, die jeden verwandelt, der mit ihr in Berührung kommt: die Erkenntnis der innewohnenden »edlen« Natur des Menschen und der Freiheit des Herzens, die uns immer und überall offen steht.

 

 

Praxisübung:
Die innere Güte sehen

 

Warten Sie einen Tag ab, an dem Sie in guter Stimmung erwachen, an dem Ihr Herz für die Welt offen ist. Wenn diese Tage bei Ihnen eher selten sind, dann nehmen Sie einfach den Tag, der der Sache am nächsten kommt. Bevor Sie zur Arbeit gehen, fassen Sie den festen Beschluss, dass Sie heute Morgen nach der »edlen« Qualität von mindestens drei Menschen Ausschau halten werden. Bewahren Sie diese Absicht im Herzen, während Sie mit diesen Menschen sprechen oder arbeiten. Achten Sie darauf, wie Ihre Einstellung Ihre Interaktion mit diesen Menschen beeinflusst, wie sie auf Ihr Herz wirkt, wie sie Ihre Arbeit verändert. Wiederholen Sie diese Übung an fünf anderen guten Tagen.

Wenn Sie an fünf Tagen je drei Menschen auf diese Weise zu sehen geübt haben, fassen Sie den festen Beschluss, einen ganzen Tag lang die innere Güte so vieler Menschen wie nur möglich zu erkennen. Natürlich ist dies bei manchen Menschen schwieriger als bei anderen. Heben Sie sich diese Kandidaten für später auf. »Trainieren« Sie zuerst mit jenen, deren edle Qualität und innere Schönheit für Sie leichter zu erkennen ist. Wenn Sie dies einen Tag lang nach bestem Vermögen geübt haben, sollten Sie etwa einen oder zwei Monate lang einen Tag pro Woche dieser Praxis widmen.

Schließlich wird es Ihnen ganz natürlich vorkommen, die innere Güte in den Menschen zu sehen, mit denen Sie zu tun haben. An diesem Punkt sollten Sie Ihre Praxis ausdehnen. Auf mehrere Tage beispielsweise. Üben Sie auch mal an stressgeladenen Tagen. Schließen Sie auch Fremde und schwierige Menschen ein, bis Ihr Herz lernt, alle Menschen, die Ihnen begegnen, anzuerkennen und zu schätzen. Ihr Ziel ist es, so viele Wesen wie möglich mit stillem, liebevollem Respekt zu behandeln. Gehen Sie durch Ihren Tag, als wären Sie der Dalai Lama persönlich – undercover natürlich.