Für Christine.
Huch!
☣
»Yet across the gulf of space, minds that are to our minds as ours are to those of the beasts that perish, intellects vast and cool and unsympathetic, regarded this earth with envious eyes, and slowly and surely drew their plans against us.«
From »The War of the Worlds« by H. G. Wells
Z
Ich bin kein Held. Ich bin der egozentrische Bastard, der durch Zufall in diese Geschichte gerutscht ist.
Die Leute kennen mich unter dem Namen Z – ein Pseudonym, das ich mir selbst gegeben habe, als ich vor drei Jahren aus dem Labor geflohen bin. Z für Zombie, zynisch, zermürbt, zäh – alles Wörter, die beschreiben, wer ich bin oder behaupte zu sein. Ich bin Kopfgeldjäger. Skrupel kenne ich nicht. Die Bezahlung ist das Einzige, was zählt. Ich bin die traditionelle Figur des schleichenden Todes mit dunkler Kutte und Sense, nur jetzt mit Springerstiefeln und AWM Scharfschützengewehr. Niemand weiß es, aber der kurze Moment, in dem ein weiterer Gesuchter unter meiner Waffe fällt, gibt mir einen Kick – das Gefühl, am Leben zu sein. Für diesen Moment lebe ich. Das bin ich.
Dann kam Lys und für ein paar Tage keimte in mir die beschissene Idee, dass ich mich auch anders lebendig fühlen kann. Dass es mehr gibt als die simple Befriedigung, wenn ein Körper leblos zusammensackt, die entsetzten Blicke im Angesicht des nahenden Todes und das leise Klicken eines gedämpften Schusses. Wegen eines Deals habe ich eingewilligt sie und ihre seltsame Horde von Anhängern nach unten zu bringen, doch als ich ihre Gesichter sah, als ihnen klar wurde, dass ich sie verraten hatte, entschied ich mich zum ersten Mal im Leben etwas aus Nächstenliebe zu tun.
Weit hat mich das leider nicht gebracht – wie ich schnell merken musste. Wenn eines gewiss ist, dann die Tatsache, dass man selbst verarscht wird, wenn man es nicht bei anderen tut – und so sind wir allesamt in der kindischen Hoffnung, die Welt zu verbessern, in Franks Falle getappt.
Ich kann nur hoffen, dass die Wunde an meinem Kopf nicht allzu tief ist, dass ich in diesem Leben noch einmal Gelegenheit bekomme, diesem Scheißcyborg eine Kugel in den Schädel zu jagen. Und danach werde ich diese kurze, eigenartige Episode aus meinem Gedächtnis verbannen und wieder in meine alte Existenz zurückkehren.
Aufstehen, Injektionen, Essen, Trinken, Schlafen, Töten – weil es das ist, was ich am besten kann und ich zu nichts anderem geschaffen wurde.
Ich bin kein Held, Lys. Es tut mir leid.
☣
Victoria
Victoria Sanchez, ihr Süßen.
Sprengstoff, Granaten und allen Männern dieser Erde in den Arsch treten – das ist genau mein Ding. Ich war einmal verliebt – war ne schöne Scheiße und hätte mich vermutlich umgebracht, wenn ich meine Schwester nicht gehabt hätte.
Sie war’s auch – also verliebt –, aber der Scheißkerl hat einfach nur zugesehen, wie sich irgendwelche Wichser an ihr vergingen und sie anschließend umbrachten. Dann verschanzte er sich in Urbs. Als ich davon Wind bekam, kratzte ich mein Geld zusammen, um dem Jungen nen Besuch abzustatten, den er so schnell nicht vergessen würde, aber dann bin ich Lys begegnet. Zuckersüßes Mädchen und ich könnte schwören, sie hat den gleichen Blick wie meine Schwester.
Na ja. Ehe ich mich’s versah, war ich also mit ihr, ihrem komischen Halbzombiefreund und diesem Säufer J.S. unterwegs nach Urbs und keine Ahnung – irgendwann hat mich die Kleine daran erinnert, dass es Wichtigeres gibt als meine Rache: sie zu ihrem Dad zu bringen, zu ihrer Familie – oder wahlweise auch diesem riesigen dampfenden, zombieverseuchten Scheißhaufen, den wir bewohnen, endlich mal nen neuen Anstrich zu verpassen.
Irgendwann kam noch Blondchen dazu und dann haben wir zu fünft tatsächlich dieses Zombielabor zerstört. Leider mit Nebenwirkungen. J.S. ist tot, Calvin über alle Berge, Lys von irgendwelchen Typen abgeholt worden und Loverboy liegt röchelnd mitten in dem Haufen Trümmer und sieht tatsächlich aus, als wäre er in irgendeiner Weise bemitleidenswert.
Ich befürchte ja schon fast, dass ich ihm den Arsch retten muss, weil ich es der Kleinen irgendwie schuldig bin. Auch wenn das jetzt scheiße kitschig klingt, hat sie meinem verrotzten Dasein doch einen Sinn gegeben. Keine Ahnung, wo sie sie hingebracht haben, aber ich schwöre bei dem Gott, den es nicht gibt, dass ich sie da rausholen werde. Aber das schaffe ich nicht allein.
☣
Calvin
Hi, ich bin Sternchen. Ich seh gut aus, bin eitel und – wie könnte es anders sein – stockschwul. Heimlich schlägt mein Herz für J.S. – er ist so herrlich dominant. Aber Z sieht so heiß aus und ist soooo geheimnisvoll. Ich weiß einfach nicht, für wen ich mich hergeben soll, deshalb bin ich abgehauen, um die Antwort in meinem Herzen zu finden …
Okay. So würde mich J.S. wahrscheinlich beschreiben und um ehrlich zu sein, habe ich mir bisher nicht die Mühe gemacht, einen besseren Eindruck zu vermitteln.
Mein Name ist Calvin Lee. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und das mit der Eitelkeit (und dem guten Aussehen) stimmt wirklich. Ich verbrachte mein ganzes Leben in Urbs, hackte PCs, drehte krumme Geschäfte, füllte mein Gehirn mit unnötigen Infos und schlief mich dabei auch noch schön durch die halbe Weltgeschichte. No regrets – gutes Aussehen ist ein Geschenk, das man nutzen sollte.
Trotz meiner Sprunghaftigkeit in dieser Hinsicht gab es in meinem Leben immer eine Konstante – einen Anker, der mich und mein Luftschloss wenigstens einigermaßen am Boden hielt: Hannah.
Aber wie bei allem im Leben ist mir das leider erst bewusst geworden, nachdem ich sie verloren hatte. Nachdem sie entführt worden war. So bin ich an Lys und ihren Kindergarten von Freunden gekommen – noch immer weiß ich nicht, was ich von denen halten soll – und mit ihnen zusammen entdeckte ich diese unterirdische Stadt. Nach einigen hochdramatischen und bitter unnötigen Wendungen stieß ich dann auf ein paar Infos über Hannahs Aufenthaltsort. Und – hier wird’s interessant und auch ziemlich abgespaced – im wahrsten Sinne des Wortes: Sie ist auf ner Raumstation. Dahin bin ich jetzt auf dem Weg – oder zumindest zu den Leuten, die mich dorthin bringen können.
Auch wenn das bedeutet, dass ich die anderen im Stich lassen muss. Scheiß drauf, wirklich.
Hannah geht vor. Und nein – ich bin nicht schwul.
Auf der anderen Seite … Alleine bin ich wohl doch ziemlich am Arsch … Hm …
☣
J.S.
Wenn ich mich vorstellen darf … Ach, was interessiert mich, ob ich darf?! Ich bin Sam fucking Jason, kurz J.S. Hauptberuflich Alkoholiker, dazu Teilzeit-Junkie, auch und ganz nebenbei ein Gott an der M16.
Ich habe in dieser von Gott verlassenen Hölle, die sich Leben nennt, meine Verlobte und meinen Sohn verloren und vertreibe mir seitdem die Zeit damit, so vielen beschissenen Scheißzombies wie möglich den untoten Schädel wegzupusten und eine neue Stufe des Deliriums zu erreichen. Ich muss sagen: Klappt beides hervorragend und jeder, der was anderes behauptet, sollte mir besser nicht über den Weg laufen.
Apropos – wie es der Zufall so wollte, lief ich (betrunken) Lys in die Arme. Nettes Mädel, war mir auf Anhieb sympathisch. War auf der Suche nach ihrem Dad, was zufällig in derselben Richtung lag, in die ich sowieso wollte. Ein kleines Mädchen mit ihrem Daddy wieder zu vereinen, rauszufinden, was es mit der ganzen Zombiescheiße auf sich hat, und ein paar kräftige Arschtritte zu verteilen und das alles an einem Tag – Scheiße, dazu kann ich doch nicht Nein sagen. Was Sinnvolleres, als Zombiehirne für einen guten Zweck in blutigen Sprühnebel zu verwandeln und mich dabei weiter in andere Sphären zu saufen, hatte ich sowieso nicht zu tun und die Möglichkeit, Rache zu nehmen, wäre nie greifbarer gewesen.
Also machte ich bei dem ganzen Spaß mit und wenn’s mal nicht so lief, hab ich mir den Mist halt schöngesoffen.
Wie’s jetzt weitergeht? Keine Ahnung. Wahrscheinlich muss ich Goldi mal wieder den Hintern retten und ein paar Löcher in Körper stanzen. Alles wie gewohnt. Und wenn mir das zu langweilig werden sollte, gibt’s zum Glück immer noch Schnaps, um die Lage angenehmer zu gestalten.
Außerdem muss ich immer noch ein paar unschöne Rechnungen begleichen. Kurz: Ich hab nen Heidenspaß vor der Brust.
Oh, und nicht zu vergessen: Ich bin tot. So tot wie Elvis. Nur im Gegensatz zu ihm durchlöchert, zersprengt, verbrannt, was auch immer – denkt zumindest der Rest der Welt.
Aber Mann, ich bin Sam fucking Jason. Ich bin verdammt noch mal nicht so einfach aus dem Spiel zu nehmen. Ich hab’s ja gesagt: Ich komm bestimmt wieder. Seid ihr bereit dafür? Habt ihr mich vermisst? Tja, dann dürft ihr jetzt den Schnaps fließen lassen und begeistert Freudentänze aufführen, denn der gute J.S. ist wieder voll da. Besser und betrunkener als je zuvor. Ich bin Sam Jason – und Legenden leben bekanntlich ewig.
☣
Lys
Mein Name ist Lys Mason.
Mein ganzes Leben glaubte ich, das Schicksal wäre unumstößlich. Ich dachte, ich würde am selben Ort sterben, an dem ich geboren wurde. In meiner Heimatstadt, namenlos und der Inbegriff von unspektakulär – und das in einer zombieverseuchten Welt. Aber das Schicksal – und das habe ich gelernt – ist kein bindender Vertrag, sondern ein ziemlich unberechenbarer Pokerspieler.
Mit einem Mal bin ich eine der wenigen Überlebenden meiner einstigen Heimat, auf der Suche nach meinem Dad, alleine in einer Welt, die ich nicht kenne und in der in jeder Sekunde alles vorbei sein kann. Blindes Vertrauen ist eine Sünde.
Obwohl dies ein unumstößliches Gesetz draußen im Ödland ist, hatte ich das große Glück, ausgerechnet einem Kopfgeldjäger in die Arme zu laufen. Seth. Der Unberechenbare, der Verschwiegene. Z. Mit ihm fing alles an.
Danach kam Sam Jason alias J.S. Der Alkoholiker, der Gebrochene – und einer der besten Menschen, die mir je untergekommen sind.
Victoria. Radikal, wunderschön – die Schwester, die ich nie hatte.
Calvin. Der Letzte im Bunde. Ich weiß gar nicht, ob er sich als Mitglied unserer kleinen Truppe sieht, aber auch er ist mir ans Herz gewachsen. Lebensfroh und ein Genie.
Inzwischen ist er weg – auf der Suche nach seiner Freundin, was ich ihm nicht vorwerfen will.
Victoria ist hoffentlich auf der Flucht.
J.S. ist tot.
Und das Letzte, was ich von Z sah, war sein lebloser Körper inmitten eines Trümmerhaufens. Unser sogenanntes Team, wie ich es wider besseren Wissens gerne bezeichnet habe, liegt in Scherben, aber wir haben es tatsächlich geschafft, dieses Labor zu zerstören. Das war vielleicht der erste Schritt in eine bessere Zukunft.
Ich weiß, dass es eine Zeit geben wird, in der ich alle meine Freunde betrauern kann, aber jetzt muss ich erst da anknüpfen, wo ich aufgehört habe: Ich muss meinen Dad finden. Und egal wie viel es mich kostet, ich werde nicht eher ruhen, bevor ich nicht jeden nur erdenklichen Versuch unternommen habe, ihn wiederzusehen. Jetzt wo ich endgültig weiß, dass er nicht tot ist, kann mich nichts davon abhalten. Nicht solange ich noch den Willen und die Kraft habe weiterzumachen.
Egal was jetzt mit mir geschieht: Ich werde meinen Dad finden.
Lys
Z, J.S., Victoria, Calvin und ich. Fünf Menschen, die unterschiedlicher nicht sein können, und doch haben sich unsere Schicksale unentwirrbar miteinander verwoben. Aus unseren eigenen, eigennützigen Zielen ist eine gemeinsame Mission geworden, eine Bestimmung, eine Geschichte. Sie hat mit einem Funken Hoffnung begonnen und in einem Flammenmeer geendet. Die Zerstörung des Labors – Trümmer, Rauch, Asche – markiert das Ende unserer gemeinsamen Zeit. Ein Ende im Feuer und nun ist es Zeit für einen Neuanfang – ironischerweise beginnt er mit Wasser.
Ich erwache aus der Schwärze, als Schwere sich auf meine Brust legt. Ein Brennen in meiner Lunge holt mich aus meiner tiefen Ohnmacht, doch als ich verzweifelt nach Atem ringe, wird der Schmerz nur größer. Die Realität schlägt mit voller Kraft zu, reißt mich fort von der Erinnerung an meine Freunde, an die Explosion, die Mission, direkt in die Gegenwart.
Es ist Wasser, das meine Lungen füllt. Ich öffne die Augen und sehe, wie das klare Nass vor meinen Augen von der Decke auf mich herabströmt – dahinter erkenne ich eine weiße Wand. Ein Hustenreiz durchfährt mich, Adrenalin schießt durch meinen Körper, bringt mich dazu, mich wie ein Fisch auf dem Trockenen zu winden. Fesseln um Hals, Arme und Beine schränken mich allerdings so weit ein, dass ich nirgendwo nach Atem schnappen kann.
Das letzte bisschen Luft, das ich noch in meinem Körper halte, verlässt schon bald meinen Mund. Die Kälte fährt ihre Klauen nach mir aus, steigt mir in die Glieder, die inzwischen schwer wie Gusseisen sind und mich in eine unwirkliche Tiefe reißen wollen. Der Schmerz in meiner Lunge wird unerträglich. Ein Rucken geht durch meinen Körper und gerade, als ich mich ein letztes verzweifeltes Mal aufbäume, ist es endlich Sauerstoff, der in meine Lungen strömt.
Hustend drehe ich meinen Kopf zur Seite. Der Reiz schüttelt mich so heftig, dass mir einen Moment schwarz vor Augen wird, und ich kann nur hören, wie ein Schwall Wasser meine Lippen verlässt und auf den Boden plätschert. Als mein Blick langsam wieder klarer wird, tanzen Punkte vor meinen Augen. Mir fehlt die Kraft, den Kopf zu heben, um mich umzusehen – so scheinen Minuten zu vergehen, in denen ich keuchend an den Stuhl gefesselt sitze und noch immer von einzelnen Hustenreizen geschüttelt werde.
»Sie dürfen gehen, Marvin. Es ist spät.« Die Stimme, die das Surren in meinem Kopf durchdringt und mich endgültig zurück in die Gegenwart holt, klingt tief und einnehmend. Die andere dagegen vorsichtig und beherrscht.
»Sehr wohl, Sir.« Ich höre das leise Zischen einer automatischen Tür, Schritte verlassen den Raum, meine Sicht klärt sich und langsam beruhigt sich mein Atem. Kleine Bäche fließen meinen Körper hinunter, Haare kleben mir wie Seetang an den Wangen und als ich endlich den Blick vom Gitter im Boden heben kann, scheint die strahlend weiße Umgebung zu leuchten.
Der Raum ist dem Labor nicht unähnlich, obwohl es natürlich unmöglich ist, dass ich mich in ebenjenem befinde. Alles ist in Weiß gehalten. Es gibt hier drin nichts außer dem Stuhl, auf dem ich gefesselt bin, und einen Touchscreen an der Wand, der mir unverständliche Daten anzeigt. Hinter dem kleinen halbrunden Fenster kann ich die Schwärze der Stadt in der Unterwelt erkennen und kurz erfüllt nur der Klang meines pochenden Herzens das Zimmer.
»Wo bin ich?«, bringe ich krächzend hervor, was nur einen weiteren Hustenreiz auslöst.
»Regel Nummer eins«, höre ich die tiefe Stimme erneut, »mir allein ist es gestattet, Fragen zu stellen.«
Ich gebe mir Mühe, meinen Blick zu fokussieren und meinen Kopf noch ein Stück weiter nach rechts zu wenden, von wo ich sie gehört habe, und erkenne nun endlich auf einem Stuhl in einer Ecke einen Mann sitzen, der mich lauernd beobachtet. Als hätte er nur darauf gewartet, sich meiner Aufmerksamkeit zu versichern, löst er nun seine Beine aus der übereinandergeschlagenen Haltung, steht auf und geht langsam auf mich zu. An den Stuhl gefesselt, bin ich dazu gezwungen, zu ihm aufzusehen, nass und vor Kälte zitternd. Und vor Angst.
Die Erinnerungen an das Labor, die Explosion und Zs leblosen Körper hämmern auf mich ein und ich ringe erneut nach Atem, ohne dass mein Kopf eine Ahnung hat, was hier vor sich geht und was gerade mit mir geschieht.
Die Haare des Mannes vor mir sind militärisch kurz rasiert, was mit der schwarzen hochgeschnittenen Uniform harmoniert, die sich perfekt an seinen definierten Körper schmiegt. Das markante Gesicht mit den hohen, hervorstehenden Wangenknochen, den vollen Lippen und dem spitzen Kinn könnte man unter anderen Umständen als attraktiv bezeichnen, doch nur ein Blick der beinahe schwarzen Augen ist so kalt und unnahbar, dass mir unweigerlich ein Schauer über den Rücken jagt. Selbst an seinen schlechtesten Tagen konnte nicht einmal Z mich derart einschüchtern.
»Hast du verstanden?«, fragt der Mann ungnädig. Ohne das Gesicht abzuwenden, nicke ich. In seinem ganzen Auftreten steckt so viel Autorität, dass ich es nicht wagen würde, etwas anderes zu tun. Noch immer hängt mein Kopf mit der Informationsverarbeitung hinterher.
»Das lasse ich ausnahmsweise als Antwort durchgehen.« Er lässt die Stimme beherrscht klingen, doch mir entgeht das kleine Fältchen in seinem Mundwinkel nicht. Ein Mann, der es gewohnt ist, dass Menschen exakt das tun, was er von ihnen verlangt. Er geht zum Bildschirm, der in die Wand eingebaut ist.
»Wie lautet dein Name?«
»Lys.«
Ein Rucken geht durch meinen Körper und lässt für einen kurzen Augenblick alle meine Muskeln auf einmal anspannen. Schmerz kommt von den einschnürenden Fesseln, die sich durch die plötzliche Bewegung wie Messer in meine Haut schneiden und aus unnachgiebigem kaltem Metall bestehen.
Binnen weniger Sekunden ist es vorbei und nur ein elektrisches Kribbeln bleibt in meinem Körper zurück, das meine Nackenhaare aufstellt.
»Was war das?«, keuche ich entsetzt und starte einen neuen kläglichen Versuch, mich von meinen Fesseln zu befreien. Fuck. Fuck. Fuck. Was habe ich verpasst?! »Bist du einer von Franks Männern?!«
»Das, was du eben gespürt hast, war der Effekt, der eintritt, wenn man fünfzig Milliampere Wechselstrom für eine Sekunde durch den menschlichen Körper laufen lässt«, erläutert mir mein Peiniger geduldig, als wolle er es einem widerspenstigen Schüler erklären. »Keine lebensgefährliche Dosis, aber ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen wird, wenn du meine Regeln nicht befolgst oder meine Fragen nicht zufriedenstellend beantwortest. Hast du verstanden?«
Ich nicke. Was sollte das?
Wieder ein schmerzhafter Schlag, der meine Muskeln zusammenfahren lässt. Vor meinen Augen bilden sich seltsame Muster. Ich spüre ein Brennen dort, wo meine Glieder gefesselt sind.
»Hast du verstanden?«, fragt er noch mal. Und wie ich das habe. Scheiße.
»Ja.«
»Sehr schön.« Er tritt ein Stück vom Display weg, von wo aus er den Strom anscheinend steuern kann, und geht stattdessen zum kleinen Fenster. Dahinter ist nichts als tiefe Schwärze, weshalb ich nicht verstehe, wieso er hinausblickt. Falls er mir zeigen will, dass er am längeren Hebel sitzt, ist ihm das bereits längst gelungen.
Der Mann ist hochgewachsen mit breitem Kreuz und perfekter gerader Körperhaltung, die ihm mehr von einer Statue gibt als von einem lebendigen Menschen. In seiner Position verharrt er eine Weile, während sich absolute Stille über den Raum legt. Kein Geräusch gibt preis, wo ich mich genau befinde. Ich kann nur ahnen, dass es sich um irgendeine Institution handelt, die im Namen des Gesetzes agiert, und bin mir doch ziemlich sicher, dass es gegen das Gesetz verstößt, ein Labor in die Luft zu sprengen.
Aber wenn ich hier bin, was ist dann mit den anderen? Sind sie auch geschnappt worden oder konnten sie rechtzeitig fliehen? Was passiert jetzt mit mir?
»Noch einmal von vorne.« Der Mann in der dunklen Uniform löst sich aus seiner Starre, lässt sich geschäftig auf dem Stuhl nieder und stützt dabei das Kinn auf seine ineinander verschränkten Hände. »Wie lautet dein Name?«
»Lys Mason.«
Widerstand zwecklos. Ich habe keinen Grund, ihm diesbezüglich etwas vorzulügen – wahrscheinlich weiß er ohnehin schon längst, was er wissen will –, und Kooperation ist derzeit die einzige Option, die zumindest nicht mit Schmerz verbunden ist. An Flucht ist überhaupt nicht zu denken, solange ich gefesselt bin und nicht einmal die geringste Ahnung habe, wo ich mich überhaupt befinde, und wie durch ein Wunder von irgendeinem der anderen gerettet zu werden, ist das Allerletzte, worauf ich hoffen kann.
Langsam schießt das Adrenalin durch meinen Körper und weckt mich aus diesem tranceartigen Zustand auf, schärft meine Sinne und lässt die Gedanken durch meinen Kopf rauschen. Scheiße. Scheiße. Scheiße.
»Das Gesetz verlangt, dass ich dich an dieser Stelle über deine Situation aufkläre. Du bist des Hochverrates angeklagt. Ich gehe davon aus, dass dir der Grund dafür bekannt ist?«
»Das Labor«, erkläre ich nickend. Widerstand zwecklos. Meine Kooperation lässt den Mann lächeln, sodass mir das Blut in den Adern gefriert.
»Um mich vorzustellen, mein Name ist Cain Ben Raffael – ich bin Inquisitor hier auf der Elysium.«
Auf der Elysium? Einem Schiff?
»Du bist hier, weil meine Leute sich einige Antworten von dir erhoffen, und es ist meine Aufgabe, diese zu besorgen.«
»Also ist das ein Verhör?« Ich beiße mir auf die Zunge. Dumme kleine Lys.
»Exakt. Aber soweit ich mich daran erinnere, war ich derjenige, der die Fragen stellt.«
Er lässt mir meinen Ausrutscher durchgehen, aber schon ein einziger Blick lässt mir jede weitere Frage im Halse stecken bleiben. Ein entschuldigendes Nicken ist alles, was ich zustande bringe. Dann fährt Cain Ben Raffael fort:
»Wie alt bist du?«
»Siebzehn.«
»Wie du siehst«, seine Stimme klingt sanft und gönnerisch, aber nichts von dieser Wohlgesonnenheit spiegelt sich in seiner Mimik, »ist es ganz einfach.«
Ich zittere. Und zu diesem Zeitpunkt weiß ich nicht mehr, ob vor Angst oder vor Kälte, die durch meine nasse Kleidung fährt.
»Woher kommst du?«
»Aus einer kleinen Stadt im Ödland. Ungefähr einen Tagesmarsch entfernt von Graveyard.«
Ein Stromstoß durchfährt mich. Kurz, kaum schmerzhaft, aber vollkommen ausreichend, um mich an meine Lage zu erinnern. Ich blicke zum Inquisitor, der nur auf die Uhr an seinem rechten Handgelenk tippt, mit deren Hilfe er die Elektroschocks ebenso steuern kann wie über das Display in der Wand. »Präzisere Antworten bitte, Ms Mason.«
»Der Ort hat keinen Namen und es gibt keine Karten für unsere Welt – zumindest habe ich keine gesehen. Ungefähr ein Tagesmarsch von einem Ort namens Graveyard entfernt. Wir halten uns hauptsächlich mit Handel am Leben.« Ich verbessere mich. »Hielten.«
»Hielten?«
»Die Stadt wurde von Zombies überrannt.« Und noch immer schmerzt die Erinnerung daran.
Cain Ben Raffael zuckt unbeeindruckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich nur irgendeiner dieser Müllhaufen an der Oberfläche, der von Ratten bewohnt wurde, die sich fälschlicherweise als Menschen bezeichnet haben.«
»Es war mein Zuhause!«, protestiere ich patzig und die Antwort erfolgt prompt. Dieses Mal ist der Schmerz schlimmer – der Rand meines Sichtfelds beginnt zu flimmern, während mein Herz für einen Moment auszusetzen scheint. Wie viel von dieser Behandlung kann ein Mensch ertragen?
Ich keuche, als sich meine Muskeln entspannen.
»Regel Nummer zwei: Ich dulde keine Frechheiten. Verstanden?!«
»Ja«, erwidere ich hilflos und versuche das Dröhnen in meinem Kopf zu ignorieren.
»Gut.« Er lächelt wieder und auf einmal wird mir klar: Ihm gefällt das hier. Es macht ihm überhaupt nichts aus, mir Schmerzen zuzufügen, mich leiden zu sehen, solange er nur seine Antworten bekommt. »Du gibst also zu, dass du zusammen mit vier anderen Personen das Attentat auf das Labor zu verantworten hast?«
»Ja.«
»Weißt du, was danach geschehen ist?«
»Ich bin bewusstlos geworden. An mehr erinnere ich mich nicht.« Frank … Oder war das nur Einbildung?
»Man hat dich am Tatort gefunden und festgenommen – die Anklage lautet: Hochverrat. Deine Leute sind alle tot. Alle vier.«
Was?! Ich wende den Kopf ab und blicke an die Decke, um die brennenden Tränen aufzuhalten. Alle tot? Das bedeutet, dass sie nicht nur Victoria erwischt haben, sondern dass auch Calvins Mitarbeit an dem Plan aufgefallen sein muss – wahrscheinlich hat ihn irgendwer auffliegen lassen. Auf einmal tut mein Herz mehr weh als alles andere. Ich spüre, wie sich die salzige Flüssigkeit in meinen Augen sammelt, doch ich wehre mich vehement dagegen zu weinen. Nicht hier – nicht vor diesem … Arschloch.
»Verzeih«, erwidert er ohne einen Hauch von Mitleid. »Ich dachte, dass du dir dieser Tatsache bewusst seist.«
Am Arsch. Woher hätte ich das wissen sollen – er sagt mir das doch nur jetzt, weil er genau weiß, was er damit in mir anrichtet … Fuck. Mühsam beiße ich die Tränen zurück.
Was jetzt? Was jetzt?!, drängt mich mein Verstand, doch Cain Ben Raffael gibt mir nicht annähernd die Zeit, die ich brauche, um mir irgendeine Lösung zu überlegen.
»Wie dem auch sei. Ich bedauere deinen Verlust zutiefst, nichtsdestotrotz möchte ich dieses Verhör beenden, bevor die weiteren Schritte eingeleitet werden …«
Darauf kann ich nicht mal angemessen reagieren. Ein Teil von mir will versuchen zu fliehen, ein anderer will aus Verzweiflung weinen. Weitere Schritte – was auch immer das zu bedeuten hat. Als ob es irgendwie schlimmer werden könnte. Meine Freunde sind tot und ich sitze hier in einem Verhör mit diesem Psycho.
»Mason ist ein interessanter Nachname, findest du nicht?«
Ich zucke mit den Schultern. Was soll ich darauf auch antworten? Die Reue kommt sofort. Elektrizität. Schmerz. Ein erstickter Schrei verlässt meine Lippen.
»Sagt dir der Name Jamison Mason etwas?«
Für einen Moment vergesse ich den Schmerz. Meinen Zustand. Meine Situation. Alles.
Mein Dad – dieser Mann kennt meinen Dad. Aber woher?
»Ja?«, bohrt er weiter und sein Finger schwebt drohend über dem Touchdisplay seiner Uhr, als ich mir allzu viel Zeit mit der Antwort lasse. Macht eine Lüge hier Sinn? Oder könnte sie meinen Vater das Leben kosten?
»Er ist mein Dad«, erkläre ich gepresst. »Wo ist er?«
Ich weiß, dass ich nicht fragen sollte, aber ich kann es nicht verhindern. Es fühlt sich an, als wären Jahre vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und jetzt scheint er wieder so nah. Aber … das hatte mir Frank auch versprochen. Ich schlucke. Hätte ich leugnen sollen? Cain Ben Raffael lässt ein leises Kichern von sich hören, dabei entblößt er seine perfekten perlweißen Zähne.
»Ich habe gehofft, dass du mir das sagen könntest«, säuselt er seelenruhig und verschränkt erwartungsvoll die Arme. »Wo ist Jamison Mason?«
»Ich weiß es nicht.«
Der nächste Stromschlag. Punkte tanzen vor meinen Augen und selbst als es aufhört, zittert mein ganzer Körper. Ich will etwas sagen, mich wehren – aber ich bin dem allen hier hilflos ausgeliefert.
»Wo ist Jamison Mason?«, wiederholt er.
»Das letzte Mal habe ich ihn vor knapp zwei Wochen gesehen. In meiner Heimatstadt. Ich bin auf eine Tour gegangen, zum Schrottsammeln – als ich zurückkam, war meine Stadt zerstört und mein Dad verschwunden.«
»Hm.« Cain richtet sich auf und geht um mich herum. »Verschwunden, sagst du?«
»Ja.«
»Das ist höchst ungewöhnlich, denn ich weiß aus ziemlich verlässlicher Quelle, dass er erst vor Kurzem von einer unserer Überwachungskameras aufgezeichnet wurde.«
Er lebt. Trotz allem spüre ich Erleichterung.
»Und weißt du, was das Interessante an dieser ganzen Sache ist? Dieses ganze Attentat, sich in die Sicherheitssysteme einzuhacken, alles so zu koordinieren, dass ihr ohne jeglichen Widerstand rein- und wieder rauskönnt – das alles klingt nach etwas, was auch er tun würde.«
Bitte?
»Die Sache ist die, Lys Mason. So gerne ich dir deine zuckersüße Geschichte auch glauben würde – das kleine hilflose Mädchen, ganz allein auf der Suche nach seinem Vater –, so kommt es mir doch etwas seltsam vor, dass du und deine kleine Truppe ausgerechnet etwas getan habt, das den Rebellen in die Hände spielt.«
»Was?!«
»Hm? Hast du etwas zu sagen?« Er hebt herausfordernd die Brauen. Ein Blick, der solch eine Überheblichkeit innehat, dass ich am liebsten vor ihm auf den Boden gespuckt hätte.
»Ich habe nichts mit den Rebellen zu tun«, antworte ich wahrheitsgemäß und warte förmlich auf den nächsten Stromschlag. Keine Sekunde später knallt mein Kopf schmerzhaft nach hinten.
»Das glaube ich nicht, Ms Mason. Ich glaube, du hast sehr wohl mit ihnen zu tun. Wie sonst hättet ihr an die Ressourcen kommen sollen, um euren Anschlag so vollkommen reibungslos durchzuführen? Die IT, der Sprengstoff – allein die Baupläne der Anlage unterstanden oberster Geheimhaltung.«
Ich schlucke und versuche meine Gedanken zu sammeln. Aber die Folter verlangt langsam ihren Tribut – mir schwirrt der Kopf. »Frank hat uns alles Nötige zugespielt.«
»Frank?«
»Er ist ein Cyborg«, antworte ich. »Ich weiß nicht viel über ihn, aber er hat uns geholfen.«
»Ist er ein Mitglied der Rebellen?« Fast kommt es mir so vor, als würde Cain Ben Raffael meine Informationen ernsthaft in Betracht ziehen.
»Ich weiß es nicht.«
»Wieso hat er euch geholfen?«
»Er wollte eine Akte aus dem Labor … Eine …«
Der nächste Schlag schnürt mir die Kehle zu, lässt meinen Körper erstarren und dann erneut unkontrolliert zusammenzucken.
»Weißt du was, Ms Mason? Ich bin deine Lügen leid.« Er steht jetzt direkt vor mir, legt die Hände auf die Armlehnen meines Stuhls und beugt sich so weit nach vorne, dass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt in der Luft schwebt. Sein Atem riecht nach Pfefferminz. »Wir wissen doch beide, dass das nur ein verzweifelter Versuch ist, mich bei meiner Arbeit zu behindern.«
»Aber ich …«
»Schscht.« Mit einer einzigen Handbewegung schneidet er mir das Wort ab. »Wo ist dein Vater?«
»Ich weiß es nicht.« Und selbst wenn ich es wüsste, würde ich es diesem kranken Wichser vor mir nicht verraten. Cain Ben Raffael lacht, als würde er diesen kleinen Funken Widerstand genau in meinen Augen sehen. Die Fältchen um seinen Mundwinkel lassen ihn jung wirken. Zu jung für einen derart gefühlskalten Inquisitor. Er geht wieder auf Abstand.
Der Stromschlag trifft mich mit Verzögerung, dementsprechend unerwartet und heftig. Selbst als er aufhört, scheint mein Körper zu vibrieren. Der Schmerz sitzt nun auch in meinem Kopf. Ich höre ein Rauschen in den Ohren, sodass ich die nächste Frage kaum verstehe.
»Dann stellen wir die Frage eben anders: Wo ist der Aufenthaltsort der Rebellen?«
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich wahrheitsgemäß.
Wieder ein Schlag. Ich sehe Schwarz. Dann Weiß. Meine Arm- und Fußgelenke scheinen zu brennen.
»Wo sind die Rebellen?«, wiederholt Cain Ben Raffael.
»Ich weiß es nicht.«
Ein weiterer Stromstoß, der mir einen spitzen Schrei entlockt. Mein ganzer Körper heizt sich langsam auf.
»Wo sind die Rebellen?«
Tränen rinnen mir übers Gesicht, als ich ein letztes Mal antworte: »Ich weiß es nicht.«
Ich weine aus schierer Verzweiflung. Der nächste Schock, doch ich spüre schon nach Kurzem kaum mehr etwas davon. Der Schmerz überwiegt alles. Der Geruch nach verbranntem Fleisch steigt mir in die Nase.
Ein letztes Mal flackert meine Sicht auf, zeigt mir das wütende Gesicht von Cain Ben Raffael – dann verliere ich das Bewusstsein.
Z
Als ich aufwache, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, mich richtig übergeben zu müssen. Ein Nebeneffekt der Deus-ex-Machina-Behandlung ist, dass ich selten so etwas wie Übelkeit spüre, doch jetzt bekomme ich einen guten Eindruck davon, wie es J.S. wohl jeden Tag gehen muss. Fuck, ist mir schlecht.
Noch dazu liegt da eine seltsame Taubheit auf meinen Gliedern, als wären sie gar nicht da – weshalb ich zur Sicherheit die Augen öffne. Dass sich sogar starke Verletzungen schnell von selbst heilen, weiß ich, aber ob mein Körper auch einen ganzen Arm nachwachsen lässt, ist fragwürdig. Und alleine bei dem Gedanken wird mir nur noch schlechter.
Ich sitze an eine Mauer gelehnt irgendwo zwischen zwei hohen dunklen Gebäuden und bin offensichtlich am Leben und noch an einem Stück. Schöne Scheiße. Nicht dass ich es mit dem Sterben sonderlich eilig hätte, aber lebendig zu sein bringt leider einige unschöne Konsequenzen mit sich. Die Erste kniet vor mir auf dem Boden der Gasse und wühlt in ihrer Tasche. Daneben steht die Kiste mit meinen Medikamenten. Na immerhin.
»Na, schon wach, Loverboy?«
Ich hasse diesen Spitznamen. So sehr, dass ich ihr als Antwort nur ein unwilliges Brummen entgegenschleudere, während ich mich langsam aufrichte und den nicht vorhandenen Schaden an mir selbst betrachte – wobei das dieses Mal nicht ganz der Fall ist. Ich trage ein T-Shirt, weshalb ich trotz des gedämpften Lichts der Gasse sehen kann, wie sich ein riesiges Narbengewebe über meinen gesamten rechten Arm erstreckt, das vermutlich auch noch bis zu meinem Oberkörper reicht. Mein Körper hat ganze Arbeit geleistet, die verbrannte Haut in Rekordzeit zu rekonstruieren, aber auch einer genetischen Mutation wie mir sind Grenzen gesetzt. Immerhin kann ich alles einwandfrei bewegen. Schmerz spüre ich keinen, den Gesamtschaden kann ich bei Gelegenheit ermessen und bis auf das dumpfe Übelkeitsgefühl im Magen geht es mir gut. Vermutlich ist es nur Hunger, weil mein Körper zu viel Energie aufbringen musste, mich wieder ganz zu bekommen.
Ich wende den Blick von mir ab und betrachte Victoria, wie sie seufzend die Tasche verschließt und sich langsam aufrichtet. Staub und Schmutz kleben ihr im Gesicht und an ihren Händen haftet dunkelrot verkrustetes Blut, das einen unangenehm metallischen Geruch verströmt. Allerdings scheint sie keine Verletzungen davongetragen zu haben. Ich müsste erleichtert sein – ist mir aber egal.
»Wo sind wir hier?« Mein Blick fällt wieder auf den vernarbten Arm. Die Haut dort ist blass und schimmert leicht rosa, ist runzelig und unregelmäßig. Das kommt davon, wenn man sich auf andere einlässt. Nichts als Ärger. Immerhin ist mein Tattoo am Handgelenk noch da – einwandfrei, vollkommen intakt und so, als wolle mich irgendwer um jeden Preis daran erinnern. XIV.
»Keine Ahnung.« Victoria dreht sich unschlüssig um die eigene Achse, wodurch ich sehen kann, dass das Blut nicht nur an ihren Händen klebt, sondern auch an ihrem Hals. Anscheinend hat sie frische Klamotten eingepackt – schlaues Mädchen. Ist das mein Blut? »Aber ein gutes Stück vom Labor weg. Glaub mir, dich hierherzuschleppen war alles andere als leicht.«
»Hm.« Dass sie immer gleich so viel reden muss.
»Komm ja nicht auf die Idee, mir zu danken oder so.« Ihre Augen funkeln böse und mir wird klar, dass sie sich bestimmt weitaus schönere Dinge vorstellt, als mit mir hier zu sein. Geht uns dann ja ähnlich – was ein Fortschritt.
»Wofür?«, frage ich unschlüssig, aber hauptsächlich, um sie zu provozieren. Vielleicht können wir den unweigerlich bevorstehenden Abschied auf die Weise etwas beschleunigen. Mal abgesehen davon, dass sich mir der Sinn der Emotion »Dankbarkeit« nie ganz erschlossen hat.
»Dass ich dir den Arsch gerettet hab?! Irgendwer musste dir ja deine Rippen wieder reindrücken, bevor dank deiner Superkräfte deine Knochen falsch verwachsen wären. Glaub mir, das hat keinen Spaß gemacht und ne saubere Angelegenheit war’s auch nicht. Und eins kann ich dir versichern, ich hab’s nicht gerne gemacht.«
Ich betrachte ihre blutigen Hände, die Schweißperlen auf ihrer Stirn und die dunklen Ringe unter den Augen. Okay. Um fair zu sein, ich schulde ihr tatsächlich Dankbarkeit. Aber muss sie das wissen? – Nein. »Ist nicht so, dass ich dich drum gebeten hätte.«
Victoria scheint kurz davor zu sein, in Flammen aufzugehen. Wütend schnalzt sie ihr Piercing gegen die Zähne, was in dieser Situation einfach nervtötend laut ist. Ihre Hand streicht über die P90, die sie an einem Gurt über die Schulter trägt, dann schafft sie es allerdings noch einmal, sich zu fangen, auch wenn sie sich keine Mühe mehr gibt, den passiv aggressiven Unterton in ihrer Stimme zu verbergen.
»Erstens: Du warst verletzt. Ich bin, war, was auch immer, eine Ärztin und damit verpflichtet dir zu helfen.
Zweitens: Du bist – auch wenn ich keine Ahnung habe wieso – mehr oder weniger Mitglied des Teams.
Drittens: Lys hätte mir den Hals umgedreht, wenn ich dich einfach so liegen gelassen hätte.
Viertens: Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, was in mich gefahren ist, und wenn ich mir deine Visage jetzt bei Bewusstsein anschaue, versteh ich’s noch weniger.«
Alle Frauen, denen ich bisher begegnet bin, hatten immer diese unschätzbare Angewohnheit, auf eine einfache Frage mit einem Roman zu antworten – wahlweise auch mit einer Enzyklopädie, wenn sie wirklich sichergehen wollten, mir ordentlich auf den Geist zu gehen. Victoria bildet da keine Ausnahme.
Ebenso wenig wie Lys.
Lys.
Fuck.
»Wo ist der Rest?«
»Besorgt? Kennt man gar nicht von dir.« Wenn mir nicht das vertraute Gewicht einer Pistole am Gürtel fehlen würde, hätte sie jetzt schon einen Warnschuss in den Kopf kassiert. Doch obwohl ihre Antwort vor Zynismus nur so trieft, bröckelt ihre verbissene Miene und etwas anderes tritt zum Vorschein. Ich höre das Klacken ihres Piercings, sehe, wie sie die Hände zu Fäusten ballt und sich von mir abwendet, um die dunkle Gasse hinabzublicken.
»J.S. ist futsch. Calvin sonst wo – aber der ist mir echt scheißegal. Und Lys … wurde vorhin von so Typen in weißen Anzügen mitgenommen.«
Sicherheitsleute hier unten. Die kenne ich noch aus Laborzeiten. Ich runzle die Stirn, kann aber nicht verhindern, dass mein Puls etwas in die Höhe geht. Wie hat das passieren können?
»Und wie bist du rausgekommen?« Wenn es alle anderen erwischt hat, warum nicht sie? Victoria scheint den versteckten Vorwurf hinter meiner Aussage zu erkennen.
»Jetzt hör mal zu, Freundchen!« Augenblicklich dreht sie sich wieder zu mir und überbrückt mit wenigen, energischen Schritten die Distanz zwischen uns. Ihre Augen funkeln gefährlich, doch das beeindruckt mich nicht im Geringsten. Victoria gehört zu der Sorte Menschen, die eine harte Schale mit weichem Kern besitzen. Ihr Zeigefinger landet drohend an meiner Brust.
»Anstatt mir so eine dumme Frage zu stellen, solltest du lieber mal scharf nachdenken. Während du wie ein Held mit wehenden Haaren zurückgerannt bist, nur um anschließend in die Luft gesprengt zu werden, haben die Leute hier uns ordentlich Dampf unterm Hintern gemacht. Alles voller Sirenen und Typen, die uns an die Gurgel wollten. J.S. hat sie abgelenkt, ich wollte mit Lys abhauen, aber die musste natürlich erst mal zu dir rennen, um dir den Arsch zu retten.«
»Sie davon abzuhalten wäre wohl zu viel verlangt gewesen.« Auch in meiner Stimme macht sich inzwischen ein wütender Unterton breit. Bei dem Gedanken, dass Lys tatsächlich dumm genug war, noch mal zum Labor zu laufen, sehe ich rot.
»Wieso ICH sie nicht aufgehalten hab?«, zischt Victoria mir entgegen und ihr Finger bohrt sich schmerzhaft in meine Brust. »Hast du überhaupt eine Ahnung, was dieses Mädchen wegen dir durchmacht, du verschissener Drecksbastard?! Ist dir überhaupt klar, was du mit ihr angestellt hast?!«
Verbesserung: Sie schüchtert mich tatsächlich ein wenig ein. Und behaupten, dass ihre Vorwürfe vollkommen an mir abprallen, auch wenn ich nicht ganz weiß, worauf sie hinauswill, kann ich nicht wirklich. Ahnungslos zucke ich mit den Schultern, weil mir langsam die Lust am Reden vergeht, zumal ich Victoria inzwischen gut genug einschätzen kann, um zu wissen, dass ab sofort jedes Wort gegen mich verwendet wird.
»Du raffst echt gar nichts, oder?« Ihre Stimme erreicht eine ungeahnte Lautstärke, sodass ich Angst darum habe, nicht doch noch entdeckt zu werden. »Du bist echt das Allerletzte. Du –«
Das Geräusch von Schritten und ein süßer Singsang aus Worten lenken uns beide ab. Als ob ich es heraufbeschworen hätte.
»Man muss nur dem Klang deines lieblichen Stimmchens folgen und schon findet man dich auch in der größten Stadt, Victoria.«
»Calvin?«, entweicht es ihr verwirrt, bevor sie augenblicklich von mir abrückt, als hätte sie sich verbrannt.
»Der einzig Wahre.« Und ebendieser tritt jetzt aus dem Schatten eines Gebäudes und schenkt uns sein Strahlemann-Lächeln. Im Vergleich zu uns hat er überhaupt keinen Kratzer abbekommen, nicht einmal ein Staubkorn zeugt von seiner Beteiligung an unserer Mission, und als eine widerspenstige blonde Locke seine präzise zerzauste Frisur verlässt, streicht er sie ordentlich an ihren Platz zurück.
Wie sehr ich ihn doch vermisst habe. Das lässt sich nicht in Worte fassen. Nein, wirklich nicht. Wo kommt der überhaupt her?
»Und Z, altes Haus, du lebst ja auch noch. Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, sahst du etwas toter aus.«
»Wolltest du dich nicht verpissen?«, fragt Victoria mürrisch und ich muss ihr beipflichten. Calvins Anwesenheit ist mehr als nur irritierend.
»Ach das? Verrückte Geschichte.« Ich will sie nicht hören. »Ich wollte ja eigentlich abhauen, bin aber dann auf so ner Onlineshopping-Seite für Computerartikel gelandet – und ihr könnt euch nicht vorstellen, was die hier so alles haben. Ich sag nur: Einhundertachtundzwanzig Kerne. Auf einem Quadratzentimeter. Ist das geil oder ist das geil?«
Ich würde applaudieren, wenn ich ne Ahnung hätte, wovon er überhaupt redet.
»Ja. Jedenfalls. Wo war ich? Genau! Onlineshopping – bam. Da geht die Meldung über die Explosion durchs Netz und ich denke, ich schau noch mal kurz vorbei, was bei euch so geht, und schalt mich in die Überwachungskameras. Ihr glaubt gar nicht, wie einfach das ist. Und dann hab ich mitbekommen, wie Lys bewusstlos am Boden lag und abgeholt wurde. Du sahst auch nicht mehr so knackig aus, Z.«
Ich verdrehe die Augen, als er näher an uns herantritt. Er trägt ein Shirt mit Einsen und Nullen drauf, einen kleinen Rucksack auf dem Rücken und ist immer noch blöd am Grinsen. Er hat gesehen, wie Lys mitgenommen wurde – vermutlich verhaftet –, und schafft es, immer noch so sorglos dreinzuschauen. Bei dem muss in der Entwicklung doch was schiefgelaufen sein.
»Und du bist extra hergekommen, um uns zu sagen, dass du onlineshoppen warst?« Manchmal mag ich Victoria, weil sie das ausspricht, was ich mir denke, aber zu faul bin zu sagen.
»Na ja. Nicht nur das. Ich hab gedacht: Hey!« Uuuuund Runde zwei. »Die wollen die doch bestimmt da rausholen, wenn sie gefangen genommen wurde. Und hey, stellt euch vor – die bringen alle ihre Gefangenen an einen Ort. Das heißt, wir sind wieder Partner, weil nämlich –«
Eine weitere Stimme unterbricht uns und ich weiß an dieser Stelle nicht mehr, ob ich dankbar sein oder lieber sinnlos um mich schießen soll.
Ich versuche, nicht hinzuhören, aber der Gesang ist so laut und schief, dass mir sämtliche Haare zu Berge stehen. Ein weiteres Schlachtlied, zu dessen Takt langsame schwere Schritte durch die Gasse stapfen. Eigentlich sollten wir von hier verschwinden, da dies hier offensichtlich alles andere als ein sicheres Versteck ist. Aber wie auch ich sind alle anderen zu Salzsäulen erstarrt, während der Vierte im Bunde seine Aufwartung macht.
Sam Jason kommt vor uns zum Stehen.
Ein völlig entgeisterter Blick von Victoria, ein Grinsen und Thumbs-up von Calvin und ich will hier einfach nur weg.
»Ich hab gedacht, du wärst tot«, wispert Victoria erstickt. Gehofft, nicht gedacht, verbessere ich sie im Geiste.
»War ich auch. Nein, war ich nicht. Egal, scheiß drauf. J.S. is baaaaack from hell!« Letzteres muss natürlich auch der Rest der Welt mitbekommen, anders könnte ich mir das überflüssige Geschrei nicht erklären.
»Schön«, murmle ich trocken.
»Also, Leute, was hab ich verpasst?« Er holt eine Flasche aus dem Rucksack, den er nach wie vor bei sich trägt, und nimmt einen kräftigen Schluck. Wo auch immer er manchmal hin verschwindet, es muss dort anscheinend immer eine Bar geben.
Wieso bin ich überhaupt noch hier?
»Sie haben Lys festgenommen«, erklärt Victoria ihm kurz die Lage.
Wieso tue ich mir das hier überhaupt an? Ich könnte schon längst Franks Cyborghals umgedreht haben und auf dem Rückweg an die Oberfläche sein. Mein Deal, wegen dem ich überhaupt hier unten bin, ist sowieso geplatzt und alles, was mich bisher gehalten hat, war nichts als reine, übergroße Herzensgüte und die Tatsache, dass Frank mich quasi zur Mittäterschaft bei dieser Aktion gezwungen hat.
»Goldi? Gib der Kleinen nen Schraubenzieher und die packt es allein da raus.«
Der Meinung bin ich auch.
»Nicht ganz so einfach«, mischt sich Calvin wieder ins Gespräch ein und lässt eine unheimlich bedeutungsvolle Pause vergehen.
Ich könnte inzwischen wieder an der Oberfläche sein.
»Ich hab ja gesagt, dass ich rausgefunden hab, wo sie die Gefangenen hinbringen.«
Ganz weit weg.
»Deine kriminelle Akte ist sicher auch gut gefüllt«, kommt der Einwurf von Victoria.
Mir einen neuen Namen zulegen.
»Nein. Ja. Egal. Jedenfalls ist das Hochsicherheitsgefängnis auf der Elysium.«
Eine neue Existenz gründen.
»Fancy Name. Und weiter?«
Ich könnte als Einsiedler leben.
»Ja. Da liegt das Problem – oder eher schwebt.«
Und in Zukunft einen großen Bogen um alles machen, was Lys Mason heißt.
»Jetzt spucks schon aus, Sternchen.«
Ich könnte glücklich werden.
»Die Elysium ist eine Raumstation.«
Aber stattdessen stehe ich hier auf dem Boden der Tatsachen und kann nicht verhindern, dass ich ebenso verdutzt aus der Wäsche glotze wie die anderen.
»Verarschst du uns?!«, bohrt Victoria nach.
»Ich wünschte, es wäre so.« Sein Lächeln bröckelt. »Anscheinend hat Hannah von zu Hause aus die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen. Sie ist auch dort.«
»Achsoooo«, säuselt J.S. und nimmt einen weiteren tiefen Schluck. »Und du dachtest, jetzt wo wir wieder ein gemeinsames Ziel haben, lassen wir dich einfach so wieder ins Team?«
»Jap.«
Wie ich diesen Kindergarten verabscheue.
»Okay.« J.S. legt freundschaftlich den Arm um Cals Schultern. Eine Hassliebe, die mir ganz und gar nicht geheuer ist. »Du bist aufgenommen.«
Ist klar.
»Ihr wollt also Lys da rausholen? Aus einer Raumstation. Die von Leuten gebaut wurde, die den Ragtags technisch komplett überlegen sind, von denen ihr nicht mal wisst, wer sie sind und was sie wollen«, frage ich mit gehobener Augenbraue und schaue mir jeden Einzelnen noch einmal genau an.
»Was für ne bescheuerte Frage. Selbstverständlich.« – Victoria.
»Hannah ist da oben. Und die Kleine ist auch ganz nett.« – Calvin.
»Ich hab eh nix Besseres zu tun.« – J.S.
»Ohne mich«, schließe ich das Thema.
»Was?!«, kommt es nun von allen anderen.
»Ihr habt schon richtig gehört. Ich bin raus.«
»Und wieso?«, zischt Victoria missbilligend.
»Ich schulde weder ihr noch euch einen Gefallen.«
»Ist das jetzt wieder einer deiner melodramatischen Momente, Z?«, fragt ausgerechnet J.S. »Wenn ja, dann kenn ich da ein gutes Mittel. Das Wichtigste ist, dass man einfach nicht drüber nachdenken darf, wenn man es runterschüttet.«
Mit einem Seufzen versuche ich ruhig zu bleiben und keine Miene zu regen. Ich will ihnen klipp und klar erklären, was Sache ist, ohne eine Grundsatzdiskussion loszutreten, die uns nur noch mehr Zeit auf feindlichem Boden kostet. Nervös knete ich die Hände.
»Wie gesagt: Ohne mich.«
Sind das Sirenen in der Ferne?
»Und was wird aus Lys?!« Unter Victorias Blick, der eine Mischung aus Wut und Verletztheit zeigt, schrumpfe ich ein klein wenig zusammen, bleibe aber eisern. Ich muss von diesen Leuten weg und meinen eigenen Scheiß in den Griff bekommen.
»Die hat doch euch. Ich bin mir sicher, dass ihr das alleine schafft.«
»Aber sie hofft bestimmt auf dich.« J.S. gewählter Tonfall könnte nicht kitschiger sein und ich will ihn dafür ins Gesicht schlagen. Meine Faust verkrampft etwas mehr.
Ruhig bleiben, Seth, sage ich mir und antworte ihm: »Sie ist alt genug zu wissen, dass sie das nicht tun sollte.«
»Du hast mit ihr rumgemacht«, wirft Calvin süffisant ein und das bringt nicht nur mich, sondern auch die anderen beiden kurz aus dem Konzept. Victoria lässt einen hysterischen Schrei los: »Du hast WAS?!«
Mein Trommelfell klingelt beim schrillen Klang ihrer Stimme und ich ducke mich unwillkürlich. Tatsächlich habe ich Angst vor ihr – oder vor den Sicherheitsleuten, die nach diesem Schrei zweifellos bald hier auftauchen dürften.
»Wie kommst du darauf?«
Selbst ich merke, dass das falsch klingt, und Calvins Mundwinkel zucken triumphierend noch ein Stück weiter nach oben. Ein kurzer verdammter Moment der Schwäche – und jetzt kostet der mich den Kragen.
»Alter, Z. Ich hatte Zugriff auf alle Sicherheitssysteme der Anlage und es gab fast keinen Winkel, der nicht überwacht war.«
Fuck.
Wenn man nach Victorias Blick geht, gibt es keine Strafe, die angemessen für mein Vergehen ist. Mein Vergehen. Ein kurzer dummer Kuss, weil ich dachte – ja was dachte ich mir dabei? Nichts, verdammte Scheiße.
Aber werden die das akzeptieren? – Als ob.
Ich blicke unsicher zwischen ihnen hin und her, die Wand im Rücken, unbewaffnet und dem, was jetzt bevorsteht, schutzlos ausgeliefert.
Auf Wiedersehen, Einsiedlerdasein.
Ich werde nicht Ja sagen, aber meine Meinung zählt ab sofort sowieso nicht mehr. Mir bleibt nichts übrig, als ihnen zu folgen, was auch immer jetzt der Plan ist. Und ich werde leiden und hoffen, dass mir ein brauchbarer Plan einfällt, aus dieser Scheiße rauszukommen.
☣
Lys
Als ich wieder zu mir komme, spüre ich sofort den Muskelkater in allen Fasern meines Körpers, dabei fühlt sich jeder einzelne noch so kleine Körperteil so schwer an, dass ich Mühe habe, überhaupt die Augen zu öffnen. Cain und die Elektroschocks waren ohne Zweifel nicht nur ein böser Traum. Über mir tanzen bunte Flecken auf der grellweißen Decke und verleihen ihr ein seltsames Dekor, das sich mit dem Zucken meiner Augen bewegt. Das strahlende Licht, dem ich keine genaue Quelle zuordnen kann, bereitet mir Kopfschmerzen und ist noch so viel schlimmer als das erdrückende Schwarz in dieser Unterwelt.
Aber ich lebe – wer hätte damit gerechnet?
»Oh. Du bist wach.«
Luxusvariante