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Alle deutschen Rechte CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2015
Originalcopyright © 2013 by Katherine Rundell
Originalverlag: Faber and Faber Limited, London
Originaltitel: Rooftoppers
Umschlaggestaltung: formlabor
Umschlagfotografie: istockphoto.com / © rangepuppies;
shutterstock.com / © Invisible Studio; shutterstock.com / Yurkalmmortal
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Lektorat: Katja Maatsch
Layout und Herstellung: Gunta Lauck
Satz und E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN: 978-3-646-92776-4

Für meinen Bruder, mit Liebe

EINS

Man fand das Baby am Morgen seines ersten Geburtstags. Es trieb in einem Cellokasten mitten im Ärmelkanal.

Weit und breit war es das einzige lebende Wesen. Nur das Baby, ein paar Stühle aus dem Speisesaal und der Bug eines im Meer versinkenden Schiffes. Im Speisesaal hatte ein Orchester gespielt, und die Musik war so laut und so schön gewesen, dass niemand das über den Teppich laufende Wasser bemerkt hatte. Während der ersten Panik spielten die Geigen weiter, und die Schreie mancher Passagiere waren fast so schrill wie das hohe C.

Zum Schutz vor der Kälte hatte man das Baby in die Partitur einer Beethoven-Symphonie gewickelt. Es war schon eine gute Meile vom Schiff fortgetrieben worden und wurde deshalb zuletzt gerettet. Ein anderer überlebender Passagier hatte es aus dem Wasser gefischt. Dieser Mann war ein Gelehrter und weil es die Aufgabe eines Gelehrten ist, genau hinzuschauen, stellte er fest, dass es ein Mädchen mit einem schüchternen Lächeln war und mit Haaren so leuchtend wie ein Blitz.

Stellt euch vor, es ist Nacht und ihr hört eine leise Stimme. Stellt euch vor, der Mondschein könnte sprechen, oder stellt euch Tinte vor, Tinte mit Stimmbändern. Wenn ihr dieses Bild mit einem schmalen, aristokratischen Gesicht, scharf geschwungenen Augenbrauen und langen Armen und Beinen verseht, dann habt ihr vor Augen, was das Baby erblickte, als es aus dem Cellokasten in das Boot gehoben wurde. Sein Retter hieß Charles Maxim, und als er das Baby in seinen großen Händen hielt – mit einer Armlänge Abstand, als wäre es ein tropfender Blumentopf –, beschloss er, für das kleine Geschöpf zu sorgen.

Das Baby war mit großer Wahrscheinlichkeit ein Jahr alt. Das verriet die auf der Brust befestigte rote Papierrosette mit einer »1« darauf!

»Genau genommen gibt es zwei Möglichkeiten«, sagte Charles Maxim. »Das Kind ist entweder ein Jahr alt oder hat bei einem Wettkampf den ersten Platz belegt. Die erste Möglichkeit halte ich allerdings für wahrscheinlicher, denn Babys nehmen nur selten an Sportwettkämpfen teil.« Das Mädchen drückte mit speckigen Fingern eines seiner Ohrläppchen zusammen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Kind«, sagte er.

Charles gab dem Baby nicht nur einen Geburtstag, sondern auch einen Namen. Er entschied sich gleich an Ort und Stelle für Sophie, weil sich an diesem Namen niemand stoßen würde. »Dein Tag war schon dramatisch und außergewöhnlich genug, Kindchen«, sagte er. »Dein Name sollte also möglichst gewöhnlich sein. Du kannst Mary, Betty oder Sophie heißen. Mildred käme auch in Frage. Du hast die Wahl.« Und weil das Baby bei dem Namen »Sophie« gelächelt hatte, stand die Sache fest. Er griff nach seinem Mantel, wickelte die Kleine darin ein und fuhr mit ihr in einer Kutsche nach Hause. Es regnete leicht, aber das störte die beiden nicht. Charles war jemand, der dem Wetter keine große Beachtung schenkte, und Sophie hatte an jenem Tag schon jede Menge Wasser überlebt.

Charles hatte so gut wie keine Erfahrung mit Kindern. Und das gestand er Sophie auf der Heimfahrt: »Ich verstehe mich besser auf Bücher als auf Menschen, fürchte ich. Bücher sind so einfach im Umgang.« Die Kutschfahrt dauerte vier Stunden; Charles setzte Sophie ganz vorn auf seine Knie und erzählte ihr aus seinem Leben, als wäre sie eine gute Bekannte bei einem Teekränzchen. Er war sechsunddreißig Jahre alt und einen Meter fünfundachtzig groß. Er sprach englisch mit Menschen und französisch mit Katzen, und mit Vögeln sprach er Latein. Er hätte sich einmal fast umgebracht, weil er versucht hatte, während des Reitens ein Buch zu lesen. »Ab jetzt bin ich vorsichtiger«, sagte er, »denn es gibt ja dich, mein kleines Cellokind.« Charles’ Haus war schön, aber nicht ganz ungefährlich; es gab viele Treppen, glatte Dielen und scharfe Kanten. »Ich kaufe ein paar niedrige Stühle«, sagte er, »und dicke rote Teppiche! Nur … wie kauft man einen Teppich? Weißt du das vielleicht, Sophie?«

Sophie antwortete nicht. Sie konnte noch nicht sprechen; und sie schlief längst.

Sie erwachte, als sie durch eine nach Bäumen und Pferdeäpfeln riechende Straße fuhren. Sophie verliebte sich auf Anhieb in das Haus. Die Backsteine waren im hellsten Weiß von ganz London gestrichen worden und leuchteten sogar im Dunkeln. Der Keller beherbergte überzählige Bücher und Gemälde und viele Spinnenarten und das Dach war das Reich der Vögel. Charles bewohnte die dazwischenliegenden Räume.

Zu Hause wurde Sophie vor dem Ofen gebadet. Danach sah sie sehr blass und zerbrechlich aus. Charles hätte nie gedacht, dass ein Baby so unglaublich winzig war. Als er Sophie in die Arme nahm, fühlte sie sich viel zu klein an. Und als jemand klopfte, war er fast erleichtert; er legte Sophie behutsam auf einen Stuhl mit einem Drama von Shakespeare als Polster und eilte mit großen Schritten zur Tür.

Er kehrte in Begleitung einer korpulenten, grauhaarigen Frau zurück. Hamlet war inzwischen etwas feucht geworden, was Sophie offenbar peinlich war. Charles schnappte sich Sophie und setzte sie – nachdem er zwischen dem Schirmständer in der Ecke und dem Küchenschrank geschwankt hatte – in die Spüle. Er lächelte, und zwar nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen und Augenbrauen. »Mach dir nichts daraus, Sophie«, sagte er. »Niemand ist gegen kleine Aussetzer gefeit.« Dann verbeugte er sich vor der Frau. »Darf ich vorstellen? Sophie, dies ist Miss Eliot, sie kommt von der Staatlichen Behörde für das Kindeswohl. Miss Eliot, dies ist Sophie, sie kommt aus dem Meer.«

Die Frau seufzte – ein Seufzer, der sich für die in der Spüle sitzende Sophie vermutlich sehr förmlich anhörte – und legte die Stirn in Falten. Sie holte frische Kleider aus einem Karton. »Geben Sie mir das Kind.«

Charles nahm ihr die Kleider ab. »Ich habe dieses Kind aus dem Meer gefischt, Madam.« Sophie sah mit großen Augen zu. »Sie hat niemanden, der für sie sorgt. Folglich untersteht sie meiner Obhut, ob ich will oder nicht.«

»Nicht für immer.«

»Wie meinen?«

»Dieses Kind ist Ihr Mündel. Nicht Ihre Tochter.« Miss Eliot war eine jener Frauen, die stets mit herrischem Unterton sprachen. Jede Wette, dass ihr Hobby darin bestand, anderen Menschen Vorschriften zu machen. »Es handelt sich um eine vorübergehende Regelung.«

»Bitte erlauben Sie mir, dem zu widersprechen«, sagte Charles. »Aber wir können später darüber diskutieren. Das Kind friert.« Er reichte Sophie eine Weste und sie begann sofort, an einem Zipfel zu lutschen. Also nahm er ihr die Weste wieder ab und zog sie ihr an. Dann wog er sie auf den Armen, als wollte er ihr Gewicht abschätzen, und betrachtete sie genau. »Sehen Sie? Ich halte sie für hochintelligent.« Er musterte Sophies lange und schmale, von Klugheit zeugende Finger. »Und ihr Haar leuchtet wie ein Blitz. Wie könnte man ihr widerstehen?«

»Ich müsste regelmäßig nach ihr schauen und meine Zeit ist knapp bemessen. Ein Mann ist einer solchen Aufgabe nicht gewachsen.«

»Sie sind jederzeit herzlich willkommen«, sagte Charles und fügte unwillkürlich hinzu: »Sofern Sie Ihre Besuche tatsächlich für unverzichtbar halten. Ich werde mich um Dankbarkeit bemühen. Aber für das Kind bin ich selbst verantwortlich. Verstehen Sie?«

»Aber es ist ein Kind! Und Sie sind ein Mann

»Sie haben eine wahrlich bemerkenswerte Beobachtungsgabe«, erwiderte Charles. »Ihr Optiker kann stolz auf Sie sein.«

»Aber was wollen Sie mit ihr anfangen

Charles zog ein verwirrtes Gesicht. »Ich werde sie lieben. Wenn ich den Gedichten glauben darf, die ich gelesen habe, ist das mehr als genug.« Charles gab Sophie einen roten Apfel; dann nahm er ihn wieder an sich und rieb ihn an seinem Ärmel, bis er sich darin gespiegelt sah. Er sagte: »Die Aufgabe, für ein Kind zu sorgen, birgt zweifellos viele dunkle Geheimnisse, aber ich bin der festen Überzeugung, dass sie nicht unlösbar sind.«

Charles setzte Sophie auf sein Knie, gab ihr den Apfel und las ihr aus Ein Sommernachtstraum vor.

Das war vielleicht nicht der perfekte Start in ein neues Leben, aber ein vielversprechender Anfang.

ZWEI

In den Büros der Staatlichen Behörde für das Kindeswohl stand ein Aktenschrank; dieser Aktenschrank enthielt eine große rote Akte mit der Aufschrift: »Vormünder: Beurteilung des Charakters«. Die rote Akte enthielt eine kleinere blaue Akte mit der Aufschrift: »Maxim, Charles«. Darin stand: »Wie bei einem Gelehrten nicht anders zu erwarten, ist C. P. Maxim ein Bücherwurm; darüber hinaus ist er großzügig, fleißig und menschenscheu. Er ist ungewöhnlich groß, aber, wie den Berichten der Ärzte zu entnehmen ist, kerngesund. Er ist der festen Überzeugung, für ein Mädchen sorgen zu können.«

Vielleicht waren Charles’ Eigenschaften ansteckend, denn Sophie wurde nicht nur groß, sondern war auch großzügig und menschenscheu und außerdem ein Bücherwurm. Im Alter von sieben Jahren waren ihre Beine so lang und so dünn wie die eines Fohlens und sie hatte viele felsenfeste Überzeugungen.

Anlässlich ihres siebten Geburtstags backte Charles einen Schokoladenkuchen, der nicht ganz gelang, weil er in der Mitte einsackte. Sophie, die treue Seele, erklärte ihn trotzdem zu ihrem Lieblingskuchen. »Denn«, sagte sie, »man kann die Mulde mit extra Zuckerstuss füllen, und viel Zuckerstuss finde ich lecker.«

»Freut mich, das zu hören«, sagte Charles. »Wenn ich mich nicht irre, heißt es allerdings Zuckerguss. Ich gratuliere dir sehr herzlich zu deinem vermutlich siebten Geburtstag, mein lieber Schatz. Wie wäre es mit etwas Shakespeare zum Geburtstag?«

Sophie hatte die Angewohnheit, Teller zu zerbrechen, und deshalb hatte Charles den Kuchen auf dem Einband von Ein Sommernachtstraum serviert. Er wischte den Einband mit einem Ärmel ab und schlug das Buch in der Mitte auf. »Magst du mir einen Abschnitt mit Titania vorlesen?«

Sophie zog ein Gesicht. »Ich wäre lieber Puck.« Sie versuchte sich an ein paar Versen, tat sich aber schwer. Sie wartete, bis Charles wegschaute, dann ließ sie das Buch auf den Fußboden fallen und machte einen Handstand darauf.

Charles lachte. »Bravo!« Er klatschte Beifall auf dem Tisch. »Du bist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Elfen.«

Sophie purzelte gegen den Küchentisch, kam wieder auf die Beine und probierte es noch einmal vor der Tür.

»Großartig! Du wirst immer besser. Fast perfekt.«

»Nur fast?« Sophie kam ins Schwanken und schielte ihn von unten an. Ihre Augen begannen zu brennen, aber sie blieb kopfüber stehen. »Sind meine Beine nicht gerade?«

»Nicht ganz. Dein linkes Knie wackelt leicht. Aber kein Mensch ist vollkommen. Mit Ausnahme von Shakespeare und der ist schon lange tot.«

Sophie dachte später im Bett darüber nach. »Kein Mensch ist vollkommen«, hatte Charles gesagt, aber das stimmte nicht. Denn Charles war vollkommen. Seine Haare hatten die gleiche Farbe wie das Treppengeländer, und seine Augen strahlten etwas Magisches aus. Er hatte das Haus und alle seine Kleider von seinem Vater geerbt. Die Kleider stammten aus den teuren Schneiderläden in der Savile Row. Sie waren schön und kostbar und ganz aus Seide gewesen; inzwischen bestanden sie nur noch zu fünfzig Prozent aus Seide und zu fünfzig Prozent aus Löchern. Charles besaß keine Musikinstrumente, sang ihr aber vor. Und wenn Sophie nicht da war, sang er für die Vögel oder für die Kellerasseln, die ab und zu in die Küche krabbelten. Seine Stimme war hell und klar und wenn Sophie ihm lauschte, hatte sie das Gefühl zu fliegen.

Manchmal überfiel sie mitten in der Nacht die Angst, die das sinkende Schiff damals in ihr ausgelöst hatte, und dann hatte sie das verzweifelte Bedürfnis, auf irgendwelche Dinge zu klettern. Sie fühlte sich nur sicher, wenn sie kletterte. Charles gestattete ihr, oben auf dem Kleiderschrank zu schlafen. Er selbst schlief für den Fall der Fälle direkt davor auf dem Fußboden.

In Sophies Augen war Charles ein Rätsel. Er aß kaum etwas und schlief wenig und er lächelte seltener als andere Leute. Aber dort, wo sich bei anderen Menschen die Lunge befand, war in seinem Fall die Güte daheim und er war höflich bis in die Fingerspitzen. Wenn er gegen einen Laternenpfahl rannte, weil er wieder einmal im Gehen las, entschuldigte er sich und prüfte dann nach, ob der Laternenpfahl noch heil war.

Miss Eliot kam einmal pro Woche am Vormittag vorbei, »falls es Probleme gibt«. Sophie hätte erwidern können: »Welche Probleme?«, aber sie lernte bald, den Mund zu halten. Miss Eliot inspizierte das Haus, die in den Ecken abblätternde Farbe und die Spinnweben in der gähnend leeren Speisekammer, und schüttelte schließlich den Kopf.

»Was esst ihr eigentlich?«

Bei Sophie war das Essen zweifellos viel interessanter als bei ihren Freunden. Charles versäumte manchmal monatelang, Fleisch zu kaufen. Was Sophie betraf, so musste sie nur in die Nähe sauberer Teller kommen, und schon gingen sie in Scherben. Deshalb servierte Charles die knusprigen Pommes frites auf einem Weltatlas, der auf der Seite mit der Karte Ungarns aufgeschlagen war. Er selbst hätte ebenso gut nur von Keksen und Tee und einem Whisky vor dem Zubettgehen leben können. Sobald Sophie lesen konnte, füllte Charles den Whisky in eine Flasche, auf deren Etikett »Katzenpisse« stand, damit Sophie ihn nicht anrührte. Sie hatte trotzdem daran genippt und dann am Bauch der im Nebenzimmer schlafenden Katze gerochen. Die Gerüche waren verschieden, aber einer war so ekelhaft wie der andere.

»Wir haben Brot«, sagte Sophie. »Und Fischkonserven.«

»Ihr habt was?«, fragte Miss Eliot.

»Ich mag Fisch aus der Konserve«, sagte Sophie. »Und wir haben auch Schinken.«

»Ach, ja? Ich habe in diesem Haus noch nie eine Scheibe Schinken gesehen.«

»Wir essen täglich Schinken! Auf jeden Fall«, ergänzte Sophie, die sich oft als unerträglich ehrlich empfand, »hin und wieder. Außerdem Käse. Und Äpfel. Und ich trinke immer einen ganzen Liter Milch zum Frühstück.«

»Wie kann Mr Maxim zulassen, dass du dich so ernährst? Das ist doch keine Ernährung für ein Kind. Das ist nicht richtig

Tatsache war, dass sie prima zurechtkamen, aber für Miss Eliot war das unbegreiflich. Sophie vermutete, dass Miss Eliot »ordentlich« meinte, wenn sie »richtig« sagte. Sophie und Charles lebten nicht ordentlich, aber um glücklich zu sein, fand Sophie, war Ordnung nicht unbedingt erforderlich.

»Wissen Sie, Miss Eliot«, sagte Sophie, »Tatsache ist, dass ein Gesicht wie meines nie ordentlich aussieht. Charles sagt, ich hätte unordentliche Augen. Wegen der Sprenkel.« Sophies Haut war viel zu blass und bekam bei Kälte Flecken und ihre Haare waren schon immer etwas verfilzt gewesen. Sophie war das egal, denn sie meinte sich daran zu erinnern, dass ihre Mutter die gleichen Haare und die gleiche Haut gehabt hatte, und ihre Mutter, das wusste sie genau, war wunderschön. Ihre Mutter hatte nach Winterluft und Ruß geduftet, davon war sie fest überzeugt, und sie hatte eine Hose mit abgewetzten Knien getragen.

Vielleicht waren die Hosen der Ursprung all ihrer Probleme. Sophie war noch keine acht Jahre alt, da bat sie Charles um eine Hose.

»Eine Hose? Ist das nicht ziemlich unüblich für eine Frau?«

»Nein«, sagte Sophie. »Finde ich nicht. Meine Mutter trägt Hosen.«

»Sie trug Hosen, mein Kind.«

»Sie trägt Hosen. Schwarze. Aber ich hätte gern eine rote.«

»Ähem … Möchtest du nicht lieber einen roten Rock?« Er schaute besorgt drein.

Sophie zog ein Gesicht. »Nein. Ich will eine Hose. Bitte.«

In den Läden gab es jedoch nichts Passendes, sondern nur graue kurze Hosen, wie Jungen sie trugen. »Grundgütiger!«, sagte Charles, »du siehst ja aus wie eine Mathestunde!« Also nähte er selbst vier Hosen aus bunter Baumwolle, schlug sie in Zeitungspapier ein und überreichte sie Sophie. Bei einer Hose waren die Beine unterschiedlich lang geraten. Sophie war begeistert. Miss Eliot war schockiert. »Mädchen«, sagte sie, »tragen keine Hosen.« Sophie beharrte darauf, dass sie es doch taten.

»Meine Mutter trug Hosen. Das weiß ich genau. Sie hat darin getanzt, während sie Cello spielte.«

»Vollkommen ausgeschlossen«, erwiderte Miss Eliot. Es war immer die gleiche Leier. »Frauen spielen kein Cello, Sophie. Außerdem kannst du das nicht wissen, weil du damals noch viel zu klein warst. Du solltest ehrlicher sein, Sophie.«

»Sie trug aber Hosen! Schwarze Hosen, die an den Knien etwas abgewetzt waren. Ich weiß auch noch, dass sie schwarze Schuhe trug.«

»Das bildest du dir ein, Liebes.« Miss Eliots Stimme klang wie ein zuknallendes Fenster.

»Nein, das tue ich nicht, glauben Sie mir!«

»Sophie …«

»Ich bilde mir das nicht ein!« Sophie hätte gern hinzugefügt: »Du knollennasige, alte Hexe!«, aber sie hielt den Mund. Leider konnte man bei Charles nicht aufwachsen, ohne dass einem die Höflichkeit in Fleisch und Blut überging. Unhöflich zu sein war für Sophie so, als würde sie einen schmutzigen Schlüpfer tragen, aber wenn es um ihre Mutter ging, konnte sie sich nur schwer zusammenreißen. Die Leute waren immer felsenfest davon überzeugt, dass sie sich alles nur einbildete; und sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie Recht hatte.

»Du Vogelscheuche mit Schweineaugen!«, flüsterte Sophie. »Ich kann mich erinnern.« Daraufhin fühlte sie sich etwas besser.

Tatsache war, dass Sophie sich klar und deutlich an ihre Mutter erinnern konnte, wenn auch nicht an ihren Vater. Aber sie erinnerte sich an wehende Haare und zwei dünne, in Stoff gehüllte Beine, die im Takt einer wunderbaren Musik nach oben geworfen worden waren. Mit einem Rock wäre das unmöglich gewesen.

Außerdem war Sophie überzeugt, gesehen zu haben, wie sich ihre Mutter mitten im Ärmelkanal an ein Türblatt geklammert hatte.

Die Leute sagten immer: »Man kann sich nicht an das erinnern, was man als Baby erlebt hat.« Sie sagten: »Deine Erinnerungen sind nur Wunschvorstellungen.« Dieser Blödsinn kam Sophie zu den Ohren heraus. Sie hatte noch vor Augen, wie ihre Mutter Hilfe suchend gewinkt hatte. Sie hatte noch den Pfiff ihrer Mutter im Ohr. Pfiffe überhört man nicht. Sie wusste, dass ihre Mutter nicht mit dem Schiff untergegangen war, auch wenn die Polizei etwas anderes behauptet hatte. Sophie ließ sich darin nicht beirren, egal, was die Leute sagten.

Jeden Abend murmelte Sophie im Dunkeln vor sich hin: Meine Mutter ist noch am Leben und eines Tages wird sie kommen, um mich zu holen.

»Sie wird mich holen«, sagte Sophie manchmal zu Charles.

Er schüttelte stets den Kopf. »Das ist so gut wie ausgeschlossen, meine Perle.«

»So gut wie bedeutet, dass es doch nicht ganz ausgeschlossen ist.« Sophie drückte den Rücken durch und versuchte, erwachsen zu klingen, denn die Leute waren eher geneigt, einem zu glauben, wenn man größer war. »Du predigst doch immer, dass man keine Möglichkeit außer Acht lassen soll.«

»Ja, aber diese Möglichkeit ist so vage, dass du dein Leben nicht darauf aufbauen kannst. Da könntest du ebenso gut versuchen, ein Haus auf dem Rücken einer Libelle zu bauen, mein Kind.«

»Sie wird mich finden«, sagte Sophie zu Miss Eliot.

Miss Eliot war offener. »Deine Mutter ist tot. Keine Frau hat das Unglück überlebt«, sagte sie. »Du redest Unsinn.«

Die Erwachsenen in Sophies Leben schienen manchmal nicht zwischen »Unsinn« und »wahr, wenn auch zweifelhaft« unterscheiden zu können. Sophie merkte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Sie kommt«, sagte sie. »Und wenn nicht, dann suche ich sie.«

»Nein, Sophie. So geht es nicht zu auf der Welt.« Miss Eliot war der Meinung, dass Sophie sich irrte, aber sie glaubte ja auch, dass der Kreuzstich unverzichtbar und Charles unmöglich sei, was ganz eindeutig bewies, dass sogar Erwachsene nicht immer Recht hatten.

Eines Tages fand Sophie rote Farbe und schrieb den Namen des Schiffes, Queen Mary, und das Datum des Sturms auf die weiße Hausmauer, falls ihre Mutter vorbeikam.

Sie mochte Charles nicht ins Gesicht sehen, als er sie dabei ertappte, denn seine Miene wirkte gequält. Trotzdem zog er die Striche dort nach, wo sie nicht herankam, und wusch die Pinsel hinterher gemeinsam mit ihr aus.

»Hier dreht es sich«, sagte er zu Miss Eliot, »um den berühmten Fall der Fälle.«

»Aber sie hat …«

»Sie befolgt nur meinen Rat.«

»Sie haben ihr geraten, Ihr Haus zu beschmieren?«

»Nein. Ich habe ihr geraten, im Leben keine Möglichkeit außer Acht zu lassen.«

DREI

Miss Eliot beschwerte sich sowohl über Charles als auch über Sophie. Sie ärgerte sich über Charles’ sorglosen Umgang mit Geld und auch darüber, dass er oft zu spät zum Essen erschien.

Außerdem passte es ihr nicht, dass Sophie eine so genaue Beobachterin war. »Im Falle eines kleinen Mädchens ist das widernatürlich!« Und sie fand es geradezu ungeheuerlich, dass beide kurze Botschaften füreinander auf die Tapete im Flur schrieben.

»Das ist doch nicht normal!«, grummelte sie und kritzelte etwas in ihr Notizbuch. »Das ist doch nicht gesund!«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Charles. »Je mehr Worte in einem Haus, desto besser, Miss Eliot.«

Im Übrigen missbilligte Miss Eliot Charles’ mit Tinte beschmierte Hände und seinen Hut mit der schlaffen Krempe, und Sophies Art, sich zu kleiden, war ihr ein Graus.

Charles war nicht gerade zum Einkaufen geboren. Er stand den ganzen Tag verwirrt in der Bond Street herum, und bei seiner Rückkehr brachte er dann eine Schachtel mit Hemden für Jungen mit. Miss Eliot war außer sich.

»Sie dürfen nicht zulassen, dass sie das anzieht«, sagte sie. »Die Leute müssen doch denken, sie wäre verrückt.«

Sophie sah an sich hinab. Sie betastete den Stoff. Er war noch etwas steif, weil er so neu war, davon abgesehen aber prima. »Woran erkennt man, dass es kein Hemd für ein Mädchen ist?«, fragte sie.

»Bei Hemden für Jungen sitzen die Knöpfe rechts. Bei Blusen – bitte merke dir, dass es Bluse heißt – sitzen sie links. Weißt du das etwa nicht? Ich bin entsetzt!«

Charles legte die Zeitung zur Seite, hinter der er sich verschanzt hatte. »Sie sind entsetzt, weil sie keine Ahnung von Knöpfen hat? Knöpfe spielen in internationalen Angelegenheiten nur selten eine Schlüsselrolle.«

»Wie bitte?«

»Ich meine damit, dass sie von wichtigen Dingen Ahnung hat. Natürlich nicht von allen, denn sie ist noch ein Kind. Aber von vielen.«

Miss Eliot rümpfte die Nase. »Bitte verzeihen Sie – vielleicht bin ich altmodisch, aber ich finde, Knöpfe sind wichtig.«

»Sophie«, sagte Charles, »kennt die Hauptstadt eines jeden Landes auf dieser Welt.«

Die in der Tür stehende Sophie flüsterte: »Fast jedes Landes.«

»Sie kann lesen und sie kann zeichnen. Sie kann zwischen einer Suppenschildkröte und einer Riesenschildkröte unterscheiden. Sie kann jeden Baum benennen und auch erklettern. Gerade heute Morgen hat sie mir erzählt, wie man eine Ansammlung von Kröten nennt.«

»Knoten«, sagte Sophie. »Ein Knoten von Kröten.«

»Und sie kann pfeifen. Man muss schon ausgesprochen dumm sein, um nicht zu merken, dass sie außerordentlich gut pfeifen kann. Entweder ausgesprochen dumm oder stocktaub.«

Charles hätte ebenso gut schweigen können, denn Miss Eliot wischte seine Worte mit einer Handbewegung weg. »Sie braucht neue Blusen, Mr Maxim. Blusen, wenn ich bitten darf. Und diese Hosen – mein Gott!«

Sophie begriff nicht, worin das Problem bestand. Hosen waren doch nur Röcke mit ein paar extra Nähten. »Ich brauche meine Hosen«, sagte sie. »Bitte – ich muss sie behalten. In einem Rock kann man nicht klettern. Oder vielleicht doch, aber dann wäre mein Schlüpfer zu sehen, und das wäre wohl noch schlimmer, oder?«

Miss Eliot runzelte die Stirn. Sie war nicht die Art von Frau, die über ihre Schlüpfer sprach.

»Gut, lassen wir das. Du bist noch ein Kind. Aber es kann nicht für immer so weitergehen.«

»Und warum nicht?« Sophie klopfte drei Mal gegen das Bücherregal, denn das brachte Glück. »Natürlich kann es so weitergehen. Was spricht dagegen?«

»Nein, so kann es nicht weitergehen. England ist kein Ort für Frauen ohne Schliff.«

Miss Eliot missbilligte vor allem, dass Charles vorhatte, mit Sophie spontane Ausflüge zu unternehmen. London sei schmutzig, sagte sie, und Sophie könne sich Viren oder schlechte Gewohnheiten einfangen.

Am Tag von Sophies vermutlichem neunten Geburtstag stellte Charles sie auf einen Stuhl und putzte ihre Schuhe, während sie mit der einen Hand einen Toast aß und mit der anderen ein Buch hielt. Sie blätterte mit den Zähnen um. Dabei hinterließ sie Krümel und Speichel auf den Ecken der Seiten, aber das war das einzige Problem.

Sie wollten gerade zum Konzerthaus aufbrechen, als Miss Eliot zur Tür hereinstürmte.

»Sie können sie so nicht mitnehmen! Sie ist dreckig! Und geh nicht so krumm, Sophie.«

Charles schaute neugierig auf Sophies Kopf. »Ist sie wirklich dreckig?«

»Mr Maxim!«, donnerte Miss Eliot, »das Mädchen hat einen ganzen Topf Marmelade auf der Brust!«

»Ja, stimmt.« Charles betrachtete Miss Eliot mit höflichem Erstaunen. »Und?« Doch als er sah, dass sie nach ihrem Klemmbrett griff, nahm er ein Tuch und tupfte Sophies Brust so behutsam ab, als wäre sie ein Gemälde.

Miss Eliot rümpfte die Nase. »Auf dem Ärmel ist auch etwas.«

»Den Rest spült sicher der Regen ab, meinen Sie nicht auch? Immerhin hat sie heute Geburtstag.«

»Man geht auch am Geburtstag nicht dreckig aus dem Haus! Sie wollen schließlich nicht in den Zoo.«

»Verstehe. Wollen Sie damit sagen, dass ich mit ihr in den Zoo gehen sollte?« Charles neigte den Kopf zur Seite. So sah er aus wie ein besonders gut erzogener Panther, fand Sophie. »Vielleicht kann ich die Karten noch umtauschen.«

»Das habe ich nicht gemeint! Sie wird Ihnen Schande machen. Mir wäre es peinlich, so mit ihr gesehen zu werden.«

Charles sah Miss Eliot in die Augen. Miss Eliot wich seinem Blick aus.

»Ihre Schuhe glänzen und ihre Augen strahlen«, sagte Charles. »In meinen Augen ist das glanzvoll genug.« Er gab Sophie die Eintrittskarten zur Aufbewahrung. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Kind.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn – das war der jährliche Geburtstagskuss – und half ihr dann vom Stuhl.

Sophie wusste sehr wohl, dass es viele Möglichkeiten gab, jemandem vom Stuhl zu helfen. Und wie man es tat, konnte sehr vielsagend sein. Miss Eliot zum Beispiel stieß einen mit dem Holzlöffel hinunter. Charles dagegen war sehr behutsam und benutzte wie bei einem Tanz die Fingerspitzen.

Und auf der Straße pfiff er die Streicherpartie von Così fan tutte.

»Musik, Sophie! Musik ist herrlich und verrückt.«

»Ja!« Charles hatte sein Geburtstagsgeschenk vor ihr geheim gehalten, aber seine Aufregung war ansteckend. »Und was werden wir hören?«

»Klassische Musik, Sophie.« Er strahlte vor Glück, und seine Fingerspitzen zuckten. »Kluge, vielschichtige Musik.«

»Oh. Das ist … ja wunderbar.« Sophie war nicht besonders geübt im Lügen. »Das wird bestimmt ganz toll.« In Wahrheit, dachte Sophie, wäre sie viel lieber in den Zoo gegangen. Sie hatte bisher nur sehr selten klassische Musik gehört und sie hätte auch weiterhin darauf verzichten können. Sie mochte Folksongs und Musik, zu der man tanzen konnte, und sie war sich ziemlich sicher, dass es nur sehr wenige frischgebackene Neunjährige gab, die behaupten würden, klassische Musik zu mögen, ohne dabei wenigstens ein bisschen zu flunkern.

Das Konzert begann nicht besonders vielversprechend, fand Sophie. Das Klavierstück war endlos lang. Der schnurrbärtige Pianist zog beim Spielen Grimassen, die Sophie mit Leuten verband, die es am ganzen Körper juckte.

»Charles?« Sophie warf einen Blick auf Charles. Sein Mund stand ein klein wenig offen und er hatte die Mundwinkel hochgezogen, als würde er beglückt und sehr aufmerksam lauschen.

»Charles?«

»Was denn, Sophie? Du musst bitte flüstern.«

»Wie lange geht das noch so weiter, Charles? Ich meine – nicht, dass es nicht supertoll wäre.« Sophie überkreuzte zwei Finger hinter dem Rücken. »Ich würde es einfach nur gern … wissen.«

»Leider nur eine Stunde, mein Kind. Ich würde mich auf diesem Sitz am liebsten häuslich einrichten. Du nicht auch?«

»Oh. Eine Stunde?« Sophie versuchte, still zu sitzen, was sich jedoch als schwierig erwies. Sie nuckelte an der Spitze ihres Zopfes. Sie krümmte die Zehen und streckte sie wieder aus. Sie nahm sich vergeblich vor, nicht an ihrem Daumennagel herumzukauen. Schließlich, sie dämmerte schon zwischen Schlaf und Wachen, kamen drei Geiger, ein Cellist und eine Bratschistin auf die Bühne.

Sie begannen zu spielen und diese Musik war ganz anders. Sowohl lieblicher als auch stürmischer. Sophie setzte sich wieder gerade hin und glitt auf dem Sitz so weit nach vorn, dass sie gerade noch Halt fand. Diese Musik war so schön, dass es ihr fast den Atem verschlug. Wenn Musik leuchten kann, dachte Sophie, dann war es hier der Fall. Es klang, als würden alle Stimmen aller Chöre der Stadt gemeinsam eine Melodie singen. Sophie ging das Herz auf.

»Das hört sich an wie achttausend Vögel, Charles. Charles! Hört sich das nicht an wie achttausend Vögel?«

»Ja. Aber bitte sei still, Sophie.«

Die Melodie legte an Tempo zu und Sophies Puls mit ihr. Diese Musik klang sowohl vertraut als auch fremdartig. Sie zupfte an den Fingern und Füßen.

Sophie konnte ihre Beine nicht stillhalten. Sie kniete sich auf den Sitz. Nach einer Weile riskierte sie ein Flüstern: »Charles! Hör mal! Das Cello singt, Charles!«

Nach dem Ende des Stücks applaudierte sie mit den anderen und noch lange, nachdem alle aufgehört hatten. Sie klatschte, bis ihre Hände heiß und voller roter Flecken waren. Sie klatschte, bis sich alle Leute im Publikum nach dem Mädchen mit Haaren so leuchtend wie ein Blitz und den Beinen eines Fohlens umdrehten, einem Mädchen, dessen Augen und Schuhe die ganze zweite Reihe erstrahlen ließen.

Irgendetwas an dieser Musik kam Sophie bekannt vor. »Sie gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein«, sagte sie zu Charles. »Verstehst du, wie ich das meine? Sie ist wie ein frischer Wind.«

»Tatsächlich? Tja, in diesem Fall«, sagte Charles, »sollten wir dir wohl ein Cello besorgen.«

Das Cello, das sie kauften, war klein, aber trotzdem so groß, dass Sophie nicht bequem in ihrem Zimmer spielen konnte. Deshalb öffnete Charles ein Oberlicht auf dem Dachboden, und an trockenen Tagen kletterte Sophie auf das Dach, um dort, zwischen dem vermodernden Laub und den Tauben, Cello zu spielen.

Wenn beim Spielen alles klappte, schien die Musik alle Sorgen und Nöte aus der Welt zu spülen und diese zum Strahlen zu bringen. Wenn sich Sophie dann Stunden später reckte und streckte, wenn sie blinzelte und den Bogen beiseite legte, fühlte sie sich stärker und mutiger. So ähnlich, dachte sie, als hätte sie eine Speise aus Sahne und Mondschein gegessen. Wenn das Üben nicht gut lief, war es nur eine Pflicht wie das Zähneputzen. Nach einer Weile fand Sophie heraus, dass die eine Hälfte der Tage gut und die andere Hälfte schlecht war. Und das war die Sache wert.

Oben auf dem Dach wurde sie von niemandem gestört. Es bestand aus flachen Schieferschindeln und war von einer steinernen Balustrade gesäumt, die bis zu Sophies Kinn reichte. Wenn jemand aufblickte, konnte er nur einen hellen Haarschopf und einen hin und her schnellenden Ellbogen sehen.

»Ich liebe den Himmel«, sagte Sophie eines Abends beim Essen, ohne groß über ihre Worte nachgedacht zu haben. Sie biss sich auf die Zunge, denn andere Mädchen lachten immer, wenn sie so etwas sagte.

Doch Charles tat eine Schweinefleischpastete auf die Bibel und nickte. Er sagte: »Das freut mich.« Er tat einen Klecks Senf auf die Pastete und reichte Sophie das Buch. »Wer den Himmel nicht liebt, ist ein Dummkopf.«

Sophie hatte das Klettern schon mit dem Laufen gelernt. Und sie kletterte auf Bäume, weil diese der schnellste Weg zum Himmel waren. Charles hatte nichts dagegen. Er gehörte nicht zu den Leuten, die einem das Klettern verboten oder ständig sagten, man solle sich auch ja gut festhalten. Er stand unten und rief: »Höher, Sophie! Ja, bravo! Halte Ausschau nach Vögeln! Von unten sehen Vögel wunderschön aus!«

VIER

Der alte Cellokasten, Sophies Rettungsboot, lag vor dem Fußende ihres Bettes. Anlässlich ihres elften Geburtstags hatte Charles den Schimmel abgeschmirgelt und Farbe gekauft.

»Welche Farbe hättest du gern?«, hatte er gefragt.

»Rot. Denn Rot gehört nicht zu den Farben des Meeres.« Sophie konnte sich mit dem Meer nicht anfreunden.

Charles lackierte den Cellokasten in dem knalligsten Rot, das er finden konnte, und brachte ein Schloss an. Sophie bewahrte all ihre Kostbarkeiten und auch ein paar Leckerbissen für die Nacht darin auf. Sie öffnete den Kasten nur, wenn sie sich etwas Gutes tun wollte oder wenn sie einen ihrer schrecklichen Albträume vom Meer gehabt hatte.

Hätte Sophie geahnt, wie wichtig dieser Cellokasten am Ende für sie werden sollte, dann hätte sie vermutlich keinen Honig darin aufbewahrt, denn Honig hat die Eigenart, auszulaufen. Aber wie hätte sie das ahnen sollen? Charles sagte immer, es sei vollkommen unmöglich, alles zu wissen.

Charles hatte ihr auch nahegelegt, den Cellokasten nicht zu wichtig zu nehmen. »Achte im Leben darauf, nicht die falschen Dinge zu horten«, sagte er. »Wir wissen nicht, ob dieser Kasten rechtmäßig dir gehört, Sophie. Vielleicht darfst du ihn nicht behalten.«

»Ja, ich weiß!« Sophie grinste. »Irgendjemand wird ihn für sich beanspruchen. Und zwar meine Mutter. Wenn sie schließlich kommt.« Sophie spuckte auf ihre Hand und überkreuzte die Finger, denn das brachte Glück. Das war wie ein Reflex; sie tat das jeden Abend hundert Mal.

»Es wäre auch denkbar, dass der Kasten gar nicht deiner Mutter gehört hat. Vielleicht hat sie ihn an sich genommen, als das Schiff sank. Frauen spielen ausgesprochen selten Cello, Sophie. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie von einer Cellistin gehört. Frauen neigen eher zur Geige.«

»Nein«, sagte Sophie. »Es war ein Cello. Das weiß ich genau. Ich kann mich daran erinnern. Ich habe noch vor Augen, wie sie den Bogen hält.«

Charles senkte den Kopf zu einem höflichen Nicken, wie er es immer tat, wenn er anderer Meinung war. »Ich kann mich auch noch gut an das Schiff erinnern, Sophie. Und an das Orchester. Aber an eine Frau mit Cello erinnere ich mich nicht.«

»Ich aber.«

»Nein, Sophie. Das Orchester bestand aus Männern mit Schnurrbart und Pomade im Haar.«

»Ich erinnere mich aber daran, Charles! Ganz bestimmt!«

»Ja, ich weiß.« Charles schaute tieftraurig drein, und Sophie zog es vor, grimmig ihre Fußknöchel anzustarren. »Aber du warst damals noch ein Baby, meine Perle.«

»Ja, aber das heißt doch nicht, dass ich mich nicht erinnern kann. Ich habe sie gesehen, Charles, wirklich und wahrhaftig. Ich kann mich an das Cello erinnern.« Diese Dispute verliefen immer gleich. Wie bringt man andere Leute dazu, einem zu glauben?, dachte Sophie. Das war sehr mühsam und sehr schwierig. Im Grunde unmöglich.

»Ich habe gesehen, wie sie auf dem Wasser trieb. Daran gibt es keinen Zweifel!« Sie ballte ihre Fäuste. Wenn sie Charles nicht so sehr geliebt hätte, dann hätte sie ihn jetzt angespuckt.