Mit Illustrationen von Jan Birck
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
© 2010 Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Sigrid Vieth
Alle Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung E-Book:
Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-1820-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Mann über Bord
Langnese-Feeling
Life in Paris
Altmeister
Victor
Stunde null
SOS
Fremdes Revier
Café Central
Mensch ärger dich nicht
Operation Sandsturm
In der Höhle des Löwen
Feuerball
Der Einzelkämpfer
Asche zu Asche
Payback
Bongo Knox
Die Nacht der Nächte
Soccer Queen
Alex ist die Tochter eines Fußballstars und lebt auf einer Luxusyacht. Doch glücklich ist sie dort nicht. Sie hat das Talent ihres Vaters geerbt, darf aber erst spielen, als Mark, Derik, Yo-Shi und Victor sie aus ihrem goldenen Käfig befreien.
Pizzo spielt mit vier Füßen.
Victor spielt Schlagzeug, liebt Hamburger und hatte einige Kilo zu viel auf den Rippen … bis die Bar-Bolz-Bande ihn aufnimmt. Denn er besitzt Fähigkeiten, von denen er selbst nichts ahnte.
Mark hat seit einem Autounfall ein Handicap: Sein linkes Bein ist zwei Zentimeter kürzer als sein rechtes. Dank harten Trainings und eisernen Willens hat er diesen Nachteil aber längst wieder wettgemacht. Barfuß auf Sand ist er nahezu unschlagbar.
Yo-Shi ist die Tochter einer Japanerin. Klar, dass sie manchmal Beachsoccer und fernöstliche Kampftechniken miteinander vermengt … mit durchschlagenden Ergebnissen.
Derik ist in Brasilien aufgewachsen und mit einem Fußball unter dem Arm geboren worden. Er lässt sich durch (fast) nichts aus der Ruhe bringen und ist auf dem Spielfeld ein wahrer Ballkünstler.
Ollies Nase verschwand in der brodelnden Suppe. Der Hexenkessel, in den wir geraten waren, fauchte und pfiff wie ein Schnellkochtopf kurz vor der Explosion.
Wieso ist das Wasser eigentlich so versalzen?, fragte ich mich. Jedenfalls brannte es derart schmerzhaft in meinen Augen, dass ich mir irgendwann von irgendwoher eine Taucherbrille geschnappt und über den Kopf gezogen hatte, was die Sache aber eher verschlimmerte. Das Salzwasser tobte nämlich bald auch innerhalb der Brille hin und her – wie in einem Mixer. Alles in allem erinnerte mich meine Lage an die des bemitleidenswerten Hummers, den der Chefkoch im ekligen Lieblingsfranzosen meiner Mutter in eine tödlich heiße Brühe geworfen hatte, um ihn dort zu garen. Einziger Unterschied: Hier war es erbärmlich kalt statt kochend heiß. Zu allem Überfluss war mir auch noch speiübel.
Ich klammerte mich mit schmerzenden Fingern an ein Netz. Es war prall mit Fußbällen gefüllt und zu groß, um durch die Luken zu passen, die hinunter in den Bauch des Schiffes führten. Deshalb hatten wir es einfach auf das Dach des Ruderhauses gebunden.
Meine nackten Füße waren mir irgendwann außer Kontrolle geraten und ließen sich nicht mehr bändigen. Wie denn auch, wenn sich der Boden zur Seite neigte wie ein Schiffsdeck im Orkan? Denn genau so war es: Derik, der vierzehnjährige Fischerjunge aus Recife, Tokio, die gleichaltrige Japanerin von der Insel Sandorn, und Mark (also ich, auch bald vierzehn), der hinkende Junge aus einer grauen Großstadt im Herzen Westeuropas, befanden sich an Bord unseres Seglers „Ollie“ und – gelinde gesagt – in ziemlich rauem Wetter.
Dem lieben Gott musste es langweilig geworden sein. Ich stellte mir vor, wie er irgendwann Anlauf genommen hatte und mit einer gewaltigen Arschbombe in den Atlantik gesprungen war. Nur um ein bisschen Spaß in der Badewanne zu haben, in der unser ehemaliger Fischkutter nun wie ein Spielzeugschiffchen durchgeschüttelt wurde.
Über uns türmten sich haushohe, schwarze Wellen auf. Unter uns ächzte Ollies alter, spantenknarrender Rumpf, dessen Bugnase sich immer tiefer durch die riesigen Wogen pflügte. So, als wolle er endgültig auf Tauchfahrt gehen.
Derik versuchte das Ruder mit Händen und Zähnen zu halten. Er erinnerte mich dabei an meinen Sandkastenfreund Tobi, der sich vor vielen Jahren in seinen Kindersitz verbissen hatte, um mit letzter Kraft seine Einlieferung in den Kindergarten zu verhindern.
Hoffentlich würde Derik mehr Erfolg haben als Tobi damals …
Für einen kurzen Moment fand ich seine Übungen sogar komisch, obwohl ich mit meiner wassergefüllten Taucherbrille viel blöder ausgesehen haben musste als er und unsere Lage alles andere als lustig war. Galgenhumor. Das Deck, auf dem er dabei zu stehen versuchte, schwankte und bockte, als wolle es meinen Beachsoccer-Kameraden auf Teufel komm raus abschütteln. Aber weshalb sollte es ihm auch besser gehen als mir?
Derik hatte schon mehrere Male fachmännisch, aber ebenso wütend „Fockleine auf!“ gebrüllt. Das sollte bedeuten, dass irgendwer durch diese Waschmaschine nach vorne kriechen sollte – bis zu der Stelle, an der das dreieckige Segel über dem Bug festgemacht war. Würde man diese Befestigung lösen, würde der Wind keinen Druck mehr auf das Segel ausüben können und es würde nur noch wirkungslos im Wind schlagen.
Wir segelten nur noch wenig Tuch. Das ist auch so ein Fachausdruck. Man verwendet ihn, wenn man sagen will, dass fast alle Segel gerefft sind. Und „gerefft“ heißt, dass sie zusammengerollt waren, so gut es eben ging.
Also: Wir segelten nur noch ein letztes kleines Focksegel. Alle anderen Segel waren gerefft, da sie unseren kleinen Kutter im Sturm mit Sicherheit zum Durchkentern gebracht hätten. Das ist so was wie ein Fallrückzieher seitwärts mit anschließendem Krankentransport. Durchkentern bedeutete also so viel wie „Game over“. Aber selbst dieses letzte kleine Segel presste unser Schiff immer wieder in beängstigende Schräglage, denn die brutalen Böen kamen nicht nur aus den unterschiedlichsten Richtungen, sie wurden auch noch immer heftiger.
Deshalb hatte Derik wohl dauernd sein „Fockleine auf!“ gebrüllt – wie auch immer er sich die Umsetzung des Befehles bei diesem Seegang vorstellte.
Derik war der Skipper, der Boss an Bord, und er hatte die sogenannte „Hundewache“ gehabt, die um Mitternacht begann und volle vier Stunden dauerte. Etwa gegen zwei Uhr nachts war jedoch wie aus dem Nichts das Unwetter aufgezogen. Das behauptete er jedenfalls. Er hatte uns geweckt, damit wir die Lappen, also die Segel, runterholten, und hatte dann den Diesel angeworfen. Das Brummen des Motors war jetzt das einzige Geräusch in diesem tosenden Konzert der Elemente, das noch etwas Beruhigendes auf mich ausstrahlte. Ein bisschen wie das Schnarchen meines Vaters, als er vor sehr langer Zeit noch im selben Bett wie meine Mutter übernachtete und ich als kleiner Kerl zu ihnen gekrochen kam, weil ich die Hosen voll hatte. Wörtlich gemeint.
Und jetzt war es eben genauso. Beinahe. Was ich sagen will ist, dass ich Angst hatte. Dunkelgraue Angst.
Der Bug hob sich wieder aus der See wie ein Wal nach dem Tauchgang. Das Wasser strömte vom Deck und ergoss sich in Fontänen durch die Reling zurück ins Meer. Fische zappelten sich hinterher.
Wir schossen einen riesigen Wellenberg hinauf, über ihn hinaus und schwebten dann für Sekundenbruchteile beinahe schwerelos im Nichts. Achterbahngefühl. Der Kiel des alten Kahns stürzte ins Leere, schlug auf und ging auf Schlittenfahrt ins nächste Wellental.
Meine Finger hatten sich so fest in das Netz mit den Fußbällen verbissen, dass ich keine Möglichkeit sah, die blöde wassergefüllte Taucherbrille wieder zu entfernen. Deshalb konnte ich nur äußerst selten und dann auch nur für eine Millisekunde eines meiner beiden Augen öffnen: Immer, wenn das Wasser zwischen mir und dem Glas mal vollständig auf eine Seite rübergeschwappt war. In einem dieser einäugigen Blitz-Scans über das Schiff erkannte ich plötzlich Tokio, die im Begriff war, sich drüben an der Backbordreling durch die überkommende Gischt nach vorne zu arbeiten, um den Befehl Deriks tatsächlich umzusetzen. Es war mir ein Rätsel, wie ihr das möglich war, während es mir selbst nicht einmal gelang, auf einem meiner beiden Füße zum Stehen zu kommen. Obwohl ich mit meinem kürzeren linken Bein bei der Übung „Stehen auf einem schiefen Deck“ eigentlich einen gewissen Vorteil gegenüber Tokio gehabt haben müsste.
„Tokio!“, hörte ich Derik jetzt hinter mir brüllen. „Eine Hand für das Schiff, die andere für dich, verdammt!“
Tokio musste diese oberste Überlebensregel in der Top-Ten-Liste der Seeleute in ihrem Eifer vergessen haben, sonst hätte Derik sie nicht so verzweifelt hinter ihr hergeschrien. Aber es war zu spät, denn der nächste Angriff der tosenden See hüllte das gesamte Vorschiff ein, das Tokio gerade eben erreicht hatte.
Danach war sie weg.
Ich wollte „Mann über Bord“ brüllen, so wie Mbeki es uns für Notfälle wie diesen eingeimpft hatte, aber just in dem Moment schluckte ich Salzwasser, gurgelte unfreiwillig wie nach dem Zähneputzen, würgte und ging auf Tauchgang. Danach schwebte ich schwerelos im Meer, schleuderte hin und her, schlug an etwas Hartes und wurde schließlich doch noch von dem Netz gerissen, in das ich mich bis dahin erfolgreich verkrallt hatte. Ich kraulte, donnerte erneut an irgendetwas und klammerte mich wieder daran fest. Während unser Kutter sich ächzend aus der Welle hob, in die er fast völlig eingetaucht gewesen war, fiel ich zurück aufs Deck. Jetzt war meine Taucherbrille komplett mit Seewasser aufgefüllt, inklusive eines klitzekleinen Fisches, der über meiner Nase aufgebracht hin und her schoss. Keine Ahnung, wie er es zu mir herein geschafft hatte und was er sich davon versprach. Ich schielte auf den kleinen Kerl, bildete mir ein, eine Haifischflosse auf seinem Rücken gesehen zu haben und stellte gleichzeitig fest, dass es Derik irgendwie gelungen war, seinen Posten als Steuermann zu behaupten. Allerdings schien es mehr das Ruder zu sein, das ihn beherrschte als andersherum. Ganz genau ließ sich das durch die wassergefüllte Brille und an dem Mini-Hai vorbei jedoch nicht erkennen.
Ich schnappte nach Luft. Soweit ich und mein kleiner neuer Freund in der Brille feststellen konnten, starrte Derik angestrengt durch die Scheiben des Ruderhauses, das ihn vor den überkommenden Wassermassen geschützt hatte. Dann brüllte er heiser:
„Mark, verdammt, den Rettungsring raus! Schnell, Tokio ist über Bord! Dort!“
Ich glaube, er zeigte mit ausgestrecktem Arm querab in die Nacht hinaus. „Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren! Ich fahr ein Mann-über-Bord-Manöver!“
Ich rappelte mich auf, zog mich an einer Leine hoch und arbeitete mich durch die Gischt zum Rettungsring durch, den meine Erinnerung an der Außenwand des Ruderstandes vermutete. Da passierte es: Der kleine Fisch biss zu allem Überfluss zu. Hai-Attacke. Direkt zwischen meine Augen. Immerhin riss ich mir jetzt endlich die Brille vom Gesicht und das Tier konnte zurück in seine Wasserwildnis springen. Fluchend, die Taucherbrille noch um den Hals und den Rettungsring unter dem Arm, suchte ich schließlich die Wellenberge nach Tokio ab.
„Wo ist sie, verdammt?“
„Etwa auf vier Uhr!“ An Bord eines Schiffes bedeutete das keine Zeitangabe. Jedenfalls nicht jetzt, obwohl es tatsächlich etwa vier Uhr nachts gewesen sein könnte. Jetzt war „vier Uhr“ eine Richtungsangabe: Es bedeutete, dass Derik Tokio schräg hinter uns auf der Steuerbordseite ausfindig gemacht hatte, etwa in der Richtung, in der sich auf einer Uhr von ihrer Mitte aus gesehen die Ziffer Vier befindet.
„Sind höchstens 20 oder 30 Meter bis zu ihr! Ich geh jetzt in den Wind und muss sie kurz aus den Augen lassen. Hast du sie? Verlier sie um Gottes willen nicht!“
Der Hai-Biss in meinem Nasenrücken brannte. Hoffentlich hatte das Vieh nicht auch noch die Tollwut gehabt, schoss es mir durch den Kopf. Dann schleuderte ich den Rettungsring hinaus, denn ich hatte Tokio gesichtet. Sie paddelte verzweifelt in den Wellen und versuchte, das Schiff zu erreichen. Aber der Ring flog in eine Böe, stieg hoch in die Luft und flatterte wie besoffen über unseren Fischkutter zurück auf die Backbordseite des Schiffes, wo er in ein Wellental klatschte. Tokio aber schaufelte auf der anderen, der Steuerbordseite ums Überleben.
Ich torkelte nach Achtern und arbeitete mich zum zweiten Ring am Heck des Schiffes durch. Ich riss ihn von der Reling und wollte diesmal einen günstigeren Moment für den Wurf abpassen.
Aber der Sturm und das Meer dachten nicht entfernt an so etwas wie Gnade oder Sportlichkeit, denn nun warfen sie Ollie, der sich gerade im wackeligsten Moment des Wendemanövers befand, erst recht hin und her, wie ein Papierschiffchen auf einem Wildbach. So heftig, dass das Wasser erneut überkam. Es riss mir den Vize-Rettungsring aus den Händen und meine Füße flutschten erneut von den glitschigen Planken.
Als ich mich wieder hochgerappelt hatte, war Tokio nicht mehr zu sehen.
„Sie ist verschwunden!“, hustete ich mehr, als ich brüllte. „Siehst du sie noch irgendwo?“
„Nein, verdammt!“
Derik beendete das Manöver, sodass Ollie wieder etwas ruhiger lag. Jetzt kamen die größten Wogen von hinten, also über das Achterdeck, und konnten uns nicht mehr ganz so viel anhaben.
„Scheiße, Mann, was sollen wir jetzt tun?“
Derik behielt die Nerven: „Position halten, bis es heller wird! Hast du das Leuchtfeuer dort hinten gesehen? Solange es nicht versucht, sich nach links oder rechts zu verdrücken, heißt das, dass wir uns nicht von der Stelle bewegen. Ich behalt’s im Auge. Kletter du auf den Baum, hak deinen Gurt am Fall ein, damit du nicht auch noch ’nen Abflug machst, und such sie!“
Obwohl es schlimmer nicht hätte kommen können, sorgte Deriks Befehlston zumindest für eine gefühlte Verbesserung der Lage. Dennoch fand ich, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um einen Baum zu besteigen, den es hier weit und breit nicht gab. Derik hatte mein Zögern richtig gedeutet und fügte hinzu: „Der Baum, du Loser, ist auf einem Schiff die waagrechte Holzstange am Mast, genau über deiner Birne!“
Schließlich hing ich zitternd am Großmast, balancierte auf dem Baum, oder wie das Ding hieß, und spähte in die Nacht und den Sturm hinaus, dem jetzt endlich langsam – viel zu langsam – die Puste auszugehen schien.
Doch das Letzte, was ich in der Nähe unseres Fischkutters sah, war nur noch einer der beiden Rettungsringe gewesen, der in den Wogen von einer Seite auf die andere geworfen wurde wie ein Pfannkuchen in einer Pfanne. Selbst wenn Tokio ihn erreichen könnte: Würde sie bis zum Morgengrauen durchhalten können? Wir waren hier ja nicht in der butterwarmen Karibik. Wir befanden uns im kalten Atlantik. Irgendwo vor der spanischen Küste.
Ich blickte auf die Uhr. Halb fünf. Dann wieder hinaus in die Nacht, die in der Zeit vor der Morgendämmerung am dunkelsten ist. Sie stand vor mir wie eine schwarze Mauer am Ende einer Sackgasse, sodass mir die Ausweglosigkeit der Lage jetzt wie ein Faustschlag ins Gesicht schlug: In dieser dunklen Welt aus kalten Wellenbergen und düsterer Undurchdringlichkeit würden wir Tokio unmöglich wiederfinden. Doch bis zum Sonnenaufgang waren es noch etwa eineinhalb Stunden. Also Position halten, warten, frieren und hinausstarren. Erst mit Anbruch des Tages machte es Sinn, wieder Fahrt aufzunehmen und mit einer halbwegs planmäßigen Suche zu beginnen. Doch was, wenn es für Tokio bis dahin längst zu spät wäre?
Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, das Meer umtoste weiter das Schiff, Derik hing am Ruder, hatte rotgeränderte Augen und ich schlotterte, an den Mast geklammert.
Erst nach einer halben Ewigkeit hellte es langsam auf und der Sturm flaute merklich ab. Das Meer beruhigte sich und rollte schließlich in ruhigeren, lang gezogenen Wogen unter uns hindurch.
Die Suche konnte beginnen und Ollie tuckerte bald volle Kraft voraus, um die Gegend in weiten Bögen abzugrasen. Einen der beiden Rettungsringe hatten wir bereits gefunden, da er noch in Sichtweite dümpelte. Den anderen fanden wir etwa eine Stunde später. Derik hatte sofort auf ihn zugehalten, in der Hoffnung, Tokio lebendig aus dem Wasser ziehen zu können.
Aber auch der zweite Rettungsring war leer …
Ein paar Wochen davor befanden Tokio, Derik und ich uns noch im sicheren Nest unserer Bar-Bolz-Burg auf Barefoot-Island. Wir lagen flach ausgestreckt im warmen Sand, umgeben vom Grün des Dschungels, vom Plätschern der warmen Wasserfälle und vom Geschwätz der Papageien in den Palmenkronen, die in den Himmel über dem Krater der Felseninsel wuchsen. Damals hatten wir noch keine Ahnung, was uns schon sehr bald in der Wasserwildnis des Atlantiks erwarten würde.
Ein Duftgemisch aus Blüten und Salzwasser hing in der Luft. Wir hatten das Gefühl, als müssten wir dieses einmalige Langnese-Kinowerbung-Feeling mit unseren Händen greifen und allen unseren Sinnen zuschaufeln, damit auch nicht der kleinste Hauch davon verloren gehen würde.
Pizzo war gerade mit einem Fußball unter seinen Greif-Sohlen zwischen unseren Köpfen gelandet, während wir von der großen weiten Welt träumten, die wir an Deck unseres Seglers „Ollie“ erobern wollten. Pizzo war der Chef der Affenbande, die hier durch die Palmkronen turnte, und hatte seit unser Ankunft auf Barefoot-Island die Aufgabe übernommen, uns regelmäßig zu einem kleinen Beachsoccer-Spiel herauszufordern.
Aber für ein Fußball-Duell gegen „Pizzos Paradise-Soccers“ im warmen Sand unserer Arena waren wir zum damaligen Zeitpunkt viel zu erschlagen. Denn wir hatten ja gerade eben erst Tokios Befreiung von der Insel Sandorn glücklich überstanden. Und immerhin ging es da um nichts weniger als um einen alten Wikingergeist, um die Rettung unseres Inseltreffs, die Barbar-Bar, und um unsere Ehre als Beachsoccer-Spieler. Ja, und natürlich um Tokio, die eigentlich „Yo-Shi“ heißt, den vierlagigen „Kung-Fu-Schuss“ beherrscht und von nichts anderem mehr geträumt hatte, als die Insel Sandorn nach vierzehn Lebensjahren endlich zu verlassen …
Während dieses wunderbaren Momentes der Entspannung also, im sandigen Nest der von aller Welt vergessenen Felseninsel in der Nordsee, hatten wir ausnahmsweise mal nicht Fußball im Sinn.
Wir kamen ja eben erst von einem Soccer-Duell im Morgengrauen, das unseren von paradiesischer Trägheit verweichlichten Körpern ordentlich zu schaffen gemacht hatte. Und unsere Gegner waren nicht einfach irgendwer gewesen, sondern Bagger, der selbsternannte Soccer-König von Sandorn, sowie ein alter Bekannter, besser gesagt ein alter Erzfeind: Hollywood.
Den hatten Derik und ich zuvor eigentlich für immer und ewig dort zurückgelassen, wo wir hergekommen waren: in der düsteren Asphaltwelt einer noch düstereren Großstadt. Das hatten wir jedenfalls angenommen. Wie auch immer, er war wieder aufgetaucht, als wäre er der Terminator persönlich. Aber wir schafften es irgendwie, ihn endgültig abzuledern, und es blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als sich wieder vom sandigen Acker zu machen. Diesmal hoffentlich für alle Zeiten.
Wir, die Sieger, lagen deshalb jetzt gemeinsam mit Tokio im goldgelben Sand inmitten unserer kleinen, vor langer Zeit erloschenen Vulkankrater-Insel und träumten von der glorreichen Zukunft der Bar-Bolz-Bande.
Eines dieser Glücksgefühle. Luftige zehn Gramm schwer, so sanft wie ein Schmetterlingskuss und in der schönsten Farbe des Meeres: glitzerndes Türkis.
Nachdem ich mir Pizzos Sanddusche aus den Augen gerieben hatte, wanderte mein Blick hoch zum Leuchtturm, der über uns in die Sonne wuchs und der sogar noch über den ewigen Nebelring hinausragte, der unsere vergessene Insel umschloss.
Unter der gläsernen Kuppel des alten Turmes hockten bestimmt gerade mein Großvater Ed und sein Kumpel Mbeki beim Schachspiel. Wie meistens. Während Julé unten in der Felsengrotte, die die Küche beherbergte, Frühstückseier in eine Pfanne haute. Oder vielleicht doch nur einem Salat den Kopf wusch, um uns weiterhin mit einer Diät zu quälen?
Der Gedanke an eine Fortsetzung der Hungerkur, die uns letztendlich hinausgetrieben hatte, um Tokio zu befreien, war ziemlich beängstigend. Also sprang ich auf, um das Schlimmste schon im Keim zu ersticken, um in die Küche zu stapfen und um rechtzeitig meine Bestellung aufzugeben: Eine doppelte Portion Rührei mit geröstetem Speck, Toastbrot mit Butter und Marmelade (mindestens drei Stockwerke) und einen frischen Mango-Flip für alle!
„Pizzo, jetzt nicht … bin zu hungrig für’n Spielchen!“, ließ Derik den kleinen Affen ebenfalls abblitzen, während er ihm einen Klaps auf den Kopf gab und sich hochrappelte. Pizzo balancierte enttäuscht auf dem Ball herum und Derik schleppte sich hinter mir her, während er Tokio über die Schulter zurief: „Komm, Tokio, wir organisieren uns ’n ordentliches Frühstück!“
Um zur Küche zu gelangen, musste man die Speiseröhre durchqueren. So nannten wir die Höhle inzwischen, in der unter einem Wald von Tropfsteinen ein runder Edelholztisch im Sandboden stand. Darüber schwebte ein bombastischer alter Kristallleuchter voller Kerzen. Um den fußballrunden Esstisch gruppierten sich acht Sessel, bezogen mit der Lederhaut ausgedienter Fußbälle. Das war sozusagen die Tafelrunde der Bar-Bolz-Bande.
Unsere Angst vor Salatblättern war völlig unnötig gewesen.
Das Frühstück balancierte gerade auf Julés Schulter. Es duftete uns schon entgegen, bevor wir die Grotte betreten hatten, und war genau nach unserem Geschmack.
Ed und Mbeki standen vor ihren Sesseln, hatten ihre Gläser erhoben und riefen:
„Sei willkommen, Tokio!“
Tokio machte eine höfliche Verbeugung und sagte dann wie eine Japanerin in einem dieser Samurai-Filme: „Die unbedeutende Tokio dankt in aller Bescheidenheit für die Aufnahme in der ehernwerten Bar-Bolz-Bande und bittet um Verzeihung für ihren unhöflichen Magen, der knurrt wie der eines ausgehungerten Soccer-Spielers!“ Dabei konnte sie sich natürlich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Na, dann mal ran an den Speck!“, dröhnte Ed, und wir stürzten uns auf das kolossale Rührei-Frühstück, das Julé auf dem runden Tisch aufgetürmt hatte.
Ed, Mbeki und Julé hatten unseren grandiosen Sieg über Baggers Soccer-Gang mit Hilfe des alten britischen Spionage-Satelliten mitverfolgt, der noch immer vom Leuchtturm aus angepeilt werden konnte. Dennoch gab es Vieles zu erzählen, und erst nachdem wir die drei bestimmt eine ganze Stunde lang zugetextet hatten, sagte Mbeki:
„Schön, und wie geht’s jetzt weiter?“
„Na, iff doch klar“, mampfte Derik mal wieder mit vollem Mund, „wir fuchen uns noch fwei weitere Top-Fpieler! Dann ift die Bar-Bolz-Bande vollftändig und dann geht’f ab nach Rio!“
„Gut“, nickte Mbeki, der vor sehr vielen Jahren gemeinsam mit meinem Großvater Ed die alte Bar-Bolz-Bande gegründet hatte, die es seit dem tragischen Unfall meines Großvaters im Endspiel in Rio nicht mehr gab … und die wir wieder auferstehen lassen wollten.
„Dann schlage ich vor, dass ihr Tokio nach dem Frühstück ihre Wohnhöhle zeigt. Danach holt ihr euch alle drei eine Mütze voll Schlaf und morgen Vormittag beginnen wir mit der Arbeit. Ab dann wird nicht mehr krankgefeiert! Der Fischkutter muss in wenigen Wochen hochseetauglich sein, sonst wird’s zu spät sein, um noch dieses Jahr in See zu stechen. Und wenn Ollie dann startklar ist, müssen wir auch die nächsten Spieler für die Bolzbande gecastet haben. Mindestens einen weiteren. Und das ist noch nicht mal alles: Außerdem wird trainiert. Ballbeherrschung, Ausdauertraining, Reaktionsschnelligkeit, Konzentration und vor allen Dingen: Navigation, Geographie. Wie wollt ihr sonst auf euch allein gestellt da draußen klarkommen? Das wird keine kleine Schatzsuche mit Picknick auf Sandorn. Dieses Mal wird es ernst werden, wenn ihr die Grotte verlassen werdet!“ Mbeki kippte den Rest seines Mango-Mixes runter und schloss dann: „Morgen früh um neun Uhr treffen wir uns in der Mitte der Soccer-Arena!“