Cover

Der Autor

Mark Watson, geboren 1980 in Bristol, ist Romanautor, Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator und international erfolgreicher Stand-up-Comedian. Er ist außerdem Fußball-Experte, studierter Literaturwissenschaftler und Umweltaktivist. Er ist bekannt für Marathonauftritte, die 24 Stunden und länger dauern. Mark Watson lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in London. Ich könnte am Samstag (Hardcover: Elf Leben) war sein erster ins Deutsche übersetzter Roman, zuletzt erschien von ihm Überlebensgroß.

MARK WATSON

HOTEL
ALPHA

IM RESTAURANT
UND ANDERSWO

Stories

Aus dem Englischen
von Andrea Kunstmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © Mark Watson 2014
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Kristof Kurz
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München,
unter Verwendung von shutterstock.com/Christos Georghiou
Umsetzung E-Book: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-17770-6
V003
www.heyne.de
www.markwatsonthecomedian.com
www.hotelalphastories.de

Storys aus dem Hotel Alpha: Hinter jeder Zimmertür steht eine Geschichte …

Im Laufe der Zeit ist jedes Zimmer im Hotel Alpha Zeuge von Hunderten Geschichten geworden: die einen eher belanglos, die anderen folgenschwer, und manche in einer Weise miteinander verwoben, von der die Gäste nichts ahnen.

Mark Watson erzählt die Geschichte des Hotel Alpha einmal in einem Roman um den charismatischen Howard York, der vor vier Jahrzehnten das Reich seiner Träume erschuf: das Hotel Alpha. Einst das vornehmste Haus Londons, fiel es dem Alpha im Laufe der Jahre nicht immer leicht, Schritt zu halten mit einer Welt, die sich in Schwindel erregendem Tempo voran bewegt. Schon seit der Eröffnung steht der Portier Graham hinter dem Rezeptionstresen und hat alle Entwicklungsphasen des Hotels begleitet. Chas, Howards blinder Adoptivsohn, hat sich bisher nur sehr selten vor die Türen des Hotels gewagt. Beide betrachten das Alpha als ihre Zufluchtsstätte, als den einzigen Ort auf der Welt, der ihnen das geben kann, was sie brauchen. Doch beide müssen irgendwann begreifen, dass das Alpha ihnen nicht mehr das Leben bietet, nachdem sie sich sehnen, und dass Howards Sicht der Dinge nicht nur auf Träumen, sondern auch auf Geheimnissen gründet.

Zusätzlich zum Roman hat Mark Watson hundert weitere Geschichten aus der Welt des Hotel Alpha geschrieben, die im Internet unter www.hotelalphastories.de erschienen sind. Diese Zusatzgeschichten umfassen dieselbe Zeitspanne wie der Roman. Sie beleuchten das Geschehen aus einer anderen Perspektive, zeigen ein paar der unsichtbaren Verbindungen zwischen den Hauptereignissen auf und verleihen den Tausenden von Nebenfiguren und Nebenhandlungen, die das Leben des Hotel Alpha ausmachen, eine Stimme. Diese Geschichten können in beliebiger Reihenfolge und Menge konsumiert werden.

Sie enthüllen Geheimnisse, führen Liebende zusammen und trennen sie, schaffen Erinnerungen und lassen sie wiederaufleben, ziehen unvorhersehbare Konsequenzen nach sich. Altbekannte Figuren des Romans zeigen überraschende Facetten, und neue Figuren hinterlassen ihre Spuren in der gut vierzigjährigen Geschichte von Londons außergewöhnlichstem Hotel.

Entdecken Sie die Welt des Hotel Alpha in einer von uns für Sie zusammengestellten Auswahl!

INHALT

In der Halle und draußen   (2005)

Im Restaurant   (1990)

In der Alpha-Bar   (2003)

In der Halle   (1977)

Zimmer 4   (1989)

Im Rauchersalon   (1991)

Wellness-Suite (Fitnessraum)   (1995)

Im Rauchersalon   (1994)

In der Halle   (1980)

In der Alpha-Bar   (2004)

Im Restaurant   (2004)

Im Restaurant   (2001)

In der Halle und draußen   (2005)

Ray Burton ist froh, das Alpha zu verlassen und über den Vorplatz laufen zu können, auf dem sich die Bäume heute Nacht überhaupt nicht regen. Dann auf die Euston Road und an der Staatsbibliothek vorbei die Straße hoch zur U-Bahn. Es war ziemlich laut im Hotel, und obwohl die Luft hier draußen immer noch recht warm ist, fühlt sie sich angenehm kühl auf seinen Wangen an nach der Hitze, die nicht nur dem Wetter, sondern auch der Erhitztheit der Leute, dem Zusammenspiel von beidem geschuldet ist. Das kommt dort am Ende eines Sommertags schon einmal vor. So wie sich bei Hitze in der realen Welt ein Gewitter zusammenbraut, so ähnlich geschieht es auch im Alpha. Als Ray ging, schrien immer noch Leute herum, zwar mehr im Spaß, aber es schwang doch etwas Ernstes, Bedrohliches mit. Das lag an diesen Olympialeuten, mit ihren ekligen Zigarren und den Schwabbelbäuchen, die ihre Bestellungen aufgaben, ohne sich zu bedanken oder einen überhaupt anzusehen. Und die Südafrikanerin, die wegen ihres Laptops lamentierte, der anscheinend verschwunden ist, aber bestimmt wieder auftauchen wird.

Alles taucht wieder auf, weil Graham alles wiederfindet. Wenn im Hotel einmal ein Gegenstand abhandenkommt, dann hatte dieser auch wirklich die feste Absicht zur Flucht. Über diese skurrile Vorstellung muss Ray grinsen, während er die Rolltreppe hinuntergeht und abwesend seine SMS checkt, bevor ihm einfällt, dass er hier unten ja keinen Empfang hat.

Gott sei Dank gibt es Graham! Andere Chefs hätten Ray dazu verdonnert, bis zum bitteren Ende zu bleiben, bis auch der allerletzte Gast seinen Weg ins Zimmer oder zur Tür hinaus in Richtung eines noch länger geöffneten Etablissements gefunden hätte. Aber Graham kommt immer alleine klar. Großartiger Kerl. Es ist völlig unmöglich, sich das Alpha ohne ihn vorzustellen. Kein Wunder, es gab das Hotel ja auch noch nie ohne ihn. Angeblich ist er bereits vor der Eröffnung eingestellt worden.

Die U-Bahn ist ziemlich leer. Zwölf Stationen, dann ein Fußmarsch zur Wohnung. Ein paar Gratiszeitungen gammeln verlassen auf den blauen Sitzen im Waggon. Die Neuigkeit, die sie auf ihren Titelseiten verkünden, ist schon keine mehr. Inzwischen sind die Zeitungen von morgen längst aus der Druckerpresse, oder wie immer man das heutzutage nennt. Ray überlegt flüchtig, was mit den ganzen kostenlosen Blättchen, der Metro und wie sie alle heißen, am Ende des Tages passiert. Irgendwer wird sie wohl nach der letzten Fahrt einsammeln.

Da steht was über die Olympiabewerbung. Die würde ihn gar nicht interessieren, wenn nicht ständig im Hotel die Rede davon wäre. Er fragt sich, ob es das viele Geld wert ist. Der Artikel hier mutmaßt, das die Olympiade das ganze East End verändern wird. Er blättert die restlichen Seiten durch: In Großbritannien gilt immer noch eine Terrorwarnung der dritthöchsten Stufe. Sie haben in diesem Jahr schon drei geplante Anschläge vereitelt.

Als kurz darauf die Haltestelle vor seiner angesagt wird, legt er die Zeitung beiseite und macht sich zum Aussteigen bereit. Beim Hochsehen nimmt er erstmals den Mann ihm gegenüber wahr. Der Typ trägt so eine Schiebermütze, wie sie in den Dreißigern modern war und jetzt wieder ist, ein eng anliegendes Jackett und eine Krawatte. Er liest eine Gratiszeitung. Er ist viel cooler als Ray, er ist jedenfalls cooler angezogen. Aber nicht deshalb hat er Rays Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es dauert ein paar Sekunden, bis ihm klar wird, dass er den Mann kennt, und noch ein paar, bis er weiß, wie er heißt.

Sein Name ist Paul Holloway, und sie waren Schulkameraden. Ganz behutsam, als blättere er in einem fremden Tagebuch, kramt Ray in seinem Gedächtnis nach tief vergrabenen Erinnerungen. Paul und er hatten sich auf einer Klassenfahrt zu den Höhlen von Wookey Hole in Somerset kennengelernt. Sie waren beide zwölf, es war in der siebten Klasse. Ihr Erdkundelehrer Mr. Janus, der den Ausflug organisierte, starb noch im selben Schuljahr völlig überraschend an einem Schlaganfall. Am Tag des Ausflugs jedoch war er bei bester Gesundheit. »Wenn irgendwer nicht mit in die Höhle will, soll er Bescheid sagen, das geht völlig in Ordnung«, sagte Mr. Janus. Alle musterten sich gegenseitig. Ray wollte auf keinen Fall dort runter, er hatte gehört, dass es in der Höhle stockdunkel sei, außerdem hasste er enge Räume, seit er sich an Ostern einmal beim Versteckspiel versehentlich in Tante Tessies Wäschetrockenschrank eingesperrt hatte. Aufgrund seiner dreistündigen Gefangenschaft hatte er das Spiel gewonnen, aber angesichts der seelischen Langzeitschäden musste er das wohl als Pyrrhussieg verbuchen.

Er hatte sich damals schon fast damit abgefunden, auch mit hinunter zu müssen, da er sich schwerlich vor allen anderen melden und zugeben konnte, dass er Angst hatte. Doch da sagte Paul Holloway – einer der Coolsten der Klasse, der ein Nintendospiel und ein Zimmer unter dem Dach besaß und auf einer Taufe angeblich schon mal drei Bier getrunken hat: »Mr. Janus, ich will lieber nicht mit.« Ray konnte es kaum glauben und hob sofort ebenfalls die Hand. Also durften sie beide oben bleiben und durch das Museum streifen, sie informierten sich über die Geschichte der Höhlen und diverse Geister, die dort spuken sollten, und erfuhren alles darüber, wie Höhlen entstehen und so weiter. Am Ende des Tages waren sie Freunde. Auf der Rückfahrt saßen sie im Bus nebeneinander, und in der folgenden Woche nahm Paul einen anderen Bus, damit er einen Teil der Fahrt von der Schule nach Hause mit Ray verbringen konnte. Bald verbrachte Ray die Wochenenden immer bei Paul. Unter dem Dach lagen sie bis zwei Uhr nachts wach und redeten. Es war Paul, der Ray vorschlug, sich Ray statt Raymond zu nennen, so wie er es bis heute beibehalten hat.

Pauls Mutter war sehr sexy, und morgens machte sie ihnen Marmeladetoast, und Ray wurde rot und mied ihren Blick, weil er dachte, dass er zu laut kaute.

Sie sahen sich einen der Terminator-Filme zusammen an, und beide hatten sie Skateboards, aber Paul fuhr viel besser als Ray, und als er merkte, dass es Ray keinen Spaß machte, tat er so, als würde er es auch nicht mögen, und die beiden verkauften ihre Skateboards wieder. Einmal trafen sie sich mit zwei Mädchen, Lydia und Francine, aber es lief nicht so, wie es sollte, weswegen Ray und Paul sich verabschiedeten und zu Mc Donald’s gingen, wo sie Milchshakes tranken und sich über Francines Zahnspange lustig machten. Bei einer Geburtstagsfeier gingen sie zum Bowling, wo Paul es irgendwie schaffte, den Punktestand so zu manipulieren, dass Ray besser dastand als er selbst. Ray ließ Paul seine Biologiehausaufgabe abschreiben, weil Pauls Eltern sich gestritten hatten, Pauls Vater die Familie verlassen wollte, Paul aus seinem Dachzimmer rausmusste und mit seiner Mutter in irgendein lausiges Apartment umziehen würde, weswegen er keine Zeit gehabt hatte, die diversen Bestandteile einer Pflanzenzelle zu beschriften. Paul verkaufte Ray sein Nintendo für nur 15 Pfund, obwohl er eigentlich 50 gewollt hatte, weil der Zeitungshändler, für den Ray Zeitungen austrug, ein Schuft war und Ray seinen Lohn nicht rechtzeitig zahlte.

Wenn jemand sie in den nächsten zwei Jahren nach ihrem besten Freund gefragt hätte, hätten beide keine Sekunde gezögert und sich gegenseitig genannt. Aber da sie keine Mädchen waren, wollte das niemand wissen. Wer einen von ihnen suchte, erkundigte sich beim anderen. Einmal redeten sie über ihre Zukunft. Sie waren sich einig, dass sie auf die gleiche Uni gehen würden, was so weit vernünftig und machbar war, aber darüber hinaus wurde es schwierig, weil sie unterschiedliche Pläne hatten. Paul wollte Musikproduzent oder Toningenieur werden, Ray dagegen etwas mit Menschen machen, genauer wusste er das noch nicht. Er wollte in einem Team arbeiten. Wahrscheinlich würden sie keinen Job in der gleichen Firma finden, aber auf jeden Fall wollten sie nahe beieinander wohnen und sich mehrmals wöchentlich sehen. Sie gingen davon aus, dass sie Familien haben würden, Ehefrauen und so, aber das war noch so weit weg, das würde man dann schon sehen.

Ray Burton, Bar-Manager.