Jennifer L. Armentrout

Dark Elements

HarperCollins YA!®

HarperCollins YA!® Bücher
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins YA!
in der HarperCollins Germany GmbH

© 2013 by Jennifer L. Armentrout
Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Bitter Sweet Love“

© 2014 by Jennifer L. Armentrout
Titel der amerikanischen Originalausgabe: „White Hot Kiss“

© 2014 by Jennifer L. Armentrout
Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Stone Cold Touch“

© 2015 by Jennifer L. Armentrout
Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Every Last Breath“

Erschienen bei: Harlequin TEEN, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: UNIMAK GmbH, Hamburg
Titelabbildung: Designed by freepik.com
Redaktion: Mareike Müller

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783959676861

www.harpercollins.de
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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

Dark Elements – Bittersüße Tränen




Für all meine Leser,

die mir das Schreiben ermöglichen.

Ich danke euch von Herzen.

1. Kapitel

Nichts in der Welt ist so schön wie das Fliegen, wie das Gefühl, wenn kühle Luft durch mein Haar streicht, meine warme Haut liebkost und den Schwung meiner Wirbelsäule zwischen meinen Flügeln nachzeichnet. Ich war so hoch oben, so weit über den Gipfeln der Adirondack Mountains, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte, sobald ich die Augen öffnete, die Sterne berühren oder noch weiter in den Himmel hochfliegen.

Was allerdings problematisch werden könnte. Aus irgendeinem Grund zweifelte ich daran, dass die Alphas es gutheißen würden, wenn eine Wächterin ganz plötzlich ihre Himmelspforte durchbrach. Allein der Gedanke daran entlockte mir ein Lachen, das emporstieg und vom Wind davongetragen wurde. Man kann nicht einfach in den Himmel fliegen. Es gab auf der ganzen Welt Portale, die all jenen Zutritt gewährten, die wussten, wie man sie findet, und Grund hatten, ihre Schwelle zu überschreiten.

Während der letzten drei Jahre habe ich – sehr zum Leidwesen meines Vaters – jeden Abend im Himmel verbracht. Den weiblichen Vertretern unserer Art war es eigentlich nicht gestattet, allein zu fliegen oder überhaupt etwas anderes zu machen, als Kinder zur Welt zu bringen, zu erziehen und zu unterrichten – aber keiner der Männer war so schnell wie ich; zumindest keiner, der in der Nähe war oder eine Rolle spielte oder …

Ich verdrängte diesen Gedanken, bevor er mich runterziehen und diese herrliche Frühsommernacht ruinieren konnte.

Die Kämme der Adirondacks weit unter mir kamen mir gar nicht so groß und versteinert vor. Nein. Sie erschienen mir eher weich, fast wie Marshmallows. Zwischen den Gipfeln glitzerten Seen wie schimmernde Flächen aus Onyx, und der Wald war dicht und nahezu unbewohnbar. Einmal war ich zu allen sechsundvierzig Gipfeln der Adirondacks geflogen, bis nach Kanada und danach zurück zum Washington County.

Eine Windbö erfasste die Unterseite meiner Flügel, sodass ihre Spitzen kribbelten, während die Strömung mich emportrug, als wäre ich in einer Blase gefangen. Einen Moment lang schnürten der Atmosphärenwechsel und die klare Luft mir die Kehle zu, und ich bekam nicht genug Sauerstoff.

Ganz kurz verspürte ich einen Anflug von Panik, doch er verschwand in dem Moment, in dem mein Instinkt meinem Gehirn die Kontrolle über meinen Körper abnahm.

Ich trudelte abwärts, die Flügel eng am Körper, die Augen weit aufgerissen, der Verstand ebenso wohltuend leer wie meine Brust, frei von quälenden Schmerzen, die ansonsten immer schwärten wie eine unbehandelte Wunde. Diese Momente waren selten, wenn es keine Verpflichtung gegenüber meiner Art gab oder eine tödliche Bedrohung oder Erinnerungen an jene, die ich geliebt und verloren hatte. Ich genoss diese kurzen, herrlichen Augenblicke.

Und wie immer war auch dieser viel zu schnell vorbei.

Auf halbem Wege zurück zur Erde breitete ich meine Flügel aus, um meinen Sinkflug zu verlangsamen und nicht gegen die Steilwand eines der Berge zu prallen. Nachdem ich einige Kilometer über die Gipfel geschwebt war, tauchte ich in das Tal über Greenwich ab und glitt im Tiefflug über die kleine Stadt hinweg.

Auch nach sechs Jahren war es noch immer ein seltsames Gefühl, sich keine Sorgen darum zu machen, von Menschen gesehen zu werden. Es gab doch nichts Schöneres, als einen Menschen oder auch zwei zu Tode zu erschrecken, indem man wie ein riesiger Greifvogel auf sie herabstieß.

Die Wächter hatten die Schatten verlassen und sich der Welt der Menschen zu erkennen gegeben. Damals war ich zwölf Jahre alt gewesen, und wie zu erwarten, hatte es die Menschheit leicht verstört, dass ihre Legenden keine Mythen, sondern Realität waren.

Viele tausend Jahre hatte man meine Art für nichts weiter als Steinskulpturen auf Dächern von Häusern oder Kirchen gehalten: Gargoyles. Und genau genommen sind wir auch genau das – wenngleich die Darstellungen von Gargoyles ausgesprochen übertrieben sind. Selbst die hässlichsten Wächter haben keine Knollennase oder aus dem Mund ragende Reißzähne. Wenn man es genauer betrachtet, sind diese Bilder sogar äußerst beleidigend.

Aber natürlich strotzten die Menschen vor Unwissenheit. Ebenso wie sie das wahre Wesen unserer Art falsch einschätzten, hatten die Menschen auch keinerlei Ahnung, dass Dämonen überall sind. Einige sahen aus wie sie, während andere nicht darauf hoffen durften, sich jemals zu integrieren. Doch vor sechs Jahren änderte sich alles, als es nämlich in der Hölle eine Revolte gab. Normalerweise wäre das unbemerkt an der Oberwelt vorbeigegangen, doch dummerweise hatte der Obermacker Hunderttausende – wenn nicht Millionen – von Dämonen aus der Hölle vertrieben, sodass sie das Reich der Menschen in nie zuvor erlebten Massen überschwemmten. Niemand, nicht mal die Alphas, schien zu wissen, was genau den Aufstand ausgelöst hatte, aber seither waren die dämonischen Aktivitäten auf der gesamten Erde astronomisch angestiegen. Dämonen hatten sich auch früher schon unter die Menschen gemischt, während wir in den Schatten und in unserer menschlichen Gestalt geblieben waren, jetzt allerdings gab es einfach zu viele Dämonen, die zu viele Probleme bereiteten und viel zu menschlich wirkten.

Die Alphas – die das Sagen haben – hatten verfügt, dass die Wächter die Schatten zu verlassen hatten, da wir aufgrund der wachsenden Dämonenpopulation nicht länger im Verborgenen handeln konnten.

Alphas waren so etwas wie ein moderner Mythos – ich hatte nie einen mit eigenen Augen gesehen, doch ich hatte sie gespürt, damals, als sie zu meinem Vater gekommen waren und mit ihm gesprochen hatten. Sie waren die Mächtigsten aller Engel und auch die furchterregendsten. Alphas waren weder nett noch freundlich, auch nicht an guten Tagen, und für sie war alles entweder schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch.

Da sie uns erschaffen haben, konnten sie uns auch wieder auslöschen, wann immer sie es wollten. Ich schob diesen Gedanken beiseite – die Vorstellung, vernichtet zu werden, war ein echter Stimmungskiller.

Nachdem die Panik und das Chaos sich gelegt hatten, waren Millionen von Fragen aufgetaucht, die wir nicht beantworteten, und wir alle wurden Meister im Ausweichen. Die meisten Menschen hielten uns für so etwas wie Nessie oder Bigfoot – eine Legende, die Realität geworden war.

Wenn sie nur wüssten …

Es gab Regeln, an die sich selbst Dämonen zu halten hatten, und die wichtigste war, dass die Menschen das Böse in der Welt nicht erkennen durften. Irgendein Blödsinn über freien Willen und so … dass die Menschen darauf vertrauen müssen – und zwar ohne einen Beweis –, dass Himmel und Hölle existieren. Ich fand das dämlich. Hätten Wächter und Menschen sich zusammengetan, hätten viele Leben gerettet werden können, einschließlich dem meiner Mutter.

Aber so war es nun mal. Die Menschen hielten uns Wächter entweder für Superhelden, die normale Verbrechen bekämpften, oder für die Wiedergeburt des Teufels.

Man kann nicht immer Glück haben.

Ich landete auf dem flachen Dach unseres Stammhauses nur eine Sekunde, bevor ich einen Schatten am Himmel wahrnahm, der sich mit hoher Geschwindigkeit näherte. Ich war mehr als überrascht, als ich die majestätische Silhouette meines Vaters erkannte. Er hätte gar nicht da sein dürfen! Schnell streifte ich meine wahre Haut ab und nahm meine menschliche Gestalt an, nur knapp einen Atemzug, ehe er sich hockend auf den Sims niederließ.

Ein Blick reichte, um mir sicher zu sein, dass es zu spät war.

Ja. Er wusste es.

Dumm gelaufen.

Mein Vater erhob sich zu voller Größe, annähernd zwei Meter fünfzehn. Seine Flügel, die mehrere Spannen zu jeder Seite maßen, kräuselten sich, als er vom Sims auf das Dach trat, das unter dem plötzlichen Gewicht bebte. In seiner wahren Gestalt war er ein einschüchternder Anblick. Seine Haut hatte die Farbe von Granit und fühlte sich auch ebenso hart an, was ihn und alle anderen Wächter nahezu unverwundbar machte. Zwei dunkle Hörner, die sich emporwanden und zu jeweils einem nadelspitzen Ende verjüngten, teilten seine Mähne aus schwarzem Haar. Seine Nase war flach, die Nasenlöcher schmal, und seine Augen, die normalerweise die Farbe des Himmels bei der Dämmerung hatten, leuchteten jetzt stahlblau.

Er war mein Vater, aber als Oberhaupt des New Yorker Clans war er auch der mächtigste aller Wächter hier. Selbst mir war klar, dass man sich besser unauffällig verhielt, wenn er schlechte Laune hatte – und ganz offensichtlich war es mal wieder so weit.

Sein Kinn war leicht nach vorne gestreckt, seine Augen blitzten. „Jasmine.“

Beim Klang meines Namens straffte ich automatisch die Schultern und stand stocksteif da. „Dad?“

„Du warst wieder unterwegs.“ Das war keine Frage.

Bei ihm klang es eher, als hätte ich im Gazastreifen abgehangen, statt nur einen Ausflug über die Berge zu machen. Ich entschied mich, ihm wie üblich einfach auszuweichen. „Ich dachte, du wärst in New York City.“

„War ich auch.“ Er schritt auf mich zu und nahm dabei seine menschliche Gestalt an. Das Funkeln in seinen Augen ließ nach, während sich die Flügel in seine Haut zurückzogen und seine Gesichtszüge menschlicher wurden. Doch das hieß nicht, dass er weniger furchteinflößend war; ich musste all meinen Mut zusammennehmen, damit ich nicht seinem bohrenden Blick auswich.

Das dunkle Haar und die Größe hatte ich von meinem Vater geerbt, der Rest allerdings – die helle Haut und die extrem weiblichen Rundungen – stammten eindeutig von meiner Mutter.

„Wo sind deine Schwester und Claudia?“, wollte er wissen.

Mit annähernd zweiundvierzig Jahren war Claudia die älteste weibliche Vertreterin unseres Clans und quasi unsere Ziehmutter. Die meisten Gargoylefrauen wurden nicht so alt, da sie entweder bei einer Geburt starben oder von Dämonen entführt wurden. Ohne sie würden die Wächter früher oder später aussterben.

„Danika ist bei Claudia.“ Wir lenkten sie immer abwechselnd ab, damit sich die jeweils andere rausschleichen konnte. „Vielleicht holen sie etwas Lernstoff nach.“ Wahrscheinlicher aber war, dass Danika gerade mit ihrem Kopf gegen eine Wand hämmerte, denn uns beiden war klar, dass das Haus, so schön es auch war, doch nichts anderes als ein Gefängnis war.

Am Himmel schob sich der Vollmond hinter eine Wolke, als wollte er mich verspotten. Ich atmete tief ein. „Okay, es tut mir leid, ich war aber nicht weit weg, nur bis …“

„Das ist mir egal.“ Er wischte meinen Einwand beiseite, und sofort richteten sich die feinen Härchen an meinem Körper auf. Unbehagen stieg in mir auf. Seit wann war es ihm egal, wenn ich mich wegschlich? Er legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie sanft. „Es wird sich bald etwas verändern. Von heute an wirst du nicht einfach wegfliegen können, wenn du Lust dazu hast.“

Fragend zog ich eine Augenbraue hoch. „W…was willst du damit sagen?“

Er lächelte, und ein Teil der Spannung, die auf mir gelastet hatte, verflüchtigte sich. Wenn er lächelte, bedeutete das etwas Gutes, und seit dem Tod meiner Mutter tat er das nicht oft. Anders als bei den meisten Paarungen unter Wächtern hatte sich bei meinen Eltern eine Liebesbeziehung entwickelt, die weit über die Pflichten unserer Art hinausging. Früher hatte ich gehofft, dass mir mal etwas Ähnliches passieren würde.

„Ich habe gute Nachrichten für dich, Jasmine.“ Er fuhr mit der Hand meinen Rücken hinab und schob mich in Richtung der Tür, die zur obersten Etage unseres Hauses führte. „Du wirst dich sehr freuen.“

„Echt?“ Jetzt war ich aufgeregt wie ein kleines Kind vor seinem Geburtstag. „Nimmst du mich mit nach New York? Oder nach Washington?“ Meine Flüge mitten in der Nacht mal außen vorgelassen, habe ich nur diesen winzig kleinen Teil der Welt gesehen, und es gab so vieles, das ich noch sehen wollte. Am liebsten wäre ich wie ein Flummi auf und ab gesprungen. „Oder lässt du mich endlich ohne Leo und eine ganze Horde Wächter in die Mall gehen? Mit so vielen Leuten im Schlepptau kann man einfach nicht einkaufen. Außerdem machen sie anderen Angst, und das ist mir peinlich.“

Seine Mundwinkel zuckten, während er wartete, dass sich die Tür öffnete. Unser Haus, das so groß war, wie ich eine Highschool vermutete, war so gut gesichert wie Fort Knox. „Nein. Es ist etwas viel Besseres.“

„Noch besser?“ Heiliger Strohsack, ich stand kurz vor einem Schlaganfall!

Sobald wir uns im Inneren des Gebäudes befanden, drehte er sich zu mir um. Voller Wärme schaute er mich an. Meine Nerven waren bis zum Äußersten gespannt. „Dez ist wieder da.“

Blut schoss mir so schnell in den Kopf, dass ich fürchtete, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Ich musste mich verhört haben. Das war unmöglich! „Was?“

Das Lächeln meines Vaters wurde noch breiter. „Er ist wieder da, Jasmine.“

Es rauschte laut in meinen Ohren.

„Und er erhebt Anspruch auf dich“, fuhr er fort und ignorierte dabei völlig die Tatsache, dass ich kurz davor war, auf diesem Dach mein Leben auszuhauchen. „Das Paarungsritual wird in sieben Tagen vollzogen.“

2. Kapitel

Ich freute mich absolut nicht.

Jede meiner Zellen war im Panikmodus.

Dez war wieder da, nachdem er vor drei Jahren einfach abgehauen war. Kein „Hey, ich mache mich vom Acker. Schönes Leben noch!“, kein „Auf Wiedersehen!“, gar nichts. Er war einfach verschwunden …

Ich versuchte zu schlucken, hatte allerdings einen Riesenkloß im Hals. Seit drei Jahren hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Kein einziger Anruf, keine Mail, kein Brief. Nichts. Ich hatte ja nicht mal gewusst, ob er noch lebte oder tot war. Niemand in unserem Clan hatte das. Sein plötzliches Verschwinden war für mich ebenso grausam gewesen wie der Tod meiner Mutter. Fort, aus und vorbei, von einer Sekunde auf die andere.

Seitdem hatte sich zu Hause alles verändert.

„Atmest du noch?“, fragte eine Stimme irgendwo hinter mir. Meine Schwester. „Jasmine?“

Ich war so damit beschäftigt, mich zusammenzureißen und nicht komplett auszuflippen, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich atmete oder nicht. Ich starrte mein Spiegelbild an: Hellblaue Augen blickten mir aus einem Gesicht entgegen, das im Kontrast zu meinen dunklen Haaren viel zu blass war. Selbst meine Lippen sahen blutleer aus. Meine Wangenknochen wirkten zu kantig, zu hart.

Ich erinnerte nicht mehr, was in der vergangenen Stunde geschehen war, alles war verschwommen. Seltsamerweise wusste der ganze Clan, dass Dez wieder da war, und sie alle kamen in der Sekunde auf mich zugestürzt, in der ich das Haus betrat. Ich war unter die Dusche verfrachtet worden, die ich offenbar sehr nötig gehabt hatte. Danika hatte meine Haare getrocknet, da ich selbst dazu nicht in der Lage gewesen wäre, und sie fielen mir in langen Locken über den Rücken. Dann hatte Claudia, die entweder gar nicht bemerkt hatte, dass ich mich herausgeschlichen hatte, oder sich entschieden hatte, es in Anbetracht der augenblicklichen Geschehnisse einfach zu ignorieren, mir ein blaues Kleid gebracht, das ich nie zuvor gesehen hatte. Es lag sehr eng an, und wenn ich mich darin zu tief bückte, würden meine Brüste quasi herausfallen und Hallo sagen.

Es war Tradition, dass man sich aufbrezelte, wenn ein Gargoylemann Anspruch auf eine Gargoylefrau erhob. Das komplette Ritual war barbarisch und in vielerlei Hinsicht einfach nur falsch. Ein Teil von mir verstand die Notwendigkeit, sich zu paaren und Nachkommen zu gebären. Unsere Art starb aus, und das, was die Wächter taten, war eine Notwendigkeit, um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse aufrechtzuerhalten, und so weiter und so fort. Der andere Teil von mir fragte sich, warum zum Teufel ich mich zu etwas verpflichten sollte, das früher oder später höchstwahrscheinlich mit meinem Tod enden würde.

Nachdem ein Gargoylemann seinen Anspruch erhoben hatte, erhielten wir sieben Tage Bedenkzeit, um einzuwilligen oder abzulehnen. Beide Parteien sollten sich bewusst in der Zeit werden, dass eine Paarung eine lebenslange Verpflichtung darstellte. Bei uns gab es so etwas wie Scheidungen oder Trennungen nicht. Wir wurden nicht gezwungen, einzuwilligen, und der Gargoylemann, selbst wenn er vor dem gesamten Clan blamiert war, musste unsere Ablehnung akzeptieren. Wir lehnten so lange ab, bis wir einwilligen wollten, und es gab tatsächlich Wächterinnen wie Claudia, die immer wieder Nein gesagt hatten, weil sie bisher nicht den Richtigen gefunden hatten, aber …

Doch mein Vater hatte vor drei Jahren seine Absicht verkündet, Dez und mich zu vereinigen. Das war in der Nacht gewesen, bevor Dez verschwunden war.

Ich holte tief Luft, allerdings war das Kleid einfach zu eng und schnürte meine Taille ein. „Er ist zurückgekommen“, flüsterte ich, war mir aber nicht sicher, warum ich überhaupt glaubte, das sagen zu müssen. Vielleicht, weil es sich so irreal anfühlte.

Danikas Spiegelbild tauchte über meiner Schulter auf. Wir hatten die gleichen Gesichtszüge, nur dass sie eine jüngere Version von mir war. „Ja, ist er.“

Ich kniff die Augen zu und zählte bis zehn. „Hast du ihn schon gesehen?“

„Nein.“

Warum fragte ich sie das überhaupt? Egal, spielte keine Rolle.

Danika legte eine Hand auf meine Schulter. „Alle warten unten auf dich. Der gesamte Clan.“

Meinetwegen konnte der gesamte Clan von der Spitze des Algonquin Peak springen.

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich weder mein Spiegelbild noch das meiner Schwester. Bilder von mir und Dez liefen vor meinem geistigen Auge ab. Zuerst sträubte ich mich gegen sie, aber dann ließ ich ihnen freien Lauf.

„Dez“ war die Kurzform eines Namens, den ich nie würde aussprechen können. Er gehörte einem Clan der Westküste an, und eigentlich hätten wir uns nie über den Weg laufen sollen. Doch als er zehn Jahre alt war, wurde sein gesamter Clan bei einem brutalen Dämonenangriff ermordet. Aufgrund einiger verwandtschaftlicher Beziehungen seiner Mutter zu unserem Clan kam er dann nach New York. Am ersten Abend bei uns war er trotzig und verschlossen, fast wie ein wildes Tier, das man in die Ecke gedrängt hatte. Er hatte seine wahre Gestalt angenommen und fauchte jeden an, schlug jedem die Klauen entgegen, der sich zu nahe an ihn heranwagte. Als mein Vater gerade woandershin hinschaute, bot ich ihm meinen Pudding vom Abendessen an.

Zuerst wollte er absolut nichts von mir wissen. Er verkroch sich in den hintersten Winkel der Bibliothek und hätte mir mit seinen Krallen fast den Arm zerfetzt. Ich hatte furchtbare Angst, aber gleichzeitig auch schreckliches Mitleid mit ihm. Ich brachte es nicht über mich, einfach vor ihm wegzulaufen. Stattdessen setzte ich mich in sicherer Distanz gegenüber von ihm hin und redete einfach über alles, was mir in den Sinn kam. Stundenlang erzählte ich ihm von meinen Puppen, meinen Hausaufgaben und meinen Lieblingsbüchern, und dann schließlich nahm er den Pudding von mir an. Nachdem er aufgegessen hatte und um Nachschlag bat, brachte ich ihn in die Küche. Ich blieb die ganze Nacht bei ihm und sah dabei zu, wie er alles vertilgte, was die Köchin ihm vorsetzte. Es war seltsam, doch ich fühlte mich zu diesem fremdartigen, stillen Jungen hingezogen.

Seit diesem Abend waren wir unzertrennlich gewesen – zumindest während der folgenden acht Jahre.

Wo er auch hinging, ich folgte ihm, und umgekehrt genauso. Er war bei mir gewesen, als ich zum ersten Mal in luftigen Höhen über die Berge hinwegflog, und ich war bei ihm, als er zum ersten Mal zusammenbrach und den Verlust seiner Familie beweinte – seiner gesamten Familie. Als ich mir zum ersten Mal die Flügel verletzte und wie ein Baby heulte, war es Dez gewesen, der mich zurück in Sicherheit brachte und sich um mich kümmerte. Ich sah ihm dabei zu, wie er mit sechzehn Auto fahren lernte, und als ich fünfzehn wurde, hatte er gesagt, wir würden immer zusammen sein, ganz gleich, was geschehe.

Jetzt war ich achtzehn und er würde bald einundzwanzig werden, und er hatte nicht nur dieses Versprechen, sondern auch mein Herz gebrochen.

„Du kannst nicht die ganze Nacht hier oben bleiben“, redete Danika mir beruhigend ins Gewissen. „Er wartet auf dich.“

Ich drehte mich so schnell herum, dass sie verdutzt einen Schritt nach hinten machte. „Das ist mir egal“, fuhr ich sie an.

„Ist es nicht.“

„Doch, ist es.“

„Aber du liebst ihn.“

Ich spürte einen Stich in der Brust. „Ich habe ihn geliebt“, entgegnete ich flüsternd.

Und das war nichts als die reine Wahrheit. Ich hatte ihn von dem Moment an geliebt, in dem er den Pudding von mir angenommen hatte. Als mein Vater dann zu Dez’ achtzehntem Geburtstag verkündet hatte, dass er eine Bindung unterstützen würde, war das der glücklichste Augenblick meines Lebens gewesen. Ich war jung. Und dumm. Dez verschwand am nächsten Tag spurlos, und ich hatte so schlimme Kopfschmerzen gekriegt, dass ich geglaubt hatte, sie würden nie wieder weggehen. Er war mehr als ein Schwarm, er war mein bester Freund, mein Vertrauter und meine Welt gewesen.

Danika schob sich eine lange Haarsträhne hinters Ohr und lehnte sich an mein Bett. „Dann hast du also vor, ihm einen Korb zu geben, wenn deine sieben Tage um sind?“

Ich stand auf und trat einen Schritt nach vorn. Ein Wunder, dass meine Knie nicht unter mir einknickten. Das Kleid raschelte so laut um meine Fußknöchel, dass ich mir wünschte, ich hätte Jeans an. „Ich kann ihm einfach nicht verzeihen. Ich kann es nicht.“ Ich ballte die Fäuste. „Er taucht so einfach mir nichts, dir nichts hier auf und verkündet nach allem, was er mir angetan hat, dass er mich will. Der soll sich zum Teufel scheren!“

Danika zog eine Augenbraue hoch. „Du hast doch noch gar nicht mit ihm geredet und weißt nicht mal, warum er damals verschwunden ist.“

Ich funkelte sie an. „Das ist doch völlig egal! Und auf wessen Seite stehst du eigentlich?“

„Auf deiner natürlich. Komm schon, bringen wir es hinter uns.“ Sie schob mich vom Bett weg und in den langen Flur hinein. „Das wird jetzt ziemlich heftig. Ich möchte nicht mit dir tauschen.“

„Vielen Dank auch“, murmelte ich. Mein Herz raste so schnell wie der Flügelschlag eines Kolibris.

„Du siehst super aus“, sagte Danika und schubste mich recht unsanft in Richtung der Treppe.

Blieb vielleicht noch Zeit, um rauszurennen und mein Gesicht mit Schlamm zu beschmieren? Das Letzte, was ich wollte, war so auszusehen, als hätte ich mich für Dez aufgebrezelt. Ich griff nach dem Geländer. Die Nervosität raubte mir den Atem. Vielleicht war es aber auch das Kleid? Egal, ich konnte kaum Luft holen, ganz gleich weswegen.

Aus dem Erdgeschoss drangen Stimmen zu uns herauf, und während ich die Treppe hinabstieg, konnte ich sie nach und nach zuordnen. Blut rauschte in meinen Ohren, und mein Mund war staubtrocken, während ich den Absatz zum ersten Stock erreichte. Ich beugte mich über das Geländer, um einen Blick zu erhaschen, aber Danika fasste mich am Arm und zog mich die restlichen Stufen runter.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann der gesamte Clan zum letzten Mal in einem einzigen Raum versammelt gewesen war, und das auch noch abends, kurz bevor die meisten von uns zur nächtlichen Jagd aufbrachen. Das Gedränge erschien mir in diesem Moment gigantisch. Die Gargoylemänner waren allesamt groß und breitschultrig und in dunkle Lederhosen gekleidet. Auch ein paar Gargoylefrauen waren darunter und versuchten, die zankenden Kinder zu beschwichtigen. Ein kleiner Junge, nicht älter als drei, lief durch den Lichthof. Unter der Glaskuppel fiel seine menschliche Gestalt von ihm ab. Zur Hälfte. Hörner sprossen zwischen seinen blonden Locken und graue Flügel wuchsen ihm uneben auf dem Rücken. Einer davon erhob sich steil in die Höhe, der andere fiel schlaff zur Seite. Er gluckste, als ein großer Gargoylemann hervortrat und ihn schwungvoll auf den Arm nahm.

Danika schob mich vorwärts.

Ich stolperte und warf ihr einen bösen Blick zu.

„Da ist sie ja.“ Die Stimme meines Vaters klang wie ein Donnergrollen, stolz zwar, aber dennoch hatte ich das Gefühl, ich würde gerade zur Versteigerung feilgeboten.

Ein älterer Wächter mit grauen Haaren und einem Gesicht voller tiefer Falten murmelte: „Wurde aber auch Zeit, Garrick. Wir werden alle nicht jünger.“

Erneut ballte ich die Fäuste. Ich richtete meinen Blick allein auf meinen Vater und musste meine komplette Willenskraft aufbringen, um auf ihn zuzugehen. Die Menge teilte sich, während ich wie betäubt einen Fuß vor den anderen setzte. Ich konnte in keines der Gesichter blicken, an denen ich vorbeimarschierte. Mein Magen rumorte und rebellierte.

Dad sagte etwas und lächelte dabei immer noch, ich aber konnte dem Gespräch nicht folgen. Jeder Muskel meines Körpers erstarrte, als er beiseitetrat. Unwillkürlich und sehr zu meinem Ärger wanderte mein Blick zu der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte.

Und da war er.

Mein Herz setzte einen Schlag aus – um dann wie wild zu jagen.

Dez stand vor mir, größer und muskulöser, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er hatte sich einerseits kein bisschen verändert, war andererseits aber ein völlig anderer geworden. Sein Haar war rotbraun, früher hatte er es an den Seiten kurz und in der Mitte als stacheligen Irokesen getragen. Wie gesagt – früher. Jetzt fielen ihm die Strähnen in sanften Wellen bis fast auf die Schultern. Seine Augen waren die gleichen wie früher: hellblau und eingerahmt von schweren, langen Wimpern. Der fehlende Iro war nicht die einzige Veränderung. Im Gesicht dieses Fremden, das mir gleichzeitig so vertraut vorkam, war nichts mehr von dem jungen Mann zu erkennen, der vor drei Jahren verschwunden war.

Das leicht pausbäckige freche Jungengesicht war fort, und seine Züge waren markant männlich mit hohen Wangenknochen. Die Nase war nicht ganz gerade, als wäre sie irgendwann gebrochen und nicht gerichtet worden. Seine Brauen bildeten anmutige Bögen über seinen Augen, und seine Lippen kamen mir voller vor als früher. Ein verräterischer Gedanke meldete sich zu Wort: Ob seine Lippen so sinnlich küssen konnten, wie sie aussahen? Sie lächelten nicht, dabei hatte Dez früher immer gelächelt, wenn er mich angeschaut hatte. Während ich ihn so musterte, wurde mir klar, dass er nicht mehr der Junge war, in den ich mich einmal verliebt hatte.

Dez starrte mich an, seine Pupillen waren leicht geweitet, verengten sich allerdings gerade wieder. Er wirkte geschockt, und ich verstand nicht, was ihn so überraschte. Ich zumindest hatte mich in den drei Jahren, in denen er weg war, nicht verändert. Gut, ich war nicht mehr so naiv wie damals, und ich hatte mehr Oberweite gekriegt, genau wie ich weiblichere Hüften bekommen hatte.

Für den Bruchteil einer Sekunde schien er zu erstarren. Wütend verengten sich meine Augen, und meine Haut fing an zu kribbeln. Wollte er allen Ernstes einfach nur dastehen und mich wortlos anglotzen? Trotz meiner Wut wurde mir seltsam heiß, als sich unsere Blicke trafen, und die Luft zwischen uns schien zu knistern.

Dez bewegte sich so schnell, dass ich keine Chance hatte, mich darauf vorzubereiten. In der einen Sekunde war er noch einen Schritt von mir entfernt, in der nächsten strich seine Hand über meinen Hinterkopf und seine Finger glitten durch mein Haar.

Mir schlug das Herz bis zum Hals, sowie mir klar wurde, was er vorhatte. Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch da war es schon zu spät.

Dez küsste mich.

3. Kapitel

Ein Teil von mir war zu verdutzt, um irgendetwas zu tun, außer einfach nur dazustehen. Meine Faust wollte unbedingt in sein Gesicht. Wie konnte er es wagen, mich nach alledem zu küssen? Und auch noch ohne überhaupt Hallo zu sagen, verdammt noch mal! Aber die federgleiche Berührung seiner Lippen hatte mich überwältigt.

Das Getöse zu vieler Stimmen dröhnte durch den Lichthof und ließ meine Ohren rauschen, sodass ich nur noch das Pochen meines eigenen Herzens hörte. Ich wusste instinktiv, dass auch das zur Tradition gehörte: Ein Kuss, um den Anspruch vor dem gesamten Clan zu besiegeln, aber soweit mir bekannt war, hatte ich null Komma gar nichts zugestimmt!

Dez hielt meinen Hinterkopf noch fester und schob einen Arm um meine Taille, während ich mich ihm zu entwinden versuchte. Der Druck auf meinen Lippen wurde stärker, während er mich noch näher an sich zog. Ich konnte nicht mehr denken. Sein Oberkörper war breit und steinhart, sein Arm scheinbar aus Stahl. Heiß rauschte das Blut durch meine Adern, und ich spürte, wie sein Herz heftig klopfte. Mein Puls raste, als der Kuss noch intensiver wurde. Irgendwie fanden meine Hände den Weg zu seinen Schultern … doch ich stieß ihn nicht von mir fort.

Mein erster Kuss … und er war genauso, wie ich ihn mir immer erträumt hatte, nur dass in meiner Fantasie kein Publikum dabei gewesen war. Andererseits hatte ich auch gerade Schwierigkeiten, sie oder ihre Jubelschreie und Pfiffe überhaupt zu registrieren. Dez’ Lippen bewegten sich auf meinen, versuchten, meinen Mund zu öffnen. Es verschlug mir den Atem, und ich fragte mich, wo er gelernt hatte, so zu küssen. Im gleichen Moment brandete Eifersucht in mir auf – okay, ich wollte lieber doch nicht wissen, warum er so gut küssen konnte.

Plötzlich räusperte sich jemand laut hörbar. „So schön es auch ist zu beobachten, wie sehr du dich freust, meine Tochter zu sehen, dennoch könntest du sie jetzt loslassen.“

Dez löste langsam seine Lippen von meinen und lehnte schwer atmend seine Stirn an meine. Ich konnte einen schnellen Blick in seine Augen erhaschen. Seine Pupillen waren erweitert, und die Iris leuchtete tiefblau, wie ein Paar schimmernder Lapislazuli. Er senkte die Lider und hauchte beim Ausatmen meinen Namen: „Jasmine.“

Beim Klang seiner tiefen Stimme, die so ganz anders war, als ich sie in Erinnerung hatte, befreite ich mich aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück. Ich legte die Hände erst auf meine brennenden Wangen, ließ sie dann wieder sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Welle widersprüchlichster Emotionen durchströmte mich. Glückseligkeit. Zorn. Erregung. Verlangen. Und Wut. Dez tauchte plötzlich quasi aus dem Nichts auf, und jetzt war ich völlig ratlos, welchem Gefühl ich nachgeben sollte.

Dez schaute mir weiter in die Augen, auch noch, nachdem ich von ihm abgerückt war. Sein Blick war so intensiv und heiß wie sein Kuss. Hinter ihm war die Tür zum Vorgarten zu sehen, und ich verspürte das dringende Bedürfnis, darauf zu zu rennen.

Langsam nahm ich das Geschnatter um mich herum wahr, aber es waren letztendlich die Worte meines Vaters, die mich trotz meines benebelten Zustands in die Realität zurückholten.

„Dann ist es also besiegelt“, erklärte er – und mir klappte die Kinnlade herunter. „Das Ritual wird …“

„Stopp!“ Ich wirbelte zu meinen Vater herum. „Nichts ist besiegelt. Gar nichts.“

„Wie bitte?“, fragte Dez verwundert.

Ich ignorierte ihn. „Nichts ist besiegelt. Ich habe den Anspruch noch nicht akzeptiert.“

Stille legte sich über den versammelten Clan. Vermutlich muss ich nicht erwähnen, dass das alles noch peinlicher machte.

Mein Vater zog die Augenbrauen hoch, und ich beobachtete Dez dabei, wie er einen Schritt auf mich zumachte. „Vor ein paar Sekunden noch hat es nicht so ausgesehen, als würdest du Nein sagen.“

Dez berührte meinen Arm. „Jas …“

Als er seinen alten Spitznamen für mich verwendete, drehte sich mir der Magen um. Ich wich zurück und blickte ihm fest in die Augen. „Wag es nicht, mich so zu nennen.“ Ich sprach zwar leise, wusste aber, dass uns trotzdem alle zuhörten. Der Clan, der größtenteils aus Gargoylemännern bestand, war, wenn es um Klatsch und Tratsch ging, schlimmer als ein Kaffeekränzchen älterer Damen. „Du kannst nicht einfach plötzlich wieder in mein Leben platzen und …“

„Okay“, erwiderte mein Dad diplomatisch, „Ich glaube, ihr zwei habt einiges zu besprechen.“

Trotzig streckte ich mein Kinn vor. „Ich weiß nicht, ob es überhaupt etwas zu bereden gibt.“

Dez hielt meinem Blick einen Augenblick lang stand. Als er dann wegschaute, sah ich, wie er die Zähne so kräftig zusammenbiss, dass die Kiefermuskeln hervortraten.

„Jasmine, ihr müsst euch einig werden. Du hast sieben Tage Bedenkzeit, es gibt überhaupt keinen Grund für überhastete Entscheidungen.“

„Meine Entscheidung ist ganz und gar nicht ü…“

„Wir werden reden“, unterbrach Dez mich und umfasste sanft, aber bestimmt meinen Arm. „Und wir werden nicht die vollen sieben Tage brauchen.“

Ich funkelte ihn von unten an. Obwohl ich groß war, überragte Dez mich um einiges. „Oh, wie schön, du bist also noch genauso arrogant wie früher.“

Dez lächelte. „Wie du feststellen wirst, hat sich so einiges nicht verändert.“

„Ich glaube nicht, dass mich das interessiert.“ Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, aber er hielt mich unbeirrt fest, während sein Grinsen noch breiter wurde. „Ich mein’s ernst.“

Das Funkeln in seinen Augen verriet, dass es ihm da ganz genauso ging – aber es lag noch etwas anderes in seinem Blick, das ich nicht deuten konnte. „Das werden wir noch sehen.“

Es stellte sich als schwierig heraus, in einem Haus voller Leute, die offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten, als zu lauschen, eine stille Ecke zu finden. Wir hätten nach oben in mein Zimmer oder in Dez’ altes Zimmer gehen können, aber das wäre mir zu intim gewesen; ich stand so schon völlig neben mir.

Letztendlich gingen wir in den Garten auf der Rückseite des Hauses. Über den Steinmauern, die rings um dieses friedliche Fleckchen Erde errichtet worden waren, schimmerte der Mond. In jeder anderen Nacht hätte man Liebespärchen sehen können, die sich zwischen den dornigen Rosenbüschen und Wacholdersträuchern versteckten – was nicht hieß, dass man sich überhaupt verstecken musste. Wächter waren irgendwie immer damit beschäftigt, Nachwuchs zu zeugen, aber vielleicht war das Flair des Verbotenen der Grund dafür, dass die Paare sich gern in den Gärten herumdrückten. Aber das war nur eine Vermutung.

„Du siehst wunderschön aus.“

Ich starrte die Rosen an. Nachts glichen ihre Blütenblätter schwarzem Samt. „Glaubst du wirklich, du kommst mit dieser Masche weiter?“

„Das ist keine Masche.“ Er kam jetzt näher, und mich durchlief ein Schauer. „Es ist die Wahrheit. Du warst schon immer süß, aber jetzt bist du wunderschön, Jasmine.“

Ich wollte ihn nicht an mich ranlassen, wollte cool bleiben, aber bei seinen Worten schlug mein Herz einen Purzelbaum. Eine kühle Brise fuhr mir durchs Haar und bauschte den Saum meines dämlichen Kleides auf, sodass er um meine Waden flatterte.

„Schau mich an“, redete er mir mit sanfter, fast schon neckender Stimme zu.

Ich verdrehte die Augen. „Ich hab jedes Wort ernst gemeint, das ich da drinnen gesagt habe, Dez. Es gibt nichts, was wir zu besprechen hätten.“

„Bist du dir da wirklich sicher?“ Ich spürte die Wärme seines Körpers an meinem Rücken, er musste also noch näher gekommen sein. „Denn so, wie du mich geküsst hast, fühlte es sich völlig anders an.“

„Wie ich dich geküsst habe?“ Ich wirbelte herum und trat einen Schritt zurück. Er stand direkt vor mir. „Ich habe dich nicht geküsst, du Spinner. Du hast mich geküsst.“

„Auslegungssache“, murmelte er. „Du hast den Kuss erwidert.“

Das mochte zwar stimmen, doch ich wäre lieber tot umgefallen, als es zuzugeben. „Ich war zu verblüfft, um klar denken zu können. Vertrau mir, das wird nicht wieder passieren.“

„Ist das so?“

Ich atmete tief ein und ganz langsam wieder aus. „Ja.“

Er beugte den Kopf nach unten, sodass wir uns in die Augen blicken konnten. „Da muss ich dir leider widersprechen, Jas. Das war nur unser erster Kuss – und es war nicht mal ein richtiger Kuss.“

Wenn das kein richtiger Kuss gewesen war, wie würde dann ein richtiger Kuss von ihm sein? Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief den Weg entlang.

Dez folgte mir ein paar Sekunden lang. „Ich hatte mir deine Begrüßung anders vorgestellt.“

Meine Kinnlade klappte runter, und ich blieb vor einer Bank aus Stein stehen. Langsam drehte ich mich zu ihm herum. „Ist das dein Ernst?“

Er starrte mich so dermaßen merkwürdig an, dass ich mich schon fragte, ob er während seiner Abwesenheit vielleicht wichtige Gehirnzellen verloren hatte. Dez war nicht blöd, ganz im Gegenteil. Wieso also überraschte ihn meine Reaktion?

Ich starrte ihn an, und es fiel mir unendlich schwer, den Jungen, den ich einst gekannt hatte, in dem Mann wiederzuerkennen, der nun vor mir stand. Tränen brannten in meinen Augen, und als ich sprach, war meine Stimme ganz heiser. „Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo du warst.“

Angespannt schloss er die Augen. „Jasmine …“

„Drei Jahre lang wusste ich nicht, ob du noch lebst oder tot bist!“ Ich hatte plötzlich einen Riesenkloß im Hals. „Kein Anruf, nicht mal eine Mail oder SMS. Gar nichts. Wie hätte …“ Meine Stimme brach, und ich wandte den Kopf ab, während ich tief einatmete. „Ich hatte keinen Schimmer, was los war.“

Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen, streichelte mit den Daumen über meine Wangen und wischte die Tränen fort. „Wein doch bitte nicht.“

„Ich weine nicht.“ Ich riss mich los und fuhr mir schnell über die Wangen. „Das ist Nieselregen. War für heute angekündigt.“

Zärtlichkeit sprach aus seinem Blick, doch das wollte ich nicht sehen. „Du bist immer noch eine fürchterlich schlechte Lügnerin, Jas.“

„Halt die Klappe“, murmelte ich und räusperte mich kurz. „Und du? Hast du gar nichts zu sagen?“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Es tut mir leid.“

Ich fasste es doch nicht! „Das war’s?“

„Du würdest das nicht verstehen, Jas.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Och, ich weiß nicht … Vielleicht wenn du langsam sprichst und nur ganz simple Wörter benutzt?“

In Dez’ Augen funkelte es, dann wurde sein Blick wieder ausdruckslos. „Ich weiß, dass du nicht dumm bist.“

„Hat aber nicht den Anschein.“

„Ich bin nicht sonderlich stolz darauf, dass ich damals verschwunden bin, und ich will im Moment auch nicht darüber reden.“ Er strich sich mit der Hand durchs Haar, sodass einzelne Strähnen zwischen seinen Fingern hochstanden. „Könnten wir das Thema bitte ausklammern, zumindest fürs Erste?“

Ich wollte ihm gerade sagen, dass das überhaupt nicht infrage käme, aber dann erkannte ich die Verletzlichkeit in seinen Augen. So sehr ich ihn dazu bringen wollte, mir alles zu erzählen, widerstrebte es mir, ihn tatsächlich zu verletzen. Er hätte es zwar verdient, aber die Erinnerung daran, wie er damals an meiner Schulter geweint hatte, sich an mir festgehalten hatte, als sei ich sein Rettungsanker, hatte sich mir unauslöschlich eingebrannt.

„Du hast mir gefehlt, Jas. Du weißt gar nicht, wie sehr“, redete er weiter und streckte die Hand noch einmal nach mir aus, zog sie dann aber zurück, kurz bevor sie mich berührte. „Ich habe jeden verdammten Tag an dich gedacht. Alles, was ich wollte, war, zu dir und dem Clan zurückzukehren. Aber vor allem zu dir.“

Ich schüttelte den Kopf, schlang die Arme noch enger um meinen Körper, als könnte ich mein Herz so davon abhalten, heftig schlagend aus meiner Brust zu springen und Dummheiten zu machen. „Ich glaube nicht, dass du das verstehst. Ich kann die letzten drei Jahre einfach nicht vergessen. Ich kann nicht vergessen, dass du verschwunden bist, weil mein Vater verkündet hatte, dass er sich eine Bindung zwischen uns wünschte. Und jetzt hast du einfach entschieden, dass du mich doch haben willst, nachdem du weiß Gott was getrieben hast? Und du glaubst, dass ich einwillige? So verzweifelt bin ich nicht.“

„Warte.“ Er lachte einmal kurz. „Du glaubst, ich bin deswegen verschwunden? Bist du irre?“

Ich warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Mich zu beschimpfen, hilft dir auch nicht gerade weiter.“

„Das ist nicht der Grund, warum ich gegangen bin, Jasmine. Du kannst mir vertrauen.“ Er trat einen Schritt vor, und ich war wie gelähmt. „Ich habe dich nie belogen.“

„Nein“, flüsterte ich. „Du bist einfach verschwunden.“

„Es hatte nichts mit dem zu tun, was dein Vater gesagt hatte, das schwöre ich dir.“ Nur mit seinen Fingerspitzen berührte er meine Wangen, dennoch ging es mir durch Mark und Bein. „Lass es mich dir beweisen.“

Wir sahen uns tief in die Augen, ich konnte den Herzschlag in meinen Venen und die Wärme seines Körpers spüren, obwohl er mich kaum berührte. Dez senkte den Kopf, und ich hielt die Luft an. Würde er mich noch mal küssen? Das durfte ich nicht zulassen, aber ich konnte auch dieses bittersüße Verlangen nicht leugnen. Ein Verlangen, für das ich vielleicht bitter würde bezahlen müssen.

Aber er küsste mich nicht. „Ich will dich, und ich weiß, dass du genauso fühlst. So sehr hat sich keiner von uns verändert, daran glaube ich ganz fest. Und ich will dich.“

In den letzten drei Jahren, und auch davor schon, als ich alt genug war, meine Gefühle für Dez einzuordnen, hatte ich so viele Male von diesem Augenblick geträumt. Aber wenn das, was er gesagt hatte, stimmte, warum hatte er mich dann verlassen? Warum hatte er dann nicht mehr zu sagen, als dass es ihm leidtat? Natürlich hätte ich den einfachen Weg gehen und die Entschuldigung widerspruchslos annehmen können, und ehrlich gesagt fand ich diese Vorstellung auch recht verlockend. Doch weder mein Herz noch mein Verstand spielten da mit.

Ich schloss die Augen. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“

„Sieben Tage.“ Er strich mit der Nasenspitze über meine Wange, sein warmer Atem an meinem Ohr verursachte mir eine Gänsehaut. „Räum mir diese sieben Tage ein, Jas. Bitte.“

Er hatte nicht verraten, warum er damals verschwunden war, und er hatte mir keine unsterbliche Liebe geschworen. Mir kam eine Idee, und je länger sie in mir gärte, desto besser fand ich sie. „Nur unter einer Bedingung, und selbst wenn du dich darauf einlässt, kann und will ich dir nichts versprechen.“

Dez lachte auf eine Weise, die mich einerseits wütend machte, die aber andererseits auch total sexy war. Ich öffnete die Augen und sah ihn an. Hatte er früher schon so geklungen? Er legte sanft seine Hand an meine Wange. „Wie lautet die Bedingung?“

Ich holte tief Luft und konzentrierte mich auf meine Worte anstatt darauf, wie seine Hand sich anfühlte. „Es gibt Dinge, die ich tun möchte.“

Neugier flackerte in seinen Augen auf und ließ die Iris dunkler erscheinen. „Was für Dinge?“

„Nicht was du denkst“, erwiderte ich trocken, obwohl der Gedanke an diese Dinge durchaus reizvoll war. „Ich war noch nie irgendwo anders als hier. Ich will mehr von der Welt sehen.“

Er kniff die Augen zusammen, und er ließ die Hand zu meinem Nacken gleiten. „Wo willst du hin?“

„New York. Washington. Vielleicht sogar nach Philadelphia“, sagte ich schnell. „Ich will durch eine Mall laufen, ohne dass eine Horde Gargoyles mich bewacht. Ich will Autofahren lernen, ohne dass jemand mir das Schalten abnimmt, wenn ich das Getriebe quäle.“ Auto fahren war für uns keine Notwendigkeit, da wir ja fliegen konnten. Aber ein Auto zu fahren, war so … so unglaublich menschlich. „Ich will nacktbaden gehen.“ Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien ihm diese Bedingung gut zu gefallen … zu gut, also beeilte ich mich, die nächste nachzuschieben: „Und ich will … einen Dämon jagen.“

„Jasmine, das ist völlig unmöglich, Dämonen sind …“

„Das sind meine Bedingungen.“ Ich nahm die Schultern zurück. Ich wusste, dass es nicht richtig war, ihn dazu zu benutzen, das zu bekommen, was ich wollte, und ich hatte deswegen auch ein schlechtes Gewissen. Aber wann würde ich noch mal so eine Chance bekommen? Als Wächterin gab es wenig, was ich tatsächlich tun durfte. „Nimm sie an oder lass es.“

Zuerst war ich mir sicher, er würde ablehnen. Dafür würde ich ihm einen Tiefschlag verpassen – so wie er mir mit seinem Verschwinden. „Und ich habe sieben Tage Zeit, dir zu helfen, all das zu tun?“

Das war kein Nein. Ich schöpfte Hoffnung. „Ja, du hast sieben Tage und dann … werden wir weitersehen.“

Dez seufzte tief, als würde ich von ihm verlangen, die Titanic zu bergen. Dann küsste er mich auf die Stirn. „Okay, abgemacht.“

4. Kapitel

Ich drückte das Gesicht in die Kissen und seufzte laut. Es war früh am Morgen und im Baum vor meinem Zimmer konnte ich die leisen Rufe der Vögel hören, die miteinander schnatterten. Ich war mir nicht sicher, was mich geweckt hatte.

Ich spürte einen zarten Lufthauch auf der nackten Haut meines Armes und zog ihn unter die Bettdecke. Mein Dämmerzustand schwand leicht, als dieser Hauch über meine Schulter und den dünnen Träger meines Spaghetti-Tops streifte. Ich kauerte mich unter der Bettdecke zusammen und zog dabei mein rechtes Bein an – bis ich gegen ein Hindernis stieß.

Als daraufhin ein tiefes Glucksen durch den Raum hallte, war ich schlagartig hellwach.

Was zum Teufel war hier los?

Ich rollte mich blitzschnell auf die Seite, setzte mich auf und strich das Haar zurück, das mir ins Gesicht gefallen war. Zwei von rötlichen, langen Wimpern gerahmte hellblaue Augen schauten mich an.

„Guten Morgen“, sagte Dez gedehnt, während er sich auf seiner Seite rekelte, als hätte er jedes Recht der Welt, in meinem Bett zu liegen.

Ich wich keuchend zurück. Wäre seine Hand nicht vorgeschossen und hätte mich am Arm gepackt, wäre ich vermutlich aus dem Bett gepurzelt. Er zog mich über das Bett und so dicht an sich, dass sein Geruch, eine Mischung aus wilder Natur und einem Duft, den ich nicht näher bestimmen konnte, überall war.

„Was machst du in meinem Bett?“

„Ich wollte dich sehen.“

Schlief ich vielleicht noch? „Hättest du nicht warten können, bis ich wach bin?“

„Nö.“ Er schob eine Haarsträhne über meine Schulter, wobei seine Finger ganz zart über meine Haut strichen. „Ist ja nicht das erste Mal, dass ich dich so aufwecke.“

„Aber das war … vorher“, sprudelte es aus mir heraus. Er machte das Gleiche mit einer zweiten Haarsträhne. Meine Zehen krümmten sich beim leichtesten Kontakt unserer Körper. „Du solltest absolut nicht hier in meinem Zimmer sein.“

„Weiß doch niemand.“ Er beugte sich zu mir. Seine Augen funkelten vergnügt wie damals vor einigen Jahren. „Bleibt unser kleines Geheimnis.“

Mir fiel keine passende Antwort ein, was mich maßlos ärgerte. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit Dez umgehen sollte. Als wir noch jünger gewesen waren, hatte es mir ein Gefühl der Sicherheit gegeben, wenn wir uns so nah gewesen waren. Aber damals waren wir ja auch nur Kinder gewesen, die sich ein Bett teilten. Und selbst als wir älter geworden waren, war ich zu schüchtern gewesen, den ersten Schritt in diese Richtung zu wagen.

Dez’ Blicke wanderten langsam über mein Gesicht, und ich merkte, wie ich errötete. Ebenso verkrampft wie voller Vorfreude wartete ich darauf, dass sie noch tiefer wanderten; das dünne Top überließ kaum noch etwas der Fantasie.

Doch die Art, wie er mich anstarrte … na ja, wenn ein anderer Wächter mich so ansah, war ich normalerweise angenervt, aber bei Dez wollte ich, dass er es tat. Ich bekam kaum noch Luft, und im Raum war es ganz plötzlich viel zu heiß.

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Ich könnte mich … daran gewöhnen, jeden Morgen so aufzuwachen.“